Englischlernen in bilingualen Kindergärten

Eine Studie zum Lauterwerb bei Drei- bis Sechsjährigen


Masterarbeit, 2018

97 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


I. Inhaltsverzeichnis

I. Inhaltsverzeichnis

II. Abkürzungsverzeichni

III. Abbildungsverzeichni

IV. Tabellenverzeichni

1. Einleitun

2. Sprache - Eine komplexe menschliche Fähigkeit & wie man sie le
2.1 Spracherwerb als Verarbeitung sprachlichen Inputs & die Kreativität des Lerners
2.2 Theoretische Ansätze zur Erklärung von Spracherwerb
2.3 Anatomische Grundlagen menschlicher Sprach(lern)-fähigkeit
2.3.1 Anatomische Grundlagen und Funktionsweisen des Gehirns im Hinblick aufSprac
2.3.2Anatomische Grundlagen derSprachperzeption
2.3.3 Anatomische Grundlagen derSprachproduktio

3. Der Erstspracherwerb
3.1 Spracherwerb - Beginn, Voraussetzungen & Aufgaben
3.2 Phonetik-Phonologie-Erwerb
3.2.2 (Frühe) Lautproduktion
3.2.3 Variation als wichtiges CharakteristikumfrüherphonologischerEntwicklun

4. Der Zweitspracherw
4.1 Früher natürlicher Zweitspracherwerb und eine Möglichkeit der Implementierung - Bilinguale Kindergärten
4.2 Zweitspracherwerb und wie er sich vom Erstspracherwerb unterscheidet
4.3 Phonetik-Phonologie-Erwerb in der Zweitsprache
4.3.1 Sprachperzeption im Zweitspracherwer
4.3.2 Sprachproduktion im Zweitspracherwe
4.4 Transfer-die Interaktion zweier phonetischer Systeme

5. Variationen in der Zielsprac
5.1 Nicht zielgerechte Sprachproduktion im Zweitspracherwerb sowie ihre Ursachen
5.2 Kontrastive Analyse: Deutsch - Englisch
5.3 Analyse der kontrastierenden Laute sowie sich daraus ergebende mögliche Variationen der Zielsprache
5.3.1 Der labial-velare Approximant [w]
5.3.2 Das Phonem /r/ und seine Allophone
5.3.3 Die (inter)dentalen Frikative [?] und [?]
5.3.4DerVokal [æ]
5.4 Zusammenfassung und theoriegestützte Antwort auf die Forschungsfrage

6. Empirischer Teil
6.1 Forschungsdesign
6.1.1 Erhebungsdesi
6.1.2 Probande
6.1.3 Durchführun
6.1.4 Gütekriterien
6.2 Ergebnisse
6.2.1 Überblick der gesamten Dat
6.2.2 Ergebnisse der einzelnen Ziel-Laute und weitere Variation
6.3 Interpretation der Ergebnisse
6.3.1 Kontrastive/Fehler-Analyse nach Wode
6.3.2 Analyse der erhobenen Date

7. Abschlussdiskussion, Reflexion, Ausbli

V. Literaturverzeichn

VII. Anh

II. Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

III. Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Sprachregionen und korrespondierende Areale der linken Hemisphäre (Schmidt 1977: 308)

Abb. 2 Das menschliche periphere auditive System (Clark et al. 2007: 299)

Abb. 3 Der Vokaltrakt (vgl. Langreiter 2006)

Abb. 4 Vokal-Realisation - Lage der Zunge (Bieswanger & Becker 2010: 55)

Abb. 5 Ein multifaktorielles Modell non-nativer Sprachproduktion (Gut 2009a: 299)

Abb. 6 Deutsche Konsonanten (vgl. Kohler 1999)

Abb. 7 Englische Konsonanten (vgl. Lagefoged 1999)

Abb. 8 Deutsche Vokale (Hall 2000: 26)

Abb. 9 Englische Vokale (Naeem 2010)

IV. Tabellenverzeichnis

Tab. 1 Mögliche Konsonanten und die erforderliche Aktion der Artikulatoren (vgl. Gut 2009: 31)

Tab. 2 Artikulationsorte und involvierte Artikulatoren beispielhafter Konsonanten (vgl. Gut 2009:32)

Tab. 3 Erwerb des deutschen Lautinventars mit Differenzierung bzgl. phonetischem und phonologischem Erwerb (Kauschke 2012: 34)

Tab. 4 Darstellung phonologischer Prozesse im Deutschen (vgl. Fox-Boyer & Neumann 2017: 43f.; Kauschke 2012: 36))

Tab. 5 Reihenfolge der Überwindung entwicklungstypischer phonologischer Prozesse (vgl. Kauschke 2012: 37)

Tab. 6 Übersicht nicht zielsprachlicher Variationen der drei- bis sechsjährigen Kinder der MHH (2008)

Tab. 7 Kindliche Variationen beim stimmlosen (inter)dentalen Frikativ

Tab. 8 Kindliche Variationen beim stimmlosen wort-initialen (Inter)dentalen Frikativ

Tab. 9 Kindliche Variationen bei der Realisation des Items "thank you" hinsichtlich [æ]

