Rituale in der Grundschule. Eigenschaften, Formen und pädagogische Bedeutung


Fachbuch, 2021

74 Seiten

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen: Was sind Rituale?
2.1 Begriffsdefinition
2.2 Rituale im historischen und gesellschaftlichen Wandel
2.3 Abgrenzung von ähnlichen Begriffen
2.4 Bezug auf verschiedene Kontexte

3 Ritualtheorien
3.1 Die Ritualtheorie nach van Gennep
3.2 Die Empirische Forschung nach Wulf
3.3 Theorienvergleich

4 Einsatz von Ritualen
4.1 Eigenschaften von Rituale
4.2 Pädagogische Bedeutung von Ritualen
4.3 Ziele und Wirkungen von Ritualen
4.4 Ambivalenz von Ritualen

5 Formen von Ritualen
5.1 Rituale im Schulalltag
5.2 Rituale in der Grundschule
5.3 Rituale im Unterricht
5.4 Rituale aus der Lehrerperspektive
5.5 Kategorisierung der Rituale in der Grundschule
5.6 Zwei relevante Rituale für den Grundschulunterricht
5.7 Theoriegeleitete Reflexion

6 Fazit
6.1 Zusammenfassung
6.2 Abschlussreflexion
6.3 Ausblick

Literaturverzeichnis

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Impressum:

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Rituale als pädagogische Mittel

1 Einleitung

Während des Studiums war ich in meinen Praktika und Hospitationen besonders von den Elementen in den Klassen beeindruckt, die lediglich nicht zum Unterricht zählen, sondern dazu beitragen den Schulalltag zu strukturieren und auszuschmücken, den Ritualen. Die Rituale wurden bspw. im letzten Praktikum in einer Klasse anhand einer Lesetafel deutlich, die zu Tagesbeginn von den Schülerinnen und Schülern nach der Begrüßungsphase abwechselnd vorgelesen wurde. An die Lesetafel wurden täglich neue Reime, Kurzgedichte oder aber auch Begriffe geschrieben, die mit dem aktuell erlernten Buchstaben kombiniert waren. In einer anderen Klasse habe ich erlebt, wie eine Lehrkraft eine beruhigende Musik für den offenen Unterrichtsbeginn laufen ließ. Währenddessen malten oder lasen die Schülerinnen und Schüler bis die Lehrperson mit dem eigentlichen Unterricht begann. Solche Handlungen kamen bisher in jeder von mir besuchten Grundschulklasse vor. Dabei hat es mich fasziniert, wie vielfältig und individuell diese sein können.

Rituale, aber auch Regeln, sind im Alltag wichtige Bausteine, da sie Sicherheit und Halt bieten. Sie vereinfachen es unseren Alltag zu bewältigen und setzen Grenzen. Auch für Kinder liefern sie feste Anhaltspunkte, sodass sie in der Erziehung wichtige Ansätze bilden. Besonders in der Primarstufe, in der sich mehrere Kinder in einer Klasse befinden und die Lehrkräfte teilweise die Erziehung übernehmen, bieten Rituale sowohl für die Lehrpersonen als auch für die Schülerinnen und Schülern eine große Hilfe. Kinder werden in der Grundschule und somit von Anfang an mit Ritualen vertraut gemacht, sodass es keine Schwierigkeiten im weiteren Verlauf der schulischen Laufbahn gibt.

Für die Ausarbeitung ist die Wirksamkeit sowie die Relevanz von Ritualen zu beleuchten. Hierbei liegt der Fokus auf der Grundschule, da diese eine erste Begegnung mit außerfamiliären Ritualen anbietet. Aus diesem Grund beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit der Frage: Welche Relevanz haben Rituale in der Grundschule?

Im ersten Teil dieser Ausarbeitung werden zunächst theoretische Grundlagen gelegt. Der Frage Was sind Rituale? wird im zweiten Kapitel nachgegangen. Dafür wird der Begriff ‚Ritual‘ definiert und von benachbarten Begriffen abgegrenzt. Danach folgt eine historische Entwicklung der Wortbedeutung. Anschließend wird die Bedeutung von Ritualen im schulischen, im familiären sowie im religiösen Kontext dargestellt.

Nach diesem Einstieg wird ein Einblick in zwei unterschiedliche Theorien zum Thema Ritual gegeben. Da die vorliegende Arbeit sich vorrangig mit dem Schwerpunkt der Grundschule befasst, wurden zwei verschiedene Theorien ausgewählt, die Beziehungen zur Primarstufe herstellen. Die Theorie von Arnold van Gennep (1909) bietet sich zum einen an, da sie Grundlagen für viele spätere Theorien ist und zum anderen lässt sie sich auf den Grundschulunterricht übertragen. In der Folge wird die Theorie nach van Gennep auf den Grundschulalltag bezogen und ein Vergleich mit den heutigen Grundschulen dargestellt. Demzufolge lässt sich die Forschung des deutschen Erziehungswissenschaftlers und Anthropologen Christoph Wulf (1999) gut gegenüberstellen, sodass diese beiden Theorien im Anschluss zusammengefasst und miteinander verglichen werden.

Nachdem die Grundlagen sowie zwei Theorien dargelegt wurden, erscheint es interessant, wie der Einsatz von Ritualen gekennzeichnet ist. Dazu werden im vierten Kapitel die Eigenschaften von Ritualen erläutert. Anschließend wird auf die pädagogische Bedeutung von Ritualen eingegangen. Dabei werden anders als in Kapitel 2.4.1 nicht nur auf den schulischen Kontext, sondern vielmehr auf den gesamten Erziehungsprozess eingegangen. Demnach folgt das Ziel von Ritualen bzw. welchen Sinn und welche Funktion Rituale hervorbringen. Zum Schluss des vierten Kapitels wird die Ambivalenz der Rituale behandelt.

