Interpretative Sozialforschung. Grounded Theory, Ethnographie und Membership Categorization Analysis


Seminararbeit, 2019

33 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Interpretative Forschungsmethoden
2.1. Die Grounded Theory
2.1.1. Das Interview / Die Konstitution von Subjektivität
2.1.2. Durchführung der Interviewanalyse im Stil der Grounded Theory
2.1.3. Forschungsergebnisse und Interpretation der Interviewanalyse
2.1.4. Reflexion der Interviewanalyse
2.2. Membership Categorization Analysis
2.2.1. Durchführung der Membership Categorization Analysis
2.2.2. Reflexion der Membership Categorization Analysis
2.3. Ethnographie / Die Regeln der Situationsbewältigung
2.3.1. Durchführung der verdeckten nichtteilnehmenden Beobachtung
2.3.2. Reflexion der verdeckten nichtteilnehmenden Beobachtung

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

5. Anhang

1. Einleitung

Der erkenntnistheoretische Hintergrund der interpretativen Sozialforschung ist aus der Interpretation der Wirklichkeit theoretische Aussagen über diese Wirklichkeit zu treffen. Es geht nach Alfred Schütz (2004) um den Common Sense, das alltägliche Denken. Doch was ist der Common Sense? Menschen organisieren Ihre Wahrnehmung der Welt durch Sprache und durch Typisierungen der Welt und ihrer Gegenstände. Der Common Sense lässt sich so beschreiben, dass ein Gegenstand für alle Menschen in einem Denkraum die gleiche Bezeichnung trägt. Wenn wir über einen bestimmten Gegenstand namentlich sprechen oder ihn auch nur beschreiben, dann wissen wir meistens, welcher gemeint ist.

Beim wissenschaftlichen Denken wird die Idealisierung des Common Sense, die Annahme, dass jeder von uns das gleiche Alltagsverständnis hat, nicht berücksichtigt. Beim wissenschaftlichen Denken sollen die Wissenschaftlerinnen dem „Typus des desinteressierten Beobachters“ entsprechen. Ein wissenschaftliches Problem soll so behandelt werden, dass es ohne Zweifel von jedem gleich verstanden werden und dementsprechend exakt beschrieben werden kann. Es darf nicht von einem Common Sense ausgegangen werden.

Beim wissenschaftlichen Denken muss von der logischen Konsistenz der Handlung einer Person ausgegangen werden. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nicht davon ausgegangen wird, dass die handelnde Person widersprüchlich handelt. Bei der subjektiven Gestaltung sollen die Wissenschaftlerinnen nicht davon ausgehen, dass die handelnde Person genauso ist, wiejemand den sie selbst kennen. Bei der Adäquanz bzw. Alltagstauglichkeit des Handlungsmusters soll nicht davon ausgegangen werden, die handelnde Person befände sich in einem luftleeren Raum oder lebe in der gleichen Umgebung wie die Wissenschaftlerinnen selbst.

Die Sozialforschung beschäftigt sich mit der Gesellschaft und den in ihr lebenden Individuen. Der Vorteil der interpretativen Sozialforschung ist, dass sie biografisch und situativ vorgeht und sich am Menschen als Individuum ausrichtet. Alle Teilnehmer an der Gesellschaft haben ihre eigenen Weltbilder, die von ihrer Biographie geprägt sind und dennoch teilen sie gemeinsame Werte und Normen (Flick, Kardorff, & Steinke, 2019, p. 21). Qualitative Forschung hat den Anspruch, Lebenswelten "von innen heraus" aus der Sicht der Handelnden zu beschreiben.

Schon Alfred Schütz war sich der Relevanz der unterschiedlichen Lebenswelten und deren Einfluss auf die Interpretationen im zwischenmenschlichen Handeln bewusst. Er spricht von subjektiven Relevanzhorizonten, die die Grundlage für soziales Handeln darstellen (Flick et al., 2019, p. 20). Soziale Wirklichkeiten befinden sich nach Berger and Luckmann (1987) durch die Interpretation der Aktion und Reaktion auf Gesagtes und Getanes der Menschen untereinander stets in einem sozialen Konstruktionsprozess.

Qualitative Methoden nutzen das Fremde, das Neue als Erkenntnisquelle und möglichen Ausgangspunkt für gegenstandsbegründete Theoriebildung. Die zu verwendende Datenerhebungsmethode in der qualitativen Forschung richtet sich nach der Forschungsfrage und dem, was man abbilden möchte.

Gegenstand dieser Forschungsmappe soll es sein, in einige Methoden der interpretativen Sozialforschung beispielhaft einzuführen. Es werden die Interviewanalyse nach der Grounded Theory, die Ethnographie und die Membership Categorization Analysis vorgestellt. Zujeder Methode werden das Material, die Vorgehensweise sowie die Analyse und die Deutung der Forschungsergebnisse gezeigt. Anhand von Beispielen an Datenmaterialien wird verdeutlicht, wie die Methoden praktisch angewendet werden.

Das Interview wurde mit einer Untersuchungsperson aus einem Forschungsprojekt mit ausgewählten Mitgliedern des damaligen polnischen Nationalparlaments (Sejm), die zu ihren Einschätzungen bezüglich des Verhältnisses von Nation und Europa geführt. Bei der Membership Categorization Analysis wird die Rede des damaligen Bundesaußenministers Joschka Fischer auf dem außerordentlichen Parteitag in Bielefeld 1999 analysiert. Im Rahmen der Ethnographie wurde eine Beobachtung zweier miteinander Kaffee trinkender Personen im Café Alfredo im Anbau des Casinos der Goethe-Universität durchgeführt. Im Anschluss an die Vorstellung und Anwendung derjeweiligen Methode wird die Arbeit mit dieser noch einmal reflektiert.

In der abschließenden Diskussion wird auf die persönlichen Erfahrungen mit den Forschungsmethoden eingegangen und ein Ausblick auf die weitere Arbeit im Studienverlauf mit qualitativen Methoden gegeben.

2. Interpretative Forschungsmethoden

Es folgt die Vorstellung und Anwendung der drei ausgewählten interpretativen Forschungsmethoden. Ich beginne mit der Interviewanalyse nach der Grounded Theory.

2.1. Die Grounded Theory

Als Begründer der Grounded Theory in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus gelten Anselm Strauss und Berney Glaser (Flick et al., 2019, p. 32). Sie stellten Richtlinien für den qualitativen Forschungsprozess auf, um dem Intuitionismus entgegen zu wirken, ohne den interpretativen Forschungsprozess zu formalisieren. Vielmehr soll es sich um eine Strukturierungshilfe für den Verfasser einer

Forschungsarbeit handeln. Die Grounded Theorie hilft wie andere rekonstruktionslogische Verfahren bei der Theorieentwicklung. Die Grounded Theory ist ein Ansatz zur Auswertung von qualitativen Daten, die überwiegend aus Interviews oder Beobachtungsprotokollen stammen (Flick et al., 2019, pp. 33-34).

Bei der Analyse nach der Grounded Theory werden drei verschiedene Kodierverfahren angewandt. Beim offenen Kodieren wird zunächst der Text aufgebrochen. Im Interview werden Konzepte wie die Themen, die Haltung des Interviewten und besonders markante Interviewpassagen herausgearbeitet. Bei der Beobachtung werden die Phänomene benannt, die Beobachtung wird konzeptualisiert. Anschließend werden die Konzepte unter Kategorien zusammengefasst und diese benannt (Strauss & Corbin, 1996, pp. 45-49).

Im Anschluss werden beim axialen Kodieren die Aussagen interpretiert und daraufhin Subkategorien erstellt und Verbindungen zwischen einer Kategorie und einer Subkategorie hergestellt (Strauss & Corbin, 1996, p. 76).

