Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Forschungsinteresse und Fragestellung
1.2. Kategorisierung des Begriffs der schwachen Staaten
1.3. Zugehörige Probleme und Relevanz
2. Die EU als außenpolitischer Akteur
2.1. Externe Europäisierung als regionale Dimension des globalen Demokratisierungsprozesses
2.2. Strategien und Instrumente zur Förderung der Staatsbildung
2.3. Schwache Staaten in der östlichen Nachbarschaftsregion
3. Das Konzept des „failed state“ anhand des Beispiels der Ukraine
3.1. Der anhaltende Konflikt in der Ukraine
3.2. Ahistorische Nation-Building-Konzept
3.3. Analyse der ukrainischen Staatlichkeit nach Fragilität
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Moderne Nationalstaatlichkeit konzentriert sich - zumindest in der Theorie - auf die Erbringung der zwei grundlegenden Funktionen: zum einen übernehmen Staaten die Aufgabe öffentliche Ordnung innerhalb konkreter Territorialgrenzen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu gewährleisten (Schneckener, 2005, S. 26). Zum anderen organisieren und kanalisieren die Staaten die Interessen ihrer Bevölkerung, puffern und manipulieren äußere Einflüsse, treten für die bessere Koordinierung lokalen oder besonderen Anliegen ihrer Anhänger ein, und vermitteln zwischen den Zwängen und Herausforderungen der internationalen Arena und der Dynamik ihrer eigenen inneren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Realitäten, oft aber nicht ausschließlich, um nationale Ziele und Werte zu fördern (Rotberg, 2004, S. 2). Somit „konstituieren alle Staaten das internationale System“, in dem sie gemeinsam als „primäre Träger der globalen Ordnung“ uneingeschränkt miteinander interagieren können (Schneckener, 2005, S. 26). In der Realität aber sind einige Staaten außerstande, effektiv „in einer vom westfälischen Modell internationaler Beziehungen geprägte Weltgemeinschaft“ (Kößler, 1994) einzuwirken und zu verhandeln, sowie die grundlegende Funktionen auf ihren Staatsgebiet abzudecken: Bereitstellung von öffentlichen Wohlfahrts- und Sicherheitsleistungen. Mit dem Scheitern der großen Theorien - Modernisierungs-, Europäisierungs- und Dependenztheorien - stellt sich die Lage offenkundig, dass die Probleme mit der Entwicklungsgesellschaften weder Modernisierungsrückständen, noch ausschließlich dem Weltwirtschaftssystem anzulasten sind (Klemp & Poeschke, 2005, S. 18).
Insbesondere nach den Terrorattacken des 11. September 2001 wurde in der westlichen Welt anhaltende Aufmerksamkeit dem Gebiet der fragilen Staatlichkeit, die seitdem „als unmittelbare Gefährdung der eigenen nationalen Sicherheitsstrategien wahrgenommen“ wird, gewidmet, da „aus lokalen Problemlagen können, sofern sie ignoriert werden, globale Risiken erwachsen“ (Schneckener, 2004, S. 5). Wenn schwache Staaten sich in kritischen Phasen von Vefalls- bzw. Reformprozessen befinden, erfordert es neben erhöhter Kohärenz, kontinuierlichem Engagement und umfassender Zusammenarbeit der internationalen Akteure an der gemeinsamen Strategieentwicklung zum Krisenmanagement, auch noch entscheidende Schritte an ihren eigenen Sicherheitsstrategien. Insofern hat die Europäische Union die neue Dringlichkeit der Problemlage für sich erkannt und im Rahmen der „Europäischen Sicherheitsstrategie“ vom 12.-13. Dezember 2003 zum ersten Mal das Sicherheitsumfeld der EU analysiert, die wichtigsten sicherheitspolitischen Herausforderungen identifiziert und die daraus folgenden politischen Auswirkungen für die Mitgliedsstaaten definiert (European Union, 2003). Dennoch folgten die neuen ausgebrochenen Konflikte an dem Grenzen der EU mit dem neuen Wandel der europäischen Sicherheitsarchitektur.
