Paul Lincke in Berlin

Leben - Werk - Bedeutung


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2008

36 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Wie man Musiker wird

II. Auf dem Weg in die Luisenstadt

III. Der Durchbruch mit "Frau Luna"

IV. Die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts

V. Lincke und die Frauen

VI. Der allseits geehrte Komponist

VII Das Ende naht

VIII. Zur musikalischen Bedeutung von Paul Lincke

Anhang

Literatur

Das dritte Jahrtausend wurde in Berlin mit Paul Lincke eröffnet: Im Foyer des Otto-Braun-Saals der Staatsbibliothek findet eine Hommage an Paul Lincke in Form einer Ausstellung statt: Mehr als nur Berliner Luft – Der musikalische Nachlass von Paul Lincke. Gezeigt werden Autographe und Drucke auch aus dem 1998 erworbenen kompositorischen Nachlass mit originalen, eigenhändigen Orchesterpartituren. Vom 30. 12 1999 bis zum 02. 01. 2000 fand als Teil des Kunstfestes am Kulturforum zum Jahrtausendwechsel im Otto-Braun-Saal eine Konzertreihe mit dem Elite-Revueorchester, die dem Schaffen von Paul Lincke gewidmet ist, statt.

Gibt es über einen so populären Berliner noch Neues zu berichten? Ist nicht alles hunderte Male erzählt? Auch nachfolgend wird vieles Bekanntes erzählt, dennoch gibt es einiges hinsichtlich der Berliner Aufenthalte Paul Linckes, der damit zusammenhängenden Zeiträume und der Premieren seiner Werke gegenüber weit verbreiteter wissenschaftlicher Literatur richtig zu stellen.

Die äußeren Daten sind leicht erzählt und auch unstrittig: Paul Lincke wurde am 7. November 1866 in Berlin geboren, er verstarb am 3. September 1946 in Clausthal-Zellerfeld. Er war Komponist, Verleger, Musiker, Dirigent. In Berlin-Kreuzberg wurde am 7. November 1956 das Kottbusser Ufer in Lincke-Ufer und zehn Jahre später in Paul-Lincke-Ufer - wo auch zunächst ein Denkmal für diesen populären Berliner stand, bevor es zum Moritzplatz umgesetzt wurde - nach ihm benannt. Er gilt als der Schöpfer der Berliner Operette, vielleicht sogar der Gattung, die man schlechthin Schlager nennt. Viele seiner Berlin-Lieder sagen mehr über diese Stadt und ihre Menschen aus, als es lange wissenschaftliche Abhandlungen je vermögen. Sie sind weit in der Welt bekannt, und John F. Kennedy wünschte sich bei seinem Berlin-Besuch am 26. Juni 1963, durch die "Berliner Luft" begrüßt zu werden. Noch 1965 erinnert sich Jaqueline Kennedy in einem Brief an den warmherzigen Empfang, der dem inzwischen ermordeten Präsidenten in Berlin mit der "Berliner Luft" bereitet wurde. "Manchmal meint man am Kurfürstendamm, mitten im Autolärm und Auspuffdünsten, etwas von dieser unbeschreiblich reinen Wald- und Seewürzluft zu spüren, die schon vor Paul Lincke als 'Berliner Luft' medizinischen und poetischen Weltruf genossen hat. Eine echte Aufatme- und notorische Frühlingsabendluft, die flimmernd impressionistisch leuchtet - Boulevardluft - Weltstadtluft...Das ist der Frühling in Berlin!", so schreibt der Schriftsteller Hugo Hartung in seinem Buch "Die stillen Abenteuer - Begegnungen mit Menschen und Landschaften" (Berlin, Frankfurt am Main, Wien, Ullsteinverlag, 1963)