Das dritte Kodierverfahren ist das selektive Kodieren. Dabei werden Beziehungen zwischen den Hauptkategorien in Bezug auf die Subkategorie hergestellt und ein roter Faden herausgearbeitet (Strauss & Corbin, 1996, p. 94). „Theoretische Konzepte, die in einer Untersuchung entwickelt werden, werden im Zuge der Analyse von Daten entdeckt und müssen sich an den Daten bewähren“ (Flick et al., 2019, pp. 40­41). Alle drei Verfahren werden während des Prozesses im Wechsel angewandt.

2.1.1. Das Interview / Die Konstitution von Subjektivität

Gegenstand der Analyse ist ein Interview mit einem polnischen Bürger. Die Untersuchungspersonen waren ausgewählte Mitglieder des damaligen polnischen Nationalparlaments (Sejm), die zu ihren Einschätzungen bezüglich des Verhältnisses von Nation und Europa interviewt wurden. Interviewpartner des vorliegenden Materials ist ein Mitglied der Partei Samoobrona Rzeczpospohtej Polskiej (Selbstverteidigung der Republik Polen). Die Partei wird von Politikwissenschaftlern als populistisch und bäuerlich, wirtschaftspolitisch links und gesellschaftspolitisch christlich-konservativ eingestuft. Das Interview, das sich um die polnische Nationalidentität, den Patriotismus und die Kultur der Polen und Europas dreht, gibt durch die Aussagen des Parteimitgliedes Einblicke in sein Wertesystem.

2.1.2. Durchführung der Interviewanalyse im Stil der Grounded Theory

Zur Verdichtung der Hauptaussagen des Interviews und somit der Ansichten des Befragten wurden Randnotizen und farbige Markierungen im Interview angefertigt, es wurde offen kodiert. Eine Legende erklärt die Markierungen und Anmerkungen im Text.

Polens Identität als Nation, der Patriotismus und Glaube sowie die Unterscheidung zwischen Europa als Kontinent und EU sind im bearbeiteten Interviewabschnitt wesentlich. Alle Äußerungen des Interviewten zu Polens Identität als Nation sind gelb, türkis sind die Codes zu den Themen Patriotismus und Glaube. Aussagen, die Europa als Kontinent und die EU betreffen sind grün. Dies wurde zunächst bis Zeile 148 durchgeführt.

Zur methodischen Annäherung an das Interview konnte ich beim offenen Kodieren drei Hauptkategorien ausmachen, die inhaltlich nicht immer trennscharf und miteinander verwoben sind, was die Zuordnung der Subkategorien zeigt. Die Hauptkategorien sind

I. Polens Identität als Nation
II. Patriotismus und Glaube
III. Europa als Kontinent und die EU

Im Folgenden sind die Aussagen des Interviewten inhaltlich zusammengefasst. Im Anschluss habe ich in roter Schrift meine beim axialen Kodieren entstandenen eigenen Gedanken verfasst. Die gebildeten Subkategorien sind in blau abgehoben. Die Zeilenangaben beziehen sich auf die des Interviewmaterials im Anhang 1 (wie Originalmaterial).

I. Polens Identität als Nation

Zunächst wird der Interviewte zum polnischen Volk und seiner Rolle in der europäischen Politik befragt. Die Polen seien eine ruhige und nachgiebige Nation (Zeile 15 f.). Kritik, dass sich das polnische Volk zu lange zu viel gefallen lässt? Subkategorie: Eigenarten der Polen.

Er sagt aber auch andererseits, dass sie unfügsam seien könnten (Zeile 20). Zusammenschluss/ Vereinigung nur unter Bedingungen? Widersprüchlich zur o.g. Kritik. Subkategorien: Eigenarten der Polen; parteipolitische Aussage.

Der Interviewte definiert die polnische Nation über ihr geographisches Gebiet, ihre gemeinsame Geschichte/ Tradition und die Verbundenheit im Christentum sowie die gemeinsamen Werte ihres Volkes untereinander (Zeilen 43-65). Wünscht sich, zu alten Traditionen zurückzukehren, der Katholizismus soll gestärkt werden. Subkategorien: Katholizismus; Werte.

Hinsichtlich der Bildung ihrer nationalen Identität seien sich die europäischen Länder an sich sehr ähnlich. Vorherrschende Religion in Europa ist das Christentum. Wenn sich die Identität über das Christentum bildet, sieht er durchaus Ähnlichkeiten in Europa und auch die gleichen Probleme, wie das Desinteresse der Jugend an der Kirche. Ebenso verbinde es die Europäer, dass sie alle ihre Identität wahren wollen (Zeilen 135­148). Hier gehen Aussagen zur nationalen Identität, zum Glauben und zu Europa ineinander über „Europastolz?“ Gibt es überhaupt verschiedene Identitäten in Europa, wenn sie alle ihre Identität aus dem Christentum schöpfen? -> Ja, Geschichte (Zeile 101 ff.). Subkategorien: Katholizismus; Werte.

II. Patriotismus und Glaube

Der Interviewte berichtet, er sei mit einem solchen Patriotismusgeist erzogen worden, dass alles was mit Polen zu tun habe etwas Riesiges sei, das eine gewisse Emotion verursache und er deshalb über Polen und seine Kultur ausgiebig sprechen wolle (Zeile 6 ff.). Patriotismus und Nationalstolz in Polen generell nicht verpönt oder liegt es am christlich-konservativen Elternhaus, das den Interviewten in seinen Ansichten bis heute geprägt hat? Subkategorie: Eigenarten der Polen; Populismus.

Der Interviewte nutzt „wir“, „uns“ und „Landsleute“ (Zeile 32), wenn er über und die Polen spricht. Populistisch? Subkategorie: Populismus.

Der Interviewte ist der Ansicht, die Polen hätten den Europäern eine Botschaft zu übermitteln. Die jüngere Generation sei in ihren Werten von der älteren geprägt worden, doch sie werde durch sehr viel Schlechtes aus dem Westen beeinflusst (Zeile 48 f.). Die Werte, die er hier mit Patriotismus sowie der Pflicht dem Vaterland gegenüber gleichsetzt, würden verwischt (Zeile 51 f.). Man müsse die Werte in den Herzen der Jugend pflegen und den Westen so dazu bewegen, sich selbst kritisch zu betrachten (Zeile 56 f.). Kritik am Westen zu wenig Nationalstolz zu zeigen, vielleicht sogar besonders am direkten westlichen Nachbarn Deutschland? Subkategorie: Eigenarten der Polen; Populismus.

Nach Meinung des Interviewten leite sich der Patriotismus der Polen aus den Worten „Gott, Ehre, Vaterland“ ab, wobei sein Eindruck ist, Gott werde inzwischen vergessen (Zeile 106 ff.). Die starke Verwurzelung im Christentum wird wieder sichtbar. Subkategorien: Katholizismus; Werte.

Dennoch hat er die Hoffnung, dass die Polen ihren Glauben noch tief in sich tragen (Zeile 111 f.). Wunsch, den Glauben wieder stärker nach außen zu tragen und wieder in ihre Werte aufzunehmen. Er scheint aber auch einen Unterschied zwischen Stadt und Land (Zeile 110) sowie in verschiedenen Gesellschaft(sschicht)en (Zeile 112) zu geben. Kleinstädter und Einwohner der ländlichen Regionen scheinen seinem patriotischen Wertekanon eher zu entsprechen. Subkategorie: Eigenarten der Polen; Populismus.

III. Europa als Kontinent und die EU

Geographisch liege Polen als besonderes Volk an einem besonderen Ort in Europa (Zeile 13 f.). Polen als Bindeglied zwischen West und Ost? Polen als besonderes Land? Subkategorie: parteipolitische Aussage; Populismus.

