Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Medien im Alltag und ihre Wirkung
2 Die mediale Aufrichtigkeit
3 Die Authentizität des Radios
3.1. Radioverhalten in Amerika
3.2. „War of the Worlds“ als Beispiel für die Authentizität des Radios
3.2.1. Die Live-Übertragung
3.2.2. Die auditive Wahrnehmung
3.2.3. Illusion
3.2.4. Angst
3.2.5. Die Auswirkungen
3.2.6. Zweifel über das Ausmaß der Panik
3.3. Einordnung in Welles‘ Karriere
4. Zwischen Science Fiction und Newscast
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Medien im Alltag und ihre Wirkung
Massenmedien und deren Wirkungen auf Gesellschaft und das Individuum rückten in den letzten Jahren immer mehr in das Interesse der Öffentlichkeit. Die heutige Gesellschaft, die sich vor allem als Informationsgesellschaft versteht, bezieht ihre Informationen über Ereignisse, die außerhalb der individuellen Erfahrung liegen, zu einem großen Teil aus eben diesen Massenmedien.1 So erweisen sich die Medien als „integrierter Bestandteil der alltäglichen Lebensführung [,..]“2 3 und der Alltag wurde zum Medienalltag. Das Fernsehen hatte im Jahr 2015 mit einer täglichen Nutzungsdauer von 259 Minuten die größte Reichweite der Medien in Deutschland. Es folgten das Radio mit täglich 115 Minuten und das Internet mit 53 Minuten. Die Zeitung wurde 2015 von etwa 44 Prozent der Deutschen täglich gelesen, Bücher immerhin 27 Prozent. Wenn man die Altersgruppe der 14- bis 49-Jährigen näher betrachtet, dann ergibt sich ein etwas anderes Bild. Hier liegt die Internetnutzung vor der Fernsehnutzung auf dem ersten Rang.
Die Meinungen über das Wirkungspotential der Medien sind kontrovers. Da diese Wirkung oft mit gewaltsamen Bildern in Verbindung gebracht wird, ist von Wirkungsmacht zu sprechen: „Rezipienten, die sich im Bann solcher Texte oder Filme befinden, fühlen sich übermächtigen Kräften willenlos ausgesetzt und werden zu den Instrumenten einer höheren Gewalt.“4 In diesem Zusammenhang werden stets die Worte „Medienohnmacht“ und „Medienallmacht“ verwendet.5
Während des Rezeptionsprozesses ist sogar eine Überschreitung der Medialität zu einem Realitätserlebnis möglich. Das kann auch als Kriterium für die Beurteilung für 6 die Qualität der Medien gesehen werden.6 Diese Überschreitung kann sogar so weit gehen, dass man den Rezipienten daran erinnern muss, dass es sich beispielsweise nur um einen Film handle. Denn „immer wieder begegnet man dem Phantasma, daß Zuschauer oder Leser berichten, das Rezeptionserlebnis habe nicht mehr in der Sphäre des Mediums stattgefunden, sondern sei ,wie wirklich4 oder sogar ,wirklicher‘ als die Realität selbst gewesen.“7 Berelson und Steiner verstehen Medienwirkungen vor allem als einen Wechsel im Verhalten des Publikums: „Solche Veränderungen im Verhalten können eine ganze Reihe von Bereichen umfassen: Zuwendung, Aufmerksamkeit, Wissen, Kenntnisse, Verständnis, Meinungen, Einstellungen, Überzeugungen, Persönlichkeitsbezüge, Fertigkeiten oder Handlungen.“8