Im fünften Kapitel werden verschiedene Formen von Ritualen vorgestellt. Dabei wird ein immer weiter in das Thema der Arbeit vertiefende Verfahren angewandt, indem zunächst auf den Schulalltag eingegangen wird. Hiernach werden die Rituale spezifisch in die Grundschule thematisiert. Danach folgen sie in Bezug auf den Unterricht. Im Anschluss wird die Perspektive der Lehrpersonen berücksichtigt und es folgt eine Einteilung verschiedener Rituale in der Grundschule. In diesem Zusammenhang werden schul- und unterrichtsbezogene Rituale in Jahr, Woche und Unterrichtsstunde aufgeteilt und präsentiert. Daraufhin werden zwei bestimmte Rituale genauer betrachtet, die im Grundschulunterricht häufig eingesetzt werden. Zum Abschluss des Kapitels wird eine theoriegeleitete Reflexion verfasst, indem Parallelen, zwischen den in Kapitel 5.6 ausgeführten zwei Ritualen und in Kapitel 3 thematisierten Theorien gezogen werden.

Zusammenfassend folgt ein Fazit, das die Ergebnisse der Ausarbeitung umfasst. Dabei wird das Thema der Arbeit noch einmal angesprochen und der Übergang zur Auseinandersetzung mit den vorgestellten Theorien und der zu Beginn aufgeworfenen Frage, welche Relevanz Rituale in der Grundschule haben, behandelt. Abschließend wird am Ende des sechsten Kapitels ein kurzer Ausblick verfasst.

2 Theoretische Grundlagen: Was sind Rituale?

Dieses Kapitel beleuchtet die bereits oben aufgeworfenen Frage, was Rituale sind, wozu zunächst eine Begriffsdefinition erfolgt. Dazu wird die Herkunft sowie die heutige gesellschaftliche Bedeutung des Wortes geklärt, um anschließend verschiedene benachbarte Begriffe des Rituals miteinander zu vergleichen. Insgesamt wurden fünf Wörter auserwählt, die häufig in Zusammenhang mit dem Begriff ‚Ritual‘ stehen. Dabei werden die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der jeweiligen Begriffe in Betracht gezogen.

2.1 Begriffsdefinition

Nach Röbe (1990) bezeichnet Ritual einen religiösen Brauch, der sich durch festgelegte Sprache, Handlungen und Gesten auszeichnet (vgl. Röbe 1990: 7), was von Jackel (1999) als „[…] ein magischer oder gottesdienstähnlicher Brauch, vollzogen durch Worte, Gesten und Handlungen“ (Jackel 1999: 14) definiert wird. Rituale vollziehen sich im Raum, sind normativ bestimmt und werden oft in Gruppen durchgeführt (vgl. Wulf & Zirfas 2004b: 49). Übersetzt aus dem lateinischen bedeutet das Wort Ritual ‚Ritus‘, also eine zeremonielle Ausübung religiöser Handlungen (vgl. Dücker 2007: 17). Dementsprechend wurde der Begriff ‚Ritual‘ ursprünglich für religiöse Handlungen genutzt. Inzwischen werden Rituale nicht mehr nur in religiöser Relation verwendet, sondern weitaus allgemeingültiger (vgl. Wulf & Zirfas 2004b: 7).

Althoff (2003) sagt, dass Rituale die Verständigung unter Menschen erleichtern, da sie definierte Wege vorgeben und untereinander schneller Vertrauen schaffen (vgl. Althoff 2003: 199). Dazu berichten Wulf und Zirfas (2004b), dass Rituale sich als „symbolisch kodierte Körperprozesse“ (Wulf & Zirfas 2004b: 49) interpretieren lassen, die soziale Realitäten erhalten und verändern. Auch Riegel (2000) behauptet, dass „Rituale […] Symbolhandlungen sind, die von den beteiligten Individuen sofort verstanden werden“ (Riegel 2000: 21). Als Leitvorstellung übermittelt Riegel (2004), dass die meisten Lehrkräfte zu Beginn des Unterrichts die Hand heben, um ein Ruhezeichen zu symbolisieren und dadurch die Schülerinnen und Schüler ihre Aufmerksamkeit nach vorne richten (vgl. Riegel 2004: 52).

Amboss (2005) stützt diese Erklärungen, indem er deutlich macht, dass Rituale zur Steuerung von Emotionen dienen (vgl. Amboss 2005: 3). Als Beispiel hierzu wird genannt, dass bspw. nach einem Todesfall von den Hinterbliebenen für einen bestimmten Zeitraum ein obligatorisches Trauerverhalten ausgeübt wird (vgl. ebd.). Dennoch kritisiert Amboss (2005), dass hierbei durch das traditionell-rituelle Trauerverhalten die tatsächliche Empfindung sowie der Schmerz der Hinterbliebenen nicht messbar ist (vgl. ebd.).

Ein wichtiger Aspekt, der unter anderen auch von Wagner-Willi (2005) genannt wird, ist das Performative eines Rituals (vgl. Wagner-Willi 2005: 28). Die Autorin stellt eine zusammenfassende Erklärung von Ritualen dar (vgl. ebd.). Dabei definiert sie Rituale als Symbole, die sie folgendermaßen beschreibt:

„Symbole vereinen das Referenzielle mit dem Performativen, dem Sinnlich-Körperlichen, verbinden das Abstrakte mit dem Konkreten, sind nicht auf eine Bedeutung festgelegt, sondern haben die Eigenschaft der Polysemie und wirken in beide Richtungen: dem Emotionen einerseits, den (kognitiven) sozialen Werten und Normen andererseits“ (Wagner-Willi 2005: 29).

Nach Wulf und Gebauer (1998) werden die Werte und Normen, die die Rituale verkörpern, durch die aktive Teilnahme der beteiligten spielerisch angenommen (vgl. Wulf & Gebauer 1998: 128). Sie helfen den Menschen dabei sich zu entwickeln und mit verschiedenen Verhaltensformen umzugehen (vgl. Knörzer & Grass 2000: 64).