Auf die Frage, wie der Interviewte Europa und die EU definieren würde unterscheidet dieser zwischen Europa als Kontinent, dessen Staaten wie Frankreich Deutschland, Polen und Belgien eindeutig zu identifizieren seien und der EU, die „schon etwas ganz anderes“ sei, ein System zu Verwirklichung wirtschaftlicher Interessen (Zeile 78). Anstatt seine direkten Nachbarn aufzuzählen, nennt er die drei einflussreichsten Staaten in der EU. Durch die Erwähnung von Polen in der Aufzählung „Frankreich Deutschland, Polen und Belgien“ mischt er sein Herkunftsland unter diese drei, obwohl Polen 2004 erst sehr spät aufgenommen wurde. Subkategorie: parteipolitische Aussage.

Weiter sagt er, dass die Gründerstaaten durch die Erweiterung nicht den Vorteil für die Erweiterungsstaaten zum Ziel gehabt hätten, sondern nur ihren eigenen Vorteil (Zeilen 85 ff.). Damit sieht er Polen, die erst nach 1995 durch die Erweiterung aufgenommen wurden, als einen der Staaten, die ausgenutzt werden. Subkategorie: parteipolitische Aussage; EU-Kritik.

Wenn die Erweiterungsstaaten in naher Zukunft bemerkten, dass sie ausgenutzt würden, so werde Europa als Kontinent bestehen bleiben und die EU verschwinden (Zeilen 90 ff.). Kritik an der Europapolitik. Subkategorie: parteipolitische Aussage; EU- Kritik.

2.1.3. Forschungsergebnisse und Interpretation der Interviewanalyse

Im Resümee ist am Interview bis Zeile 148 auffällig, dass der Interviewte Nationalstolz, Gott, Ehre und Vaterland stark miteinander in Bezug setzt. Dreimal nutzt er in diesem Zusammenhang eine Herz-Metapher an Textstellen, an denen es um Werte und den damit für ihn verbundenen Patriotismus und Glauben geht. Ich verbinde mit dem Wort „Herz“ in diesem Kontext archaische Emotionen, etwas Vererbtes, das im Blut liegt, Nichts, was man sich aussuchen kann und etwas Lebenswichtiges.

Weiterhin auffällig ist bereits in diesem Abschnitt die Kritik an der EU. Im späteren Verlauf des Interviews lässt der Interviewte seine Ansicht blicken, dass er Polen dennoch für ein wichtiges Bindeglied zwischen Ost- und Westeuropa hält.

Für den Interviewten ist Nationalstolz und Religion untrennbar sowie sehr wichtig für die Ausbildung der Werte seiner polnischen Mitbürger. Außerdem kritisiert es in diesem Zusammenhang die Religionsverdrossenheit der überwiegend westlichen europäischen Jugendlichen, die auch einen schlechten Einfluss auf die polnische Jugend haben. Deutlich wird sein christlich-nationalkonservatives Wertebild, das passend zu dem Wertekanon der Partei Samoobrona Rzeczpospohtej Polskiej (Selbstverteidigung der RepublikPolen) ist, der er angehört.

In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass der Interviewte teils widersprüchliche Aussagen macht, so als würde er als Parteimitglied einerseits sagen wollen, was das Parteiprogramm vorsieht, dies aber andererseits nicht seiner eigenen Meinung entsprich. Als Beispiel seien die Textstellen genannt, in denen er die Polen zuerst als nachgiebig, kurz darauf aber als unfügsam beschreibt (Zeilen 16 und 20).

Bei der Zuweisung von Subkategorien konnten außerdem Verbindungen zwischen den Kategorien festgestellt werden. So gibt es gerade bei den Kategorien l.Nationale Identität und 2. Patriotismus und Glaube viele Gemeinsamkeiten, die bei der Bearbeitung des Materials nicht einfach zu unterscheiden waren.

2.1.4. Reflexion der Interviewanalyse

Insgesamt ist die Interviewanalyse ein gutes Mittel der empirischen Sozialforschung, da man direkt am Forschungssubjekt arbeitet. Es ist spannend durch das Interview in die Lebenswelt des Interviewten eintauchen zu können. Für mich, alsjemand der über wenig Nationalstolz sowie Gottesfurcht verfügt, sind die Gedankengänge des Interviewten schwierig zu verstehen, in Bezug zueinander zu setzen und zu interpretieren. Es fühlt sich an, als würde ich nach einer Vokabel suchen, die ich nie gelernt habe.

Die Arbeitsweise betreffend finde ich, dass man in Papierform besser arbeiten kann, als am PC, weil man einfacher verschiedene Codierungszeichen verwenden kann. Künftig würde ich für die Bearbeitung weitere Zeichen hinzunehmen, bestimmte Begriffe z.B. einkringeln, mit weiteren Farben und Unterstreichungen arbeiten, Pfeile setzen usw., um differenziertere Kodierungen vornehmen zu können. Außerdem könnte ich hinsichtlich des weiteren Verlaufs des Interviews zusätzliche Kategorien zu Ansichten zur Kultur, der Verbindung von Polen zu anderen europäischen Ländern, Europa und den USA sowie den europäischen Ländern untereinander machen. Unterhalb von Europa und der EU können noch weitere Unterpunkte zu Aussagen zu Europa und EU-kritischen Aussagen angelegt werden. Zudem möchte ich mir die Einteilung in Kategorien, die sehr eng beieinander liegen, durch das zu Grunde legen einer eindeutigen Definition (Operationalisierung) vereinfachen.

Gewinn und Verlust bei der Methode sehe ich in der Subjektivität. Einzeln an einem Projekt zu arbeiten wirft eine subjektive Sichtweise auf das Material. Beim Austausch mit einer Kommilitonin aus der Politikwissenschaft über die Arbeit war ich mir zunächst gar nicht sicher, ob wir das gleiche Interview bearbeiten. Aus ihrer Sicht war das hauptsächliche Thema des Interviews die Kritik des Interviewten an der Europäischen Union. Aus meiner Sicht ist die wesentliche Thematik Kultur und Religion und welchen Einfluss sie auf die Einwohner der unterschiedlichen europäischen Staaten hat. Deshalb würde ich in Zukunft an solchen Projekten im Team arbeiten wollten, um mehrere Sichtweisen zusammenzubringen und so ein ausdifferenzierteres Bild zu erhalten.

2.2. Membership Categorization Analysis

Die Membership Categorization Analysis (MCA) ist eine Spezifikation der Inhaltsanalyse mit dem besonderen Fokus aufMitgliedschaftskategorien. Sie hat wie die objektive Hermeneutik eine sprachanalytische Basis, allerdings werden während der Analyse eigene Schwerpunkte gesetzt.

Den analytischen Fokus bilden die Mitgliedschaftskategorien, z.B. „family“. Mit MitgliedschaftsÄategorzew werden typische Handlungsweisen erwartet und ihre Position im sozialen Gefüge (auch hierarchisch) geordnet. In diesen Kategorien werden kleinere Elemente verortet und in KategorienÄo/ZeÄ/zowew angelegt, z.B. „baby“ oder „mommy“. Die Kollektionen werden dann den bestimmten Kategorien zugeordnet, z.B. „baby“ „mommy“ -> „family“.

Der Membership Categorization Device (MCD) ist ein Apparat, der aus einer Kollektion von Mitgliedschaftskategorien und Regeln für deren Anwendung besteht. Diese Regeln sind die economy rule - wenn möglich soll nur eine Kategorie für ein Objekt gelten, die consistency rule = man bleibt bei der Beschreibung eines Objekts bei der gleichen Kategorienkollektion und die duplicative organization - mehrere Elemente einer Kategorienkollektion gelten als Teil einerEinheit (Silverman, 1998, pp. 79-81).

Akteure verbinden generell mit den Mitgliedschaftskategorien, die sie verwenden, bestimmte Handlungsweisen, die von den Objekten aus der Kategorie erwartet werden, die category-bound activities. Mit den Handlungsweisen geht eine bestimmte Position des Objekts im Sinne einer Staffelung oder Hierarchie in der Kategorienkollektion einher.

