Aeroflot 1956 - 1975: Eine sowjetische Erfolgsstory?


Magisterarbeit, 2006

94 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Aufbau der Arbeit
1.2 Überblick über das sowjetische Flugwesen

2 Die Aeroflot von 1956 bis 1975
2.1 Ausgangssituation: Die Entwicklung der zivilen Luftfahrt in der Nachkriegszeit bis 1956
2.2 Vom XX. Parteitag bis zum Ende des Siebenjahresplans
2.3 Vom Ende des Siebenjahresplans bis zur Mitte der 1970er Jahre
2.4 Die Einbindung der Aeroflot in die Volkswirtschaft der UdSSR

3 Die Organisation der zivilen Luftfahrt der UdSSR

4 Die Luftfahrtindustrie

5 Die Konstruktionsbüros und ihre Konstrukteure
5.1 Die Konstruktionsbüros
5.2 Die Konstrukteure
5.2.1 Andrej Nikolajevič Tupolev (ANT, Tu)
5.2.2 Sergej Vladimirovič Iljušin (Il)
5.2.3 Oleg Konstantinovič Antonov (An)

6 Die Rolle der Aeroflot in ihren speziellen Einsatzbereichen
6.1 Aviarktika
6.2 BAM (Baikal-Amur-Magistrale)
6.3 Landwirtschaftsflüge
6.4 Sonstige Einsatzgebiete der Aeroflot

7 Kapitel Schluss

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis:

Abbildung 1: Palast der Sowjets

Abbildung 2: Entwicklung der Routenlänge (1923 bis 1973)

Abbildung 3: Routen der Tupolev Tu-104 (1956 bis 1962)

Abbildung 4: Anteile der Kolbenmotor- und Gasturbinenflugzeuge an der Beförderungsleistung der zivilen Luftfahrt der UdSSR

Abbildung 5: Europäische Luftverbindungen (1944 bis 1947)

Abbildung 6: Aeroflot in den 1960er Jahren

Abbildung 7: Anwachsen der Fluglinien der Aerooflot (In- und Ausland) in km

Abbildung 8: Das Inlandstreckennetz der Aeroflot 1966/67

Abbildung 9: DERULUFT (1922 bis 1937)

Abbildung 10: Organisatorische Entwicklung bis zur Bildung der Aeroflot (1920 bis 1932)

Abbildung 11: Sowjetische Luftlinien und lokale Direktorate (1935)

Abbildung 12: Die organisatorische Struktur der Aeroflot Mitte der 1960er Jahre (vereinfachte Darstellung)

Abbildung 13: Regionale Unterteilung der Aeroflot (1991)

Abbildung 14: Entwicklung der Geschwindigkeiten der in Massenproduktion hergestellten Flugzeugtypen (1923 bis 1973)

Abbildung 15: Aufbau und Struktur der Konstruktionsbüros (Beispiel OKB ‚Tupolev’)

Abbildung 16: Struktur des ‚OKB-2’ Werks in Samara

Abbildung 17: Tupolev präsentiert ein Modell seiner Tu-104

Abbildung 18: Das Luftliniennetz der Aeroflot (1940)

Abbildung 19: Der fliegende Kran Mi-10

Abbildung 20: Das erfolgreiche Allzweckflugzeug An-2

Abbildung 21: Lokale Routen der An-2 im ‚Fernen Osten’ der Sowjetunion

Abbildung 22: Die Unterstützung der Aeroflot beim Bau der BAM

Abbildung 23: Aviochemisch bearbeitete Gesamtfläche (1945 bis 1966)

Abbildung 24: Spezialisiertes Sanitätsflugzeug Po-2

Abbildung 25: Briefmarke „Aeroflot - 60 let“

Tabellenverzeichnis:

Tabelle 1: Entwicklungsphasen der sowjetischen zivilen Luftfahrt

Tabelle 2: Zunahme der Passagierplätze in Verkehrsflugzeugen

Tabelle 3: Anteil der Personenbeförderung an der Gesamt-Verkehrsleistung (in Prozent)

Tabelle 4: Reisezeit und –kosten von Novosibirsk im Jahr 1965

Tabelle 5: Zwischenstädtischer Passagierverkehr in der UdSSR (Prozentsatz)

Tabelle 6: Entwicklung der Kulturbesprühung durch die Aeroflot (in Millionen Hektar, 1940-1965)

1 Einleitung

1.1 Problemstellung und Aufbau der Arbeit

Die zivile Luftfahrt entwickelte sich weltweit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Hauptverkehrsmittel im Bereich des Massentransports. Mittlerweile existiert ein weltumspannendes Netz aus Flugrouten auf denen Passagiere und Fracht innerhalb kürzester Zeit um den gesamten Planeten befördert werden können. Dabei können die jeweiligen Fluglinien und Transportunternehmen auf eine große Anzahl spezialisierter Fluggeräte zurückgreifen. Flugzeuge und Hubschrauber nehmen zudem einen bedeutenden Platz in unterschiedlichsten Bereichen der Wirtschaft ein und werden unter anderem auch von medizinischen oder forstwirtschaftlichen Einrichtungen genutzt.[1]

Während die zivile Luftfahrt der westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten weitgehend gut erforscht ist, beschränken sich die meisten Autoren hinsichtlich der Entwicklung der sowjetischen Luftfahrt vorwiegend auf technische Aspekte. Jüngste Publikationen bezüglich sowjetischer Luftfahrt beschäftigen sich zudem hauptsächlich mit der Transformation der Aeroflot[2] von den 1980er Jahren bis heute.[3] Häufig werden darin die Gründe für den Zerfall der sowjetischen Luftfahrtgesellschaft nach dem Ende des Bestehens der UdSSR untersucht. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die Entwicklung der zivilen Luftfahrt der Sowjetunion in ihrer intensivsten Wachstumsphase, zwischen 1956 und 1975, darzustellen. Welche Gründe und Bedingungen führten dazu, dass sich in der Sowjetunion bis zum Ende der sechziger Jahre die Aeroflot zur weltweit größten Luftfahrtgesellschaft entwickeln konnte.