I. Wie man Musiker wird

Geboren wurde er in der Holzgartenstraße 5. Das war eine Verbindungsstraße zwischen der Unterwasserstraße und der Kurstraße, die so benannt wurde nach dem 1645 hier angelegten kurfürstlichen Holzgarten zur Aufbewahrung des Brennholzes. Die Taufe wurde vier Tage später in der St. Jacobi-Kirche vollzogen. Die 1844-45 im Stil altchristlicher Basiliken von Stüler errichtete Kirche existiert heute noch. Nach starken Beschädigungen im zweiten Weltkrieg wurde sie von 1953-57 wieder aufgebaut. Als Taufzeugen sind im Taufregister eingetragen: der Schutzmann Glaege, der Bureauvorsteher May und das Fräulein Pritzel. Paul Lincke war der Sohn des Malers und späteren Magistratsdieners August Friedrich Heinrich Karl Lincke (geb.: 1822, gest.: 1871) und seiner Frau Emilie Auguste, geb. Schubbel (geb.: 13. 04. 1828, gest.: 28. 03. 1919). Die Vorfahren väterlicherseits waren aus dem Thüringischen nach Berlin gekommen. Hier sind evangelich-lutherische Pfarrer in Freiburg, bei Stadtroda und bei Altenburg nachweisbar. Sind Pfarrer eine Quelle für Musikalität?

Linckes Großvater Ernst Gottlob August Lincke ließ sich hier als gelernter Sattler nieder und erhielt 1815 das Berliner Bürgerrecht. Zu der Zeit lebt er in der Brüderstraße. Unter den Vorfahren der großmütterlichen Familie Schultz, die aus der Mark Brandenburg (Eberswalde und Chorin) kamen, befinden sich Juristen, Beamte, Bauern, Gärtner, Soldaten. Vielleicht schuf die Vereinigung von Sachsen und Preußen die gentechnischen Voraussetzungen für das musikalische Talent Linckes? Deren Sohn August Friedrich Heinrich Karl heiratet nun die Emilie Auguste Schubbel. Sie wohnen zeitweilig in der Oranienstraße, ziehen dann aber in die Holzgartenstraße 5, wo der kleine Paul geboren wird.

Heute existieren dieses Haus und die Straße nicht mehr, sie wurden in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, im Zusammenhang mit dem Umbau der Reichsbank­zentrale, dem späteren Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und heutigem Außenministerium, abgerissen. Wenige Tage nach seiner Geburt wurde er auf die Namen Emil Karl Paul in der Jakobikirche in der Oranienstraße getauft, dort, wo seine Eltern 1855 getraut worden waren. Paul hatte zwei Geschwister: den älteren Bruder Ernst (03. 06. 1861 - 24. 05. 1948) und die jüngere Schwester Helene, später verheiratete Schenk (01. 08. 18671868 - 31. 12. 1941).

Musikalisch bekam Paul von zu Hause nur soviel mit, als dass sein Vater selber als Geiger etwas musizierte und als Aushilfsmusiker noch etwas Geld dazuverdiente. Nach 1868 zog die Familie Lincke in die Adalbertstraße, weil die Wohnung in der Holzgartenstraße zu klein geworden war. Nach dem Tode des Vaters - er starb an der Cholera, als der kleine Paul erst 5 Jahre alt war - zog die Witwe Lincke mit ihren Kindern in die Eisenbahnstraße. Als Hilfsnäherin für eine Wäschefirma musste sie - wie viele Frauen damals - Geld verdienen, um die Familie zu ernähren. Als die Schulzeit herankam, bekam Paule einen Freiplatz an einer privaten Realschule. Schon frühzeitig war bei dem kleinen Paul das Interesse an der Musik erwacht. Weihnachten 1877 bekam er seine erste Geige geschenkt. Ein Freund des Vaters, der Kontrabassist Kackstein aus dem königlichen Opernorchester, unterzog ihn einer musikalischen Prüfung und da diese positiv verlief, gab er ihm auch einige Zeit den ersten Unterricht. Da das Kind so musikalisch schien, schickte die Mutter ihn 1881 - auch auf Empfehlung von Kackstein - zur "Lehre" bei der Stadtpfeife in Wittenberge, wo er, obwohl er schon ganz passabel geigen konnte, zunächst auf die freie Stelle des Fagottisten gesetzt wurde - allerdings gehörten Arbeiten wie Holzhacken und Kohlen holen ebenso zu seinen Verpflichtungen im Haushalt seines Lehrmeisters, des "Musikdirektors" Rudolf Kleinow. Neben der offiziellen Ausbildung auf dem Fagott, erlernt er noch ganz nebenbei Klavierspiel, Schlagzeug und Tenorhorn.