Beispielhaft wird die Rede von Joschka Fischer auf dem außerordentlichen Parteitag der Grünen/ Bündnis '90 vom 13. Mai 1999 in Bielefeld nach der MCA bis Zeile 91 des Datenmaterials in Anhang 2 bearbeitet. Anlass der Rede war der NATO- Einsatz im Kosovo gegen die ethnische Kriegsführung des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic.

2.2.1. Durchführung der Membership Categorization Analysis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im weiteren Verlauf des rekonstruktionslogischen Verfahrens würde analysiert, welche Kontinuitäten und Brüche es in den Kollektionen gibt, ob es zu Kollektionswechseln oder den Einführungen neuer Kollektionen kommt. Es würde dann analysiert, welche Zusammenhänge und Überschneidungen es zwischen den Kollektionen gibt und welche Hinweise uns das gibt, welche möglichen Rückschlüsse wir daraus ziehen können. Daraufhin werden erste Hypothesen gebildet.

Durch die Grounded Theory oder eine objektiv-hermeneutische Analyse können Ergebnisse überprüft und präzisiert werden.

2.2.2. Reflexion der Membership Categorization Analysis

Es fiel mir nicht leicht Kategorien und Kollektionen zu bilden und zu sortieren, was wozu gehört. Auch war ich mir nicht sicher, wie wörtlich ich den Text nehmen muss und wieviel interpretiert werden darf, um ein einziges Wort oder eine kurze Beschreibung finden zu können.

2.3. Ethnographie / Die Regeln der Situationsbewältigung

Für den ethnographischen Teil dieser Forschungsmappe führte ich eine passive verdeckte Beobachtung. Im Gegensatz zum vorangegangenen Interview handelt es sich um eine Datenerhebungsmethode, bei der die Daten zeitlich mit dem sozialen Geschehen und aus seinem direkten Umfeld erhoben werden (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff, & Nieswand, 2015, p. 71). Bei ihr werden selbstverständliche alltägliche Situationen nach dem Leitsatz „making the familiar stränge“ als erklärungsbedürftig behandelt (Hirschauer, 1997). Um eine Forschungsfrage vollständig beantworten zu können, werden in der Regel mehrere Einzel-Beobachtungen einer Forscher*innengruppe zusammengeführt und diskutiert. Wie in der Einführung bereits erwähnt, kann eine Beobachtung mit der Grounded Theory analysiert werden (Strauss & Corbin, 1996, p. 45). Bei der Auswahl der Analysemethode kommt es auf den Untersuchungsgegenstand der Ethnographie an.

Ethnografische Protokolle wird man daher eher mit Kodierverfahren der Grounded Theory oder der ethnografischen Semantik durchforsten, bei der Analyse von Gesprächssequenzen wird man beispielsweise eher auf die Konversations- oder Gattungsanalyse sowie andere hermeneutische Verfahren zurückgreifen (...). (Breidenstein et al.,2015, p. 113)

2.3.1. Durchführung der verdeckten nichtteilnehmenden Beobachtung

Die Fragestellung der Beobachtung lautet „Was ist eine Kaffeepause?“. Für die Erstellung des Protokolls habe ich eine nichtteilnehmende Beobachtung durchgeführt, bei der die Probanden nichts von der Beobachtung wissen und der Beobachtende darum bemüht ist, unentdeckt und am Geschehen unbeteiligt zu bleiben (Diekmann, 2018, p. 565). Es handelt sich um eine zufällige Alltagsbeobachtung (Girtler, 2009, p. 61).

Zunächst beschreibe ich unter I. Autoethnographisches Protokoll / Forschungstagebuch wie ich Kaffeepausen bisher erlebe, wie meine Stimmungslage vor der Beobachtung ist, welche Erwartungen ich an die Beobachtung habe und was meine Eindrücke nach der Beobachtung sind. Die Feldnotizen zu folgenden Aufzeichnungen im Rohzustand befinden sich im Anhang 3. Beim Aufschreiben der Feldnotizen habe ich, wie Emerson, Fretz, and Shaw (1995) empfehlen, versucht alles genau zu beschreiben, den Dialog wiederzugeben und die Personen zu charakterisieren, p. 68.

Unter II. Raum-Bild / Forschungsprotokoll I wird im Forschungsprotokoll die Beobachtungsumgebung sowie ihre Besonderheiten beschrieben.

Unter III. Bild der Entwicklung (Dramaturgie) / Forschungsprotokoll II erzähle ich den Verlauf derbeobachteten Situation.

Wie Breidenstein et al. (2015) nach Kalthoff (1979b) erklären, wird beim Verfassen der analytical notes mit Abstand zum Feld das Aufgeschriebene durchgegangen und analysiert (p. 125). Unter IV. Systematische Reflexion / analytical notes formuliere ich eine hypothetische, durch die Forschungsnotizen und deren Weiterentwicklung zu einem ausformulierten Forschungsprotokoll begründete Antwort auf die Frage: „Was ist eine Kaffeepause?“

I. Autoethnographisches Protokoll / Forschungstagebuch

Kaffeepausen sind im akademischen Alltag für mich eine der wichtigsten Quellen, um durchzuatmen und neue Kraft zu schöpfen. Dabei geht es mir oft weniger um den Kaffee per se, als vielmehr um das rassemblement social mit Kommiliton*innen und damit verbunden Abstand zum aktuell bearbeiteten Thema zu gewinnen. Nach der Pause kann ich mit frischen, neuen Ideen produktiv Weiterarbeiten. In Seminaren sind sie eine tolle Gelegenheit Kommiliton*innen näher kennenzulemen. Auch außerhalb des Universitäten Kontextes dienen mir zum Austausch sowie einem Perspektivwechsel.

Bei den Schweden beispielsweise gehört &Qfikapaus morgens um 10 Uhr als feste Institution in jedes Unternehmen. Man trifft sich in der Kaffeeküche und tauscht sich mit anderen Teammitglieder aus unterschiedlichen Teams aus. So können sie bei festgefahrenen Themen durch den interdisziplinären Perspektivwechsel oft neue Ideen entwickeln. Kaffeepausen können so viel mehr als nur die Aufnahme von sein.

Vor meiner Beobachtung war ich aufgeregt, denn das verdeckte Beobachten machte auf mich den Eindruck eines unerwünschten Eintretens in die Privatsphäre zweier Fremder. Doch die Wahrung der Anonymität beider sowie die Beobachtung der Personen bei einem Treffen im öffentlichen Raum machte die Situation wiederum für mich forschungsethisch nicht weiter bedenklich (Breidenstein et al., 2015, p. 55).

An die Beobachtung an sich habe ich die Erwartung etwas Neues darüber zu erfahren, was eine Kaffeepause ist oder was sie für andere sein kann. Außerdem habe ich die Erwartung nicht „erwischt“ zu werden, mich erklären zu müssen oder aufgefordert zu werden, den Inhalt meiner Notizen entweder preis zu geben oder sie sogar herauszugeben.

Nach der Beobachtung bin ich froh, dass alles glatt gegangen ist und ich nicht aufgeflogen bin. Obwohl die Beobachtung nicht lange dauert, bin ich von der Menge der Eindrücke leicht reizüberflutet. Es war sehr viel zu notieren und dennoch habe ich das Gefühl, vieles nicht erfasst zu haben oder vielleicht nicht in der richtigen Reihenfolge. Auch frage ich mich, wieviel Subjektivität bereitsjetzt in meine Feldnotizen eingeflossen ist, ohne es bemerkt zu haben und trotz der Mühe, möglichst objektiv zu sein.