Weiterhin haben die Medien auch auf die Affekte und Emotionen der Konsumenten einen erheblichen Einfluss. Denn mit den Medien kann man auf zweierlei Art umgehen. Eine Umgangsweise ist eher neutral, alltäglich, die andere hingegen intensiv und emphatisch. Während eines emphatischen Rezeptionsprozesses kann „sogar die ganze Bandbreite emotionaler Reaktionen hervorgerufen werden.“9 Medien können neben Angst und Vergnügen auch körperliche Reaktionen wie Atemnot oder Zittern hervorrufen.10 Das zeigt, dass „Medien wirken und ihre Rezipienten überwältigen - diese Evidenz ist unbestreitbar, offensichtlich, zweifelsfrei. Zugleich ist der Befund jedoch zutiefst rätselhaft, denn im Falle sämtlicher dieser emphatischen 11 Medienerlebnisse handelt es sich ja eben immer ,bloß‘ um Medien.“ Doch, dass es sich manchmal eben nicht „bloß“ um Medien handelt, zeigte bereits das Radio Drama „War of the Worlds“ von Orson Welles, das im Jahr 1938 eine Massenpanik in Amerika auslöste. Doch wie war das eigentlich möglich? Wie konnten die Zuhörer dem glauben, was sie da im Radio hörten? Diesen Fragen soll in dieser Arbeit nachgegangen werden. Im Folgenden wird als Einstieg in das Thema zunächst die allgemeine mediale Aufrichtigkeit beleuchtet, bevor näher auf die Authentizität des Mediums Radio am Beispiel des Hörspiels „War of the Worlds“ eingegangen werden soll.7 8 9 10 11
2. Die mediale Aufrichtigkeit
„Authentic” means „genuine” and „valid”. „Authenticity” means „credibility” - coming from the Greek language: „authentikos” from „authentes” meaning „originator” from „autos” meaning „self”. So it seems that the literate original meaning of the authentic lies very close in the line of presenting and interpreting self and others.12
Gerade die künstlich produzierten Medienträger stehen unter Verdacht mit der Realität zu spielen. Der Medientheoretiker Boris Groys nennt als Beispiel die Hollywood-Filme, die „in ihrem Inneren [eine] verborgene, gefährliche Subjektivität“13 offenbaren, um so manipulativ und destruktiv agieren zu können. So bestätigt er, dass die Aufrichtigkeit vom Subjekt durchaus künstlich hergestellt und strategisch ersetzt werden kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Realitätswerdung bloß simuliert wird und -so wie sie dargestellt wird - nichtin der Wirklichkeit stattfinden würde.14
Die traditionelle Leitfrage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen und auch heute, im Zeitalter der massenmedialen Kommunikation, ist sie von ungebrochener Aktualität: Wie echt ist das medialisierte Reale? Wie real sind die medialen Konstrukte? Die Auffassung von Wirklichkeit wurde und wird immer wieder neu diskutiert und in Manifesten ausgedrückt.15 „Gerade weil jeder spürt, daß die Medien mit ihrer Inszenierungsmacht immer tiefer in die Wirklichkeit eindringen, wächst die Sehnsucht nach dem ,wirklich Wirklichen4 - und die wird dann natürlich von den Medien befriedigt“16, so der Medienwissenschaftler Norbert Bolz.
Nach dem deutschen Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann muss die Realität der Massenmedien in zwei Realitäten unterschieden werden: die „reale Realität“ - verkörpert durch die reale Existenz der Medien - und die durch die real existierenden Medien „konstruierte Realität“.17 „Man kann festhalten, dass die Massenmedien Berichte über die Realität liefern, die sie durch ihre eigenen Beobachtungen nach ihren eigenen Kriterien gewonnen haben.“18 Somit basiert unser Gesellschafts- und Weltwissen auf den Konstruktionen der Medien. Dabei ist zu bedenken, dass während der Informationsrecherche jene Medienkonstruktionen „mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren [zu] versehen“19 sind.
So kommt die Frage auf, welche Art von Realität speziell von den Massenmedien entworfen wird und welche Auswirkungen die Medienkonstruktionen auf unsere Gesellschaft haben:
Wie konstruieren Massenmedien Realität? Oder komplizierter [...]: Wie können wir [...] die Realität ihrer Realitätskonstruktion beschreiben? Sie lautet nicht: Wie verzerren die Massenmedien die Realität durch die Art und Weise ihrer Darstellung? Denn das würde ja eine ontologische, vorhandene, objektiv zugängliche, konstruktionsfrei erkennbare Realität, würde im Grunde den alten Essenzkosmos voraussetzen.20
Das bedeutet nicht, dass die Medien beliebig berichten. Für ihre Berichterstattung muss ein Thema ausgewählt werden, das tatsächlich real existiert. Doch die Medien machen etwas mit den aus der Umwelt gewonnenen Informationen: sie selegieren. Die Medien „entscheiden sich für dies und gegen das, unterscheiden nach ihren Kriterien, begrenzen oder erweitern, lenken Aufmerksamkeit, akzentuieren oder lassen weg, dramatisieren, bauen Themenkarrieren auf, bereiten Anschlusskommunikation vor usw.“21
Auch Unwahrheiten kommen in der Medienlandschaft gelegentlich vor - besonders in den Ressorts Nachrichten und Berichte sollten sie jedoch die Ausnahme bleiben. Nach Luhmann ist dies weniger moralisch begründet, sondern hat vielmehr existenzielle Gründe. Werden vermehrt Falschmeldungen veröffentlicht, so würden die Medien das Vertrauen der Gesellschaft verlieren - bis hin zum Akzeptanzverlust. Dieser Unwahrheitsverdacht betrifft lediglich Einzelfälle. Anders als der Manipulationsverdacht, der durch die Selektivität innerhalb der von den Medien dargestellten Wahrheit verkörpert wird. Dieser betrifft die gesamte Berichterstattung.22
3. Die Authentizität des Radios
Während die Realität im Film nach Godard in mehreren Einzelbildern die Sekunde und in der Fotografie durch das mechanische Reproduktionsprinzip präsentiert wird23, so lässt sie sich im Radio nur durch das Gehörte rekonstruieren:
Wenn wir etwas im Radio hören, dann hören wir es so, wie es für uns zubereitet wurde, und wir vergessen schnell, daß es überhaupt für uns zubereitet wurde; denn wir geben uns meist nicht damit zufrieden, nur zuzuhören, sondern wir schließen fortwährend und selbstverständlich aus dem Gehörten auf etwas anderes, auf eine andere Wirklichkeit, die wir gewohnt sind, „Wirklichkeit“ zu nennen.24
Denn die Stimmen, die das Publikum im Radio hören kann, machen Personen erkennbar, belegen Vorgänge und die Geräusche werden an die Stelle von Dingen gesetzt: „[...] die Telefonklingel im Hörspiel hat nichts zu tun mit dem technisch komplizierten Kommunikationsapparat Telefon, sondern die Telefonklingel im Hörspiel unterbricht vielleicht einen Dialog [.].“25 Das Radio spielt nicht mit dem Sprechen oder dem Artikulieren, sondern mit dem Hören und Verstehen. Vor allem die rasante Verbreitung der Informationen hatte seine Vorteile. Dabei war es die höchste Priorität des Radios seine Nachrichten wortwörtlich zu überbringen und sie nicht in ein komplexes semiotisches System zu kodieren.26
Der Medienphilosoph und Medienhistoriker Marshall McLuhan hat die Tendenz des Radios zum globalen Dorf festgestellt. Durch das mediale Dabeisein, welches durch die Live-Übertragung ermöglicht wurde, wurde die Audiovision zum Massenmedium. Somit hatte der Sender die Möglichkeit seine Nachrichten an alle zu vermitteln.27 Das Publikum wird im Kommunikationsprozess zur Aktion aufgerufen und beeinflusst, „aber genießt [.] die Ferne vom ruhigen Platz vor dem Gerät aus.“28 Durch das neue Prinzip der Live-Übertragung, der Tendenz zum globalen Dorf und der individuellen Kommunikation mit seinem Publikum löst das Radio das Fernsehen ab.29