Interessant ist hier die Meinung von Petersen (2001), da sie ebenfalls Rituale als Symbole bezeichnet (vgl. Petersen 2001: 16f.). Gemäß der Definition von Petersen (2001) können Symbole Gegenstände, Gesten, Kostümierungen, Zeichen oder Melodien darstellen, die bloße Handlungen bei allen Teilnehmenden auslösen (vgl. ebd.). Dabei wird eine Gruppe an Teilnehmenden befähigt, sich an ihren Symbolen zu erkennen und abzugrenzen (vgl. ebd.). Auf diese Weise würden Symbole wortlose Verständigung und Atmosphäre erzeugen (vgl. ebd.). Ergänzend dazu berichten Wulf und Zirfas (2003) davon, dass Rituale kulturelle Aufführungen und Inszenierungen von Körpern sind, die der Selbstdarstellung von Individuen und Gemeinschaften dienen (vgl. Wulf & Zirfas 2003: 23). Dadurch sind sie in ihrem szenischen Charakter nicht auf sprachliche Äußerungen reduzierbar (vgl. ebd.).

Hinzuzufügen ist, dass laut Petersen (2001), Rituale „etwas verschönern […], versehen es mit künstlerischen Effekten, machen daraus etwas Ästhetisches und schaffen Genuss“ (Petersen 2001: 17). Demnach stellen Rituale eine Ausschmückung von Handlungen dar, die eine ästhetische und kultivierte Wirkung erzeugen.

„Oft wirken Rituale inszeniert wie ein Theaterstück“ (ebd.). Wulf und Zirfas (2004b) begründen dies damit, dass die Wirkung von Ritualen wesentlich auf ihrem performativen Charakter beruht, der in einer Reihe von Aspekten sichtbar wird (vgl. Wulf & Zirfas 2004b: 8). Dabei gehören sie zu den wichtigsten Inszenierungen und Aufführungen (vgl. ebd.). Zu dieser Auffassung tragen zumeist die Anzahl an Teilnehmenden, ihre Kleidung bzw. Kostümierung, aber auch, dass sich die Vorgänge wiederholen bei. „Rituale haben also eine körperliche, szenische, expressive, spontane und symbolische Seite […]“ (ebd.: 50). Demgemäß geht es bei Ritualen hauptsächlich um das Sichtbarmachen einer symbolischen Bedeutung, sei es durch Gesten, Kleidung oder Bewegungen (vgl. Dücker 2007: 51).

Kaiser (2017) definiert Rituale als besondere, sozial gestaltete, situative und aktionale Ausdrucksformen von Kultur (vgl. Kaiser 2017: 3). Dabei ist zu beachten, dass Rituale nicht mit Riten zu verwechseln sind (vgl. Schäfer & Wimmer 2013: 10). Ritus bedeutet soviel, wie die kleinste Sinneinheit rituellen und heiligen Handelns (vgl. Boelderl & Uhl 1999: 233ff.). Rituale sind als geschlossene Erlebnisse zu verstehen (vgl. Kaiser 2017: 3). Diese charakterisieren sich durch wiederholende Handlungen und einen erkennbaren performativen Aufwand (vgl. Pfütze 1998: 96). Kaiser (2017) bestätigt diese Aussage, indem sie besagt, dass Rituale wiederkehrende Handlungen sind, die in einer vertrauten Ausprägung und Reihenfolge der Bestandteile ablaufen (vgl. Kaiser 2017: 3). Dabei ist zu beachten, dass die meisten Alltagssituationen von Handlungen geprägt sind, die den Ritualen nahe kommen (vgl. ebd.). Das Zähneputzen zählt bspw. vor dem Schlafengehen dazu.

Sattler (2007) unterschiedet zwischen drei Aspekten von Ritualen (vgl. Sattler 2007: 6). Diese sind:

a) Aspekt der Standardisierung

Rituale sind wiederholende und durch Regeln festgelegte Handlungsabfolgen (vgl. ebd.).

b) Aspekt der Stilisierung

Hierbei handelt es sich um Rituale, die durch eine klare Handlung ausgeübt werden (vgl. ebd.).

c) Aspekt der Symbolisierung

Ein Ritual ist als ein Symbol zu verstehen, da anderen etwas zu verstehen gegeben wird (vgl. Sedmak 1999: 43).

Hierbei lassen sich Parallelen zu anderen, bereits genannten Autoren stellen. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass es keine richtigen oder falschen Definitionen des Rituals gibt, da die Auffassung von Ritualen sich unterscheiden lässt. Kaiser (2017) sagt aus, dass Rituale durch ihre emotional-symbolische Ebene nicht vollständig erklärbar sind (vgl. Kaiser 2017: 5). Trotz der vielen Ansätze und Definitionen wird eine abschließende und zusammenfassende Übersicht erstellt, um den Begriff für diese Ausarbeitung besser greifen zu können.

Generell kann man sagen, dass Rituale sich bei vielen Autoren unter bestimmten Kriterien zusammenfassen lassen. Diese sind im Folgenden aufgelistet:

- Durchführung zumeist in Gruppen
- performative Darstellung
- Emotionalität
- gleiche Abläufe bzw. Wiederholungen
- Symbolik (Ästhetik)
- leistungsfähige Eigenschaft