II. Raum-Bild / Forschungsprotokoll I

Es ist ein frühsommerlicher Freitagnachmittag um 16 Uhr. Ein Mann und eine Frau sitzen in der Kaffeebar Alfredo im Casino Anbau auf dem Campus Westend der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Die beiden sitzen in der Lounge der Halle zusammen. Der Tresen befindet sich im Rücken der Frau und zur Linken des Mannes. Sie sitzen im rechten Winkel zueinander. Die Sitzgelegenheiten bestehen aus Hockern und schwarzen Sitzbänken, auf denen drei bis vier Personen Platz nehmen können. In der Mitte von zwei gegenüberliegenden Bänken sind jeweils zwei bis vier Holzquader als Tische positioniert sowie ein paar Sitzhocker. So sind etwa vier Sitzgruppen weitläufig aneinandergereiht. Ich sitze gegenüber den beobachteten Personen auf einer der schwarzen Sitzbänke. Um uns herum sitzen weitere Studierende oder laufen an uns vorbei. Im Hintergrund kann ich von der Bar her das Klappern von Geschirr und das Fauchen des Milchaufschäumers der Kaffeemaschine hören.

Der Mann ist ca. 60, sie ca. 50 Jahre alt. Beide könnten auch jünger sein, das lässt sich ihrem Aussehen nach nicht gut einschätzen. Er hat kurze graue Haare und trägt eine sehr starke Brille. Die Aufschrift der Goethe- Universität ziert seine schwarze Softshelljacke.

Die Frau hat schwarz gefärbte Haare mit grauem Ansatz und trägt ebenfalls eine Brille. Die schwarze Bluse spannt am Bauch und die Spandexfäden der schwarzen Hose haben sich an den Innenschenkeln verselbstständigt. Sie sitzen im Neunziggradwinkel zueinander, sie sitzt leicht von ihm abgewandt. Durch ihre Haltung - die Beine gespreizt und die Arme darauf gestützt - wirkt sie burschikos. Möglicherweise geht es aufgrund ihrer physischen Konstitution auch nicht eleganter.

III. Bild der Entwicklung (Dramaturgie) / Forschungsprotokoll II

Der Mann sitzt vorgelehnt auf der schwarzen Bank spielt auf seinem Smartphone. Sie sieht auf ihre Tim & Struppi-Armbanduhr, auf der nur Struppi abgebildet ist, und ist anschließend mit ihrer Kleidung beschäftigt. Sie unterhalten sich nicht. Der Mann ist immer noch mit seinem Smartphone beschäftigt. Sie trinkt ihren kalten Café Latte aus dem Plastikbecher von Emmi leer und beginnt mit ihm zu spielen, während sie unfokussiert aus dem Fenster ins Freie starrt.

Schließlich steckt der Mann sein Handy in die Brusttasche, richtet sich auf und beginnt der Frau von seinen Rechercheergebnissen zu berichten. Bekannte von ihm seien im Krankenhaus. Weshalb sie dort sind kann ich nicht verstehen. Die Frau fragt nach, ob man für sowas nicht zum Facharzt gehe und der Mann erwidert, dass das bei „uns im Krankenhaus“ sei. Der Mann packt nun seinen Karamellkeks aus, den es zum Kaffee gibt, woraufhin die Frau moniert, dass er den Keks zu spät esse, denn sein Kaffee seija schon leer und er habe nun nichts mehr zum Tunken. Sie lacht humorlos und burschikos „thöh“. Der Mann zuckt mit den Schultern. Sie finden kein zusammenhängendes Gesprächsthema und Unterhalten sich nicht angeregt. Kommt es zu einer Pause, eröffnet einer das Gespräch mit einem neuen Thema. Er pickt einen Krümel vom Tisch und lehnt sich entspannt zurück und streckt die Beine aus.

Sie nimmt das Gespräch wieder auf und berichtet, kürzlich wieder Schmerzen in der linken Brust gehabt zu haben und tippt sich mit der Hand auf die Stelle. Er öffnet die Augen etwas weiter, zieht die Augenbrauen nach oben und sagt etwas besorgt „so?“. Zuhause habe Sie dann direkt gemessen, es sei aber nichts gewesen. Ein Gespräch kommt langsam in Gang. Er berichtet daraufhin von seinem Belastungs-EKG, bei dem er gewesen ist und dass der Arzt ihn dann nach seiner Medikation fragte und ihm eine neue verschrieben habe, welche der Mann zunächst nicht lesen konnte und die Medikamente dann aber auch nicht kannte. „Nicht mal Google kannte die“, meint er. Aber Arztschrift könne man eh nie lesen. Jedenfalls habe er sich dann „alles mitgeben lassen“ und malt dabei die EKG-Linien mit dem Zeigefinger in die Luft, denn er benötige „das für den Urlaub“. Die Frau nickt.

Er beschwert sich, es seien eh alle unfähig. Dann fährt er fort, dass letztens ein PC abgestürzt sei. Da habe er ihn einfach aus und wieder an gemacht, dann ging der PC wieder. So einfach sei das. Die Frau schaut aus dem Fenster und hört zu. Dann ergreift sie wieder das Wort und spricht zusammenhanglos über ein anderes Thema. Dabei gestikuliert sie aufgebracht und berichtet, die Chefin sei nicht da, aber wenigstens nur für die nächsten zwei Teamsitzungen. Er nickt, öffnet die Augen wieder etwas weiter, zieht die Augenbrauen nach oben und sagt „so?“. Mit einem Blick auf die Uhr sagt die Frau dann, dass sie losmüssten. Beide stehen auf und verlassen die Kaffeebar Alfredo durch den Hinterausgang, der ein Notausgang ist.

IV. Systematische Reflexion / analytical notes

Die beiden machen den Eindruck einander zu kennen. Mir ist das Verhältnis zueinanderjedoch unklar. Sie scheinen zumindest kein engeres Verhältnis zueinander zu haben. Der Mann scheint aufgrund seiner Jacke mit dem Universitätslogo ein Mitarbeiter der Universität zu sein.

Ich gehe davon aus, der Herr kommt aus einer ländlichen Gegend in der Umgebung, sodass kein Facharzt niedergelassen ist, wohingegen die Frau in einer Gegend mit einer umfassenderen medizinischen Versorgung lebt.

Etwas später gehe ich davon aus, dass die beiden bereits seit längerem Kollegen sind, die regelmäßig ihre Kaffeepausen im Alfredo abhalten und einiges voneinander wissen. Irgendwie wirken sie leicht lethargisch, was jedoch keinen freundschaftlichen Eindruck aufkommen lässt.

Als die Frau von ihren Schmerzen in der Brust erzählt, macht der Mann einen leicht besorgten Eindruck. Da sie nicht genauer bezeichnet, was sie zuhause nachgemessen hat und was nicht gewesen ist, gehe ich davon aus, das Thema kommt häufiger bei beiden vor und der Mann weiß, wovon sie spricht.

Das Plaudern über seine Medikation macht den Eindruck, als wisse er nicht genau, was er sagen solle. Beide wirken allgemeinen so, als unterhielten sie sich nur, um etwas gesagt zu haben. Sie macht den Eindruck, als höre sie nicht richtig zu. Die Themen wechseln. Das Gespräch stockt oft. Es gibt keinen roten Faden.

Aufgrund vorbeigehender Menschen gehen Gesprächsfetzen und Sinneseindrücke kurz für mich verloren.

Das Verlassen des Gebäudes der Personen durch den Notausgang, über dem das Schild „Exit“ prangert, hat etwas symbolisches für den Ausstieg aus der Situation.

Nach den gewonnenen Eindrücken kann eine Kaffeepause auch etwas ganz Banales sein, die einfach dazu dient, freie Zeit bis zum nächsten Ereignis zu überbrücken. Diese Kaffeepause macht auf mich einen angestrengten anstatt eines befreienden und revitalisierenden Eindrucks. Sie scheinen die Pause zu nutzen, um abzuschalten und herunterzufahren. Einen entspannten Eindruck machen siejedoch nicht auf mich.

