Leseprobe
Universität Oldenburg
Institut für Sozialwissenschaften Essay im Seminar: Fake News und alternative Fakten - Zum aktuellen Verhältnis von Wissen und Wahrheit Sommersemester 2017 Alev Erem Master: Sozialwissenschaften Eingereicht am 30.09.2017
Fake News: Durch Kritik zur Wahrheit?
Im digitalen Zeitalter vermehren und verbreiten sich Informationen in einem rasanten Tempo, dadurch erlangen Neuigkeiten eine neue gesellschaftliche Dynamik. Der einzelne Konsument vermag oftmals nicht zwischen wahren und falschen Aussagen zu differenzieren. In diesem Kontext gewinnt das Verbreiten von Fehlinformationen oder Falschmeldungen unter dem Begriff Fake News neue Bedeutung. Parallel dazu kommen folgende Fragen auf: Wie soll man sich vor Falschmeldungen schützen? Ist das überhaupt möglich?
Die Bundeszentrale für politische Bildung rät dazu, die Qualität von Onlineinhalten mit Hilfe der Checkliste „Online-Quellen bewerten“1 zu prüfen. Die Liste dient als Orientierungshilfe dahingehend, die Quellen nach kritischen Maßstäben hinsichtlich ihrer Glaub- und Vertrauenswürdigkeit zu hinterfragen. Die folgenden Fragen können in diesem Zusammenhang hilfreich sein:
- Wer? - Wer steckt dahinter?
- Wie? - Wie sind die Inhalte dargestellt?
- Warum? - Was ist die Intention dahinter?
Das pädagogische Mittel der Checkliste soll den kritischen Umgang mit Quellen schulen, d. h., das Urteilen über die Glaubwürdigkeit und letztlich die Wahrhaftigkeit des Inhalts. Die Beurteilung von wahr und falsch sollte demgemäß über die kritische Beurteilung der jeweiligen Quellen erfolgen2. Damit wird die Kritik zum methodischen Instrument des individuellen Beurteilungsvermögens und der Entscheidung über Wahrheit und Lüge.
In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob die Kritik als Instrument zur Wahrheitsfindung taugt. Wenn es doch so einfach ist, warum wird dann offensichtlichen Falschmeldungen derart viel Aufmerksamkeit geschenkt?
Der „Fall Lisa“ demonstriert genau diesen Umstand. Die Lüge um die vermeintliche Vergewaltigung der 13-jährigen Deutschlandrussin aus Berlin-Marzahn, wird im russischen Staatsfernsehen einhergehend mit Staatsvertuschung und -versagen im Hinblick auf die Flüchtlingskrise thematisiert (vgl. Kensche 2017).
Lisa wird am 11. Januar 2016 von ihren Eltern als vermisst gemeldet. Am Tag darauf erscheint das Mädchen zurück in seinem Elternhaus. Den Polizeibeamten gegenüber, die sie anschließend zu ihrem Verschwinden befragen, äußert das Mädchen, von drei südländischen Männern entführt worden zu sein. Sie sei in einer Wohnung festgehalten worden, wo sie mehrere Male vergewaltigt worden sei. Während der polizeilichen Ermittlungen gelangt die Tat bereits an die Öffentlichkeit. In den sozialen Medien wird eine regelrechte Hetze gegen Flüchtlinge geschürt. Unter Angabe falscher Tatsachen berichtet nun auch das russische Staatsfernsehen. Ein Mann und eine Frau, angeblich Onkel und Tante des Mädchens, wurden zu der Tat interviewt. Sie berichten von der vermeintlichen Entführung und Vergewaltigung ihrer ,Nichte‘. Die Moderatorin des russischen Staatssenders Erster Kanal berichtet schließlich: „Minderjährige werden vergewaltigt, die Polizei tut nichts, die Täter laufen frei rum“. Sie fügt hinzu: „Das ist die neue Ordnung in Deutschland“ (Bota 2016). An dieser Stelle bezieht schließlich auch die deutsche Polizei öffentlich Stellung und erklärt, dass es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung gegeben habe, was durch die Rekonstruktion der Handydaten des Mädchens bewiesen werden konnte. Denn diese hätten ergeben, dass sich das Mädchen zum besagten Zeitpunkt nicht an jenem Ort aufgehalten habe, an dem die vermeintliche Tat stattgefunden haben soll. Daraufhin positioniert sich der russische Außenminister Sergej Lawrow zu dem Fall, indem er den deutschen Medien und der Behörde vorwirft, „(...) die Realität aus innenpolitischen Gründen heraus politisch korrekt zu retuschieren“ (Windisch 2016). Als dann auch noch der Journalist des russischen Staatsfernsehens Ivan Blagoy zu Protestdemonstrationen aufruft, führt das in Deutschland zu einer Welle von Demonstrationen (Steube 2016).
Die Frage, die sich mir nun stellt, ist: Wie konnten Tausende Deutschlandrussen, die sowohl Zugang zu den russischen als auch den deutschen Medien haben, den offensichtlichen Falschmeldungen im Fall Lisa Glauben schenken? Denn eine rationale, kritische Beurteilung im Hinblick auf die faktischen Beweise hätte zu dem Urteil führen müssen, dass das Mädchen lügt und in den russischen und sozialen Medien Falschmeldungen verbreitet werden.
Laut Bruno Latour offenbart die Kritik, „that there is no sure ground anywhere” (Latour 2003, 22). Demgemäß gibt es keine objektive Wahrhaftigkeit, auf die hinsichtlich einer Wahrheitsbeurteilung Bezug genommen werden könnte. Wie gelangt der französische Soziologe zu dieser Annahme?
Vornehmlich richtet sich die Kritik auf eine spezifische Kritikform, die sich auf unbestreitbare Tatsachen (matters of fact) bezieht. Das Problem, das sich hierbei ergibt, wird in den sozialen Erklärungen verortet. Wenn nämlich „Sozialwissenschaftler das Adjektiv „sozial“ zu einem Phänomen hinzufügen, bezeichnen sie damit einen stabilisierten Sachverhalt, ein Bündel von Bindungen, die später wieder herangezogen werden können, um ein anderes Phänomen zu erklären“ (Latour 2007, 9). Solange diese Erklärungen in Bereich des Sozialen verbleiben, gibt es nichts auszusetzen. Problematisch wird es erst, wenn in den Erklärungen Objekte durch soziale Entitäten ersetzt werden. Die Suche nach Erklärungen führt oftmals dazu, dass das explanandum durch das explanans ersetzt wird. Objekte hingegen entspringen einer Realität, die außerhalb des Sozialen liegt - der Natur. Aus ihr gehen Tatsachen hervor, die so viel härter und beständiger sind als der Bereich des Sozialen (ebd., 173f.).
Objekte als Tatsachen werden durch das Ersetzen von sozialen Stoffen zu Symbolen oder Fetischen, die kausale Erklärungen für soziale Phänomene bereitstellen (vgl. ebd., 176). Am Beispiel des Falls Lisa wird deutlich, dass die Rekonstruktion der Handydaten als unbestreitbare Tatsache zum Beweis wird, welcher die Lügen des 13-jährigen Mädchens entlarvt. Die selbe Tatsache erhält im Kontext der russischen Medien allerdings eine andere Bedeutung. Sie wird verwendet als Symbol der Vertuschung, um politische Unruhen zu vermeiden.
Laut Latour wird mit dem Erklären erst dann begonnen, wenn ein „tiefes Mißtrauen hinsichtlich der Existenz der zu erklärenden Objekte eingeführt wurden ist“ (ebd., 176). Im Fall Lisa entsteht zunächst Misstrauen gegenüber ihren Aussagen, die äußerst widersprüchlich erscheinen. Daraufhin wird in Bezug auf die Tatsachen eine neue Realität konstruiert, die sie als ,Lügnerin‘ entlarvt. Die russische Seite begegnet den deutschen Behörden mit Misstrauen, zieht dieselbe Tatsache, die als Beweis diente, heran und ersetzt diese durch eine neue soziale Erklärung, die sie zu einem Symbol der Vertuschung werden lässt.
An genau diesem Punkt werden Latours Bedenken deutlich: Im Hinblick darauf, dass das Ersetzen angesichts objektiv belegbarer Tatsachen durch soziale Entitäten zur Konstruktion sozialer Wirklichkeiten führt, die Objekte zu Kausalitäten werden lassen, suggeriert diese spezifische Form der Kritik, dass es keinen sure ground gebe. Die rekonstruierten Handydaten werden zu Beweisen und diese wiederum in einem anderen Kontext zum Symbol der Vertuschung. Wenn Tatsachen, die einer objektiven Welt entspringen, durch soziale Stoffe ersetzt werden, wird ihnen eine beliebige Bedeutung zugewiesen. Für einen Außenstehenden ergibt sich dann die Schwierigkeit, zu entscheiden, welche Wahrheit nun die richtige ist.
Um objektive Urteile treffen zu können und die Kritik wieder relevant werden zu lassen, appelliert Latour: weg von den matters of fact hin zu den matters of concern (Latour 2003).
Hinter diesem Plädoyer verbirgt sich eine neue Soziologie, die von den science studies als Assoziologie bezeichnet wurde und letztlich als die Akteur-Netzwerk-Theorie bekannt wurde. Das Ausgangsproblem der science studies ergibt sich im Bereich der Naturwissenschaften, die sich soziologisch nicht erklären lassen. Die Schwierigkeit, die Natur ,sozial‘ zu erklären, wird in den Sozialtheorien selbst verortet, die durch ihre Vorannahmen die Differenz zwischen Natur und Gesellschaft ziehen, indem sie das Feld des Sozialen von dem der Natur abgrenzen. Demnach kommt der neuen Soziologie die Aufgabe zu, das dualisierte Klassifizierungsproblem - Gesellschaft und Natur - zu lösen. Gelöst sei es mit der Einführung des Netzwerkbegriffs. Durch diesen sei es möglich, soziale, technische und natürliche Entitäten nicht als Explanans, sondern als Explananda zu behandeln (Schulz-Schaeffer 2014, 187).
Die Grenzen zwischen Gesellschaft und Natur werden mit der Einführung des .verallgemeinerten Symmetrieprinzips‘ aufgehoben. Das Prinzip beläuft sich darauf, dass die relevanten Entitäten nicht im Vorfeld nach ihrem ontologischen Gehalt definiert werden, sondern unabhängig davon wird dieser erst im Netzwerk herausgebildet. Die relevanten Entitäten innerhalb eines Netzwerkes gehen als Aktanten in die Analyse ein. Damit steht die ANT der konkreten Gestalt der Entität indifferent gegenüber und versteht sich selbst als Methode der Erforschung von Vermittlungs- und Übersetzungsprozessen (Gertenbach 2015, 263).
Handlungen lassen sich vor dem Hintergrund dieser Annahmen nicht auf die Intentionalität von menschlichen bzw. nicht-menschlichen Entitäten reduzieren. Handlungsziele und Intentionen von menschlichen Wesen werden innerhalb des Prozesses der Vermittlung und der Assoziation mit nicht-menschlichen Entitäten verschoben und neu definiert. Das Gleiche gilt für die Funktionen nicht-menschlicher Entitäten in Verbindung mit menschlichen Wesen. Daher können Handlungen nicht auf die Intentionen bzw. Handlungsziele von menschlichen Wesen reduziert werden (Wieser 2012, 177).
Unter diesen Voraussetzungen wird das Hervorbringen von Beweisen als eine Handlung verstanden, der eine Reihe von Performanzen vorausgeht. Heterogene Entitäten versammeln sich und übertragen ihre Fähigkeiten und Funktionen wechselseitig aufeinander. Aus dieser Verbindung geht die bestreitbare Tatsache (matter of concern) hervor. So ist ein Beweis nichts anderes als eine Versammlung von heterogenen Entitäten, die als Mittler in einem Netzwerk miteinander verbunden sind. Innerhalb dessen finden durch wechselseitige Übertragungen von Eigenschaften Transformationen statt, die eine neue Entität entstehen lassen. Matters of facts sind dann: „(...) only very partial, (...) very polemical, very political rendering of matters of concern (...)” (Latour 2003, 232).
Die ANT versucht mit ihrem Forschungsansatz, eine internalisierte Erklärung alleine durch empirische Tatsachen zu beschreiben und nicht zu analysieren, indem der Beobachter den Spuren des Sozialen folgt, die während der Übersetzungsprozesse entstehen (Schulz-Schaeffer 2014, 200f.).
Die Kritik in Bezug auf die matters of concern kann Tatsachen nicht als Kausalitäten verwenden, die Intentionen oder Handlungen von menschlichen Wesen infrage stellen, weil diese aus heterogenen Verbindungen resultieren. Da Objekte selbst zu Aktanten innerhalb eines Netzwerkes werden, müssen sie als Versammlungen (gatherings) betrachtet werden. Die kritische Beurteilung der Wahrhaftigkeit muss sich auf das Netzwerk ausdehnen, innerhalb dessen eine Reihe von Aktionen stattfindet, „bei denen jeder Beteiligte als vollwertiger Mittler behandelt wird“ (Latour 2007, 223).
Der Fall Lisa verunsicherte viele tausende Menschen, die sich mit mehreren Versionen zu einem Ereignis konfrontiert sahen. Sie mussten nun beurteilen, welche Wahrheit glaubwürdig sei. Am Beispiel der Beweise konnte gezeigt werden, dass unbestreitbare Tatsachen irrelevant erscheinen, im Hinblick auf ihren Bedeutungswechsel in Abhängigkeit vom Kontext. Demnach erscheint es für das kritische Urteilsvermögen wichtig zu sein, die Relationen und Assoziationen zu sehen, die das soziale Phänomen hervorbringen. Hierbei ergibt sich allerdings ein entscheidendes Problem. Das Versammeln der beteiligten Entitäten, um den ,Spuren des Sozialen4 folgen zu können, fordert den Zugang zu neuem Wissen, welches jedoch oft im Verborgenen bleibt.
Die Polizei nahm öffentlich erst Stellung zum Fall Lisa, als die Falschmeldungen, Gerüchte und Vorwürfe sich bereits überschlugen - man habe die Identität des Mädchens schützen wollen. In den Medien kursierten schon Bilder und Informationen über das Mädchen, die seine Identität offenlegen. Die russischen Medien verwenden den Fall Lisa als Symbol des Staatsversagens. Deutschland steht bereits aufgrund seiner Flüchtlingspolitik im Fokus internationaler Kritik. Als es in der Silvesternacht 2016 zu mehren sexuellen Übergriffen durch südländische Flüchtlinge kommt, fangen selbst die Bürger an, die deutsche Politik infrage zu stellen. Die ohnehin schon angespannte politische Situation und das Misstrauen gegenüber dem Staat sind Rahmenbedingungen einer Gemeinde, die empfänglich ist für Propaganda und Lügenpressen.
[...]
1 Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) rät unter anderem zu der Checkliste. Im Fokus steht die Medienbildung. Unter dem Link wird auch noch auf andere Methoden im Umgang mit Fake News verwiesen. Vorrangig handelt es sich aber um pädagogische Methoden: http://www.bpb.de/lernen/di- gitale-bildung/medienpaedagogik/243064/fake-news (21.09.2017).
2 Die Bundeszentrale für politische Bildung verweist auf die Internetseite, die die Checkliste „OnlineQuellen bewerten“ aufführt: https://www.saferinternet.at/news/news-detail/article/online-quellen-rich- tig-beurteilen-aber-wie-507/ (21.07.2017).