Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre wird in der Literaturwissenschaft als klassischer Bildungsroman aufgefasst; als „Sozialisationsspiel“, das den Prozess der Bildung beschreibt. Die Lehrjahre Wilhelm Meisters sind eine „Jugendbiographie, in der Gattenwahl und Berufseintritt, die Ziele der Initiationsschritte“ (Kittler 1978) , durch die sich ein Mensch als Persönlichkeit in der Gesellschaft findet, im Mittelpunkt stehen.
In der vorliegenden Arbeit wird die Sozialisation Wilhelm Meisters unter dem Aspekt seiner Beziehung zur Institution des Vaters betrachtet. Sowohl die Bedeutung des leiblichen Vaters des Protagonisten, sowie die Bedeutung der im Roman auftauchenden symbolischen Verkörperungen des Vaters, und welche Funktionen sie in Bezug auf den Protagonisten einnehmen, wird hier beschrieben. Welche Rolle spielt die Institution des Vaters bei der Bildung, bei der Selbstfindung Wilhelm Meisters? Diese Frage steht im Brennpunkt der Untersuchung.
Dazu ist zu klären, was unter der Institution des Vaters zu verstehen ist. Im Theorieteil der Arbeit wird dieser Frage nachgegangen. Der Begriff des Vaters ist nicht auf den leiblichen Vater Wilhelm Meisters einzugrenzen, sondern als eine Institution zu begreifen. Die Auffassung, dass diese an kein Subjekt explizit gebunden ist, wird hier als Grundlage der Betrachtungen herangezogen und durch Annahmen aus der Psychoanalyse ausgeführt. Auch die Funktion der Institution und die Funktion des Vaters für das einzelne Subjekt, nach dem Psychoanalytiker Jacques Lacan, wird dargestellt, um den Begriff im Interpretationsteil auf Goethes Wilhelm Meister anwenden zu können. Darüber hinaus wird ein Bogen vom Vater als Träger des Vernunftprinzips innerhalb der Familie, zum Vernunftprinzip, das innerhalb unserer Gesellschaft durch Institutionen verkörpert wird, gespannt.
Vor diesem Hintergrund wird die Identitätsfindung von Wilhelm Meister unter dem Aspekt seiner symbolischen Entflechtung von seinem Vater betrachtet. Welche Rolle spielt diese Entflechtung bei Goethe? Wie beschreibt und realisiert er sie im Roman?
Mit diesen Fragen wird ebenfalls bedeutsam, wie der Protagonist den Wandel bzw. den Bildungsprozess vom Sohn hin zur Vaterschaft vollzieht. Die Grundthese lautet dabei, dass Wilhelm Meisters Bildung eine Bildung hin zur Vaterschaft ist.
Recht verkürzt ausgedrückt beschreibt dieser Komplex von Fragen das Erkenntnisinteresse und die Stoßrichtung dieser Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
- I EINLEITUNG
- I.1. Erkenntnisinteresse und Fragestellung
- I.2. Methodik
- II THEORETISCHE GRUNDLAGEN
- II.1. Grundannahmen der Lacanschen Theorie
- II.1.1. Die Mutterfunktion
- II.1.2. Die symbolische Geburt des Menschen
- II.1.3. Der symbolische Vater oder die Institution des Vaters
- II.2. Die Bedeutung des Vaters am Beispiel von Pierre Legendres,,Das Verbrechen des Gefreiten Lortie"
- II.2.1. Einige Fakten zum Fall Lortie
- II.2.2. Die Konstruktion des Vernunftprinzips über die Funktion des Vaters
- III INTERPRETATION
- III.1. Die Rolle des Vaters in der Primärsozialisation Wilhelm Meisters
- III.2. Die symbolische Entflechtung von Wilhelm Meister und seinem Vater
- III.3. Goethes Bildungsroman als Bildung zur Vaterschaft
- IV FAZIT UND SCHLUSSBEMERKUNGEN
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit analysiert die Sozialisation des Protagonisten Wilhelm Meister in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ unter dem Aspekt seiner Beziehung zur Institution des Vaters. Untersucht wird, welche Bedeutung der leibliche Vater und die im Roman dargestellten symbolischen Vaterfiguren für Wilhelm Meister haben und welche Funktionen sie in Bezug auf den Protagonisten einnehmen. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, welche Rolle die Institution des Vaters bei der Bildung und Selbstfindung Wilhelm Meisters spielt.
- Die Bedeutung der Institution des Vaters in der Identitätsfindung
- Die Rolle des Vaters in der Primärsozialisation
- Die symbolische Entflechtung vom Vater als Prozess der Identitätsfindung
- Die symbolische Bedeutung des Vaters in der Lacanschen Theorie
- Goethes Bildungsroman als Bildung zur Vaterschaft
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt das Erkenntnisinteresse und die Fragestellung der Arbeit aus. Sie stellt die Bedeutung der Institution des Vaters in Bezug auf die Identitätsfindung, insbesondere am Beispiel von Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, dar. Die Methodik der Arbeit, die Anwendung psychoanalytischer Grundlagen auf die Sozialisation Wilhelm Meisters, wird erläutert.
Der Theorieteil befasst sich mit den Grundannahmen der Lacanschen Theorie. Die Mutterfunktion, die symbolische Geburt des Menschen und die Institution des Vaters werden in diesem Kontext erklärt. Der Begriff des Vaters wird nicht auf den leiblichen Vater beschränkt, sondern als eine Institution verstanden, die an kein Subjekt explizit gebunden ist. Außerdem wird die Bedeutung des Vaters am Beispiel von Pierre Legendres „Das Verbrechen des Gefreiten Lortie“ erörtert. Der Fall Lortie illustriert die essentielle Bedeutung der symbolischen Entflechtung von Vater und Kind für die eigene Identitätsfindung.
Die Interpretation fokussiert auf die Rolle des Vaters in der Primärsozialisation Wilhelm Meisters, die symbolische Entflechtung von Wilhelm Meister und seinem Vater sowie Goethes Bildungsroman als Bildung zur Vaterschaft.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Themen Identitätsfindung, Institution des Vaters, symbolische Entflechtung, Lacansche Theorie, Bildungsroman, Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Pierre Legendre, „Das Verbrechen des Gefreiten Lortie“, Primärsozialisation.
- Arbeit zitieren
- Björn Bendig (Autor:in), 2006, Die Institution des Vaters und ihre Bedeutung in Hinblick auf die Identitätsfindung am Beispiel von Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91937