Nach diesen Beobachtungen in Zusammenhang meiner eigenen Autoethnographie ist eine Kaffeepause etwas sehr Individuelles und dient manchen möglicherweise tatsächlich dazu, den Gedanken eine Pause zu gönnen und lediglich den Koffeinhaushalt aufzufrischen.

An dieser Stelle fände ich es spannend weitere Beobachtungen durchzuführen und herauszufinden, was eine Kaffeepause noch sein kann und ob sich vielleicht ein Muster für unterschiedliche Personenzusammensetzungen herausarbeiten lässt.

2.3.2. Reflexion der verdeckten nichtteilnehmenden Beobachtung

Das Aufschreiben der Feldnotizen war recht schwierig, weil sehr viele Dinge gleichzeitig passierten. Sprache, Gestik, Mimik und Körpersprache passieren parallel. In meinem Fall sogar bei zwei Personen gleichzeitig. Es war eine Herausforderung alles niederzuschreiben und gleichzeitig nichts zu verpassen, zuzuhören und hinzusehen. Für eine kurze Zeit, die Beobachtung dauerte etwa 10 Minuten, war dies möglich. Für eine längere Dauer stelle ich mir diese Methode sehr anstrengend vor.

Die Beobachtung war hingegen auch spannend, da ich zum einen nicht entdeckt werden wollte und dennoch in die Lebenswelt der Beobachteten unmittelbar eintauchte, da ich ihnen direkt gegenüber in Hörweite saß. Ich glaube, dass es recht einfach war nicht aufzufallen, obwohl ich mir Notizen machte, weil wir uns in einem Café auf dem Campus befanden. Scheinbar nachdenklich in die Umgebung blickende, schreibende Studierende geben dort kein verdächtiges Bild ab. Als ich hingegen Feldnotizen in einer Wirtschaft bei der Übertragung eines Fußballspiels machte, dauerte es nicht lange, bis ich angesprochen wurde und aufflog. Da ich mich als Eintracht-Fan tarnte wurde mir es jedoch nicht übelgenommen.

Das bringt mich zum nächsten Punkt, den ich herausfordernd fand und ohne Feldnotizen noch herausfordernder gefunden hätte: das Verfassen des Beobachtungsprotokolls. Obwohl ich die Feldnotizen im Anschluss an die Beobachtung in meinem Protokoll verfasst habe und die Eindrücke noch frisch waren, fiel es mir schwer, die Notizen in eine Reihenfolge zu bringen. Möglicherweise lag das daran, dass wie oben erwähnt Sprache, Körpersprache, Gestik und Mimik zeitgleich ablaufen. Bei der Niederschrift des Protokolls habe ich versucht, so gut wie alles unterzubringen.

Problematisch könnte es also sein, dass für den Beobachter das subjektiv Unwichtige oder Ungesehene möglicherweise doch eine entscheidende Rolle spielt. Dem kann entgegnet werden, indem man Beobachtungen wiederholt oder Beobachtungsteams bildet. Ich frage mich weiterhin, wieviel Subjektivität bei dieser Methode in Ordnung ist, weil die Beschreibung von Personen und der gewonnene Eindruck nicht zu vernachlässigen ist.

3. Fazit

Mit der Ethnographie gefolgt von der Interviewanalyse bin ich am besten zurechtgekommen. Da Beobachtungen mit der Methode der Grounded Theory bearbeitet werden können kann ich mir gut vorstellen in meiner weiteren wissenschaftlichen Karriere auf diese Verfahren zurückzugreifen. Positiv zu Gute kam mir bei der Beobachtung, dass ich mich ohnehin gerne allein in die Öffentlichkeit setze und mein Umfeld auf mich wirken lasse.

Die MCA war für mich von allen drei Forschungsmethoden die Herausforderndste. Leider bin ich mit der Methode nicht ganz warm geworden. Gerne würde ich die MCA noch einmal aufarbeiten, sollte es sich künftig beispielsweise in der Methodenwoche anbieten.

Ich habe gelernt, dass Texte nicht für jeden den gleichen Schwerpunkt innehaben, wie ich es zunächst vermutet hatte. Es war beeindruckend zu erfahren, wie sehr die Subjektivität die Sicht auf einen Text beeinflusst. Am Ende sind aber doch ähnliche Ergebnisse mit unterschiedlicher Gewichtung möglich. Außerdem sollte ich mein politisches Allgemeinwissen auffrischen.

Ich bin nach wie vor der Meinung, dass interpretative Sozialforschung auf der Mikroebene unabdingbar ist. Meine Bachelorthesis werde ich zwar mit quantitativ­statistischen Methoden erarbeiten, plane aber bereits meine Masterthesis mit mixed- methods zu erarbeiten und Interviews einzubeziehen.

4. Literaturverzeichnis

Berger, P. L., & Luckmann, T. (1987). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: eine Theorie der Wissenssoziologie (25. Aufl., unveränd. Nachdr. der 5. Aufl., 1977). Fischer-Taschenbücher: Vol. 6623. Frankfurt am Main: Fischer­Taschenbuch-Verlag.

Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H., & Nieswand, B. (2015). Ethnografie: Die PraxisderFeldforschung (2. überarb. Aufl.). UTB: Vol. 3979. Stuttgart: UTB GmbH; UVK.

Diekmann, A. (2018). Empirische Sozialforschung: GrundlagepMethoden, Anwendungen (Originalausgabe, vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, 12. Auflage). RowohltsEnzyklopädie. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Emerson, R. M., Fretz, R. I., & Shaw, L. L. (1995). Wrilingelhnographic fieldnotes. Chicago guides to 'writing, editing, andpublishing. Chicago: Univ, of Chicago Press.

Flick, U., Kardorff, E. v., & Steinke, I. (Eds.) (2019). Rororo: RowohltsEnzyklopädie. Qualitative Forschung: EinHandbuch (13. Auflage, Originalausgabe). Reinbekbei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Girtler, R. (2009). Methoden derFeldforschung (1. Aufl.). Stuttgart: UTB GmbH.

Hirschauer, S. (1997). Die Befremdungder eigenen Kultur: Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie (1. Aufl.). Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft: Vol. 1318. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Schütz, A. (2004). Common-sense und wissenschaftliche Interpretation menschlichen Handelns. In J. Strübing & B. Schnettler (Eds.), UTB Sozialwissenschaften: Vol. 2513.Methodologie interpretativer Sozialforschung: Klassische Grundlagentexte (Vol. 2513, pp. 57-97). Konstanz: UVK.

Silverman, D. (1998). Harvey Sacks: Social science and conversation analysis. Cambridge: Polity Press.

Strauss, A., & Corbin, J. (1996). Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung (Unveränd. Nachdr. der letzten Aufl.). Weinheim: Beltz.

5. Anhang

Anhang 1

1 Ich möchte mit Ihnen darüber reden, was für Sie das polnische Volk bedeutet, welche Rolle es in der europäischen Politik und der Kultur spielt - eventuell welche Rolle es spielen sollte.