1884 ist er wieder in Berlin und arbeitet zunächst als Aushilfsmusiker in verschiedenen Kapellen, spielt in Lokalen, Cafés und Konzertgärten zum Tanz auf. Eigentlich wollte er ja Militärmusiker werden; die Vielzahl der Garnisonen in der Berliner Innenstadt und die dort auch vertretenen Militärkapellen hatten es ihm angetan. Auch wohnten bei seiner Mutter zeitweise Militärmusiker von den benachbarten Gardepionieren aus der Köpenickerstraße zur Untermiete, so dass er auch schon unmittelbare Berührung mit der Militärmusik bekam. Die militärärztliche Untersuchung aber ergibt, dass er dafür dienstuntauglich ist. Die Enttäuschung ist groß, da er aber - wenn schon nicht beim Militär - auf jeden Fall Musik machen möchte, muss er sich anderweitig umsehen. Er braucht nicht weit zu schauen: Im Central-Theater in der Alten Jakobstraße 30 (dort, wo heute der Waldeck-Park ist) erhält er eine erste feste Anstellung als Fagottist. Dieses Theater hatte eine sehr wechselvolle Geschichte unter den verschiedensten Namen. Central-Theater hieß es in den Jahren 1880-1887, 1892-1919 und 1920-1933. Bis 1869 war es ein Ballhaus, 1869-1879 Reunion-Theater, 1879-1880 Henne-Theater, 1887 ging es an den bekannten Berliner Komiker Emil Thomas als Thomas-Theater bis zum Jahre 1892. In diesem Jahr übernahm der in Berlin sehr aktive Theaterunternehmer Richard Schultz dieses Haus und machte es wieder zum Central-Theater. 1919 wurde es umgebaut und von dem Komponisten Victor Hollaender als Eden-Theater wieder eröffnet, 1920 hieß es kurzzeitig Theater in der Alten Jakobstraße und 1921 wieder Central-Theater, im Dezember 1926 war es dann das Winterberg-Theater, 1933 wurde es geschlossen. Aber da hatte es mit Paul Lincke schon lange nichts mehr zu tun.

1885 geht er dann an das1877 gegründete Ostend-Theater in der Großen Frankfurter Straße 132 (das spätere Rose-Theater) als Korrepetitor. Als sein Direktor 1886 das Theater wechselt, geht er mit ihm zusammen in das Stadttheater in der Wallnerstraße. Im August 1887 wird er Kapellmeister am Königstädtischen Theater in der Alexanderstraße, wo er bis 1890 bleibt.

Hier lernt er die erst 16-jährige Soubrette Anna Müller kennen, die er dann auch abends oftmals nach der Vorstellung zu ihrer Wohnung auf dem Prenzlauer Berg begleitet. Es ist ihrer beider erste große Liebe.

Er wird dann als Erster Kapellmeister an das Parodie-Theater in der Oranienstraße 52 verpflichtet, in der östlichen Nähe zur Prinzenstraße. Selbiges war nicht weit von der Wohnung seiner Mutter entfernt. Und es war "seine" alte Gegend, die er so liebte und in der er aufgewachsen war. Einst Zentrum der Luisenstadt mit dem bekannten Wertheimkaufhaus, dem Café Nagler, dem Gartenetablissement Buggenhagen, dem Hotel "Deutscher Hof" und vielen kleinen Geschäften und Kneipen, hat sich heute die Gegend um den Moritzplatz durch die Zerstörungen im zweiten Weltkrieg und durch die bis 1989 unweit davon verlaufende Mauer zwischen dem Ost- und Westteil der Stadt völlig verändert und ihren alten Glanz verloren. Aber dieser Ort in der Luisenstadt, sollte für Linckes Leben große Bedeutung erlangen.

Musikalische Engagements außerhalb Berlins zusammen mit Gesangsensembles oder als Klavierbegleiter führen ihn auch auf andere Bühnen. Für einige Zeit verlässt Paul Lincke Berlin, um in anderen deutschen Städten neue musikalische Eindrücke zu sammeln. In der Spielzeit 1886/87 ist Paul Lincke Dirigent im Sommertheater im Schweizergarten auf dem Prenzlauer Berg, nahe der Brauerei am Friedrichshain gelegenen sehr beliebten Garten-Etablissement, wo sich heute zwischen dem Märchenbrunnen im Friedrichshain und der Greifswalder Straße der Garten des Katharinenstifts befindet,. Diese Auftritte hatten ihm den Ruf eines Schaudirigenten in Berlin eingetragen. Ob Sommergarten am Friedrichshain oder Wintergarten im Ostend-Theater: der bisher unbekannte Fagottist Paul Lincke begeisterte von nun an als Dirigent das Publikum und wurde schnell populär.

Zwischendurch dirigiert er regelmäßig im Sommergarten des Theaters Belle-Alliance in der Belle Alliance-Strasse 7 - 10 (neben dem heutigen Finanzamt gelegen) zur Freude vor allem der jungen Berlinerinnen, die den schmucken und eleganten jungen Kapellmeister umschwärmten. Im Baedeker des Jahres 1891 ist das Belle Alliance als Theater für leichteres Lustspiel und Schwänke ausgewiesen. Für den Eintritt in den "glänzend erleuchteten Garten und die Stehplätze" muss man ganze 75 Pfennige bezahlen. Bald muss dieses Theater aber schließen und das Viktoria-Theater zieht von der Münzstraße hierher. Paul Lincke trug zu dieser Zeit den neuen Haby-Schnurrbart - die beiden Schnurrbartspitzen um neunzig Grad hoch aufgewirbelt -, genau wie seit kurzem Seine Majestät Kaiser Wilhelm II.

II. Auf dem Weg in die Luisenstadt

Sein bedeutendstes musikalisches Wirken ist vor und nach der Jahrhundertwende mit dem Apollo-, Thalia- und Metropol-Theater zu verzeichnen. In der Friedrichstraße 218 (Berlin SW 48) war das Apollo-Theater beheimatet. (Zwischen Koch- und Puttkammerstraße, direkt neben dem sich heute dort befindlichen Landeseinwohneramt gelegen.) Hier war er seit dem 1. September 1893 als 1. Kapellmeister und Hauskomponist angestellt. Es war kein Operetten-Theater im heutigen Sinne. Eigentlich war es mehr ein Varieté, mit Akrobaten, Zauberern und Jongleuren, Tanzdarbietungen - mehr dem heutigen Friedrichstadt-Palast ähnlich, als dem Metropol-Theater. So waren es zunächst auch mehr musikalische Einlagen, die Lincke hier komponieren und dirigieren musste, als geschlossene musikalische Werke, geschweige denn abend­füllende Operetten. Am Mittwoch, dem 12. Mai 1897, wurde hier seine "Venus auf Erden" uraufgeführt (der Text stammte, wie auch von den nachfolgenden Erfolgsstücken, von Heinrich Bolten-Baeckers). Dieses Werk enthält den wohl berühmtesten Hit Paul Linckes: den Marsch „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft“. Allerdings ist er zu dieser Zeit bei weitem nicht jener Publikumserfolg, der Lincke auf Anhieb berühmt macht. Erst sieben Jahre später macht Lincke diesen Marsch zur Titelmelodie einer neuen Operette und in den zwanziger Jahren wird er dann in die „Frau Luna“ aufgenommen – aber dazu später.

Interessant ist, dass neben bzw. innerhalb dieser Revue-Operette im Juni 1897 einen Monat lang Otto Reutter auftrat. Er war damals gerade 27 Jahre alt, noch nicht so bekannt, wie nach seinem Wintergarten-Engagement im Dezember 1899, jedoch immerhin so bekannt, dass mit seinem Namen und nicht mit dem von Paul Lincke in den Zeitungsanzeigen der "Vossischen Zeitung" geworben wurde! Lincke hat zu dieser Zeit eine Wohnung am Luisen Ufer 51 II. 2-4 (Vgl. Adreßbuch, wo er 1897 als Componist und 1898 als Kapellmeister erfasst ist). Das Luisen Ufer befand sich nördlich des Urbanhafens und verlief dann entlang der Westseite des Luisenstädtischen Kanals bis zur Königinnen-Brücke). 1947 erfolgte die Umbenennungen in Legiendamm nach dem Gewerkschaftsführer und Publizisten Carl Legien (1861-1920). Damit ist er wieder in der Luisenstadt, der er dann bald 40 Jahre lang aufs Engste verbunden blieb. Lincke ist weder in der damaligen Luisenstadt, seit 1920 aufgeteilt auf die Berliner Stadtbezirke Kreuzberg und Mitte, geboren, noch ist er dort gestorben. Dennoch gehört Paul Lincke zu diesem Teil Berlins wie selten ein Künstler. Nicht im Sinne von Lokalkolorit, da ist er Berliner durch und durch, sondern durch seine Mischung von gesundem Berliner Menschenverstand, jovialem Humor und persönlichem, wohl wollendem Skeptizismus, durch die Verbindung von Geschäftssinn und Gespür für die musikkulturellen Bedürfnisse der kleinen Leute, die hier und anderswo immer die Mehrheit stellen. Er pflegte den Kontakt zu ihnen, auch wenn er dann der "feine Paule" war, sprach er ihre (nicht nur) musikalische Sprache, lockte ihre verborgenen Wünsche aus ihnen heraus, schuf ihnen neue Bedürfnisse und erfüllte sie. Das machte ihn angenehm und behaglich, so wurde er eine populäre Figur in Berlin und bald darüber hinaus.

Der Erfolg seiner "Venus auf Erden" war recht gut, freilich keineswegs sensationell oder schon den späteren Ruhm seines Schöpfers vorausahnend. Im Herbst geht er erneut nach Paris, diesmal für zwei Jahre an das Théatre Folies-Begères zu Direktor Marchand. Seine Wohnung am Luisen Ufer 51 II. behält er laut Adreßbuch 1898 bei; 1899 bis 1901 ist er in Berlin nicht verzeichnet.

III. Der Durchbruch mit "Frau Luna"

Nach Berlin zurückgekehrt kommt er wieder an das Apollo-Theater. Lincke hatte nie eine dirigentische oder kompositorische Ausbildung gehabt; wie das bei der Stadtpfeife war: man musste alles machen und alles können. Umso beeindruckender ist sein nächstes Werk, mit dem er den Auftakt zur Berliner Operettengeschichte gab: am 1. Mai 1899 war die Premiere für seine "Frau Luna". (In der Literatur gibt es verschiedene Daten: Berlin-Chronik des Chronik-Verlages und der Musikkalender "Musik im Jahr" des Schott-Verlages nennen den 31.12.1899, das Lexikon "Musik in Geschichte und Gegenwart" (MGG 1. Auflage) und selbst ein Apollo-Verlagsprospekt aus den fünfziger Jahren verweisen auf den 2. Mai 1899 - das sind nur einige der falschen Angaben aus der Lincke-Literatur, ähnliches ist auch für andere Uraufführungstermine anzutreffen. Sie werden in diesem Beitrag anhand originärer Quellen korrigiert.) Die Berliner Börsen-Zeitung schrieb nach der Premiere: "Zu dieser phantastischen Operette hat Herr Paul Lincke eine ungemein graciöse Musik geliefert. Als der Componist, seit langer Zeit das erste Mal, am Dirigenten-Stuhl des Apollo-Theaters erschien, wurde er mit stürmischen Zurufen begrüßt. Seine einschmeichelnde Musik hat entschieden wesentlich zu dem großen Erfolg der Novität beigetragen." Frau Luna lief im Apollo-Theater über 600 Mal hintereinander. Lag es am Text? An der Musik? Am Gegenstand der Handlung? Die Handlung selbst traf natürlich einige aktuelle Befindlichkeiten der aufstrebenden Weltstadt Berlin. Wie sah es zu dieser Zeit aus? Die Einwohnerzahl ist auf 2 481 084 gestiegen (incl. Vororte), die Luisenstadt ist der am dichtesten besiedelte Vorort, kaum oder wenig beheizbare Wohnungen gibt es in der eng bewohnten Innenstadt, wo Mietskasernen das Bild der Lebensverhältnisse rund um den Stadtkern bestimmen. 9 - 11 Stunden täglicher Arbeitszeit ist der normale Zustand; der Aufschwung um die Jahrhundertwende lässt auch eine Zunahme an Einbrüchen und Diebstählen verzeichnen, nur 5,6 % aller Berliner Schüler besuchen ein Gymnasium, bei mehr als vier Fünftel bleibt es bei einer Grundschulausbildung; in den 23 städtischen Berliner Bibliotheken stehen 121 787 Bände. Für 6 - 8 Mark kann man in einfachen Verhältnissen in der Woche wohnen und sich beköstigen. Das Einkommen beträgt 10 - 15 Mark für unverheiratete Arbeiterinnen. Zur gleichen Zeit gibt es die ersten bewegten Bilder zu bestaunen, erste Autorennen, erste Funkversuche und - für die Handlung der "Frau Luna" besonders bedeutsam - die ersten Flugversuche von Otto Lilienthal mit ihren Abstürzen. Das war Gesprächsthema, das regte die Phantasie an: Solle der Mensch sich in die Lüfte begeben, was würde das für ihn bedeuten? Allerdings ist der Erfolg der Operette nicht ursächlich auf die aktuellen Bezugspunkte der Handlung zurückführen. Ähnliches gab es schon Jahre vorher, u.a. bei Offenbach. Was hier die Wirkung ausmachte, ist die zündende Eingängigkeit der Melodien, der mitreißende Schwung der einfachen Rhythmen, das sofortige Behalten und Verinnerlichen der einmal gehörten Lieder, die den Berlinern und vielen weiteren Hörern nicht mehr aus dem Kopf gingen. Auch die einfache Philosophie der Texte, Zeilen, die schnell zu Alltagsredensarten avancierten, sorgte für eine um sich greifende Popularität. Was hier von vielen Musikwissenschaftlern und -publizisten als die Geburtsstunde der Berliner Operette angesehen wurde, war im Verständnis des Autors gar nicht so gedacht. Es war an diesem 1. Mai 1899 noch ein einaktiges Werk innerhalb eines Varieté-Programms und wurde von Paul Lincke als "Posse mit Musik" bezeichnet. Vieles, was heute in den Aufführungen und Schallplattenaufnahmen der "Frau Luna" zu hören ist, war an diesem Premierenabend überhaupt noch nicht komponiert, sondern wurde erst später, als dann eine zweiaktige, abendfüllende Operette durch Paul Lincke zusammengestellt wurde, in dieses Werk aufgenommen. Zu den Liedern, die noch heute große Popularität genießen, erklangen am 1. Mai 1899 lediglich "Schlösser, die im Monde liegen", "Lasst den Kopf nicht hängen" und "Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe" - jedes für sich allerdings eines bedeutenden Komponisten würdig. Ida Perry, die "Stella" aus der "Frau Luna" des Jahrs 1899 erinnert sich noch mit 85 Jahren an ihre - und vor allem Linckes - damaligen Erfolge. (Zeitungs-Interview im Steglitzer Heimatverein).

Personen: Fritz Steppke; der Schneider Lämmermeier; der Rentier Pannecke; Frau Pusebach; ihre Nichte Marie; Frau Luna; ihre Zofe Stella; Prinz Sternschnuppe; Venus; Mars; Theophil; Mondgroom; Sterne und Mondschutzmänner.

Inhalt: Die Handlung spielt in Berlin um die Jahrhundertwende - war also ein ausgesprochenes Gegenwartsthema.

Im ersten Akt sieht man auf dem Dach über der Mansarde Fritz Steppke, den Untermieter von Frau Pusebach, sitzen und die Windrichtung kontrollieren. Er hat einen Stratosphären-Expressballon konstruiert, mit dem er recht bald zum Mond fliegen will. Sein Freund Lämmermeier richtet schon die Flugkapitänsuniform her. Frau Pusebach hält das alles für Spinnerei und kündigt ihrem Untermieter. Sie ist etwas vergnatzt, denn sie hatte einen gewissen Theophil kennen und lieben gelernt, und dieser hatte sie sitzen gelassen. Nun ist der Rentier Pannecke ihr Bräutigam und den muss sie schnell überwachen gehen, weil er in der Kneipe "Kühle Molle" sein Bier trinkt, damit er sich nicht nach andern Weibern umschaut. Ihre Nichte Marie hat sich aber in Steppke verliebt und bringt ihm das Abendessen aufs Dach. Dennoch hält auch sie nichts von seinen Plänen und singt voller Kummer: "Schlösser, die im Monde liegen, bringen Kummer, lieber Schatz." Fritz Steppke ist so verliebt in seine Marie, dass er ihr zu Liebe von seinen Plänen Abschied nimmt, aber er möchte sich wenigstens noch einmal in der Kapitänsuniform sehen. Seinen Träumen hingegeben schläft er in der schmucken Uniform ein und träumt: Der Mond scheint hell und seine Freunde Lämmermeier und Pannecke kommen zu ihm, sie sind wieder so von ihrer Idee begeistert, dass sie über die Dächer abhauen, zum Flugplatz rennen und die Gondel besteigen. Frau Pusebach, die wenigstens ihren Pannecke halten will, rast hinterher, kann sich gerade noch an der Strickleiter fest halten, während Marie weinend zurückbleibt. Der Traum führt sie zum "Mann im Mond", der sich als Frau Pusebachs Theophil entpuppt und der Ordnungshüter auf diesem Gestirn ist. Er hat sich aber inzwischen in Stella verliebt, eigentlich mehr in ihr Sparkassenbuch, denn er hat Schulden! Die vier Berliner stellen fest, dass es auf dem Mond sehr irdisch zugeht, denn Theophil lässt sie als lästige Ausländer auf dem Mond erst einmal verhaften. Aber die clevere Frau Pusebach kann entkommen, droht mit einem riesigen Skandal, wenn die Verhafteten nicht auf der Stelle freigelassen werden. Theophil beschwichtigt sie erst einmal, denn er hat wichtigere Aufgaben zu erfüllen. Als Staatsgast wird auf dem Mond der Prinz Sternschnuppe erwartet, der die Mondchefin Frau Luna heiraten möchte, was er schon einige Male vergeblich versucht hatte. Von diesem leiht Theophil sich das Kometenauto, weil er persönlich die Berliner in ihre Heimatstadt zurück bringen möchte, damit sie endlich wieder Berliner Luft schnuppern können. Erster Akt Ende! Zu Beginn des zweiten Aktes empfängt Frau Luna den Bewerber und sein Gefolge in ihrem Prunksaal. Wieder wird er abgewiesen. Frau Luna hört aber von den Berliner Eindringlingen und möchte sie unbedingt noch persönlich kennen lernen. Sie werden vorgeführt, und besonders Steppke gefällt ihr ausnehmend gut. In ihrem Privatzimmer will sie ihm die Sehnsucht nach der Erde nehmen, um ihn später verführen zu können. Als der eifersüchtige Prinz das mitbekommt und außerdem hört, dass Steppke ein Mariechen auf der Erde hat, flitzt er in seinem Kometenauto los, um auch noch Marie auf den Mond zu holen. Die stutzt ihrem Steppke erst einmal die Flausen, aber alle Flirts und Eifersüchteleien sollen nun friedlich beigelegt werden, denn "Ist die Welt auch noch so schön, einmal muss sie untergehn", also soll man sich doch dort einrichten, wo man ist und nicht den "Schlösser, die im Monde liegen" und nur Kummer bringen, nachjagen. Das ist die etwas einfältige Moral der Geschichte, die aber mit so viel schöner Musik serviert wird.

[...]

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Paul Lincke in Berlin
Untertitel
Leben - Werk - Bedeutung
Autor
Jahr
2008
Seiten
36
Katalognummer
V92139
ISBN (eBook)
9783638053976
ISBN (Buch)
9783638945875
Dateigröße
1018 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Paul, Lincke, Berlin
Arbeit zitieren
Dr. sc. phil. Peter Spahn (Autor:in), 2008, Paul Lincke in Berlin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92139

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