1.1. Forschungsinteresse und Fragestellung
Meine Forschungsinteressen liegen im Bereich der osteuropäischen Transformationsgesellschaften sowie die Institutionalisierung von Demokratie in postsowjetischen Ländern. In einem mehrjährigen Prozess der Auflösung des weltgrößten sozialistischen Staates - der Sowjetunion (UdSSR), der unter anderem eine Desintegration der föderalen politischen Strukturen vorsah, erlangten 15 sowjetischen Unionsrepubliken ihre Unabhängigkeit. Die Demokratieeinführung nach der von Jahrzehnten praktizierender Planwirtschaft brachte nicht die gewünschten Erfolge und kontinuierliches Ankommen der autoritären Führer an die Macht, die in Form von „gemanagter“ Demokratie sich gegen angeblich von Westen „hergestellten“ demokratischen Revolutionen zu verteidigen suchen (Herd, 2005), erlauben bis heutzutage nicht demokratischen Prinzipien auf allen gesellschaftspolitischen Ebenen zu verwurzeln. Aus diesem Grund wurden zahlreiche jüngeren Staaten des ehemaligen sozialistischen Regimes häufig als fragile oder schwache Staaten bezeichnet. Daraus abgeleitet ergibt sich bei der Herausarbeitung dieser Arbeit der Versuch, das Konzept des schwachen Staates und Sicherheitsinteressen der EU in einen Zusammenhang zu stellen. Die Analyse wird an einem konkreten Beispiel, nämlich die Ukraine als post-kommunistisches Land, durchgeführt. Diese Auswahl stellt ein großes Interesse ausfolgendem Grund: seit 2014 mit dem Ausbruch der Ukraine-Krise wird die Debatte um die gescheiterte Staatlichkeit der Ukraine mit einer neuen Dringlichkeit geführt, allerdings seitens Russlands. Mich interessiert vor allem, ob die Ukraine wirklich ein schwacher Staat war bzw. ist. Welche Strategien und Instrumente werden seitens EU der Ukraine für die Entwicklung ihrer Staatlichkeit zur Verfügung gestellt? Waren diese Strategien der Auslöser des heutigen Konflikts oder liegt es mehr an interner Problemlage der Ukraine selbst? Welche Vorteile lassen sich für die europäische Sicherheitsarchitektur politisch stabilen und entwickelten Nachbarstaaten identifizieren? Insofern widmet sich die vorliegende Arbeit Beantwortung dieser Frage: Inwiefern beeinflusst die fragile Staatlichkeit der Ukraine die Realisierung der Sicherheitsinteressen der EU im Kontext externer wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen?
Der von mir in dieser Arbeit gewählte Begriff „schwache Staaten“ ist kein neues Phänomen, der allerdings, angesichts der umfassenden internationalen Debatte, über vielfältige Möglichkeiten zur Charakterisierung verfügt. Deswegen sollen zunächst Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Begrifflichkeit angegangen werden.
1.2. Kategorisierung des Begriffs der schwachen Staaten
Je nach Leistung des Staates, nämlich Niveau der effektiven Lieferung der wichtigsten politischen Güter1 können „starke“ Staaten von „schwachen“ und „schwache“ von „gescheiterten“ Staaten unterschieden werden (Rotberg, 2003, S. 3). Das Konzept der gescheiterten Staaten vermittelt angemessener die wörtliche Übersetzung aus dem englischen Begriff „failed state“, das häufig mit Worten wie „versagende“ oder „verfallende“, „gescheiterte“ oder „zerfallende“ (Nolte, 2007) sowie „Quasi-Staaten“ (Jackson, 1993) bezeichnet wird. Die wichtigsten europäischen Institutionen liefern folgende Begrifflichkeiten für fragile Staaten (Cammack D. , McLeod, Menocal, & Christiansen, 2006, S. 17):
EU (European Commission): “Difficultpartnerships are characterised by a lack of commitment to good governance. They differ from weak governance cases, where the government makes efforts and is committed, but capacity is weak and outcomes are limited. ”
EU (European Council): “In many parts of the world bad governance, civil conflict, and the easy availability of small arms have led to a weakening of state and social structures. In some cases, this has brought about something close to the collapse of state institutions. ”
Das Konzept der schwachen Länder wurde Anfang der 90er Jahre in den Vereinigten Staaten entwickelt. Einer der ersten, der über die schwachen Länder schrieb, waren Gerard Helman und Steven Ratner in dem Artikel „Rettung schwacher Staaten“ (Helman & Ratner, 1993). Barry Buzan und Waever Ole haben zum ersten Mal das Konzept eines „schwachen Staates“ als analytische Kategorie angewandt. Er hat einen „schwachen Staat“ als solchen definiert, auf dessen Territorium keine Nation, sondern verschiedene ethnische Gruppen nebeneinander existieren, der Prozess der Staatsbildung abgeschlossen ist und die herrschenden Eliten mehr auf innere Bedrohungen als auf externe gerichtet sind (Buzan & Waever, 1997). Unter anderem glaubt der Forscher, dass „Stärke“ oder „Schwäche“ in erster Linie durch die „Staatsidee“ bestimmt wird - wie viel Konsens in der Gesellschaft über den Staat gebildet wird und wie er sich damit identifiziert (Croft & Terriff, 2013).
Robert Rotberg teilt schwache Staaten in drei Arten ein: schwach in der Natur, wegen geographischer, physischer oder fundamentaler wirtschaftlicher Zwänge, im Allgemeinen stark, aber vorübergehend oder situativ schwach durch interne Antagonismen (schlechte Regierungsführung, Gier, Despotismus oder externe Angriffe) und ein Typ, der die Merkmale der beiden vorherigen verbindet (Rotberg, 2004). Solche Staaten werden in der Regel durch Spannungen ethnischer, religiöser, linguistischer oder militärischer Charakter geschwächt, die noch nicht in die aggressive Phase eingetreten sind.
Seth Kaplan glaubt, dass schwache Staaten durch zwei strukturelle Schlüsselprobleme gekennzeichnet sind: Fragmentierung der politischen Identität und schwache nationale Institutionen (Kaplan, 2014). Es definiert auch die postkoloniale Natur der schwachen Staaten als eines der Haupthindernisse für die Entwicklung des Staates. Kaplan erklärt dies, indem er die Regierung von den lokalen Gemeinschaften als eine koloniale Eigenschaft abgrenzt, die in vielen postkolonialen Ländern nach der Unabhängigkeit nicht ausgerottet wurde (Kaplan, 2010).
Caroline Thomas verbindet die „Schwäche“ des Staates mit institutioneller Kapazität und definiert zwei Arten staatlicher Macht: despotisch und infrastrukturell (Thomas, 1987). Despotische Macht verkörpert die Fähigkeit des Staates, Zwang gegen Bürger durchzusetzen. Infrastrukturelle Macht bezieht sich auf die Effektivität und Legitimität staatlicher Institutionen und ihre Fähigkeit, im Konsens zu regieren (Thomas, 1991). Der Staat kann in beiden Arten von Staatsmacht schwach sein, jedoch starke Staaten erfordern in der Regel keine despotische Macht, da sie über eine ausreichende Infrastruktur verfügen. Thomas weist auch darauf hin, dass die territorialen Grenzen der Staaten der Dritten Welt „künstliche Formationen der europäischen Kolonialmächte“ sind und daher Faktoren wie Ethnizität, Kultur oder Religion nicht berücksichtigen (Thomas, 1987, S. 21).
Robert Jackson teilt diese Meinung. Er glaubt, dass moderne schwache Staaten durch Veränderungen in der internationalen Arena, für die sie nicht unbedingt bereit waren, unabhängig geworden sind (Jackson, 1993). Daher sieht er die Schwächen der Staaten in ihrer kolonialen Vergangenheit (Jackson & Kaplan, 1994).
Ein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung des Konzepts leistete die Friedensstiftung „Fund for Peace“ - eine Nichtregierungsorganisation, die im Washington seitdem Jahr 1957 existiert. Mithilfe eines systematischen Instruments für die Konfliktbewertung - Conflict Assessment System Tool (CAST) - analysiert man mögliche Konflikte in schwachen Ländern. Ein Teil des obengenannten Instruments ist der Index der schwachen Staaten. „Fund for Peace“ verwendet die folgenden 12 Indikatoren, um Länder zu bewerten und ihren Platz im Index der schwachen Staaten zu bestimmen (Fund For Peace, 2017, S. 6-13):
1. Demografische Probleme: Grenzkonflikte und Besatzungszustand, hohe Bevölkerungsdichte, Mangel an lebenswichtigen Ressourcen usw.;
2. Ausmaß der Unterdrückung, Gewalt, einschließlich des Anteils der Flüchtlinge aus Ländern;
3. Gruppen, die unter Vergeltungsmaßnahmen gegen sie leiden, darunter Gruppen, die von Behörden oder dominanten Gruppen diskriminiert werden, institutionalisierte politische Diskriminierung und Gruppen, die wegen Autonomie, Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit verfolgt werden;
4. Chronischer Auszug bzw. Abwanderung der Menschen: freiwillige Emigration der Mittelschicht, jüngeren Generation usw.;
5. Ungleiche wirtschaftliche Entwicklung bestimmter Bevölkerungsgruppen;
6. Armut oder schwerer wirtschaftlicher Verfall;
7. Die Legitimität des Staates, einschließlich der weit verbreiteten Korruption der herrschenden Eliten, der Widerstand gegen die Transparenz ihrer Aktivitäten und die Proteste gegen die Regierung;
8. Beendigung der Kernfunktionen des Staates, einschließlich des Schutzes vor Terrorismus, der Bereitstellung von Personal in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Verkehr usw. und Verengung des Zustandsapparates auf die Elite-Servicefunktionen
9. Verletzung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit;
10. Sicherheitssystem, in dem die Sicherheitskräfte des Staates die Bevölkerung, insbesondere die Opposition, sowie die Existenz illegaler bewaffneter Gruppen im Land terrorisieren;
11. Aufstieg von Eliten, die aus ethnischen, Klassen-, Clan-, Rassen- oder Religionsprinzipien bestehen;
12. Invasion ausländischer Streitkräfte.
Entsprechend den Ergebnissen vom Ende 2018 wurde der Index der schwachen Staaten weltweit in einer Fünf-Jahren Trendanalyse dargestellt (sehe Abbildung 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Fünfjährige Trendanalyse. Quelle: Fund For Peace: http://fundforpeace.org/fsi/decade-trends/five- year-trends/ Stand: 20.11.2018
„Schwache Länder“ können als eine Kategorie verstanden werden, die breiter als „zahlungsunfähige Länder“ ist. Der Unterschied zwischen ihnen kann wie folgt erklärt werden: Fragile bzw. insolvente Staaten können offensichtlich ihre Hauptfunktionen nicht wahrnehmen, ihr Territorium und ihre Bevölkerung kontrollieren, und schwache Staaten funktionieren schlecht, jedoch nicht in so einem kritischen Ausmaß. In diesem weiteren Sinne war beispielsweise die späte UdSSR und die Russische Föderation der 90er Jahre ein schwacher Staat, der viele der Aufgaben des modernen Staates nicht bewältigen konnte oder gar nicht vor sich stellte. Ein schwacher Staat ist eine Voraussetzung für die Allmacht der Elite, die damit die Position eines Vermittlers zwischen Regierung und Volk sichert (Vasyutynskyy, 2005). Die höchste Manifestation der Schwäche Russlands war in der Tat die Abspaltung Tschetscheniens 1996-1999 und die Konzentration enormer Ressourcen und Möglichkeiten, die Staatsmacht der Oligarchen bis in die frühen 2000er Jahre zu beeinflussen. Eine andere Kategorisierung fragiler Staaten untersucht die gesamtwirtschaftliche Anfälligkeit (country vulnerability) auf makroökonomischer Ebene. Der wesentliche Unterschied zwischen Fragilität und Anfälligkeit besteht darin, dass „fragility, which is a risk to be broken, and vulnerability, which is a risk to be affected or wounded“ (Guillaumont & Guillaumont Jeanneney, 2009, S. 5).
In meiner Arbeit interessiere ich mich für die Länder, die sich in unmittelbarer Nähe zu den Grenzen der Europäischen Union befinden. Es ist bekannt, dass die Sicherheitsstrategie der EU und die Nachbarschaftspolitik in einem gewissen Grad darauf gerichtet sind, um einen „Ring von Freunden“ an den europäischen Grenzen zu schaffen, um vor allem die Sicherheit innerhalb der Union zu gewährleisten (Springmann, 2013; Bauer, Grotzky, Isic, 2008). Gleichzeitig ist aus Abbildung 1 zu erkennen, dass die EU nicht gelungen ist, einen „Ring von stabilen Freunden“ zu etablieren (Pace, 2006), und immer häufiger auftauchende Konflikte an der Peripherie der EU zu innerer Destabilisierung führen.
1.3. Zugehörige Probleme und Relevanz
Die Möglichkeit ausländischer Interventionen in schwachen Staaten wird unterschiedlich bewertet. Westliche Länder halten sich für diese Aktion an doppelte Standards. Der monströse Völkermord in Ruanda (mindestens 200.000 Tote und 2 Millionen Flüchtlinge) Mitte der 90er Jahre, bei dem der Staat offenbar nicht in der Lage war, ihn zu verhindern, beinhaltete keine Intervention der westlichen Mächte (Mehler, 2010; Harding, 1998). Von 1992 bis 1995 waren UN-Vertreter in Somalia. Die amerikanischen Einheiten verließen jedoch nach den ersten relativ großen Verlusten in ihren Reihen. Infolgedessen steht Somalia seit 20 Jahren ganz oben auf der Liste der schwachen Länder. Auf der anderen Seite sind die Vereinigten Staaten seit vielen Jahren in Afghanistan und im Irak präsent (Fazal & Kreps, 2018). Letztere wurde durch die amerikanische Besetzung im Jahr 2003 zu einem schwachen Staat geworden. Daraus folgt, dass das Konzept der schwachen Länder als Schutz für jene Kräfte in den entwickelten Ländern dient, die nach Ausreden suchen, um in innere Angelegenheiten einzugreifen oder sogar in schwache Staaten einzudringen. Dies führt zu praktischen Problemen oder einzelnen Ländern, um unter bestimmten Bedingungen Maßnahmen gegen schwache Länder zu ergreifen.
Seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 konzentrierten sich die meisten internationalen Krisen auf schwache Länder (Cammack D., McLeod, Menocal, & Christiansen, 2006, S. 19). Die Ereignisse vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten offenbarten ein neues Problem: Die Macht in Afghanistan war so schwach, dass dieses Land von jedermann, einschließlich der Terrororganisation Al-Qaida, ergriffen und zu einer Basis für Terrorismus werden könnte. Das Problem der schwachen Länder, das zuvor als humanitäres oder menschenrechtliches Problem betrachtet wurde (Dorff, 1999), hängt somit direkt mit der Sicherheit anderer Länder zusammen und kann zu internationaler Instabilität führen.
Das Konzept eines schwachen Landes wird sich wahrscheinlich in der Zukunft weiterentwickeln, da es besteht Grund zu der Annahme, dass die Zahl der schwachen Länder, wenn sie nicht zunimmt, auf jeden Fall nicht signifikant abnimmt (Lutes, Bunn, & Flanagan, 2008). So heißt es in einer Rede des Vorsitzenden der Stabschefs, Admiral Michael G. Mullen, an der Kansas State Universität, dass „weak and failing states will remain a condition of the global environment over the next quarter of a century“ (Boon, Huq, & Lovelace, 2010, S. 472). Dies wird die strategische und operative Planung in umliegenden Regionen herausfordern. Daher wird es in Zukunft notwendig sein, wirksamere Einflussmittel gegen schwache Länder zu suchen und umzusetzen.
2. Die EU als außenpolitischer Akteur
Die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) vom 2003 stellte neben der gescheiteren Staaten auch andere Bedrohungen für die EU: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Regionale Konflikte und Organisierte Kriminalität (Council of the European Union, 2003). Allerding mit dem ausgebrochenen Konflikt in der Ukraine und anhaltendem Terrorismus in den Nahen Osten sowie in der EU selbst und unkontrollierter Gewalt in Nordafrika wurde die europäische Sicherheitsordnung umfassend verletzt. Die moderne europäische Sicherheitsarchitektur angesichts der neuen „Herausforderungen an der Peripherie der EU“ befindet sich „mitten in einem Paragigmenwechsel“ (Busek, 2014). Die globale Strategie der EU trägt dazu bei, dass Union im Hinblick auf Energieversorgungssicherheit, Migration, Klimawandel, gewalttätigen Extremismus und hybride Kriegsführung wirksamer wird (European Union, 2017).
Die modernen internationalen Aktivitäten der EU, deren Eckpfeiler eine auf demokratischen Werten basierende Politik ist, sind durch den aktiven Aufbau und die weit verbreitete Anwendung von „Soft Power“ gekennzeichnet (Hettne & Soderbaum, 2005). Zunächst sprechen wir über zwei Prinzipien: politische Konditionierung und politische Sozialisation (Grabbe, 2002). Die Prozesse der externen Europäisierung besteht aus der Annahme der Verbreitung des europäischen Modells der Good Governance und Integration nach außen, hauptsächlich in Nachbarländer und -regionen. Um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten und die innere Stabilität zu wahren, versucht die Europäische Union, die Grenzen ihres Einflusses zu erweitern, indem sie den politischen Raum der Nachbarländer an ihrem eigenen demokratischen Modell rationalisiert, d.h. die Europäisierung kann als Demokratisierungsprozess angesehen werden (Lypp, 2011).
2.1. Externe Europäisierung als regionale Dimension des globalen Demokratisierungsprozesses
In der Weltpolitik und in den internationalen Beziehungen bleibt die Frage nach der Rolle eines externen Faktors im Demokratisierungsprozess (Anreiz oder Zwang zur Demokratie) das umstrittenste Thema. Mearsheimer zum Beispiel gibt die Verantwortung für die Krise in der Ukraine an den Vereinigten Staaten und der Europäische Union. Erstmal war die Wurzel des Problems die NATO-Erweiterung - das zentrale Element einer umfassenderen Strategie, um die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre wegzunehmen und zweitens, spielte die westliche Unterstützung die Demokratiebewegung in der Ukraine zu integrieren, beginnend mit der Orangen Revolution im Jahr 2004, auch eine kritische Rolle (Mearsheimer, 2014).
Bialasiewicz verlieht die EU-Staaten mit den „Imperiumsmerkmalen“, mit deren Hilfe „instabile Staaten des ehemaligen Sowjetblocks für westliche Investitionen und eine differenzierte Quelle billiger Arbeitsmigranten für Westeuropa in das russische Reich sicher“ gemacht wurden (Bialasiewicz, 2009, S. 86). In der Praxis wird die externe Europäisierung von der Europäischen Union im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) umgesetzt, die Nicht-EU-Staaten ausgerichtet ist, um ihre „nationale politische Handeln mit zentralen europäischen Charakteristiken in Einklang zu bringen“ (Streb, 2008, S. 25). Daher spielt die EU im Kontext der externen Demokratisierung die Rolle eines externen Transformationsfaktors. Die Partnerschaft für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand mit den Ländern der östlichen Partnerschaft, die fester Bestandteil der Europäischen Nachbarschaftspolitik der EU ist, zielt auf die Festigung der Demokratie und Entwicklung der Zivilgesellschaft in den osteuropäischen Ländern ab (Lippert, 2014). Sie arbeitet nach dem „Prinzip „Mehr für mehr“ - d.h. je klarer das Bekenntnis eines Partnerlandes zu den gemeinsamen Werten und je stärker der politische Wille zur Durchführung von Reformen, desto mehr Unterstützung von der EU“ (Solonenko & Umland, 2013, S. 2).
2.2. Strategien und Instrumente zur Förderung der Staatsbildung
In der internationalen Gemeinschaft besteht Einigkeit darüber, dass der Sicherheitssektor für den Staat von grundlegender Bedeutung ist, damit er seine Aufgaben erfüllen kann (Bouris D., 2014). Darüber hinaus wird die Reform des Sicherheitssektors als Grundlage für jeden Friedensvertrag zwischen den beiden Konfliktparteien angesehen (Bouris D., 2011). Der Ansatz der EU bei der Staatsbildung basiert also auf der Konzeptualisierung der Welt als einer Methode der Good Governance und Sicherheit als Schlüsselelement der Entwicklung eines Staates (Bouris & Reigeluth, 2015).
Artikel 43 des Vertrags über die Europäische Union (Schwarze, Becker, Hatje, & Schoo, 2000, S. 352) stellt offensichtlich, dass die Ziele der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) folgende sind: gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre und Evakuierungsmaßnahmen, militärische Beratung und Unterstützung, Konfliktprävention und friedenserhaltende Aufgaben, Kampfeinsätze für das Krisenmanagement: friedenserhaltende Maßnahmen und Stabilisierung nach dem Konflikt (Hauser, 2010, S. 11). Somit richten sich alle Ziele des GSVP auf die Beilegung von Konflikten ab. Der Vertrag über die Europäische Union legt keine getrennten Aufgaben für zivile und militärische Missionen fest (Europäische Union, 2012). Der Europäische Rat von Feira definierte die EU jedoch drei Prioritäten für das Krisenmanagement (Europäischer Rat, 2000):
1. Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden (Polizei);
2. Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit;
3. Unterstützung der Zivilverwaltung;
4. Schutz der Zivilbevölkerung.
[...]
1 Politische Güter sind die meistens immateriellen und schwer zu quantifizierenden Behauptungen, die Bürger gegenüber Staaten geltend machen: sie umfassen Verpflichtungen in Bezug auf die Gewährleistung menschlicher Sicherheit, grundlegende Freiheiten, den Zugang zur lokalen politischen Kultur und Interaktion zwischen Regime/Regierung und Bürgern in Zusammenstellung den Inhalten ihres Sozialvertrages (Rotberg, 2003, S. 2-4).