Hmm, die polnische Nation das ist für mich ihr gesamtes Erbe, also die gesamte Geschichte Polens, die mit ... unserer Existenz als der polnischen Nation verbunden ist. Ich wurde in einem solchen (Seufzen) Patriotismusgeist erzogen, für mich ist das Wort polnisch, Polen, egal, in welcher Abart, etwas Riesiges, etwas, was bei mir eine gewisse Emotion verursacht, und deswegen möchte ich zum Thema Polens und der polnischen Kultur sehr lang und viel reden. Es scheint mir, dass wir eine besondere Nation sind, vielleicht ist es meinerseits eine etwas subjektive Denkensweise, ich versuche aber so subjektiv zu denken, dass wir ein besonders Volk sind, eine Nation, die mitten in Europa, an einem besonderen Ort liegt, und wir können auch eine besondere Rolle bei der EU spielen, da wir eine Nation sind, die ruhig und - man kann auch manchmal die Bezeichnung versuchen - «<nachgiebig»> ist, jedoch bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Wenn wir aber sehen, dass etwas um uns herum, manchmal mit :::unserer::: Beteiligung, aber nicht für uns, nicht mit Vorteilen für uns stattfindet, dann können wir eine so unfügsame Nation sein, die ihre Rechte anfordem kann. Hmmm so ist die polnische Nation, so ist die Selbstverteidigung, das ist quasi eine Widerspiegelung der gesamten polnischen Nation, deswegen reden wir ganz offen darüber, dass nach der Machtübernahme - und dieses Moment wird schneller oder später kommen - die Selbstverteidigung diese Macht übernehmen wird, wir werden keine Angst haben, Bedingungen mit der EU zu verhandeln, wir werden keine Angst haben, yhmmm mit der EU über diese Bedingungen, überhaupt über die Vorschläge für uns als Polen zu reden. Ich denke, dass es der gesamte Durchmesser ist, und die ganze hmmm Widerspiegelung unser selbst, aller. Hmmm, ich glaube, dass die polnische Nation eine :::hervorragende::: Nation ist, obwohl ich zugleich immer den Groll gegen meine Landsleute habe, dass wir <<<so lange»> geduldig sind, dass wir so lange verschiedene Unbequemlichkeiten ertragen können, dass wir uns erst dann vereinigen, wenn uns etwas sehr weh tut. Und wir sollten es früher machen, um zu solchen extremen Situationen nicht 36zu führen, da wir schon früher unsere Unzufriedenheit manifestieren 37 sollten.

Hat Polen aus historischen und kulturellen Gründen den Europäern eine besondere Botschaft zu übermitteln, falls ja, mit welchem Inhalt? Vielleicht hat das polnische Volk in Europa eine Mission zu erfüllen, falls ja, worauf sollte diese beruhen? Ich glaube, «<ja»>, ich glaube, ja, da die Sache der Erziehung durch unsere Eltern, Großeltern, die Einprägung gewisser Werte bei der jüngeren Generation durch die ältere Generation betrachtet werden muss, das geht praktisch von einer Generation auf die andere über. Und was jetzt insbesondere bei der älteren, mittleren Generation bemerkbar ist, dass es sehr viele <<<schlechte Sachen»> gibt, sehr viele solcher Jugend vieles von diesen ungünstigen Verhalten zulässt, das führt in der yhmm und ich denke, dass unser Verhalten, also das gehört zu der älteren und der mittleren Generation, damit wir uns bemühen, diese Dass wir diese Werte «<zurückgewinnen»> ja, damit jedes europäische Land eine solche Auswertung in seinem Vaterland macht und sieht, wonach wir alle der Reihe nach streben. Bleiben diese Werte in unserem Land als einem europäischen Land noch beibehalten, oder haben wir schon längst diese Werte vergessen. Und, in Polen wird noch darüber geredet, die wurden nicht vergessen, diese werden noch in den Herzen gepflegt, man sollte also dazu zurückkehren. Und ich denke, dass es unsere Aufgabe ist.

Über Europa sprechend sollen wir am Anfang definieren, was eigentlich Europa ist? Beginnen wir mit dem Vergleich Europas mit einer politischen Institution - der Europäischen Union. Ich möchte Sie fragen: Was unterscheidet Ihrer Meinung nach die Europäische Union von Europa? Sind es nur die geographischen Unterschiede?

Ja, selbstverständlich Europa, jeder wird es sagen, dass es ein Kontinent ist, ein altes Kontinent ist, zu der Zusammensetzung dieses Kontinents dann ist es bekannt, dass diese Staaten auf dem europäischen Kontinent denke aber, dass Ich schaue auf die EU vielleicht etwas anders als die anderen... da wie bei fast jeder anderen Organisation, es auf die EU umgelegt werden kann. Diejenigen, die immer mit einem «<gewissen Gedanken»> annehmen, mit gewissen Annahmen für :::sich:::, genauso günstig für sich, genauso für die EU. Die alte 15, gab, angefangen von dem Königreich, von der Annahme des Christentums, bis zum heutigen Tage. Wir bauten diese unsere Identität, wir bauten dieses eigene :::Ich::: , die so sehr von unseren Vorfahrenn Institutionen, wo nur diese zwei Worte sichtbar sind, in den Menschen gibt es dies aber, insbesondere in kleinen Städtchen, auf dem Lande, wenn ich durch Polen fahre, mit Menschen in verschiedenen Regionen in unterschiedlichen Gesellschaften rede, dann gibt es das, sie haben es in den Herzen, yhmmm irgendwo dort untergebracht, irgendwo tief Wenn es um unsere Identität geht, dann Christentum, Patriotismus, nationale Ehre und Geschichte. Ja,ja. Sie würden also sagen, dass es gewisse Ähnlichkeiten in dieser Hinsicht zwischen der polnischen Nation und anderen Nationen in Europa?

Ja, «<selbstverständlich»>, selbstverständlich, da jeder seine Identität baut, so, wie wir beide individuell anders sind und unsere Identität haben, was uns sicherlich auszeichnet, jede von uns kämmt sich anders, zieht sich anders an, hat einen anderen Charakter. Genauso wiejede Nation. Jede Nation hat ihre Gewohnheiten, Regionen, ihre... Minderheiten sogar, die auch das betroffene Land und die betroffene Gesellschaft auszeichnen, das alles setzt sich also zu unserer Identität zusammen. beispielsweise die Religiosität. Selbst, selbst Italien hat den Vatikan inne, das zeichnet es also ebenfalls aus, wenn man innerhalb seiner Grenzen den Vatikan hat, sicherlich gibt es unter uns eine Ähnlichkeit, bezüglich des «<Glaubens»>, sicherlich, es gibt gewisse Staaten, die unter Gegenwärtigkeit verursacht irgendwie den Trieb vorwärts, dass von der Kirche immer mehr Jugend und Gesellschaft abgeht, wir beginnen also im Moment genauso. Sicherlich ist es so ein Wertigkeitsgefühl, als einer Nation in Europa, die ihre Identität nicht erhalten und ihre Identität, ihr Ego nicht betonen möchte, ich denke, dass es uns sicherlich auch verbindet. Ich denke, wenn ich mich tiefer, länger vertiefen würde, würde ich viele, viele derartige gemeinsame Merkmale finden,

Anhang 2

Rede Joschka FISCHERs auf dem Außerordentlichen Parteitag in Bielefeld, 13.5.99

Transkription nach der Direktübertragung vom Ereigniskanal PHOENIX ("Vor Ort")