Da, wie oben erwähnt, der Großteil der Autoren technische Entwicklungen in den Vordergrund stellten und nur wenige Publikationen auf das ‚Wesen’ der Aeroflot eingingen stellt diese Arbeit auch eine Bestandsaufnahme der Informationen über die historische Entwicklung, die Funktionsweise und den Aufbau der sowjetischen Luftfahrt im zivilen Bereich dar. Zu Beginn soll eine kurze Einführung in die Geschichte der Luftfahrt der UdSSR einen Eindruck über den Entwicklungsstand der Aeroflot im Vorfeld des hier betrachteten Zeitraumes vermitteln. Auf eine Darstellung der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs wird weitestgehend verzichtet, da die ‚Hauptverwaltung der zivilen Luftfahrt’ der Sowjetunion dem ‚Ministerium für Verteidigung’ unterstellt war. Das anschließende Kapitel ‚Aeroflot – 1956 bis 1975’ enthält einen Überblick über die Entwicklung der sowjetischen Luftfahrt im zivilen Bereich. Mit den darauf folgenden Kapiteln werden die Funktions- und Arbeitsweisen einzelner Bereiche der Aeroflot dargestellt. Im Schluss wird die Frage diskutiert, ob und inwieweit es sich bei der zivilen Luftfahrt der Sowjetunion im Zeitraum zwischen 1956 bis 1975 um eine ‚Erfolgsstory’ handelt.

1.2 Überblick über das sowjetische Flugwesen

Die Einleitung zu dieser Arbeit sollte ursprünglich mit einer Darstellung der Größe und Weite des Raumes der Sowjetunion beginnen. Nach dem Lesen des Aufsatzes „Die Wiederkehr des Raums – auch in der Osteuropakunde“ von Karl Schlögel wird darauf verzichtet und zunächst kurz von dem Zusammenhang zwischen der ‚Beschaffenheit’ dieses „naturräumlichen Schauplatz[es]“ und der Luftfahrt berichtet.[4] Anschließend soll eine kurze Darstellung der Entwicklung der russischen und sowjetischen Luftfahrt bis zum ‚Großen Vaterländischen Krieg’ erfolgen.

Schlögel spricht in seinem Aufsatz über die Zeit nach der Oktoberrevolution von „der Rekonstruktion jener Infrastruktur, die den sowjetischen Raum unter neuer Ägide zusammengefasst hat“.[5] Zur Errichtung einer solchen Infrastruktur für einen eigenen Luftverkehr mussten klimatische und geografische Besonderheiten der jeweiligen Regionen oder Einsatzgebiete beachtet werden. Dies galt für die Flugzeugkonstruktion ebenso wie für die Einrichtung von Flughäfen. Bei Versorgungsflügen, beispielsweise in die Polarregionen, hatten die Flugzeuge auch bei minus 80 Grad Celsius noch zu funktionieren. Schon zu Beginn der russischen Luftfahrtgeschichte wurde ein Zusammenhang zwischen den jeweiligen geografischen Bedingungen und einer funktionierenden Luftfahrt erkannt. Auch wenn diese Erkenntnisse noch nicht in so großem Stile wie in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs umgesetzt werden konnten, begannen russische Konstrukteure schon früh mit dem Bau von Flugzeugen, die in der Lage waren auf Flüssen und Seen zu landen. Ein Gedanke hierbei war unter anderem der Aufbau von Verbindungen zwischen den Handelsrouten der Flüsse, welche meist in Nord-Süd-Richtung verliefen.

Daneben half, wie noch gezeigt werden wird, eine zunehmende Intensität und Flexibilität des Einsatzes einer funktionierenden zivilen Luftflotte, den eigenen Raum zu erkunden und mittels neu geschaffener Infrastrukturen für sich ‚einzunehmen’. Hierbei spielten unter anderem die Luftrouten in den weniger dicht besiedelten Regionen und insbesondere in jenen Gebieten, welche aufgrund geografischer und klimatischer Gegebenheiten andere Verkehrs- und Transportträger (fast) nicht zuließen, eine bedeutende Rolle. Ferner begünstigte eine sich zunehmend fortschrittlich entwickelnde und den jeweiligen Bedingungen angepasste zivile Luftfahrt die Industrialisierung und Technisierung anderer Wirtschaftsbereiche. Wie noch zu zeigen ist, spielte die Aeroflot diesbezüglich eine ernstzunehmende Rolle.

Russland und Luftfahrt, diese Verbindung ist fast so alt wie jene Frankreichs und Englands. Quellen belegen schon für das 18. Jahrhundert, dass in der Gemeinde Rjašk ein Schmied namens Černik-Grosa einen Ballonflugversuch unternahm.[6] Diesem folgte eine der frühesten nachgewiesenen Gesetzesregelungen bezüglich der russischen Luftfahrt, deren Inhalt jedoch nicht mehr vorhanden ist.[7] Im Jahr 1784 verkündete Katharina II. einen Erlass, worin das Fliegen mit einem Ballon zwischen dem 1. März und dem 1. Dezember eines jeden Jahres, aufgrund erhöhter Brandgefahr verboten wurde.[8] Diese und weitere Maßnahmen erschwerten die Entwicklung der Luftfahrt in Russland erheblich. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war die Luftfahrt in Russland im Vergleich zu Frankreich, England oder auch dem deutschen Kaiserreich unterentwickelt.

Darüber täuschte auch nicht der Bau des ersten Windkanals und die Erforschung von aero- und hydrodynamischen Eigenschaften in den frisch geöffneten Instituten hinweg. Erste russische Piloten wurden nicht in Russland, sondern in Frankreich ausgebildet, da eigene Ausbilder noch nicht zur Verfügung standen. Die russische Luftfahrtindustrie war nicht in der Lage, einen Serienbau eigener Modelle zu gewährleisten. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs konnte vorwiegend durch Import eine kleine militärische Luftflotte aufgebaut werden. Ein erstes Achtungszeichen setzten russische Entwickler mit der ‚Ilja Muromec’, dem seinerzeit weltweit größten Flugzeug.[9] Trotz einiger, literarisch auch in der sowjetischen Literatur verarbeiteter, Kriegshelden hatte die zaristische Luftwaffe keine größere Bedeutung erlangt.[10]

Dies sollte sich nach der Oktoberrevolution ändern. Lenin selbst war ein Anhänger und Vorantreiber der sowjetischen Luftfahrt. Er erkannte früh die Bedeutung, die die zivile Luftfahrt für die Wirtschaft und deren Aufbau besaß. So schrieb beispielsweise der frühere Pilot und Zeitgenosse Lenins M. P. Stroev: „Vladimir Il’ich, with his innate energy, fought against those who attemped to prove that we did not need aviation. He warmly and firmly said that Socialist Russia must have its air fleet, that we needed to use aviation in the national economy”.[11] Parachonskij nennt folgende Besonderheiten und Vorzüge des Luftverkehrs, welche bei effektiver Umsetzung die Bedeutung der zivilen Luftfahrt für die Sowjetunion erkennen lassen:

1. „Hohe Beförderungsgeschwindigkeit.
2. Geringe Abhängigkeit von den Geländeverhältnissen, woraus sich die hohe Durchlaßfähigkeit [sic.] und die geringe Länge der Strecken infolge ihrer Begradigung gegenüber den Strecken der bodengebundenen Verkehrsmittel ergibt.
3. Große Anpassungsfähigkeit und einfache Möglichkeit zur Einrichtung von Quer-, Direkt- und Durchgangsverbindungen.
4. Große Anpassungsfähigkeit an die Größe des Passagier- und Frachtaufkommens.
5. Möglichkeit der schnellen Einrichtung einer Verbindung.
6. Hohe Beförderungsselbstkosten.“[12]

Während der Recherche zu dieser Arbeit kristallisierten sich für die sowjetische zivile Luftfahrt acht Etappen in der Entwicklung heraus. Basis dieser Einteilung waren entweder technischer Fortschritt oder politische Veränderungen:

Tabelle 1: Entwicklungsphasen der sowjetischen zivilen Luftfahrt

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: eigener Entwurf)

Fast alle Autoren beginnen mit der Entwicklung der russischen Luftfahrt der Zarenzeit. Hierbei stellte sich heraus, dass Russland, wie oben erwähnt, im Vergleich zu den Mittel- und Westeuropäischen Staaten und den USA spät mit dem Bau und dem Einsatz von eigenen Flugzeugen begann.[13] Die Biografien, beispielsweise über Andrej N. Tupolev[14], verweisen jedoch auch auf ein schnelles Aufholen in speziellen Bereichen, wie etwa der Erforschung der Aero- oder Hydrodynamik bei Flugzeugen.[15] Diese Phase der Entwicklung der Luftfahrt hat für die sowjetische Zeit eine große Bedeutung, schließlich gingen aus ihr erste Spezialisten wie beispielsweise Nikolai J. Žukovski, der „Vater des russischen Flugwesens“, hervor.[16]

Mit der Oktoberrevolution beginnt die zweite Phase, die eigentlich erste sowjetische, der russisch-sowjetischen Luftfahrtgeschichte. Sie reicht über den Bürgerkrieg, die ‚Neue Ökonomische Politik’ bis zum ersten Fünfjahresplan. Die dritte Phase beginnt um 1930 und reicht über die Säuberungen der 1930er Jahre bis zum Beginn des ‚Großen Vaterländischen Krieges’. Die organisatorischen Veränderungen der zivilen Luftfahrt im Rahmen des ersten Fünfjahresplanes, an dessen Höhepunkt die eigentliche Gründung der Aeroflot (1932) stand, stellen eine wesentliche Zäsur dar. Bis zu diesem Zeitpunkt waren organisatorische und administrative Veränderungen charakteristisch. Ebenso die Versuche, den industriellen und technischen Rückstand im internationalen Vergleich aufzuholen.

Hierbei kam der sowjetischen Luftfahrtindustrie die Zusammenarbeit mit deutschen Firmen zugute, welche sich aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages in der Sowjetunion niederließen, um die Auflagen des Vertrages zu umgehen. Von dieser Zusammenarbeit profitierte die sowjetische Luftfahrtindustrie beispielsweise durch die Einführung der Produktion von Flugzeugen in Ganzmetallbauweise, zu deren Fertigung die Herstellung von Duraluminium[17] vonnöten war. Während 1923 der sowjetische Flugzeugpark fast vollständig aus Flugzeugen ausländischer Produktion bestand, flogen die Piloten der Aeroflot bereits 1935 hauptsächlich Maschinen sowjetischen Typs.

Die zunehmende Stabilisierung der sowjetischen zivilen Luftfahrt, sowohl in organisatorischer als auch in wirtschaftlich-industrieller Hinsicht, und der zunehmende Ausbau der Aeroflot und des Luftliniennetzes wurden durch zwei Ereignisse gestört und schließlich unterbrochen. Zum einen wurden erfahrene Spezialisten und führende Köpfe gegen Ende der 1930er Jahre Opfer der stalinschen Säuberungen. Den fähigen und erfahrenden Personen beraubt, fiel es dem Nachwuchs schwer, die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen. Ein wesentliches, die Säuberungen innerhalb der Luftfahrt verstärkendes Moment war das Versagen der sowjetischen Flugzeuge im spanischen Bürgerkrieg. Als zweites Ereignis wurde mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion die zivile Luftfahrt mit der Unterordnung unter das ‚Ministerium für Verteidigung’ jeglicher Eigenständigkeit beraubt und in den Dienst der Landesverteidigung gestellt.

Die vierte Phase in der sowjetischen Luftfahrtentwicklung beinhaltet die Jahre des Zweiten Weltkriegs, in welchem die Aeroflotpiloten in militärischen Einheiten integriert waren und beispielsweise Versorgungsflüge nach Leningrad flogen oder die Partisanen aus der Luft mit Material versorgten. Eine wesentliche Rolle spielte die Aeroflot auch in der Verlegung ganzer Industriekomplexe aus dem europäischen Teil der Sowjetunion hinter den Ural.

Phase fünf steht im Zeichen des Wideraufbaus der zivilen Luftfahrt in den ersten Jahren der Nachkriegszeit und der Ausweitung des Luftstreckennetzes im internationalen Bereich. Durch den Krieg waren die meisten Flugplätze und Produktionsanlagen zerstört. Um in der Luftfahrt dem neu gewonnenen Status als Weltmacht gerecht zu werden, musste eine moderne Industrialisierung der Luftfahrtindustrie erfolgen. Diese war beispielsweise zu Beginn dieser Etappe nicht in der Lage, den hohen Anforderungen modernster Triebwerke gerecht zu werden und diese zu produzieren. Deutsche Experten sollten beim Aufbau helfen. Ferner erhielt Tupolev den Auftrag, auf sowjetischem Hoheitsgebiet notgelandete moderne amerikanische Bomber nachzubauen.

Die letztgenannten Punkte trugen mit Sicherheit zu der rasanten Entwicklung bei, welche die Luftfahrt der UdSSR in den Folgejahren durchlaufen sollte. Dabei darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, die Sowjetunion habe diese Entwicklung nur durch ‚Diebstahl’ westlichen Wissens erreicht. An dieser Stelle darf man eher die Leistung bewundern, in welcher Kürze sowjetische Spezialisten das Wissen aufnahmen und umsetzen konnten. Neben dem technischen Know-how sind vor allem die Rahmenbedingungen, wie etwa die Organisation und Arbeitsweise der Konstruktionsbüros oder eine gigantische Unterstützung des Staates mit finanziellen Mitteln von entscheidender Bedeutung. Letzteres bezeichnete Andreas Helmedach in einem Aufsatz mit dem Titel „Integration durch Verkehr. Das Habsburger Reich“ als „staatsinduzierte Modernisierung“, ein Begriff, der auf die Entwicklung der sowjetischen Luftfahrt der Nachkriegszeit anzuwenden ist.[18]

Dieses Zusammenspiel trug seine Früchte in der folgenden sechsten Etappe der sowjetischen Luftfahrt, im Zeitraum zwischen 1956 und 1975. Charakteristisch hierbei sind vor allem der Ausbau des Streckennetzes, zunehmender Einsatz von Flugzeugen und Hubschraubern in anderen Bereichen der Wirtschaft (vor allem auch in der Landwirtschaft), die Heranführung sowjetischer Flugzeugtypen auf hohes technisches Niveau (besonders wichtig hierbei war der Übergang zum Strahlenflugverkehr), welches auch international große Beachtung erfuhr, ein kontinuierlich ansteigendes Beförderungsvolumen mit dem Übergang zum Massenluftverkehr und die Unterstützung beim Aufbau des Luftverkehrswesens in den anderen sozialistischen Staaten.

Die Phase nach dem Ende des neunten Fünfjahresplanes 1975 bis zur Ernennung Gorbačevs zum Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU war eine Phase des weiteren Ausbaus des Netzes und aller zur zivilen Luftfahrt gehörenden Organisationen und Bestandteile. In dieser Etappe verzeichnete die Aeroflot erste schwerwiegende Rückschläge, die das bis dahin positive Bild der sowjetischen Luftfahrt erschütterten. Das Ende der 1960er Jahre fertiggestellte Überschallflugzeug Tu-144[19] konnte sich nicht als zuverlässiges Verkehrsmittel durchsetzen und schleppte seine Kinderkrankheiten durch die gesamte Zeit seines Bestehens. Über die Ausgaben des Staates für die Luftfahrt sind mir leider keine Angaben bekannt, sicher ist jedoch, dass dieses mittlerweile gigantische Unternehmen - Aeroflot - eine große Summe an Geldern verschlang und die meisten Flugzeugtypen, wie beispielsweise die Tu-144, unökonomisch arbeiteten.

Besonders deutlich wurde dies in der letzten Phase, von 1985 bis zum Zusammenbruch der UdSSR.[20] Einen negativen Eindruck hinterließ ein bekannt gewordener Flugzeugabsturz am 12. Dezember 1986 bei Berlin, als der sowjetische Pilot einer Tu-134 aufgrund mangelnder Englischkenntnisse zuerst eine gesperrte Landebahn anflog und bei dem Korrekturversuch einige Bäume streifte und abstürzte.[21]

Aeroflot ist und war jedoch immer auch mehr als ‚nur’ reine zivile Luftfahrt an sich. Propagandistisch ließen sich erfolgreiche Piloten und Flugzeuge gut als positive Beispiele für die Fortschrittlichkeit und Leistungsfähigkeit des sowjetischen Systems nutzen. ‚Helden der Lüfte’ erschienen schon während des Bürgerkrieges in literarischen Werken und sanken in ihrer Popularität erst durch das Auftauchen der Kosmonauten in den sechziger Jahren.[22] Bildhauer und Maler gaben sich große Mühe, das Flugzeug als Symbol des Fortschritts und der Zukunft festzuhalten. Das Cover des kürzlich erschienenen Buches „Experiment Moderne“ von Stefan Plaggenborg zeigt eine übergroße Leninfigur, welche alles überragend die Hand zum Himmel hebt, wo sich mehrere Flugzeuge befinden.[23] Dieses Bild lässt sich gut als ein Symbol für den Glauben an den Fortschritt und die Leistungsfähigkeit des sowjetischen Systems betrachten.

Abbildung 1: Palast der Sowjets

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Plaggenborg, Titelbild)[24]

Das Thema dieser Arbeit lautet „Aeroflot 1956 - 1975: Eine sowjetische Erfolgsstory?“. Um diese Frage beantworten zu können soll im Folgenden zuerst ein Überblick über das sowjetische Luftfahrtunternehmen zwischen 1956 und 1975 gegeben werden. Anschließend folgen Darstellungen der Organisation der Aeroflot, der sowjetischen Luftfahrtindustrie, des Systems und der Arbeit der Konstruktionsbüros (OKBs) und ein kurzer Einblick in das Tätigkeitsfeld der Aeroflot in anderen Wirtschaftssektoren. Diese Arbeit gibt anhand der gesammelten Literatur ein Bild der zivilen Luftfahrt der UdSSR in der Phase seiner intensivsten Entwicklung in der Nachkriegszeit, sogar der gesamten russischen Luftfahrtgeschichte wieder.

2 Die Aeroflot von 1956 bis 1975

Zu Beginn dieses Kapitels soll eine kleine Anekdote stehen, welche sich folgendermaßen zugetragen hat: „The story goes that, at a small community far from direct authority, a pilot had to stop over for a weekend, having arrived with the mail and other contents on the Friday. The local populace, fishermen all, persuaded him to make an unscheduled flight to a local river which was reputed to be gushing fish. Fourteen good men and true piled on the 12-seat aircraft, together with complete fishing gear, and enough provisions to last a week. The augmented load was too much for even such a willing horse as the An-2. It managed to get off the ground, but only just. The pilot, realizing that he was not going to make it, switched off the engine, to avoid a fire, if it crash-landed. And crash-land did it, ignominiously, distributing pieces of aircraft around the field. The assembled company fled. Came the dawn the next day, and the local constabulary investigated the tangled remains. Strangely, nobody in the whole community had the slightest knowledge of the incident, and the official report, in essence, decided that this was an unsolved mystery. Some dastardly vandals from foreign parts, perhaps.”[25]. Als erstes fällt der unverantwortliche Umgang des Piloten mit seiner An-2 auf. Interessanter ist jedoch die Erkenntnis, dass planmäßige Flüge, demzufolge auch planmäßige Routen, existierten, die selbst die entlegensten Siedlungen der Sowjetunion mit Post und Fracht versorgten. Das Flugzeug gehörte zum Alltag der sowjetischen Menschen.

2.1 Ausgangssituation: Die Entwicklung der zivilen Luftfahrt in der Nachkriegszeit bis 1956

Für die ersten Jahrzehnte der Nachkriegszeit lassen sich folgende Tendenzen in der Entwicklung der zivilen sowjetischen Luftfahrt feststellen:

- Wiederaufbau des Lufttransportnetzes,
- Einsatz neuer Verkehrsflugzeuge,
- Vergrößerung des Inlands- und Auslandsnetzes, kontinuierlicher Anstieg des Beförderungsvolumens und
- zunehmend breiterer Einsatz des Flugzeugs in vielen unterschiedlichen Bereichen der Volkswirtschaft der UdSSR, hierbei vor allem in der Landwirtschaftsfliegerei.

Die Erfolgsgeschichte der Antonov An-2 (siehe dazu Kapitel 5 und Kapitel 6) zeigt sehr eindrucksvoll, wie eng verknüpft die Entwicklung neuer Flugzeugtypen und die dafür gedachten Einsatzgebiete waren. Weiter erfuhr die Entwicklung und der Bau von Hubschraubern einen wesentlichen Schub. Hubschrauber erwiesen sich in Wirtschafts- und Industriebereichen als zuverlässiges Rückgrad. Darüber hinaus übernahmen sie den Passagierverkehr auf den meisten Routen in den weniger besiedelten oder erschlossenen Gebieten. Eine bedeutende Rolle spielte die Aeroflot zudem beim Aufbau und der Entwicklung des Luftwesens der anderen sozialistischen Länder, wie beispielsweise der Interflug in der DDR.[26]

Mit dem vierten Fünfjahresplan (1946 – 1950) wurden der Aeroflot folgende Ziele gestellt: „Der Luftverkehr ist in erster Linie in den Hauptrichtungen zu entwickeln, die Moskau mit den Zentren der Unionsrepubliken und Gebietsstädten verbindet, aber auch die Luftverbindungen der Gebiete des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens".[27] Die Erfüllung dieser Vorgaben stellten ein erstes Achtungszeichen für die Leistungen der Sowjetunion im Bereich der zivilen Luftfahrt dar. Bis zum Ende dieses Planjahrfünfts schaffte die Aeroflot insbesondere mittels neuer Flugzeugtechnik, den Ausbau des Inlandsnetzes auf 300.000 km.[28] Dies entsprach einer Verdoppelung des Vorkriegsstandes, wobei verstärkt die Industriegebiete der Wolga, des Urals und im Fernen Osten mit einem komplexen Liniennetz versehen wurden.[29] In den Gebieten des Nordens konnte das Streckennetz bis 1950 sogar auf das 25-fache gegenüber 1940 ausgebaut werden.[30] Die folgende Grafik veranschaulicht die enorme Vergrößerung des Streckennetzes der Aeroflot und den sprunghaften Anstieg in der Nachkriegszeit:

Abbildung 2: Entwicklung der Routenlänge (1923 bis 1973)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Aksenov, S. 11)

Neben diesen Erfolgen verzeichnete die Aeroflot für das Jahr 1950 ein Passagieraufkommen von 1,5 Millionen beförderten Personen. Aber auch im Bereich der Landwirtschaft konnten erstmals über 1 Millionen Hektar aus der Luft bearbeitet werden.[31] Hauptaugenmerk wurde auf die Wiederherstellung der zerstörten Einrichtungen, wie Fabriken und Flugplätze gelegt. Darüber hinaus sollten neue, moderne Einrichtungen entstehen. Bis zum Ende dieses Fünfjahresplans erreichte das Transportvolumen der Aeroflot das sechsfache gegenüber dem von 1940.[32] Auf dem XIX. Parteitag wurden dafür die Weichen gelegt, als eine Zunahme von Transportflugzeugen im Fuhrpark der zivilen Luftflotte ebenso gefordert wurde, wie der Ausbau eines für "round-the-clock operation[s]" ausgelegten Netzwerkes von Flugzeugen und Flugplätzen.[33]

Für den fünften Fünfjahresplan (1951 - 1955) erhielt die Aeroflot vom GOSPLAN die Vorgabe, die Transportleistungen jährlich um 16 Prozent zu erhöhen. Auch hier halfen moderne eigene Flugzeugtypen, mit dessen Einsatz das jährliche Passagieraufkommen von 1,6 auf 2,5 Millionen Passagiere gehoben werden konnte, den Plan zu erfüllen.[34] Ein weiteres Merkmal dieser Periode ist der Ausbau des internationalen Streckennetzes und das Ansteigen der Transportleistungen im Auslandsverkehr um 35 Prozent.[35] 1955, im letzten Jahr des fünften Fünfjahresplans, konnten somit über 2,5 Millionen Passagiere, 194.960 Tonnen Fracht und 63.769 Tonnen Post auf einem Routen-Netzwerk von 321.500 km transportiert werden.[36] Ein Vergleich dieser Daten mit denen des Jahres 1958, in welchem auf 349.200 km etwa 8,3 Millionen Passagiere und 445,6 Millionen Tonnen Post und Fracht transportiert wurden, zeigt eine eindrucksvolle Entwicklung.[37]

2.2 Vom XX. Parteitag bis zum Ende des Siebenjahresplans

Im März 1956, einen Monat nachdem Chruščev auf dem XX. Parteitag der KPdSU seine berühmte Geheimrede hielt, in der er unter anderem auch auf die Fehler Stalins bezüglich der Roten Luftwaffe zu Begin des 'Großen Vaterländischen Krieges' Bezug nahm, fand in London mit der Landung des Düsenflugzeugs Tupolev Tu-104 eine Sensation statt. Am 22. März landete ein Prototyp auf dem Londoner Flughafen Heathrow.[38] Das Interesse der Weltöffentlichkeit an diesem Ereignis war so groß, dass die Sicherheitskräfte Probleme hatten, die Journalisten unter Kontrolle zu halten.[39] Mit dem regulären Einsatz einer solchen Tu-104 auf der Strecke Moskau – Irkutsk seit dem 15. September 1956 begann für die Aeroflot der Übergang zum Strahlenflugverkehr.[40] Zwischen 1956 und 1958 war die Aeroflot weltweit die erste und einzige Luftfahrtgesellschaft, welche Strahlenflugzeuge im zivilen Luftverkehr einsetzte.[41] Aus Abbildung 3 wird ersichtlich, dass das Langstreckenflugzeug Tu-104 innerhalb kurzer Zeit den Passagierverkehr auf den Hauptrouten der Aeroflot übernahm:

Abbildung 3: Routen der Tupolev Tu-104 (1956 bis 1962)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Davies, S. 44)

Während die ersten Versionen dieses Typs mit einer Passagierkapazität von 50 Sitzen noch unökonomisch gebaut wurden, entwickelte sich die Sitzplatzzahl in den folgenden Versionen bis auf teilweise 115 Plätze.[42] Von Maschinen dieses Typs wurden etwa 200 Stück produziert, wovon im Jahre 1976 noch die Hälfte im Einsatz war. Von den Ableitungen der Tu-104, der Tu-124 und der Tu-134 wurden etwa 112 und 700 Exemplare hergestellt.[43] Die zunehmende Bedeutung der Strahlenflugzeuge im zivilen Luftverkehr zeigen unter anderem folgende Zahlen: während der Anteil der Tu-104 am Passagierverkehr im Jahr 1956 noch 0,5 Prozent betrug, stieg er 1957 auf 6 Prozent und 1958 sogar auf 15 Prozent.[44] Weiterhin wurden neue Turboprop-Maschinen, wie etwa die Iljušin Il-18 (84 Passagiere), auf den Lang- und Mittelstreckenrouten eingesetzt. Eine weiteres sehr eindrucksvolles Flugzeug war die im Oktober 1957 in Dienst gestellte viermotorige Tu-114, das mit bis zu 220 Sitzen seinerzeit größte kommerziell genutzte Flugzeug der Welt.[45] Eingesetzt wurde dieser Typ auf den internationalen und heimischen Langstreckenrouten. Die wachsende Bedeutung des Flugzeugs als Massenverkehrsmittel in der Sowjetunion wird in folgender Tabelle noch einmal verdeutlicht:

Tabelle 2: Zunahme der Passagierplätze in Verkehrsflugzeugen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle : Parachonskij, S. 18)

Ähnliche Fortschritte lassen sich ebenfalls im Bereich der Transportflugzeuge feststellen. Eines der erfolgreichsten Flugzeuge, welches auch von den Staaten des RGW in der heimischen Wirtschaft eingesetzt wurde, war die An-2. Mit bis zu neun Sitzen war sie eines der am vielseitigsten einsetzbaren Flugzeuge. Vor allem in der Landwirtschaft und auf den kleineren Strecken im fernen Sibirien stellte die An-2 ihre Fähigkeiten unter Beweis. Die Bedeutung der zunehmenden Fortschrittlichkeit im Bereich des Flugzeugbaus als Grundlage für den weiteren beschleunigten Ausbau der zivilen Luftfahrt wurde von den sowjetischen Führungskräften erkannt: „Gegenwärtig ist in der Sowjetunion alles vorhanden, was eine beschleunigte Entwicklung des Luftverkehrs ermöglicht. In den Jahren 1956 bis 1957 wurden unter Leitung der Flugzeugkonstrukteure A. N. Tupolew, S. W. Iljuschin und O. K. Antonow [sic.] große Verkehrsflugzeuge mit TL- und PTL-Triebwerken[46] geschaffen, die gegenüber den ausländischen Flugzeugen [...] nicht zurückstehen. Bezüglich einer Anzahl wesentlicher Daten werden die ausländischen Flugzeuge sogar übertroffen“.[47] Den Einsatz neuer Triebwerke im Flugzeugpark der Aeroflot veranschaulicht Abbildung 4. Daraus wird ersichtlich, dass innerhalb einer Dekade alte Flugzeugtypen fast vollständig durch neue Modelle ersetzt wurden.

Abbildung 4: Anteile der Kolbenmotor- und Gasturbinenflugzeuge an der Beförderungsleistung der zivilen Luftfahrt der UdSSR

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Eyermann, S. 118)

Diese Fortschritte und Leistungen bildeten die Grundlage für die Erfüllung der Vorgaben des sechsten Fünfjahresplans (1955 - 1959) im Bereich der zivilen Luftfahrt:

- Steigerung des Passagierverkehrs auf das 3,8fache,
- Steigerung des Frachttransports auf das Doppelte und Hebung der jährlichen Zuwachsrate von 16 auf 25 Prozent.[48]

Die auch im folgenden genannten Ereignisse führten schließlich dazu, dass 1959 mehr als 10 Millionen Passagiere mit der Aeroflot flogen, über 500.000 Tonnen Fracht und Post transportiert und das internationale Routennetz auf 16 Länder ausgedehnt werden konnten.[49] Zwischen dem zehnten und dem vierzehnten Nachkriegsjahr schaffte die sowjetische Luftfahrt einen Anstieg der beförderten Personen von 2,5 Millionen (1955) auf 12,3 Millionen (1959). Daneben erfolgte der Ausbau des Streckennetzes von 321.500 km auf 355.400 km.[50] Folgende Tabelle verdeutlicht die steigende Bedeutung des Flugzeugs als Personentransportmittel im Vergleich zu den anderen Verkehrsmitteln innerhalb der Sowjetunion:

Tabelle 3: Anteil der Personenbeförderung an der Gesamt-Verkehrsleistung (in Prozent)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Parachonskij, S. 32)

Parachonskij bezeichnet in einer von der ‚Akademie der Wissenschaften’ 1961 erschienen Studie mit dem Titel „Techniko-ekonomičeskie problemy vosdušnogo transporta“ diese Entwicklung als „Ergebnis der Maßnahmen zur Verbesserung der Organisation und zur Vervollkommnung des Betriebsablaufs“ der Aeroflot und den mit ihr verbundenen Institutionen.[51] Daneben bemerkt er aber auch, dass am Ende des sechsten Fünfjahresplans „der erreichte Entwicklungsstand des Luftverkehrs in der UdSSR noch ungenügend [ist], wobei die technische Ausrüstung einer Anzahl von Flugstrecken nicht den modernen Forderungen entspricht“.[52] Bezüglich der Entwicklung der Wirtschaftlichkeit des zivilen Luftverkehrs kommt Parachonskij zu der Erkenntnis, dass die Einnahmen für Beförderungsleistungen die Betriebskosten deckten. Gründe dafür sieht er in der „Verbesserung der technisch-ökonomischen Kennziffern des Einsatzes der Flugzeuge, [der] Zunahme der Transportleistungen und [der] Erhöhung der Arbeitsproduktivität“.[53] Inwieweit die Aeroflot wirtschaftlich wirklich erfolgreich arbeitete erscheint fraglich, da beispielsweise Forschungsprojekte im Falle eines Scheiterns hohe Kosten verursacht haben. Generell lässt sich feststellen, dass die meisten sowjetischen Flugzeuge, so leistungsstark und fortschrittlich sie auch waren, einen hohen Treibstoffverbrauch aufwiesen. Ein weiteres Beispiel, das die auf wirtschaftlichen Profit ausgelegte Vorgehensweise der Aeroflot in Frage stellt, betrifft den immensen Aufwand bezüglich der regelmäßigen Versorgungs- und Transportflüge in den infrastrukturell unterentwickelten Gebieten der Sowjetunion. Aufgrund der geringen Flugpreise und des hohen Aufwandes auf solchen Linien konnte die Aeroflot hier nicht kostendeckend arbeiten.

Abbildung 5: Europäische Luftverbindungen (1944 bis 1947)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Davies, S. 38)

Wie oben schon erwähnt, erhielt die Aeroflot mit den neuen modernen Flugzeugen (Il-18 und Tu-104) die Möglichkeit, ihr nationales und internationales Netzwerk weiter auszubauen. Erste Anstrengungen wurden noch während des Krieges 1944 mit Flügen nach Rumänien unternommen. Später folgten Routen in die Hauptstädte der Staaten der neu gewonnenen Einflusssphäre (siehe Abbildung 5). Bis in die späten 1950er Jahre hielt sich die Aeroflot gegenüber Verbindungen ins westliche, kapitalistische Ausland (bis auf wenige Ausnahmen) zurück. Erst 1957 wurden über Helsinki planmäßige Verbindungen nach Skandinavien aufgenommen.[54] Fünf Jahre später (1962) reagierten die Verantwortlichen mit der Gründung der „Aviation Group for International Air Services“ (AGIAS) als einer unabhängigen Unterorganisation der „Moskow Administration of Transport Aviation“ auf den zunehmenden Auslandsverkehr.[55] Bis zu diesem Moment konnte das internationale Netzwerk zumindest im westlichen Teil Europas weiter ausgebaut werden. So wurden beispielsweise 1958 Linienflüge zwischen Moskau und Amsterdam, Brüssel und Paris eingerichtet. Interessant ist, dass hier keine einseitigen Flüge seitens der Aeroflot stattfanden, sondern auch Maschinen der Fluglinien KLM, Sabena und Air France Flüge nach Moskau aufnahmen und somit das Recht erhielten, über sowjetischen Luftraum fliegen zu dürfen.[56] Eine ähnliche Übereinkunft fand 1959 zwischen der Aeroflot und den British European Airways statt, wodurch die regelmäßige Verbindung Moskau – London hergestellt werden konnte.

[...]


[1] Das Abkürzungsverzeichnis greift hauptsächlich auf die Angaben aus folgenden Werken zurück und wurde zum Teil vom Autor dieser Arbeit vervollständigt: Bielau, Herrmann: Luft- und Raumfahrt in der Sowjetunion, München 1968 und: Gunston, Bill: Aircraft of the Soviet Union. The encyclopaedia of Soviet aircraft since 1917, London 1983.

[2] Aeroflot ist nicht nur der Name einer Fluglinie. Aeroflot ist ein Synonym für die gesamte zivile Luftfahrt der UdSSR.

[3] So beispielsweise: Harter, Stefanie: Die russische Luftfahrtindustrie: endgültige Bruchlandung?, Köln 1998.

[4] Schlögel, Karl: Die Wiederkehr des Raums – auch in der Osteuropakunde, in: Osteuropa, 55. Jg., 3/2005, S. 9.

[5] Ebd.

[6] Vgl.: Bergmann, Wilfried: Sowjetisches Luftrecht. Rechtliche Grundlagen und Praxis der Zivilluftfahrt, Köln (u.a.) 1980, S. 7.

[7] Ebd.; dem Autor muss in seinem Text ein Fehler unterlaufen sein, denn er führt diese „Regelung“ aus dem „Jahre 1729“ auf Katharina II. zurück, welche in jenem Jahr erst geboren wurde. Da jedoch erst seit den Versuchen gegen Ende des Jahrhunderts, wie etwa die Flüge der Brüder Montgolfier 1783, eine ernstzunehmende Entwicklung der Ballonfahrt begann, erscheint die Jahresangabe fragwürdig.

[8] Vgl.: Bergmann: Luftrecht, S.8.

[9] Die ‚Ilja Muromec’ war ein von Sikorski konstruierter viermotoriger Bomber. Nach dem Krieg wurden Flugzeuge dieses Typs auch im zivilen Bereich eingesetzt.

[10] Einer der sogenannten Helden war Leutnant Peter Nesterov, dem am 27. August 1913 der erste Looping der Welt gelang. Siehe auch: Miller, Russell: Die Sowjetunion im Luftkrieg. Eltville am Rhein 1993, S. 24.

[11] Hier zitiert nach: Aksenov, A. F.: Civil Aviation in the USSR (The fifth Anniversary of its Formation), Moskow 1973, S. 14.

[12] Parachonskij, B. M.: Techniko-ekonomičeskie problemy vosdušnogo transporta (Technisch-ökonomische Probleme des Luftverkehrs), Moskau 1961, S. 8.

[13] Eine umfassende Darstellung des frühen russischen Flugs gibt von Hardesty mit seinem Kapitel „Early Flight in Russia“, in: Higham/Greenwood/von Hardesty (Hg.): Russian Aviation and Air Power in the Twentieth Century, London 1998.

[14] Tupolev war ein erfolgreicher sowjetischer Flugzeugkonstrukteur (siehe Kapitel 5).

[15] Im zaristischen Russland erhielt die Erforschung von Wasserflugzeugen einen wichtigen Platz im Bereich der Entwicklung der Luftfahrt.

[16] Bielau: Luft- und Raumfahrt, S. 133; N. J. Žukovski (1847-1921), Mathematiker, begann sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts intensiv mit der Luftfahrt zu beschäftigen. 1902 konstruierte er einen der ersten europäischen Windkanäle, mit dessen Hilfe er Probleme der Aerodynamik erforschte und löste. Ab 1909 hielt Žukovski Vorlesungen an der Technischen Hochschule Moskau über die Theorie der Luftfahrt. Nach der Oktoberrevolution gründete er 1918 mit Mitarbeitern das ‚Zentrale Aero- und Hydrodynamische Institut’ (CAGI), welches heute noch besteht.

[17] Duraluminium, auch Dural genannt, ist eine Aluminium-Legierung mit hoher Festigkeit.

[18] Helmedach, Andreas: Intergration durch Verkehr. Das Habsburger Reich, in: Osteuropa, 55. Jg., 3/2005, S. 19; Helmedach untersucht in seinem Aufsatz die Auswirkungen von Modernisierung im Verkehrswesen auf die Gesellschaft des Habsburger Reiches.

[19] Die Buchstaben bei den Flugzeugtypen bezeichnen das Konstruktionsbüro, in dem der jeweilige Flugzeugtyp konstruiert wurde. In diesem Beispiel steht ‚Tu’ für das OKB ‚Tupolev’. Siehe dazu auch Kapitel 5 dieser Arbeit.

[20] Hierzu siehe beispielsweise: Seidenstecher, Gertraud: Infrastrukturprobleme der UdSSR: Der Fall des Transportwesens, Köln 1985, oder auch: Harter: Luftfahrtindustrie.

[21] Vgl.: Der Spiegel, Nr. 17/1987, S. 31 f.

[22] Siehe hierzu: Kluge, Robert: Der sowjetische Traum vom Fliegen. Analyseversuch eines gesellschaftlichen Phänomens, München 1997.

[23] Plaggenborg, Stefan: Experiment Moderne, Frankfurt/Main 2006.

[24] Der Titel des Bildes lautet ‚Palast der Sowjets’. Es ist ein unrealisierter Wettbewerbsvorschlag von B. Jofan, V. Gel’frejch und V. Ščuko aus dem Jahr 1934.

[25] Davies, R.E.G.: Aeroflot: An Airline and its Aircraft, Shrewsbury 1992, S. 43.

[26] Vgl.: Barkleit, Gerhard: Die Rolle des MfS beim Aufbau der Luftfahrtindustrie der DDR, Dresden 1995, S. 8.

[27] Eyermann, Karl-Heinz: Die Luftfahrt der UdSSR 1917 – 1977, Berlin 1977, S. 117.

[28] Ebd.

[29] Ebd.

[30] Ebd.

[31] Eyermann: Luftfahrt, S. 117.

[32] Aksenov: Civil Aviation, S. 7.

[33] Ebd.

[34] Eyermann: Luftfahrt, S. 117.

[35] Eyermann: Luftfahrt, S. 117.

[36] Jones, David R.: the rise and fall of aeroflot: civil aviation in the soviet union. 1920-1991; in: Higham, u.a.: (Hrsg.): Russian Aviation and Air Power, S. 257.

[37] Ebd.

[38] Ebd.

[39] Davies: airline and aircraft, S. 44.

[40] Eyermann: Luftfahrt, S. 118.

[41] Jones: rise and fall, S. 256.

[42] Jones: rise and fall, S.256.

[43] Ebd.

[44] Eyermann: Luftfahrt, S. 118.

[45] Jones: rise and fall, S. 256.

[46] TL und PTL sind Abkürzungen für Flugzeugtriebwerke. Dabei steht TL für Turbinen-Luftstrahltriebwerk (auch Jet- oder Düsentriebwerk) und PTL für Propellerturbinentriebwerk (Turboprop).

[47] Parachonskij: problemy, S. 6.

[48] Vgl.: Aksenov: civil aviation, S. 8.

[49] Eyermann: Luftfahrt, S. 118.

[50] Aksenov: civil aviation, S. 8.

[51] Parachonskij: problemy, S. 3.

[52] Ebd., S. 4.

[53] Ebd.

[54] Jones: rise and fall, S. 258.

[55] Ebd.

[56] Jones: rise and fall, S. 258.

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Aeroflot 1956 - 1975: Eine sowjetische Erfolgsstory?
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
94
Katalognummer
V92357
ISBN (eBook)
9783638056588
ISBN (Buch)
9783638947657
Dateigröße
2223 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aeroflot, Eine, Erfolgsstory
Arbeit zitieren
M.A. Thomas Leopold (Autor:in), 2006, Aeroflot 1956 - 1975: Eine sowjetische Erfolgsstory?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92357

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