2.2 Rituale im historischen und gesellschaftlichen Wandel

„In den letzten Jahren hat sich die Einschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung von Ritualen grundlegend geändert“ (Wulf & Zirfas 2004b: 49). Auch nach Kaiser (2017) ist es ersichtlich, dass Rituale einem starken historischen Wandel unterliegen, wobei sie von den praktizierenden Menschen als immerdar wahrgenommen werden (vgl. Kaiser 2017: 13). Rituale wirken, als seien sie schon seit ewigen Zeiten vorhanden (vgl. ebd.: 12). Einerseits sind sie weit in unser kulturelles Leben integriert, andererseits sind sie nicht von Dauer (vgl. ebd.). Damit meint Kaiser (2017) nicht, dass Rituale verloren gehen oder in Vergessenheit geraten, sondern vielmehr, dass sie ihre spezielle Form an Bedeutung und zeitlich-räumliche Gebundenheit verlieren oder sich gegebenenfalls in neuen Formen wieder konstruieren (vgl. ebd.: 13f.). Die neu konstruierten Rituale laufen ebenfalls unter bestimmten Vorschriften, wie bspw. der Regelmäßigkeit ab (vgl. ebd.). Als Beispiel dazu können die schulischen Rituale betrachtet werden, denn von der Neuzeit bis in das 19. Jahrhundert dienten Rituale vorrangig der Disziplinierung und Bestrafung von Schülerinnen und Schülern (vgl. Hinz 2004: 18f.). Ab dem 19. Jahrhundert besaßen Rituale zunehmend auch militärischen Charakter (vgl. Knauf 2009: 191). In dieser Zeit entstanden viele Rituale, die wir heute noch in der Schule vorfinden, wie bspw. das Melden vor dem Sprechen (vgl. ebd.). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Reformpädagogik, sodass disziplinierende und bestrafende Rituale durch kindgerechte und gemeinschaftsbildende Rituale ersetzt wurden (vgl. Hinz 2004: 18f.). Dies geschah von Pädagoginnen und Pädagogen, wie bspw. Maria Montessori, die appellierte: „Baut Kindern eine aus Orten, Zeiten und Ritualen bestehende Welt; diese bezeichnete Welt wird sie die ersten Wichtigkeiten lehren“ (ebd.: 19). Eine der gängigsten schulischen Rituale, die aus dieser Zeit stammen, ist bspw. der Morgenkreis (vgl. Knauf 2009: 191f.).

Nach Jackel (1999) „[…] versteht man heute unter Ritualen meist feierlich-religiöse oder weltliche Zeremonien wie Kommunion oder Konfirmation, Abendmahl, Abiturfeier, Vereidigung von Ministern, etc.“ (Jackel 1999: 14). Demnach fasst Jackel (1999) die heutigen Verwendungsbereiche bzw. die aktuelle Bedeutung des Begriffs unter folgenden Punkten zusammen:

1) Rituale werden durch Wiederholung und festgelegten Regeln gekennzeichnet (vgl. ebd.: 15). Dafür werden bereits vor der Festlegung von Ritualen Richtlinien vereinbart (vgl. ebd.). Diese können sowohl von der Gruppe als auch von einem einzelnen Gruppemitglied entwickelt werden (vgl. ebd.). Darüber hinaus sind sie regelmäßig zu durchführen, da diese für Rituale ein zentrales Merkmal bilden (vgl. ebd.).
2) Rituale wirken auf Menschen präventiv als Krisenvorbeugung (vgl. ebd.). Besonders in der Erziehung von Kindern sind Rituale oft erwünscht, sowohl von Eltern als auch Erziehern, da sie bei kritischen Situationen als Präventionsmaßnahme dienen (vgl. ebd.).
3) Rituale helfen Menschen schwierige Situationen zu bewältigen (vgl. ebd.). Hierzu kann das Beispiel eines Trauerfalls angebracht werden, da dieses Ritual, Menschen nach einer schwierigen Phase wieder hilft, sich an das alltägliche Leben anzupassen.
4) Rituale dienen zur Selbstorganisation des Individuums und strukturieren den Tagesablauf (vgl. ebd.). Dabei ist der Tagesablauf einer Schulklasse zu betrachten, denn zumeist sind diese durch bestimmte Phasen geregelt, sodass die Lernenden sich an dieser Struktur orientieren (vgl. ebd.).
5) Es helfen vielerlei verschiedene Morgenrituale, den Tag entspannter und produktiver zu starten. Demnach stärken Rituale das Selbstvertrauen sowie das Selbstbewusstsein eines Menschen und besonders eines Kindes (vgl. ebd.).
6) Rituale können als eine Entspannungsmethode angewandt werden, sodass sie Stress u.Ä. mindern und/oder vorbeugen (vgl. ebd.). Viele Religionen nutzen dabei das Beten als eine Entspannungstechnik (vgl. Spreiter 2014: 31f.). Bemerkenswert ist außerdem, dass viele Gebete aus verschiedenen Religionen einer Meditation ähneln, wodurch Entspannung und Stressmilderung erzeugt werden kann (vgl. ebd.).
7) Rituale erzeugen Wir-Gefühle und erweitern das soziale Umfeld (vgl. Jackel 1999: 15). Das gemeinsame Durchführen der Rituale bewirkt eine Kooperation und Teamfähigkeit, wodurch soziale Kontakte angeknüpft werden können, sodass durch die Sozialisierung wiederrum das psychische Wohlbefinden eines Menschen gestärkt wird (vgl. ebd.). Demnach werden psychische Belastungen sowie sämtliche weitere gesundheitliche Folgen vorgebeugt (vgl. ebd.).

Abschließend fasst Jackel (1999) zusammen, dass Rituale feststehende Handlungssequenzen sind, die nach ganz bestimmten Regeln ablaufen (vgl. Jackel 1999: 14). Sie sind für längere Zeit in dieser festgelegten Anordnung gültig (vgl. ebd.). Demnach sind Rituale „[…] als tradiert und überraschungsarm“ (ebd.) zu charakterisieren.

2.3 Abgrenzung von ähnlichen Begriffen

„Will man ein Ritual im heutigen Bedeutungsgehalt erfassen, heißt es, Abgrenzungen zu bedeutungsähnlichen Begriffen vorzunehmen“ (Jackel 1999: 13). Rituale lassen sich auf den ersten Blick nicht von Begriffen, wie Regel, ritualisierte Handlungen, Gewohnheit, Brauch und Zeremonie unterscheiden. Damit aber die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten zu den Ritualen dargestellt werden können, werden zunächst die einzelnen Begriffe näher erläutert. Im Folgenden werden die bereits aufgelisteten Begriffe in Bezug zu Ritualen gesetzt und gegebenenfalls Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede aufgezeigt. Nennenswert ist außerdem, dass diese Wörter, ebenso wie bei Ritualen, nicht eindeutig abzugrenzen sind, da ihre Bedeutung bereits durch die Definition, von dem was ein Ritual ist, beeinflusst werden (vgl. Schäfer & Wimmer 2013: 29).

2.3.1 Regel

Unter einer Regel versteht man eine Richtlinie, die für einen bestimmten Bereich verbindlich gilt (vgl. Petersen 2001: 14). Sie werden eingesetzt, um einen geordneten Ablauf zu schaffen (vgl. ebd.).

„Sie erleichtern das Zusammenleben und gemeinsame Lernen in der Klasse, weil sie Grenzen und Freiräume sowie verbindliche Normen und sinnvolle Verhaltensweisen festhalten“ (Knauf 2009: 199).

Auf diese Weise gibt es in Schulklassen gewisse Regeln, die eine strukturierte und eine funktionierende Klassengemeinschaft gewährleisten.

Laut Kaiser (2017) gibt es zwischen Regeln und Ritualen fließende Übergänge (vgl. Kaiser 2017: 11). Damit meint Kaiser (2017), dass in allen Ritualen Regeln mitenthalten sind, wobei in Ritualen vielmehr Bedeutung steckt (vgl. ebd.). Rituale „[…] schaffen einen kulturellen Kontext des Regelinhaltes, sind also nicht nur regelhafte Norm, sondern zugleich auch Kontext“ (ebd.). Sie zielen somit auf eine positive Wirkung ab und stärken die Gemeinschaft (vgl. Butters & Gerhardinger 1996: 34).

Im Vergleich zu den Ritualen sind Regeln Appelle und fordern die direkte Einhaltung (vgl. Petersen 2001: 14). Regeln werden gebraucht, um auftretende Schwierigkeiten zu beseitigen, während Rituale das Leben in einer Vertrautheit bereichern (vgl. Sattler 2007: 3). Nach Butters und Gerhardinger (1996) haben Regeln einen rationalisierten Kern (vgl. Butters & Gerhardinger 1996: 34). Zumal besitzen Regeln im Gegensatz zu Ritualen keine Symbolik (vgl. Audehm 2004: 212).

Der Grund, weshalb Regeln oft mit Ritualen verwechselt werden, hängt nach Petersen (2001) wohlmöglich damit zusammen, dass beide auf die gleiche Art und Weise entstehen (vgl. Petersen 2001: 14). Regeln werden wie auch Rituale zumeist von einer Gruppe festgelegt, verändert und aufgehoben (vgl. ebd.). Dabei gibt es keinen festen Ablauf, wie Regeln entstehen. Zum einen können sie als Gruppe bestimmt werden, zum anderen können sie von einer einzelnen Person, bspw. durch die Lehrperson, festgelegt werden. Besonders relevant ist die Unterscheidung zwischen Regeln und Ritualen in der Grundschule, da Regeln in vielen Klassen eine bedeutende Rolle spielen. Klassenregeln werden gemeinsam als Klasse besprochen und festgelegt, sodass diese für die Schülerinnen und Schüler eine klare Vorschrift setzen und zur Disziplinierung sowie Regulierung dienen (vgl. ebd.).

2.3.2 ritualisierte Handlungen

Unter ritualisierten Handlungen wird derweilen im Allgemeinen ein Ablauf von einhergehenden, miteinander verbundenen Ereignissen verstanden, die in Form von Verhaltensabläufen in die Umwelt eingreifen (vgl. Luckmann 1999: 12). Dabei bezeichnet Petersen (2001) ritualisierte Handlungen als eine Vorform von schulischen Ritualen (vgl. Petersen 2001: 11). Weiterhin bezieht Petersen (2001) ‚ritualisierte Handlungsabläufe‘ auf den schulischen Kontext, indem sie besagt, dass diese im Laufe des Schultages oder der Schulwoche stattfindende Handlungsabfolgen sind, die eine zeitliche und eine inhaltliche Begrenzung haben (vgl. ebd.). Demnach gibt es also einen festgelegten Ablauf, wie auch bei den Ritualen.

Konträr dazu schreibt Sattler (2007), dass es sich bei ritualisierten Handlungen um vor allem im Familienleben häufig vorkommende Rituale handelt, die dabei helfen, den Alltag zu arrangieren und zu vereinfachen (vgl. Sattler 2007: 3f.). Bemerkenswert ist, dass diese „[…] nur selten bewusst geplant werden, wie z.B. Essenszeiten, regelmäßige Beschäftigungen am Abend, Gute-Nacht-Geschichten etc.“ (ebd.: 4).

Nach Schäfer und Wimmer (2013) ähneln ritualisierte Handlungen auf den ersten Blick Ritualen, erfüllen aber nicht alle Merkmale eines Rituals (vgl. Schäfer & Wimmer 2013: 29). „Ritualisierungen“ (ebd.: 33) liegen vor, wenn Regeln nicht nur vorschreiben, welches Verhalten angebracht ist, sondern strikt stipuliert ist, auf welche Art und Weise eine Handlung durchgeführt werden soll. Hinzuzufügen ist, dass rituelle Handlungen weniger emotionsgeladen und sinnbildlich sind (vgl. Petersen 2001: 11). Stattdessen sind sie vielmehr da, um eine Strukturierung vorzunehmen (vgl. ebd.).

Weiterhin erklären Wulf et al. (2007), dass ritualisierte Handlungen Institutionen und Organisationen verkörpern und konkretisieren (vgl. Wulf et al. 2007: 331f.). Als Beispiel dazu nennen sie die Gliederung der Unterrichtseinheiten in der Schule und behaupten: „Rituelle Handlungen haben einen Anfang und ein Ende und damit eine zeitliche Struktur.“ (ebd.). Zudem umfassen sie Zeremonien, Feiern und Konventionen (vgl. ebd.).

2.3.3 Gewohnheit

Gewohnheiten werden als „[…] Verhaltensweisen oder Einstellungen definiert, die sich automatisiert haben“ (Petersen 2001: 14). Gemäß der Definition von Duhigg (2012) bezeichnet die Gewohnheit eine Handlung oder Haltung, die reflexartig, mechanisch und unbewusst ausgelöst wird, wobei sie nicht von Natur aus existiert, sondern erst nach zeitaufwendiger Einübung oder unbewusster Wiederholung entsteht (vgl. Duhigg 2012: 6f.). Nach DuBois et al. (2006) stellen Gewohnheiten etwa zwei Drittel des menschlichen Alltags dar (vgl. DuBois et al. 2006: 28). Sie ergänzen, dass der Mensch ohne Gewohnheiten ununterbrochen Entscheidungen treffen müsste, was den Alltag enorm erschweren und demzufolge zu einer großen Verzweiflung führen würde (vgl. ebd.). Sattler (2007) fügt hinzu, dass beim Durchführen einer Gewohnheit der Mensch nicht mehr darüber nachdenkt, warum etwas getan wird und deshalb auch keine Änderungen und Verbesserungsvorschläge vorgenommen werden können (vgl. Sattler 2007: 3f.). Sobald die Einstellung „Das wurde schon immer so gemacht“ (ebd.) eintritt, ist es als eine Gewohnheit zu definieren.

So unterscheidet sich die Gewohnheit durch fehlende Ästhetik sowie fehlende Emotionen und durch Unterdrückung jeglicher Alternativen zum Begriff des Rituals (vgl. Petersen 2001: 16). Für Kraml (1999) ist genau diese „[…] soziale und kommunikative Dimension entscheidend für ein Ritual“ (Kraml 1999: 31). Als Beispiel nennt Sattler (2007), dass das direkte Trinken aus der Flasche eine Gewohnheit bedeutet, sofern aber die Person sich vorher bekreuzigt, wird daraus ein Ritual, da das Bekreuzigen vor dem Trinken aus der Flasche eine besondere Bedeutung symbolisiert (vgl. Sattler 2007: 4). Darüber hinaus fehlt den Gewohnheiten die besondere Aufmerksamkeit bei der Durchführung, die bei den Ritualen mit hoher Achtsamkeit und mit Symbolisierungen zelebriert wird (vgl. Alsheimer & Schulte 2006: 6).

In Anlehnung an Alsheimer und Schulte (2006) verbindet die beiden Begriffe, dass sowohl Rituale als auch Gewohnheiten mit einem geregelten und wiederholenden Ablauf gekennzeichnet sind (vgl. Schulte 2006: 7). Durch Regelmäßigkeit, Vorsehbarkeit, Dauerhaftigkeit und Konstanz stellen Gewohnheiten weitere Verbindungen zu Ritualen dar (vgl. Baslé & Maar 1999: 16). Außerdem können sich Gewohnheiten zu Ritualen entwickeln, sofern ihnen eine emotionale Bedeutung zugesprochen wird (vgl. ebd.).

2.3.4 Zeremonie

Als Zeremonie wird als eine nach einem Ritus ablaufende, feierliche Handlung definiert (vgl. Petersen 2001: 14). Petersen (2001) definiert den Begriff folgendermaßen:

„Als Zeremonie wird hier ein seiner Dynamik beraubtes, ein erstarrtes Ritual verstanden, das zwar noch die Feierlichkeit eines inszenierten Gemeinschaftsereignisses besitzt, aber Kreativität und Enthierarchisierungspotenzial eingebüßt hat“ (Petersen 2001: 14).

Demnach wird die Zeremonie als ein Ritual beschrieben, dass ohne performative, szenische sowie ästhetische Verbindung bzw. Handlungen dargestellt wird. Bei Zeremonien stehen zumeist sichtbare und vorwiegend religiöse Zeichen sowie Handlungen, wie bspw. die Taufe, im Vordergrund (vgl. ebd.).

Sattler (2007) besagt, dass eine Zeremonie ein festes und unveränderbares Ritual ist (vgl. Sattler 2007: 4). Dabei ergänzt er, dass das unveränderliche Ritual bereits in der Vergangenheit keineswegs variiert wurde und auch in der Zukunft keine Abwandlung durchlaufen wird (vgl. ebd.). Die Gottesdienstgestaltung zählt bspw. zu einer solchen Zeremonie (vgl. ebd.).

Dücker (2007) beschreibt Zeremonien als Handlungen, was eine Ähnlichkeit zu Ritualen herstellt (vgl. Dücker 2007: 23). Allerdings ergänzt er, dass die Handlungen der Zeremonien sich durch Macht- und Herrschaftsinstrument zur Selbstpräsentation kennzeichnen, während Handlungen der Rituale symbolisch und performativ dargestellt werden (vgl. ebd.: 23f.).

2.3.5 Brauch

Ein Brauch ist laut Dücker (2007) eine Gewohnheit einer Gemeinschaft oder eine Anwendung einer Sache zu ihrem Zweck (vgl. Dücker 2007: 19f.). Sattler (2007) bezeichnet Bräuche als Ausdruck von Volkskultur und beschreibt, dass sie besonders häufig in Kirchenfesten auftreten (vgl. Sattler 2007: 4). Zudem tragen Bräuche zu einer positiven Schulkultur bei, da sie frei und zwanglos gestaltet werden können, sodass traditionelle Feste und Jahreszeitenfeste, wie bspw. Fasching, für Schulklassen viele Möglichkeiten zur Gestaltung anbieten (vgl. Petersen 2001: 14f.).

Ähnlichkeit zum Ritual besteht in den Eigenschaften der Regelmäßigkeit, Wiederholung und darin, dass er ebenfalls nicht von einer einzelnen Person durchführbar ist (vgl. ebd.). Freiräume im Ablauf und in der Gestaltung grenzen den Begriff jedoch vom Ritual ab (vgl. Petersen 2001: 14f.). Bräuche finden außerdem zumeist im Laufe des Jahres statt, wie bspw. Weihnachten oder Ostern (vgl. ebd.).

Durch die Begriffsdefinition und die Merkmalsbestimmung der einzelnen Wörter wird ersichtlich, dass die Grenzen der Begrifflichkeiten zueinander nicht eindeutig zu trennen sind. Jedoch können anhand einzelner Eigenschaften Unterschiede zum Begriff ‚Ritual‘ festgemacht werden.

2.4 Bezug auf verschiedene Kontexte

Bislang hat der Begriff ‚Ritual‘ keine allgemein anerkannte Begriffsdefinition geliefert. Demnach unterscheidet sich die Bedeutung jeweils in verschiedenen Zusammenhängen, die bereits im vorherigen Unterkapitel angesprochen wurden. Aus diesem Grund werden folglich die Wortbedeutung des Rituals im schulischen, im familiären sowie im religiösen Umgang unterschieden. Anschließend wird zu jedem der genannten Bereiche eine zusammenfassende Erklärung generiert, sodass die Abweichungen in den verschiedenen Kontexten eine Definition bilden.

2.4.1 Bedeutung im schulischen Kontext

Es gibt einige Forschungsansätze, die sich mit der Bedeutung von Ritualen in der Schule auseinandersetzen (vgl. Alberts 2000: 5). Petersen (2001) besagt, dass schulische Rituale das Verhalten der Schülerinnen und Schüler prägen (vgl. Petersen 2001: 10). Bezogen auf die Schule sind Rituale Teil der Schulkultur und beziehen sich auf Sprache, Ereignisse und Symbolisierungen (vgl. Fend 1996: 10). Schulische Rituale können „[…] von Einzelnen, von der Klasse oder von der Lehrerin initiiert werden, sich verfestigen und bei bestimmten Anlässen immer wieder genutzt werden“ (ebd.). Für Lehrkräfte gehört es zum Unterrichten dazu, dass passend zur Klasse und zu bestimmten Ereignissen, Rituale gefunden und diese mit den Schülerinnen und Schülern einübt werden, sodass eine Klasseneigene Kultur entwickelt wird (vgl. ebd.). Denn sobald diese Klassenkultur entstanden ist und die Lernenden damit vertraut sind, kommt es bei Anlässen ohne weitere Ansagen zu ästhetisch, symbolischen Handlungsweisen der Gruppe (vgl. ebd.). Dies kann Zeit- und Handlungsspielraum erfordern, da bspw. die Schülerinnen und Schüler daraufhin „trainiert“ (Fend 1996: 15) werden müssen, dass sie sich nach einem Kreissymbol sie sich in einem Sitzkreis zu versammeln haben.

Jackel (1999) unterscheidet zwischen zwei schulischen Mitteln. Diese sind im Folgenden dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Rituale als pädagogische Mittel

aus: Jackel 1999: 21

Dabei erklärt Jackel (1999) inhaltlich rituelle Mittel, indem sie besagt, dass diese sich durch einen festen Verlauf charakterisieren (vgl. Jackel 1999: 21f.). Während der Handlung wird kein Gruppenmitglied ausgegrenzt, sodass alle an dem Sachverhalt teilnehmen (vgl. ebd.). Entscheidend ist auch, dass jeder Teilnehmer den vorgeschriebenen Verlauf kennt (vgl. ebd.). Teamfähigkeit und multisensorische Wahrnehmungsvermögen sind Kompetenzen, die die Durchführenden mitbringen müssen (vgl. ebd.).

Die organisatorisch rituellen Mittel sind immer wieder wandelnde Organisationsformen, die zu gleichen Zeiten ablaufen (vgl. ebd.: 71ff.). Es kann bspw. jeden Morgen vor dem Beginn des Unterrichts ein Begrüßungslied eingeführt werden, bei dem die Inhalte täglich variieren. Weitere Beispiele für organisatorische rituelle Unterrichtseinheiten stellen Adventsfeiern, Entspannungsspiele, Morgenkreise, das Malen von Mandalas und tägliche oder aktive Pausen dar (vgl. ebd.).

„Schulische Rituale sind kulturelle Aufführungen und als solche performativ“ (Wulf 2001a: 13). Durch ihre ludischen, also spielerischen Elemente wird die Kreativität und die Ästhetik gefördert (vgl. ebd.). Nach Wulf (2001a) gehören zu den relevanten Übergangsphasen:

„[…] der rituelle Übergang in die Schulwoche am Montagmorgen mit den Phasen des Ankommens, des Wartens vor der Klasse, des Aufschließens der Tür, der territorialen Einnahme des Klassenraums […] Bildung des Morgenkreises, mit dessen Hilfe die strukturschwache Schwellenphase montags früh in die institutionelle Ordnung der Schulklasse und des Unterrichtes überführt wird“ (Wulf 2001a: 13).

Darüber hinaus beschreibt er, dass zusätzlich die Übergänge von Unterricht zu Pause und von diesem zum Unterricht rituell ausgeführt werden (vgl. ebd.).

Laut Kaufmann-Huber (1998) ist dieser Lebensabschnitt, indem die Kinder aus der familiären Situation austreten und in die schulische Erfahrung stürmen enorm wichtig, da sie in dieser Phase Beziehungen nach außen aufbauen (vgl. Kaufmann-Huber 1998: 65f.). Häufig möchten Kinder in diesem Entwicklungsstadium geheime Rituale entwickeln, zu denen die Erwachsenen keinen Zugang haben sollen, wie bspw. ein eigenes Tier besitzen und die Fürsorge dafür erhalten oder ein Instrument und/oder auch eine Puppe zum Spielen haben (vgl. ebd.).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Rituale im schulischen Kontext eine hohe Relevanz haben, da sie den schulischen Alltag sowie den Unterricht selbst strukturieren und erleichtern (vgl. Sattler 2007: 3f.). Außerdem bieten sie sowohl für die Lehrerinnen und Lehrer als auch für die Schülerinnen und Schüler einen Halt (vgl. ebd.). Demnach ist es hilfreich, Rituale im schulischen Alltag zu verwenden.

2.4.2 Bedeutung im familiären Kontext

Die in diesem Unterkapitel verwendete Definition des Familienrituals folgt von Wolin und Bennett (1984). Sie bezeichnen also:

„ […] eine symbolische Form der Kommunikation, die aufgrund der Zufriedenheit, die die Familienmitglieder durch ihre Wiederholung erfahren, über längere Zeit systematisch durchgeführt wird. Wegen ihrer besonderen Bedeutung und da sie sich dauernd wiederholen, tragen Rituale wesentlich zur Herstellung und Aufrechterhaltung des kollektiven Gefühls einer Familie von sich selbst bei“ (Wolin und Bennett 1984: 401).

Schori (2009) besagt, dass sowohl die Konstanz als auch die Signale, die vom Kind ausgehen, wie auch der elterlichen Reaktionen auf eine konkrete Situation, ausschlaggebend für das Entstehen einer bestimmten kulturellen Ritual ist (vgl. Schori 2009: 19). „Nicht einmalige, sondern wiederholte Umgangsweisen stellen für das Kind also entwicklungsbestimmende Faktoren dar“ (ebd.: 20). Dabei werden motorische sowie emotionale Fähigkeiten gefördert (vgl. ebd.). Besonders in den frühkindlichen Interaktionsverhältnissen von Eltern und Kind reagieren Eltern auf ihre Kinder mit Verstärkung (vgl. ebd.: 22). Eltern nehmen unterschiedliche Laute ihrer Kinder auf, interpretieren diese und wiederholen sie als sprachlich erkennbare Vokabeln (vgl. ebd.). Demnach wiederholen bzw. variieren Kinder mit gleichen und unterschiedlichen Tonfolgen die Worte ihrer Eltern, sodass Spiele entstehen, die von Eltern und Kindern ständig durchgeführt werden (vgl. ebd.). Nach Papousek (2003) dient dieses Zusammenspiel zwischen Kind und Eltern dazu, dass das Kind sich mit dem Verhalten der Eltern vertraut macht, sein eigenes kommunikatives Verhalten entdeckt und Bedingungszusammenhänge zwischen dem eigenen Verhalten und dem der Eltern erkennt (vgl. Papousek 2003: 123). Dabei erweitern sich laut Flitner (1996), anhand dieser Spielchen und besonders durch die Wiederholung und Selbsthandhabung dieser Erfahrungen, geistige Fähigkeiten bei Kindern (vgl. Flitner 1996: 61).

Baacke (1999) schreibt, das Rituale für alle Altersgruppen von Bedeutung sind (vgl. Baacke 1999: 131ff.). Besonders Kinder in den Primarschulklassen bilden sich gerne zu Gruppen zusammen, was sich mit Ritualen vergleichen lässt (vgl. Hugger 1991: 29). Sie entwickeln Geheimsprachen und verständigen sich über Symbole, die nur dem Eingeweihten bekannt sind (vgl. ebd.). Es wird zwar innerhalb der Altersstufe und den rituellen Prozessen unterschieden, dennoch regeln Rituale das Familiensystem ab (vgl. ebd.). Familienrituale, die „eine Familie symbolisch repräsentieren“ (Wolin & Bennett 1984: 404), beziehen sich auf Rituale, die von einer Kernfamilie innerhalb einer Haushaltseinheit entwickelt wurden. Dazu untersucht Wulf (2001a) Essensrituale in Familien, um die rituelle Dynamik im Lebensraum von Eltern mit ihren Kindern zu verstehen (Wulf 2001a: 12). Dabei verdeutlicht er die rituellen Situationen während des Essens und die verschiedenen Rollen in der Familie, die dabei eingenommen werden (vgl. ebd.). Während des gemeinsamen Essens wird die familiäre Intimität, die Solidarität und die Integration inszeniert sowie performativ dargestellt (vgl. ebd.).

Demnach stellt sich heraus, dass Rituale in dem Lebensraum Familie von großer Bedeutung sind, da diese, wie Wulf (2001a) schreibt, eine familiäre Vertraulichkeit, Nähe sowie ein Gefühl des Zusammenhalts übermitteln (vgl. ebd.). Dabei wird ein befriedigendes Gefühl zu Hause und innerhalb der Familie ausgestrahlt (vgl. Imber-Black et al. 2015: 286). Relevant ist hierbei die Wiederholung der Rituale innerhalb der Familie, damit diese von den Eltern an die Kinder weitervermittelt werden können. Dies ist wichtig, da Kinder erst ab fünf bis sechs Jahren ein Stadium erreichen, indem sie Erinnerungen beibehalten können (vgl. Schori 2009: 20).

2.4.3 Bedeutung im religiösen Kontext

„Früher entstammten die Rituale vor allem dem religiösen Bereich, z.B. der morgendliche Gottesdienst vor der Schule“ (Sattler 2007: 5). Hinz (2004) schreibt, dass Rituale ihren Ursprung in der Religion haben (vgl. Hinz 2004: 77f.). Durch sie wurden gemeinschaftliche Denkweisen sowie Haltungen übertragen, die Normen und Moralvorstellungen umfassen und auf diese Weise zur Bildung einer neuen Gesellschaft beitragen (vgl. Göhlich 2004: 20f.). Dabei betont Michaels (1999), dass viele Rituale aus verschiedenen Handlungen entstanden sein müssen, die ursprünglich für viele Menschen von Vorteil waren, sodass sie als kulturelles Handeln beibehalten wurden (vgl. Michaels 1999: 43).

Laut Dücker (2007) wurden, insbesondere in katholischen Ländern, Rituale bereits viel früher festgelegt, sodass auf das im Jahr 1614 herausgegebene Regelbuch mit dem Titel ‚Rituale Romanum‘ der katholischen Kirche zurückzuführen ist (vgl. Dücker 2007: 14). Hierbei werden Rituale als Oberbegriff religiöser Handlungen verstanden und dürfen nicht mit dem Begriff des Ritus verwechselt werden, der soviel, wie die kleinste Sinneinheit rituellen und heiligen Handelns sowie einen feierlichen, zumeist religiösen Brauch bedeutet (vgl. Boelderl & Uhl 1999: 233ff.). Demgemäß ist ein Ritus als eine vorgegebene Geste bzw. Handlung zu verstehen, die sich durch bestimmte Sprachformen markieren lässt (vgl. Butters & Gerhardinger 1996: 34). Darüber hinaus werden Riten hinsichtlich eines bestimmten Zwecks ausgeführt (vgl. ebd.).

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Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Rituale in der Grundschule. Eigenschaften, Formen und pädagogische Bedeutung
Jahr
2021
Seiten
74
Katalognummer
V923346
ISBN (eBook)
9783963551543
ISBN (Buch)
9783963551550
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ritualtheorien, Übergangsriten, Integrationsfunktion, Soziale Angliederung, Krisenbewältigung
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Rituale in der Grundschule. Eigenschaften, Formen und pädagogische Bedeutung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/923346

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