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gegner - geliebte Gegner, ... ein halbes Jahr sind wirjetzt hier in der Bundesregierung, ein halbes Jahr -ja,j etzt kommts, ich hab nur drauf gewartet: Kriegshetzer - hier spricht ein Kriegshetzer, und Herrn Milosevic schlagt ihr demnächst für den Friedensnobelpreis vor. ... Wenn da vorhin die Parteifreundin sich hinstellte und sagte, die Parteiführung spricht über ihre Zerrissenheit... ich weißja nicht, wie es euch geht, wenn ihr die Bilder seht... Ich hätte mir nie träumen lassen, daß wir hier einen Grünen-Parteitag nach einem halben Jahr - ich dachte, wir wollen hier diskutieren und daß die Friedensfreunde vor allen Dingen an Frieden Interesse haben. Und wenn ihr euch so sicher seid, dann solltet ihr doch die Argumente wenigstens anhören und eure Argumente dagegensetzen - mit Sprechchören, mit Farbbeuteln wird diese Frage nicht gelöst werden, nicht unter uns und auch nicht außerhalb. Und wir erlebenjabei diesem Parteitag - und insofern ist es keine innere Zerrissenheit, sondern eine äußere Zerrissenheit, ich hätte mir auch nicht träumen lassen, daß wir Grüne unter Polizeischutz einen Parteitag abhalten müssen; aber warum müssen wir unter Polizeischutz diskutieren? Doch nicht, weil wir diskutieren wollen, sondern weil hier offensichtlich welche nicht diskutieren wollen, wie wir gerade erlebt haben. Das ist doch der Punkt! Und da sage ich euch: da sage ich euch, daß mir bestimmte Diskussionen - und ich weiß, als Bundesaußenminister muß ich mich zurückhalten, muß mich - darf zu bestimmten Dingen aus wohlerwogenen Gründen nichts sagen, nicht so, wie's mir wirklich das Maul am liebsten übergehen würde von dem, was ich in letzter Zeit gehört habe. Ja, der Diplomatie eine Chance: ich kann das nur nachdrücklich unterstützen! Nur, ich sage euch: ich war bei Milosevic, ich hab mit ihm zweieinhalb Stunden diskutiert, ich habe ihn angefleht, drauf zu verzichten, daß die Gewalt eingesetzt wird im Kosovo. Es istjetzt Kriegja, und ich hätte mir nie träumen lassen, daß Rot-Grün mit im Krieg ist, aber dieser Krieg geht nicht erst seit 51 Tagen, sondern seit 1992, liebe Freundinnen und Freunde - seit 29 1992.

Und ich sage euch: er hat mittlerweile Hunderttausenden das Leben gekostet. Und das ist der Punkt, wo Bündnis 90/Die Grünen nicht mehr Protestpartei sind. Wir haben uns entschieden, in die Bundesregierung zu gehen - in einer Situation, als klar war, daß hier die endgültige Zuspitzung der jugoslawischen Erbfolgekriege stattfinden kann, ich erinnere mich noch - nein ich höre nicht auf, den 35 Gefallen tue ich euch nicht... Ich kann mich noch erinnern: die Bundestagswahlen waren gerade vorbei, da sind Schröder und ich nach Washington geflogen, wir waren noch in der Opposition - da war schon klar, daß wir mit ein Erbe bekommen, das unter Umständen in eine blutige Konfrontation, in einen Krieg fuhren kann. Und ich kann euch an diesem Punkt nur sagen: Schon damals, als wir die Koalition beschlossen haben, war uns klar, daß wir in einer schwierigen Situation antreten. Ich hätte mir nicht träumen lassen, ... daß wir im ersten halben Jahr nicht nur die Agenda 2000, nicht nur die Frage der... Krise der Kommission, sondern auch die Frage Rambouillet und schließlich das Scheitern von Rambouillet und den Krieg dort haben. Nur, ich kann euch nochmals sagen: Was ich nicht bereit bin zu akzeptieren: Frieden, Frieden setzt voraus, daß Menschen nicht ermordert, daß Menschen nicht vertrieben, daß Frauen nicht vergewaltigt werden - das setzt Frieden voraus. 48 Und — ich bin der letzte, der nicht sagen würde, daß ich keine Fehler gemacht habe - auch und gerade in letzter Zeit -, wenn darauf hingewiesen wird [Zurufe 'Heuchler, Heuchler'] ... auf die Lageberichte - ja, war ein Fehler, den muß ich akzeptieren. Ich konnte im ersten halben Jahr, vor allen Dingen unter dem Druck nicht alles machen, aber ich trage dafür die Verantwortung und werde zu Recht deswegen kritisiert.

Andere Fehler sind gemacht worden. Na, auf der anderen Seite möchte ich euch sagen, und da möchte ich auch mal der Partei meine persönliche Situation berichten. Der entscheidende Punkt ist doch, daß wir wirklich alles versucht haben, um diese Konfrontation zu verhindern, und da sage ich euch [Tumult] ... ich binja nun weißgott kein zartes Pflänzchen beim Nehmen und beim Geben, weißgott nicht - aber es hat wehgetan, wenn der persönliche Vorwurf erhoben würde, ich hätte da die Bundesrepublik Deutschland in den Krieg gefingert mit einem Annex B. Ich kann euch nur eines sagen: Die G-8 hatjetztbeschlossen, eine gemeinsame Grundlage, eine Prinzipienerklärung auf der Grundlage, vollen Grundlage von Rambouillet. Und ich kann euch nur versichern: Ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand, ... um diese Konfrontation zu verhindern. Und wenn einer ...in dieser Frage meint - und eine, er könne eine Position einnehmen, die unschuldig wäre, dann müssen wir die Positionen mal durchdeklinieren.

Mir wurde moralischer Overkill vorgeworfen und ich würde da eine Entsorgung der deutschen Geschichte betreiben und Ähnliches. Ich will euch sagen: Für mich spielten zwei zentrale Punkte in meiner Biografie eine entscheidende Rolle, und ich kann meine Biografie da nicht ausblenden - ich frage mich, wer das kann in dieser Frage. In Solingen, als es damals zu dem furchtbaren, mörderischen Anschlag auf'ne ausländische Familie, auf'ne türkische Familie kam: die rassistischen Übergriffe, der Neonazismus, die Skinheads - natürlich steckt dabei mir immer die Erinnerung auch an unsere Geschichte und spielt da eine Rolle, und ich frage mich: Wenn wir innenpolitisch dieses Argument immer verwendet haben, gemeinsam verwandt haben, warum verwenden wir es dann nicht, wenn Vertreibung, ethnische Kriegführung in Europa wieder Einzug halten und eine blutige Ernte mittlerweile zu verzeichnen ist? Ist das moralische Hochrüstung, ist das Overkill? Auschwitz ist unvergleichbar. Aber in mir - ich stehe auf zwei Grundsätzen: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz; nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus: beides gehört bei mir zusammen, liebe Freundinnen und Freunde. Und deswegen bin ich in die Grüne Partei gegangen Was ich mich frage, ist: Warum ihr diese Diskussion verweigert. Warum verweigert ihr mit Trillerpfeifen diese Diskussion - wenn ihr euch als Linke oder gar Linksradikale bezeichnet. Ihrmögtja alles falsch finden, was diese Bundesregierung gemacht hat und die NATO macht - das mögt ihr alles falsch finden, aber mich würde mal interessieren, wie denn von einem linken Standpunkt aus das, was in Jugoslawien seit 1992 an ethnischer Kriegführung, an völkischer Politik betrieben wird, wie dieses von einem Linken, von euerm Standpunkt aus, denn tatsächlich zu benennen ist; warum ihr meint - sind es etwa alte Feindbilder, an die man sich gewöhnt hat, und weil Herr Milosevic in dieses Feindbild so nicht reinpaßt - ich sage euch: Mit dem Ende des Kalten Krieges ist eine ethnische Kriegführung, ist eine völkische Politik zurückgekehrt, die Europa nicht akzeptieren darf. Wenn wir diese Politik akzeptieren, werden wir dieses Europa nicht wiedererkennen, liebe Freundinnen und Freunde. Das wird nicht das Europa sein, für das wir gekämpft haben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Interpretative Sozialforschung. Grounded Theory, Ethnographie und Membership Categorization Analysis
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
33
Katalognummer
V924463
ISBN (eBook)
9783346281654
ISBN (Buch)
9783346281661
Sprache
Deutsch
Schlagworte
interpretative Sozialforschung, qualitative Sozialforschung, empirische Sozialforschung, Forschungsmappe, Grounded Theory, Interviewanalyse, Membership Categorization Analysis (MCA), Ethnographie
Arbeit zitieren
Romina Füßer (Autor:in), 2019, Interpretative Sozialforschung. Grounded Theory, Ethnographie und Membership Categorization Analysis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/924463

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Interpretative Sozialforschung. Grounded Theory, Ethnographie und Membership Categorization Analysis



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden