Die Nizariten. Von einer gnostisch-messianischen Sekte zum Inbegriff der Mörderbande?


Seminararbeit, 2007

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALT

0. Einleitung

1. Die ismailitische Lehre

2. Historischer Abriss
2.1 Íasan-e ÑabbÁÎ und der persische Zweig der NizÁriyya
2.2 Der syrische Zweig der NizÁriyya und „Der Alte vom Berg“
2.3 Weitere Entwicklungen bis in die Gegenwart

3. Die Rezeption der NizÁriyya

4. Fazit

Literatur

0. Einleitung

Wohl keine Gruppierung innerhalb der IsmÁcÐliyya ist so obskur und geheimnisumwoben, wie die NizÁriten, vor einigen Jahren noch – bevor sich die moderne Orientalistik ausführlich mit dem Thema zu befassen begann – als ‚Assassinen’ bezeichnet.

Die Hausarbeit will einen kurzen Überblick über Lehre und Entwicklung dieser Glaubensgemeinschaft liefern und aufzeigen, wie das Gedankengut über die NizÁriten durch die Kreuzritter in den christlich-europäischen Kulturraum gelangte. Dort wurde der Begriff hÁšÐšÐ, in der verballhornten Aussprache ‚Assassinen’ zum Synonym für politischen, heimtückischen Mord. Es soll versucht werden herauszuarbeiten, inwieweit dieses schlechte Image auf Tatsachen beruhte oder aber aufgrund polemischer Darstellungen ihrer Gegner entstanden war.

1. Die ismailitische Lehre

Die prä-fatimidische Lehre der IsmÁcÐliyya war – soweit bekannt – eine stark gnostisch gefärbte Erlösungstheologie. Ihr Schöpfungsmythos besagt, dass der Schöpfer durch sein Wort kun (= „sei!“) das weibliche (kÙnÐ) und männliche (qadar) Prinzip schaffe. Die sieben Buchstaben von kÙnÐ-qadar stehen archetypisch für die sieben Propheten und deren Botschaften. Aus diesem Gedankengang heraus entwickelte die IsmÁcÐliyya ein hiero-historisches Weltbild, das die menschliche Geschichte in Siebener-Zyklen unterteilt: Am Anfang eines jeden Zyklus steht ein sprechender Prophet (nÁÔiq). Jedem der Sprecher-Propheten (Àdam, NÙÎ, IbrÁhÐm, MÙsÁ, cIsÁ, MuÎammad) ist ein „Bevollmächtigter“ (waÒÐ)1 beigestellt, der die innere Bedeutung des Gesetzes erklärt. Diesen beiden folgen in jedem Zyklus (dawr) weitere sieben Imame. Der siebte Imam jeder Ära steigt in seinem Rang auf und wird zum nÁÔiq des nächsten Zyklus, indem er als verantwortliche Lehrautorität (imÁm qÁ’im) das Religionsgesetz des vorhergehenden nÁÔiq aufhebt und ein neues bringt.

In der Ära des Propheten MuÎammad ist cAlÐ der waÒÐ und MuÎammad ibn (b.) IsmÁcÐl der siebte Imam. Bei seiner Wiederkunft als nÁÔiq wird er daher das Gesetz MuÎammads aufheben, die volle Bedeutung der inneren Wahrheiten erklären und die Welt regieren. In der Zeit zwischen seinem Verschwinden und seiner Wiederkunft wird er von zwölf Vertretern (ÎuÊÊa) repräsentiert, die sich in zwölf Regionen (ÊazÁ’ir = eigentl. „Inseln“) aufhalten. Ihnen untersteht eine Hierarchie von „Rufern“ oder „Missionaren“ (dÁcÐ), die für die Missionierung und Instruktion der Gläubigen verantwortlich sind. Bis zur Wiederkunft des imÁm qÁ’im muss die innere Bedeutung geheimgehalten werden; sie wird den Aspiranten in einer stufenweisen Initiation weitergegeben.2 Von großer Wichtigkeit ist die Unterscheidung zwischen ÛÁhir, dem äußeren Religionsgesetz, und bÁÔin, der inneren, esoterischen Bedeutung. Diese wird durch ta’wÐl, Deutung, ermittelt, wobei man auf Buchstaben- und Zahlenmystik zurückgreift. Während das äußere Gesetz, das von den Sprecher-Propheten gebracht wird, veränderbar ist, bleibt die innere Wahrheit immer gleich und wird von den Imamen interpretiert.

Ab dem 8. Jh. wurden die Werke der griechischen Philosophen aus dem Aramäischen ins Arabische übersetzt und beeinflussten auch die ismailitischen Theologen. Im 10. Jh. griff die so genannte „Persische Schule“ insbesondere das Modell der Plotinschen Emanationslehre auf und inkorporierte es in die ismailitische Glaubenslehre. Nachdem die drei älteren Vertreter der persischen Schule, MuÎammad an-NasafÐ, AbÙ ÍÁtim ar-RÁzÐ und AbÙ YacqÙb as-SiÊistÁnÐ die neuen Ideen kontrovers diskutiert hatten, versuchte der jüngste Vertreter, ÍamÐd ad-DÐn al-KirmÁnÐ, die Unstimmigkeiten in seiner Schrift „Die Ruhe des Intellekts“ (RÁÎat al-caql) beizulegen. Seine Lehre von den zehn Intellekten3 wurde schließlich zur offiziellen Form der fatimidischen dacwa, die Missionare wie NÁÒir-e Ëosraw (st. um 481 h./1088 n. Chr.) in Persien verkündeten.

Wir dürfen allerdings annehmen, dass die einfachen Anhänger der NizÁriyya in Persien und Syrien, die zum Großteil aus der Landbevölkerung stammten, sich weniger mit hochphilosophischen Lehren befassten, als vielmehr der dacwa al-ºadÐda des Íasan-e ÑabbÁÎ anhingen, die die absolute Gefolgschaft und die Autorität des Imams ins Zentrum rückte, somit wieder auf die prä-fatimidische Lehre zurückgriff.

2. Historischer Abriss

2.1 Íasan-e ÑabbÁÎ und der persische Zweig der NizÁriyya

Die Herrschaft der ismailitischen Fatimiden dauerte insgesamt ca. 270 Jahre und umfasste in ihrer Blütezeit Ägypten, Syrien, Nordafrika, Sizilien, den Jemen und den ÍigÁz mit den Heiligen Städten Mekka und Medina. In der Kairoer Hochschule wurde die ismailitische Doktrin weiterentwickelt und Missionare ausgebildet, die zur Bekehrung anderer Muslime ins Ausland geschickt wurden. Den Höhepunkt erreichten die fatimidischen dacwa -Aktivitäten in der Zeit des Kalifen al-MustanÒir (1036-1094). Zu den wichtigsten Betätigungsfeldern dieser Missionare gehörten die Gebiete in Zentralasien und Persien.

Dort hatten sich in den ersten Jahrzehnten des 11.Jh.s bedeutende politische Veränderungen zugetragen: Nach dem Untergang einiger iranischer Dynastien in ËwÁrazm, Transoxanien und ËurÁsÁn hatten sich immer mehr türkische Stämme in den iranischen Ländern etabliert. Mit der Proklamation des Seldschuken-Führers Toºril zum Sultan von NКÁpÙr (1038) stand der Iran unter türkischer Herrschaft. Als Reaktion darauf kam es zu einem Erstarken persischer Kultur und persischen Nationalgefühls; Theologen und Schriftsteller verfassten ihre Werke wieder in persischer Sprache. Die sunnitischen Türken mit ihrem soldatesken Auftreten und der Praktik des ‘iqÔÁc -Systems, das Militärobere mit Grund und Boden belehnte und die Bevölkerung ausbeutete, waren den Iranern verhasst. Unter diesen Umständen fand die ismailitische dacwa, die sich bald als persische Gegenbewegung zu den sunnitischen Eindringlingen verstand, fruchtbaren Boden in der iranischen Bevölkerung. Um 1067 war es cAbd al-Malik b. cAÔÔÁš, einem gelehrten und hochgebildeten dÁcÐ, gelungen, alle Ismailiten auf seldschukischem Territorium unter seine Autorität zu bringen und damit eine anti-seldschukische Bewegung zu generieren. Als eigentlicher Gründer des NizÁrÐ-Staates gilt jedoch Íasan-e ÑabbÁÎ 4.

Geboren um 1055 in Qumm als Sohn eines Zwölfer-Šiciten, übersiedelte die Familie bald nach Rayy, wo der junge Íasan seine erste religiöse Ausbildung erhielt. Mit 17 Jahren wurde er Schüler eines dort ansässigen ismailitischen dÁcÐs namens AmÐra ÂarrÁb. Bald darauf legte er den Treueschwur auf den fatimidischen Kalifen und Imam al-MustanÒir ab. 1072 wurde er mit Ibn cAÔÔÁš bekannt, der ihn zur weiteren Ausbildung nach Kairo schickte. Íasan verbrachte dort ca. drei Jahre, kam möglicherweise bereits mit Badr al-ÉamÁlÐ, dem mächtigen fatimidischen Wesir und dÁcÐ ad-ducÁt, in Konflikt und wurde des Landes verwiesen. 1081 kehrte er mit der Einsicht nach IÒfahÁn zurück, dass die Fatimiden auf längere Sicht den Seldschuken unterlegen sein würden und die persischen Ismailiten nicht mehr auf ihre Unterstützung rechnen konnten. Er begann eine intensive Missionstätigkeit, vorwiegend in der Region Daylam. 1090 gelang es ihm, die Burg AlamÙt im Elburz-Gebirge als Hauptquartier in seine Gewalt zu bekommen. Dieses Ereignis bezeichnete den faktischen Beginn des NizÁrÐ-Staates. Íasan gewann neue Anhänger und brachte immer mehr Burgen in den Regionen RÙdbÁr, Daylam und QuhistÁn unter seine Macht. Innerhalb von nur zwei Jahren hatte er das Seldschuken-Reich mit einem Netz von Festungen, sympathisierenden Städten und Ortschaften überzogen. Diese lagen zwar räumlich voneinander entfernt und waren relativ autonom, erhielten aber Instruktionen von AlamÙt.

Mit der Gründung dieses Territorialstaates traten die Aktivitäten der Ismailiten in Persien in eine neue Phase ein: Von der klandestinen Missionsarbeit schritten die NizÁriten nun zur offenen Revolte gegen die Seldschuken. Aufgrund deren überwältigender Militärmacht zogen Hasans Anhänger jedoch nicht gegen die Seldschuken ins Feld, sondern versuchten, diese durch gezielte Terrorakte an einflussreichen Persönlichkeiten des politischen wie religiösen und gesellschaftlichen Lebens zu schwächen. Das erste prominente Opfer war 1092 der Wesir NiÛÁm al-Mulk. 5 Er hatte seinem Herrn, dem Seldschuken-Sultan Malik ŠÁh, wegen des Anwachsens der ismailitischen Revolte geraten, Heere nach RÙdbÁr und QuhistÁn zu schicken. Die Ermordung NiÛÁm al-Mulks und der Tod Malik ŠÁhs einige Wochen später brachten die seldschukische Offensive jedoch zum Erliegen. Das Seldschuken-Reich wurde in Nachfolge-Kriege gestürzt, die gut ein Jahrzehnt andauerten. Íasan-e ÑabbÁÎ nutzte die Rivalitäten, um seine Macht zu konsolidieren und auszuweiten.6 Als geschickter Stratege erkannte er, dass die herrschende politische Situation der Zersplitterung ein schrittweises Vorgehen gegen die einzelnen Fürsten erforderte, und der politische Mord an den Machthabern dazu ein effektives Mittel darstellte. Die Morde wurden von jungen opferbereiten Ismailiten, den so genannten fidÁ’Ðs, ausgeführt, die bei ihren Unternehmungen meist den Tod fanden.7

Nachdem Íasan-e ÑabbÁÎ schon seit einigen Jahren einen von den Fatimiden unabhängigen Kurs gesteuert hatte, kam es in Kairo zu einem Ereignis, das zu einem permanenten Schisma zwischen den Ismailiten in Kairo und der persischen IsmÁcÐliyya führte. Zwei Jahre nach der Ermordung NiÛÁm al-Mulks starb in Kairo der fatimidische Kalif al-MustanÒir nach fast 60-jähriger Regierungszeit. Al-MustanÒir hatte noch zu Lebzeiten seinen ältesten Sohn AbÙ ManÒÙr NizÁr (1045-1095) als Nachfolger designiert. Aber der Militäroberbefehlshaber und eigentliche Machthaber im Land, al-AfÃal 8, setzte mit Unterstützung des Militärs den viel jüngeren Halbbruder AbÙ l-QÁsim AÎmad mit dem Beinamen al-MustaclÐ bi-llÁh auf den Fatimidenthron. NizÁr musste nach Alexandria fliehen, wo er mit Hilfe der lokalen Bevölkerung eine Revolte gegen al-AfÃal begann. Er wurde unter dem Beinamen al-MuÒÔafÁ li-dÐni-llÁh zum Kalifen ernannt und setzte sich zunächst erfolgreich gegen al-AfÃal durch. 1095 jedoch wurde er gefangengenommen, nach Kairo gebracht und dort ermordet.

Der Streit um die Nachfolge spaltete den gesamten fatimidischen Einflussbereich in zwei rivalisierende Teile: Der eine Teil, der Ägypten, den Jemen und Gujarat in Indien umfasste, erkannte das Imamat des MustaclÐ an. Der andere Teil, der zwar die Missionsgebiete der Fatimiden umfasste, jedoch unter seldschukischer Herrschaft war, hielt am Imamat des NizÁr fest. In dieser Situation fiel es Íasan-e ÑabbÁÎ zu, nicht nur als Führer der persischen, sondern aller Ismailiten unter seldschukischer Herrschaft zu fungieren. Dass Íasan unter den persischen Ismailiten unstreitig als deren Führer anerkannt wurde, spricht für seine Autorität und seine Führungsqualitäten. Auch die irakische Gemeinde favorisierte das Imamat des NizÁr. Alle jene, die NizÁr als Imam anerkannten, werden heute als NizÁriyya bezeichnet, eine Bezeichnung, die sie selber kaum verwendeten.9

Nach dem baldigen Tode NizÁrs erhob sich wieder das Problem der Nachfolge im Imamat. NizÁr hatte zwar erwiesenermaßen männliche Nachkommen10, doch erhob keiner von ihnen Anspruch auf das Imamat, und auch Íasan-e ÑabbÁÎ nannte keinen Imam als Nachfolger NizÁrs. Möglicherweise wusste man in Persien auch noch längere Zeit nichts vom Schicksal NizÁrs und erwartete seine Wiederkehr. In dieser Situation besann man sich darauf, dass es schon in vor-fatimidischer Zeit eine sogenannte dawr as-satr, d. h. eine Periode gegeben hatte, in der die Imame verhüllt und ihren Anhängern nicht direkt zugänglich waren. Außerdem hatte sich noch zu Íasans Lebzeiten die Ansicht durchgesetzt, dass ein Sohn oder Enkel des NizÁr im Geheimen nach Persien gebracht worden war. Dieser sollte der Ahne der später in AlamÙt auftretenden Imame werden. Íasan-e ÑabbÁÎ wurde nun als ÎuÊÊa („Beweis“) des verhüllten Imams, dessen Ankunft man erwartete, angesehen – wiederum ein Rückgriff auf eine prä-fatimidische Tradition. Von außen mag der Eindruck entstanden sein, dass es sich um eine neue Lehre handelte, was auch der Terminus ad-dacwa al-ÊadÐda („die neue Verkündigung“) im Gegensatz zur ad-dacwa al-qadÐma („die alte Verkündigung“) zum Ausdruck brachte. Tatsächlich aber war es ein Rückgriff auf die alte šÐcitische Doktrin des taclÐm (= Unterweisung, Lehre). Íasan-e ÑabbÁÎ reformulierte diese Doktrin in seinem Werk al-fuÒÙl al-arbÁca („Die vier Kapitel“).11 Sie besagte, dass es dem menschlichen Verstand unmöglich sei, zur Kenntnis Gottes zu gelangen, ohne die spirituelle Führung eines Lehrers. Dieser Lehrer war niemand anderer als der ismailitische Imam seiner Zeit. Weil die NizÁriten die Lehrautorität des Imams in den Mittelpunkt stellten, wurden sie auch als taclÐmiyya bezeichnet.

Unter der Herrschaft von Sultan BarkiyÁruq, der bewaffnete Expeditionen gegen die NizÁriten unternahm und Massaker an Sympathisanten zuließ oder gar förderte, breitete sich die NizÁriyya dennoch weiter aus. Sie konsolidierte ihre Macht in RÙdbÁr, QÙmÐs und QuhistÁn und eroberte mehrere Burgen, darunter auch ŠÁhdiz, nur acht Kilometer südlich von IÒfahÁn. 1105, als BarkiyÁruq starb, hatte Íasan seine Aktivitäten bis nach Syrien ausgedehnt. Der Nachfolger von BarkiyÁruq, MuÎammad Tapar (reg. 1105-1118) unternahm mehrere Kampagnen gegen die NizÁriten. 1107 eroberte er die Festung ŠÁhdiz zurück und beendete damit den Einfluss der NizÁriten in der Umgebung von IÒfahÁn. Ab 1109 beauftragte er Anuštegin Širgir, die Burgen AlamÙt und Lamasar zu belagern.12 Als MuÎammad Tapar 1118 starb, wurde die Belagerung abgebrochen. Die internen Quärelen nach Tapars Tod gaben den NizÁriten wieder eine Atempause. Die Beziehungen zwischen Seldschuken und Nizariten hatten eine Art Pattsituation erreicht: Íasan konnte seine Gegner nicht mehr herausfordern, hatte aber seinen Territorialstaat stabilisiert. Nachdem er als seinen Nachfolger den Befehlshaber von Lamasar, den Daylamiten KiyÁ Buzurg-UmmÐd, als neues Oberhaupt der NizÁrÐ-Gemeinde designiert hatte, starb er im Juni 518/1124 nach kurzer Krankheit. Er wurde in der Nähe von AlamÙt begraben und sein Mausoleum war bis zur Zerstörung durch die Mongolen 1256 ein Wallfahrtsort für seine Gemeinde. Íasan-e ÑabbÁÎ war ein geschickter Stratege, Gelehrter und Asket, der sich streng an die Regeln der šarÐca hielt und sie auch seiner Gemeinde auferlegte. In den 34 Jahren, die er auf AlamÙt zubrachte, soll er die Burg kein einziges Mal verlassen haben.

Hasans Nachfolger Buzurg-UmmÐd gab die Nachfolge seinerseits an seinen Sohn MuÎammad weiter und begründete damit eine DÁcÐ -Dynastie, die über einhundert Jahre den Ismailitenstaat regieren sollte. Buzurgs Enkel Íasan II. mit dem Beinamen calÁ Æikrihi s-salÁm („Friede sei seinem Andenken“; reg. 1162-1166) proklamierte im dritten Jahr seiner Regierungszeit die qiyÁma. Bei einer Versammlung mitten im RamaÃÁn (am 17. RamaÃÁn 559 = 8.8.1164) lud er zu einem Festmahl ein und hob das islamische Gesetz auf, dessen Befolgung nunmehr bei Strafe verboten war. Íasan II. beanspruchte damit für sich die Nachkommenschaft des letzten verschwundenen Imams, NizÁr, sei es spirituell, wie einige behaupteten, oder auch physisch, wie die spätere ismailitische Tradition meinte.13 Die meisten Gemeinden nahmen die neue Doktrin auf, einige allerdings weigerten sich. Íasan fiel schließlich 1166 dem Dolch seines der šarÐca zugeneigten Schwagers zum Opfer. Íasans Sohn MuÎammad II. (reg. 1166-1210) sah sich ebenfalls wie sein Vater als leiblicher Nachfolger des NizÁr und damit als imÁm qÁ’im. Seine lange Regierungszeit blieb eher ereignisarm, sieht man von gelegentlichen Attentaten und Bedrohungen auf feindlich Gesinnte ab. Sein Sohn ÉalÁl ad-dÐn Íasan III. (reg. 1210-1221) beendete die Episode der qiyÁma, führte das islamische Gesetz wieder ein und suchte die Freundschaft mit dem Abbasidenkalifen in Bagdad.14

Unter seinem Sohn cAlÁ’ ad-DÐn MuÎammad III. (1221-1255), der von persischen Historikern extrem negativ porträtiert wird, gewann die antinomistische Strömung wieder die Oberhand. In dieser Zeit studierte auch der Mathematiker und Astronom NaÒÐr ad-DÐn ÓÙs ī (geb. 597/1201) in AlamÙt. Er hatte großen Anteil an der Kapitulation Rukn ad-DÐn ËÙršÁhs, des Sohnes cAlÁ’ ad-DÐns, vor dem Mongolenkhan Hülägü. Rukn ad-DÐn wurde zunächst von den Mongolen verschont, da er ihnen noch gute Dienste leisten konnte: Er brachte die meisten nizÁritischen Festungen dazu, zu kapitulieren, was den Mongolen die kostenintensive Kriegsführung ersparte. 1256 ergab sich AlamÙt, zwei Jahre später Lamasar und 1270 schließlich GirdkÙh. Mit der Kapitulation der Festungen wurde Rukn ad-DÐn für die Mongolen uninteressant und schließlich aus dem Weg geschafft. Damit war der Territorialstaat, den Íasan-e ÑabbÁÎ einstmals aufgebaut hatte, untergegangen.

2.2 Der syrische Zweig der NizÁriyya und „Der Alte vom Berg“

Ähnlich wie in Persien hatte die Seldschuken-Herrschaft auch in Syrien soziale Probleme und Spannungen mit sich gebracht. Gegen Ende des 11. Jh.s war Syrien in Kleinstaaten zersplittert, die von untereinander rivalisierenden seldschukischen Für-sten regiert wurden. Im Jahr 1096 betrat ein neuer Machtfaktor die ohnehin verworrene politische Landkarte: die fränkischen Kreuzfahrer, die nach der Einnahme Antiochias noch drei weitere lateinische Staaten mit den Zentren Edessa, Tripoli und Jerusalem gründeten.15 Die Fatimiden hatten in Syrien noch immer Anhänger, allerdings warf man ihnen Schwäche gegenüber den Seldschuken und den fränkischen Eindringlingen vor.

In dieser prekären Situation waren viele Menschen empfänglich für messianisch-radikale Botschaften, wie sie die NizÁriyya anzubieten hatte, besonders solche, die vorher schon durch die Fatimiden mit der ismailitischen Lehre in Kontakt gekommen waren. Noch unter der Regentschaft von Íasan-e ÑabbÁÎ wurden dÁcÐs von AlamÙt aus nach Syrien gesandt, das sich aufgrund der geographischen Gegebenheiten eher als Missionsgebiet anbot als der flache und überschaubare, an Persien grenzende Irak. Die Missionare bedienten sich der gleichen Methoden, die sie in Persien angewandt hatten: Eroberung bzw. Erwerb von Festungen, Mission unter der einheimischen Bevölkerung und Einflussnahme auf das politische Geschehen mittels gezielter Terrorakte. Trotzdem erwies sich die Mission in Syrien schwieriger als in Iran. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass es sich bei den Missionaren um Perser handelte, die in für sie fremder Umgebung wirkten. So dauerte es ein halbes Jahrhundert, bis die NizÁriten einige Festungen im Bergland des südlichen Éabal BahrÁ’ (heute Éabal AnÒarÐya) unter Kontrolle bringen konnten.16 Sie errichteten einen Territorialstaat, dem von AlamÙt ähnlich, und betrieben eine geschickte „Schaukelpolitik“, die je nach Opportunität mit den Franken oder den sunnitischen Emiren paktierte.17

Als bedeutendster Fürst des syrischen Assassinenstaates ist SinÁn b. SalmÁn b. MuÎammad, bekannt unter dem Namen RašÐd ad-DÐn SinÁn, zu nennen. Er ist als der legendäre „Alte vom Berg“ (vetulus de montanis) in die Geschichte der Kreuzzüge eingegangen. SinÁn18, nach eigenen Angaben in Aqral-SudÁn, einem Dorf bei Basra geboren, kam in jungen Jahren nach AlamÙt und wurde dort ausgebildet. Selbst Alchimist und Schulmeister, war er offensichtlich ein Protegé von Íasan II. calÁ Æikrihi s-salÁm, der ihn zum Führer der syrischen Gemeinde designierte. 1162, als Hasan II. Herr von AlamÙt wurde, gab sich auch SinÁn den Gläubigen in Syrien zu erkennen. Die Proklamation der qiyÁma in AlamÙt wurde von den syrischen NizÁriten kaum zur Kenntnis genommen, das Ende der šarÐca aber auch in Syrien ausgerufen. Dies führte prompt zu einer Reihe von Exzessen, die allerdings von SinÁn selbst unterbunden wurden. Die sunnitischen Historiker hingegen delektierten sich an der ausführlichen Beschreibung der skandalösen Zustände, die mit der Aufhebung der šarÐca einhergegangen sein sollen.19

SinÁn hatte sich bald gänzlich von AlamÙt losgesagt und wurde in Syrien als höchster und gottgleicher Führer gefeiert. Laut arabischer Chronisten hatten die Herren von AlamÙt immer wieder Boten ausgesandt, um SinÁn zu töten, was stets misslang. In seiner langen Regierungszeit konsolidierte er die Situation der syrischen Gemeinde und knüpfte ein Netz von sich ständig verändernden Allianzen. In SinÁns Zeit ging die Bedrohung eher von den sunnitischen Muslimen aus. Deswegen bemühte er sich, mit den Kreuzfahrern in friedlichere Beziehungen zu treten, namentlich mit König Amalrich I. von Jerusalem (1163-1174).20 In diesem Zusammenhang berichtete der Chronist und Erzbischof Wilhelm von Tyros interessanterweise darüber, dass SinÁn Amalrich angeboten habe, mit seiner gesamten Gemeinde zum Christentum zu konvertieren. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um ein Missverständnis von Seiten des Erzbischofs.21 Doch dürfte zutreffen, dass SinÁn sich mit anderen Parteien zu verbünden suchte, um dem immer mächtiger werdenden ÑalÁÎ ad-DÐn Paroli bieten zu können, der nach dem Tod des Zengiden NÙr ad-DÐn zum Hauptfeind der syrischen NizÁriten avanciert war. Zwei Mal zwischen 1174 und 1176 versuchten nizÁritische fidÁ’Ðs Anschläge auf ihn, beide Male schlugen sie fehl. 1176 bei der Belagerung der Festung MaÒyÁf, dem Hauptsitz der NizÁriten in Syrien, muss es wohl unter obskuren Umständen zu einer Art Waffenstillstand zwischen den beiden Parteien gekommen sein: Der Sultan sah ferner von Angriffen auf nizÁritische Festungen ab, und SinÁn befahl keine Anschläge seiner fidÁ’Ðs mehr gegen ihn.22

[...]


1 Später wird der waÒÐ auch asÁs (Fundament) genannt. Vgl. Heinz Halm, Die Schia, Darmstadt 1988, S. 203.

2 Bei der Initiation (balÁÈ) mussten die Aspiranten eine gewisse Summe Geldes bezahlen und schwören, die Geheimnisse nicht an Außenstehende weiterzugeben. Vgl. dazu Wilferd Madelung, „IsmÁcÐliyya“, in: EI2, Vol. IV, 1978, S. 203.

3 Dieser Lehre zufolge emaniert aus dem ersten Intellekt ein zweiter – die Seele –, aus diesem ein dritter usw. bis zum zehnten. Der unterste Intellekt regiert als Demiurg die geschaffene sublunare Welt. Den zehn Intellekten entsprechen zehn Grade der irdischen Hierarchie, d .h. dem ersten Intellekt entspricht der Sprecher-Prophet, dem zweiten der waÒÐ, dem dritten der Imam usw. Vgl. dazu Heinz Halm, Die Schia, S. 218.

4 Vgl. Farhad Daftary, Ismailis in Medieval Muslim Societies, London 2005, S. 124-143; ausführlich zu Íasan-e ÑabbÁÎ vgl. F. Daftary, The IsmÁcÐlÐs. Their History and Doctrines, Cambridge 1990, S. 336-371.

5 Vgl. H. Bowen, C.E. Bosworth, „NiÛÁm al-Mulk“, in: EI2, Vol. VIII, 1995, S. 69-73. Der Attentäter hatte sich als ÑÙfi verkleidet der Sänfte des Wesirs genähert und ihn erstochen. Vgl. Heinz Halm, Die Schia, S. 225.

6 In dieser Periode wurden weitere Burgen, wie das strategisch wichtige GirdkÙh und Lamasar unter Kontrolle gebracht.

7 Die Namen der ‚Opferbereiten’, die bei den Anschlägen ums Leben kamen, wurden auf einer Ehrentafel in der Burg AlamÙt aufgezeichnet (vgl. Farhad Daftary, Ismailis in Medieval Muslim Societies, S. 136) Unter Íasan-e ÑabbÁÎs Ära soll es zu ca. 50 Terroranschlägen gekommen sein (vgl. Heinz Halm, Die Schia, S. 225).

8 Unter der Herrschaft des MustanÒir hatte das Militär seine Macht auf Kosten des Kalifen stetig ausgedehnt, sodass der Armeekommandeur nicht nur Befehlshaber der Armee, sondern auch noch Wesir und Chef der dÁcÐs war. Oberbefehlshaber Badr al-ÉamÁlÐ, der während der letzten zwei Jahrzehnte der Herrschaft von MustanÒir die eigentliche Macht in Händen hielt, hatte diese an seinen Sohn al-AfÃal weitergegeben.

9 Die Bezeichnungen für die NizÁriyya lauteten in den sunnitisch-arabischen Quellen taclÐmiyya oder bÁÔiniyya.

10 Quellen erwähnen mindestens zwei Söhne, nämlich AbÙ cAbd AllÁh al-Íusayn und AbÙ cAlÐ al-Íasan. Außerdem existierte eine NizÁriden-Linie im MaÈrib, die zeitweilig das Imamat beanspruchte, deren Revolten gegen die herrschenden Fatimiden von Kairo aber von letzteren immer vereitelt werden konnten. Vgl. Farhad Daftary, Ismailis in Medieval Muslim Societies, S. 138f.