Gerade durch seine tägliche Nähe zum Publikum und der Echtheit der Stimme des Sprechers, glaubten die Zuhörer, was im Radio gesagt wurde und welche Informationen ihnen gegeben wurden. Der Aufwand, der dabei unternommen wurde, um ein gutes Live-Programm zu produzieren, verfremdete die Wirklichkeit, was zu Täuschungen und Missverständnissen seitens des Publikums führte, das als Teilnehmer im Kommunikationsprozess mit dem Medium agierte. Vermutlich deswegen war Orson Welles‘ „War of the World“ so authentisch.30
Der Rundfunk als informatives Nachrichtenmedium ist vor allem zeitgenössisch, live, dramatisch und persönlich - gleichzeitig konzentrierte es sich auf sensationelle Entdeckungen. Das Medium reproduziert die dramatische Realität oder präsentiert die Wirklichkeit dramatisch.31 Zu den wichtigsten Regeln des Radios zählen nach Werner Faulstich, einem deutschen Medienwissenschaftler, seine Lebendigkeit, seine auditive Wahrnehmung, das Schaffen der Illusion und Angst als Reaktion des Publikums. Der Hörfunk bindet das Publikum aktiv in sein Programm mit ein. So hat es die Möglichkeit das Unbekannte mit seinem eigenen Wissen zu ergänzen. Deswegen basiert das Radio auf den Fähigkeiten und Neigungen der Gesellschaft.32
3.1. Radioverhalten in Amerika
Am 25. Dezember im Jahr 1906 wurde in Amerika das erste Radio in Betrieb genommen - gefolgt von vielen weiteren kommerziellen Radiostationen ab 1921. Ein „broadcasting boom“ trat auf33 und 28 Millionen amerikanische Haushalte schufen sich ein solches Gerät an, um dem Trend zu folgen.34 Schon bald wurde das Medium zum täglichen Begleiter: Der Tag begann mit den Frühnachrichten des Radiosprechers und abends ließ man den Tag damit ausklingen. Tagsüber begleitete das Gerät seine Hörer durch ihre Arbeitsroutine oder bei langweiligen Aufgaben. Gleichzeitig half es dabei Gefühle der Isolation zu überwinden und zu unterdrücken.35
Auf der ersten Stufe der Radiogeschichte dominierte die Unterhaltung. Es war ein Freizeit-Medium: es sollte seine Zuhörer unterhalten, zufriedenstellen und amüsieren. Deswegen wurde dem Musikprogramm eine wichtige Funktion zugeschrieben, weil sie den größten Teil des Radioprogramms bestimmten. Berichte und Lernspiele ergänzten das Angebot. Der fiktive Teil des Programms setzte sich aus Erzählungen und Hörspielen zusammen.36
Das Radio wurde in Amerika sogar so beliebt, dass es den Film und das Fernsehen schon bald ablöste: „When the listening public went crazy for Amos ‘n‘ Andy at the start of the decade, cinema owners found that the only way to get audience to come to early evening screening was to delay the start of the feature film and pipe the radio broadcasts into theatres.”37 So kam auch die Debatte auf, ob Rundfunkanstalten nicht zu viel Macht und Kontrolle erlangen würden.38
Sozialarbeiter berichteten, dass selbst die ärmsten Familien so sehr an das Radio gebunden waren, dass sie für ihren wertvollen Empfänger sogar ihre Möbel oder Betten aufgeben würden. Das Radio schien die öffentliche Meinung zu regulieren.39 Sein ständiges Drängen, um stets an der Seite der Hörer zu sein, war ein Grund dafür, warum es so authentisch erschien.40 Live-Übertragung, auditive Wahrnehmung, Illusion und Angst: Wenn diese vier Aspekte interagieren - besonders in Verbindung mit Nachrichten und Dramaturgie - kann deren Wirkung enorme Ausmaße annehmen.41 So war das auch beim Radiohörspiel „War of the Worlds“, das am 30. Oktober 1938 von Orson Welles und dem Mercury Theater in New York ausgestrahlt wurde, der Fall.
3.2. „War of the Worlds“ als Beispiel für die Authentizität des Radios
The infamous hysteria generated by Orson Welles's production of War of the Worlds loomed large in the anxieties of radio executives in 1939. Broadcast by CBS on Halloween 1938 as part of Mercury Theater of the Air, this adaption of H.G. Wells' fantasy about a Martian invasion of Earth had sparked pockets of panic 42 across the country.
Um in die neue Saison 1938-39 zu starten, wählte das Mercury Theater eigentlich Georg Büchners Drama über die Französische Revolution, Dantons Tod. Zu diesem Zeitpunkt bestand diese Gesellschaft fast komplett aus unbekannten Darstellern. Doch zwei Tage bevor Dantons Tod ausgestrahlt werden sollte - am 30. Oktober 1938, der Nacht vor Halloween - wurden Orson Welles und seine Crew überraschenderweise über Nacht bekannt für ihr Marsianer-Hörspiel.42 43
Das Hörspiel des Mercury Theaters wurde live vor dem Mikrofon im Studio aufgeführt und direkt übertragen. Durch die Live-Übertragung, der auditiven Wahrnehmung des Publikums und einem gekonnten Schaffen einer Illusion und das Erzeugen von Angst seitens der Zuhörer wirkte die Darstellungsweise - laut der These des Medienwissenschaftlers Werner Faulstich - nicht nur besonders lebendig, sondern auch lebensnah. Die Unsicherheit des Auditoriums und das gehörte Wissen, das etwas Unglaubliches passierte, führten dazu, dass in beinahe ganz Amerika eine Massenpanik ausbrach und das Hörspiel „War of the Worlds“ in der Mediengeschichte Amerikas einen wichtigen Platz einnahm.
3.2.1. Die Live-Übertragung
Dass sich im deutschen Sprachraum für „Direktübertragung“, das französische „en direct“, der englische Begriff „live“ eingebürgert hat - bis hin zu Sendernamen, die das „Live“-Prinzip als Marke und Profil aufnehmen - lässt sich zum einen als modischer Anglizismus erklären, zum anderen auf den Versuch zurückzuführen, die umfassenden Manipulationsmöglichkeiten, die das Prinzip des radiophonen „Dabeiseins“ zum Instrument der Massendisziplinierung im Sinne des „Volksempfängers“ tauglich machten, durch die anglo-amerikanische Tradition der Partizipation am öffentlichen Leben zu balancieren.44
Eine Live-Übertragung ist keine exakte Kopie des wirklichen Lebens, sondern ein Versuch eine Wirklichkeit zu kreieren. Eine spezifische Charakteristik ist dabei „the expectation and hope for the ‘unexpected' to happen.”45 Diese Realitätskonstruktion geht auf das Theater zurück, in welchem eine Illusion der Direktheit in einem definierten Raum entsteht. Beim Radio kann jedoch von einer Überschreitung der Zeit und des Raumes gesprochen werden, denn dem Publikum ist es möglich an Geschehnissen des Lebens an fast allen Orten der Welt teilzuhaben. Gleichzeitig wird so zeitliche und räumliche Nähe hergestellt. Diese Nähe „ist eine Nähe zum Fernen und das Ferne wird in der Live-Sendung nur dann für ,das Leben‘ gehalten, wenn es auch ,authentisch‘ erscheint.“46
Dabei ist die Sendezeit der Dirigent des Ereignisablaufs, sie „maßregelt direkt und glaubhaft die gesendete Zeit, tritt der Ortshaftigkeit realer oder fiktiver Handlung auch dann als Gegenüber hilfreich aus dem Weg, wenn sich die Handlung von Stunden, Tagen, Wochen auf Minuten und Sekunden verdichtet.“47 Das Radio ist das Medium des absoluten Jetzt.
Ein Auszug aus War of the Worlds zeigt genau diesen Aspekt. Nach der Einleitung und dem Nachrichtenbulletin eines anonymen Sprechers wird das Programm von einem Wettermoderator unterbrochen. Von diesem hört man, dass das Programm in Kürze mit Live-Musik aus dem Park Plaza Hotel in New York fortgesetzt werden soll. Doch das Musikprogramm wird plötzlich durch ein weiteres Nachrichtenbulletin unterbrochen. Ein Professor machte von seinem Observatorium aus Beobachtungen zu merkwürdigen Gasexplosionen auf dem Planeten Mars48:
Ladies and gentleman, we interrupt our program of dance music to bring you a special bulletin from the Intercontinental Radio News. At twenty minutes before eight, central time, Professor Farrell of the Mount Jennings Observatory, Chicago, Illinois, reports observing several explosions of incandescent gas, occurring at regular intervals on the planet Mars. The spectroscope indicates the gas to be hydrogen and moving towards the earth with enormous velocity. Professor Pierson of the observatory at Princeton confirms Farrell's observation, and describes the phenomenon as (quote) like a jet of blue flame shot from a gun (unquote). We now return you to the music of Ramon Raquello, playing for you in the Meridian Room of the Park Plaza Hotel, situated in downtown New York.49
Dieses Nachrichtenbulletin verband alle typischen Eigenschaften einer Live- Übertragung der 1940er Jahre. Die laufende Berichterstattung wurde immer unterbrochen, wenn etwas Unerwartetes oder Spektakuläres passierte.50 So ist das Publikum in der Lage zu erkennen wie die Show zusammengestellt und produziert wird.51 Diese Unterbrechungen in „The War of the Worlds“ lassen das Publikum aufhorchen. Es kreiert einen Effekt des Dabeiseins und die Hörer wollen wissen, was als Nächstes kommt. Gleichzeitig verkündet es Wahrhaftigkeit, wenn der Sprecher das Publikum direkt anspricht.
Auch die Verwendung von Interviews in The War of the Worlds zeigt die Kohärenz der Details. Das Interview im Radio wirkt durch das leibliche Gegenüber dabei stets persönlicher, authentischer und dramatischer als das gedruckte Interview in der Zeitung.52 In Orson Welles‘ Hörspiel übernimmt Carl Phillips die Funktion des Interviewers und später als Live-Korrespondent: „Due to the unusual nature of the occurrence, we have arranged an interview with the noted astronomer, Professor Pierson, who will give us his views on this event.”53
In seinem Interview mit dem Landwirt Wilmuth auf dessen Hof, auf welchem die unbekannten Flugobjekte gelandet waren, nutzt er zudem typische journalistische Fragen. Es scheint wie ein gewöhnliches Interview, in dem Wilmuth wie ein typischer Augenzeuge Bericht erstattet54:
PHILLIPS: While the policemen are pushing the crowd back, here's Mr. Wilmuth, owner of the farm here. He may have some interesting facts to add . . . Mr. Wilmuth, would you please tell the radio audience as much as you remember of this rather unusual visitor that dropped in your backyard? Step closer, please. Ladies and gentlemen, this is Mr. Wilmuth.
[...]
1 Vgl. Voß, Günter; Holly, Werner; Boehnke, Klaus (Hrsg.): Neue Medien im Alltag: Begriffsbestimmungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes, Berlin 2000, S. 7.
2 Ebd.
3 Vgl. Statista: Durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer ausgewählter Medien in Deutschland in den Jahren 2014 und 2015 (in Minuten); URL: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/165834/umfrage/taegliche-nutzungsdauer-von-medien-in- deutschland/; 2016.
4 Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung: Faszinationstypen von der Antike bis heute; München 2006, S. 9.
5 Vgl. Heinz Bonfadelli: Medienwirkungsforschung I: Grundlagen und theoretische Perspektiven; Konstanz 1999, S. 38f.
6 Vgl. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 12.
7 Ebd.
8 Bernard Berelson und Gary Steiner in: Werner Früh (Hrsg.): Medienwirkungen: Das dynamisch- transaktionale Modell: Theorie und empirische Forschung; Wiesbaden 1991, S. 28.
9 Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 9ff.
10 Vgl. Ebd.
11 Ebd.
12 Tove A. Rasmussen: Construction of Authenticity, in: Gerd Hallenberger, Helmut Schanze (Hrsg.): Live is Life: Mediale Inszenierungen des Authentischen; Baden-Baden 2000, S. 48.
13 Boris Groys: Unter Verdacht: Eine Phänomenologie der Medien; München 2000, S. 74.
14 Vgl. Ebd., S. 74ff.
15 Vgl. Ludwig Bauer: Authentizität, Mimesis, Fiktion: Fernsehunterhaltung und Integration von Realität am Beispiel des Kriminalsujets; München 1992, S. 11ff.
16 Norbert Bolz in Jörn Glasenapp: Oasen und Müllkippen, in: Matthias N. Lorenz (Hrsg.): DOGMA 95 im Kontext: Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Authentisierungsbestrebung im dänischen Film der 90er Jahre; Wiesbaden 2003, S. 97.
17 Vgl. Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht; Köln, Weimar, Wien 2011, S. 195f.
18 Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 197.
19 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien; Opladen 1996, S. 10f.
20 Ebd., S. 20.
21 Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 199.
22 Vgl. Ebd., S. 208f.
23 Vgl. Peter Beicken: Literaturwissen: Wie interpretiert man einen Film?; Stuttgart 2004, S. 26.
24 Klaus Ramm: Neues Hörspiel im Radio: Vier Wiederholungen zum gleichen Thema; in: Klaus Schöning (Hrsg.): Spuren des Neuen Hörspiels, Frankfurt am Main 1982, S. 213.
25 Ebd.
26 Vgl. Ebd., S. 213ff.
27 Vgl. Hallenberger, Schanze: Live is Life, S. 7
28 Ebd.
29 Vgl. Werner Faulstich: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts; München 2012, S. 122.
30 Vgl. Hallenberger, Schanze: Live is Life, S. 10.
31 Vgl. Werner Faulstich: Radiotheorie: Eine Studio zum Hörspiel ,The War of the Worlds‘ (1938) von Orson Welles; Tübingen 1981, S. 21.
32 Vgl. Ebd., S. 60.
33 Vgl. Faulstich: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, S. 112.
34 Vgl. David Eldrige: American Culture in the 1930s, Edinburgh 2008, S. 93.
35 Vgl. Faulstich: Radiotheorie, S. 101.
36 Vgl. Faulstich: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, S. 128.
37 Eldrige: American Culture in the 1930s, S. 93.
38 Vgl. Ebd., S. 95.
39 Vgl. Ebd.
40 Vgl. Faulstich: Radiotheorie, S. 101.
41 Vgl. Ebd., S. 18.
42 Eldrige: American Culture in the 1930s, S. 121.
43 Vgl. Peter Noble: The Fabulous Orson Welles, London 1956, S. 97ff.
44 Hallenberger, Schanze: Live is Life, S. 9.
45 Hallenberger, Schanze: Live is Life, S. 48.
46 Petra Maria Meyer: Akustische Kunst: live event: authentisches Erleben, in Hallenberger, Schanze (Hrsg.): Live is Life, S. 105.
47 Faulstich: Radiotheorie, S. 48.
48 Vgl. Hadley Cantril: The Invasion from Mars: A Study in the Psychology of Panic, New Jersey 1940, S. 4f.
49 Cantril: The Invasion from Mars, S. 6.
50 Vgl. Faulstich: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, S. 129.
51 Vgl. Hallenberger, Schanze: Live is Life, S. 39.
52 Vgl. Faulstich: Radiotheorie, S.23.
53 Cantril: The Invasion from Mars, S. 6.
54 Vgl. Faulstich: Radiotheorie, S. 25.