11 Dieses Werk ist verlorengegangen, wurde aber von persischen Historikern (¹uwayni, Rašid ad-DÐn, KašÁni und ŠahrastÁni) eingesehen und zitiert (vgl. F. Daftary, Ismailis in Medieval Muslim Societies, S. 140).

12 Die Belagerung sollte über acht Jahre dauern. Die Seldschuken zerstörten die Ernten und schlugen mehrere Schlachten gegen die NizÁriten. In den Burgen herrschte große Hungersnot, Frauen und Kinder wurden in andere Gegenden geschickt. Auch Íasans Frau und seine Töchter wurden nach GirdkÙh gebracht, wo sie mit Spinnen ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Sie kehrten nie mehr nach AlamÙt zurück. Diesem Beispiel folgend blieben künftig die Kommandanten der NizÁrī-Burgen ohne Frau und Kind. Vgl. Bernard Lewis, Die Assassinen, Frankfurt 1989, S. 86, 175.

13 Vgl. ebd., S. 106.

14 Diese Annäherung an die Orthodoxie ist verschiedentlich interpretiert worden: Für Éuwayni und andere sunnitische Historiker war es der Ausdruck einer wirklichen religiösen Bekehrung, für den österreichischen Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall war die Rückkehr zur Orthodoxie reine politische Berechnung. Die Ismailiten selber sahen darin wohl eine ‚Periode der Verbergung’, die sich in immer abwechselnden Zyklen der Periode der Enthüllung anschloss. Vgl. Bernard Lewis, Die Assassinen, S. 116f.

15 Die Kreuzfahrer waren aufgrund eines Aufrufs von Papst Urban II. auf der Synode von Clermont 1096 aufgebrochen, um die heiligen Stätten in Jerusalem von den Seldschuken zurückzuerobern. Gleichzeitig sollte der Kreuzzug als gemeinsames Anliegen der Christenheit ein machtpolitisch zersplittertes Europa einen und die Kirche als maßgebende Ordnungsmacht etablieren. Vgl. A. Becker, „Urban II.“, in: Lexikon für Theologie und Kirche (= LThK) 10 (1965), Freiburg, Sp. 542-544 und A. Waas, „Kreuzzugsbewegung“, in: LThK 6 (1961) Sp. 632-636.

16 Dabei handelte es sich um die Burgen al-QadmÙs, al-Kahf, ËarÐba, RuÒÁfa, al-ËawÁbÐ, al-Qulayca, al-ManÐqa, al-cUllayqa, AbÙ Qubays und MaÒyÁf. Vgl. Heinz Halm, Die Schia, S. 228.

17 Zu den syrischen NizÁriten vgl. Bernard Lewis, Die Assassinen, S. 135-138.

18 Zu SinÁn vgl. Bernard Lewis, Die Assassinen, S. 150-159.

19 Vgl. ebd., S. 152.

20 1173 schickte SinÁn einen Botschafter zu Amalrich I., um mit ihm über die Aufhebung der Tributzahlungen zu verhandeln, die die NizÁriten den Templern zahlen mussten. Der Botschafter wurde auf dem Rückweg von dieser Mission von Templern ermordet, worauf der erboste Amalrich den Mörder, den Tempelritter Walter von Mesnil, in Tyrus inhaftieren ließ. Vgl. dazu Farhad Daftary, Ismailis in Medieval Muslim Societies, S. 155.

21 Vgl. ebd., S. 154f.

22 Vgl. Hannes Möhring, Saladin. Der Sultan und seine Zeit 1138-1193. München 2005, S. 63.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Die Nizariten. Von einer gnostisch-messianischen Sekte zum Inbegriff der Mörderbande?
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Orientalisches Seminar)
Veranstaltung
HS: Die Ismailiten
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
23
Katalognummer
V918227
ISBN (eBook)
9783346228673
ISBN (Buch)
9783346228680
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ismailiten, Nizariten, Assassinen
Arbeit zitieren
Dr. Maria Senoglu (Autor:in), 2007, Die Nizariten. Von einer gnostisch-messianischen Sekte zum Inbegriff der Mörderbande?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/918227

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