Tab. 10 Kindliche Variationen bei der Realisationen des Approximants [ɹ]

Tab. 11 Weitere erfasste nicht zielsprachliche Variationen der kindlichen Aussprache

Tab. 12 Weitere kindliche Variationen des Wortes <toothpaste>

Tab. 13 Weitere kindliche Variationen des Wortes <red>

Tab. 14 Variationen des stimmlosen (inter)dentalen Reibelauts wort-initial und wort­intern im Überblick

Tab. 15 Weitere Variationen des ersten Items

Tab. 16 Weitere Variationen in Item 3

1. Einleitung

In der zunehmend globalisierten Welt gehört der selbstverständliche sowie sichere Umgang mit Fremdsprachen mittlerweile zu basalen Fähigkeiten. Daher wird heute bereits in der Grundschule (vgl. MKJS 2016: 3) oder bilingualen Kindertagesstätten (KiTas) (vgl. Burme­ister 2016) ein Grundstein für lebenslanges Fremdsprachenlernen sowie die Auseinander­setzung mit kulturellerVielfaltgelegt.

In Bezug auf die Zielsetzung im Fremdsprachenunterricht hat in den letzten Jahren ein Pa- radigmenwechsel stattgefunden (vgl. Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2016: 20). Heute gilt daher eine allgemeine Interkulturelle Kommunikative Kompetenz als das überge­ordnete Ziel jeden Fremdsprachenlernens. Diese geht über die schlichten Fähigkeiten des Lesens, Schreibens, Verstehens und Sprechens hinaus und folgt dem Prinzip „Fluency be­fore Accuracy“ (vgl. ebd.: 18ff.; Council of Europe 2001: 43; MKJS 2016: 3). Auf Grund dieses kommunikativen Ansatzes steht heute die gelingende Kommunikation gegenüber einer akkuraten Aussprache im Vordergrund. Die Bedeutsamkeit von zielgerechter Aus­sprache darf jedoch keinesfalls gänzlich missachtet werden, denn sie kann als unmittelbare Barriere von Kommunikation betrachtet werden, wenn sie nicht einen gewissen Grad an zielgerechter Genauigkeit hat (vgl. Marks 2011: 65). Die Tatsache, dass die meisten Kom­munikationen daran scheitern, dass Nicht-Muttersprachler1 eine nicht zielgerechte Aus­sprache aufweisen, und nicht etwa durch grammatikalische oder lexikalische ‘Fehler' be­dingt sind, zeigt die Bedeutung einer zielgerechten bzw. professionellen sprachlichen Per­formanz (vgl. Jenkins 2000: 84-91).

Leider ist Phonologie im Vergleich zu anderen Disziplinen wie bspw. Grammatik oder Lexi­kon dennoch oft in den Hintergrund fremdsprachlichen Unterrichts getreten (vgl. Moyer 2013: 169). Die Gründe dafür sind vielfältig: Einerseits fühlen sich Lehrkräfte nicht ausrei­chend ausgerüstet, andererseits umfasst gezielter Aussprache-Unterricht mehr als nur ein paar einfache Regeln wie bspw. für das ‘th‘ und ist somit sehr zeitintensiv. Darüber hinaus unterscheidet sich das Unterrichten von Phonetik und Phonologie fundamental von Gram­matik- oder Lexikon-Unterricht: Phonetik-Phonologie ist anfällig für muttersprachlichen Transfer, wird überwiegend unterbewusst prozessiert und bedarf der Entwicklung musku­lärer Gewohnheiten, die mehr oder weniger automatisch verlaufen, während gesprochen wird. Ferner bedarf es beim Phonetik-Phonologie-Erwerb nicht nur dem Aufbau eines neuen Systems, sondern auch der Unterdrückung bereits gelernter physischer Gewohnhei­ten. All das benötigt viel Übung, Wiederholung und auch Bewusstmachung über interlingu­istische Differenzen sowie Gemeinsamkeiten (vgl. Schmitt 2016: 15).

Nun lässt sich darüber streiten, wie wichtig eine möglichst professionelle zielgerechte Aus­sprache ist. Ein Grund hierfür ist sicherlich die Tatsache, dass Menschen eine ausgeprägte Fähigkeit besitzen, selbst sehr geringe lautliche Differenzen wahrnehmen zu können. Diese befähigt auch dazu, variable lautliche Realisationen eines Phonems als ein und denselben Laut kategorisieren zu können (kategorische Perzeption) (vgl. Gut 2009: 195f.). Somit kön­nen Menschen Wörter wahrnehmen resp. verstehen, selbst wenn diese nicht zielgerecht ausgesprochen werden. Eine Kommunikation könntefolglich trotzdem gelingen.

Es gibt jedoch zahlreiche Gründe, warum eine möglichst zielgerechte Aussprache in der Fremdsprache unbedingt angestrebt werden sollte.

Um zu verstehen, warum zielgerechte Aussprache so bedeutungsvoll ist, muss die Natur von Sprache generell und Aussprache im Speziellen betrachtet werden. Sprache ist als Mittel, das Kommunikation ermöglicht, fundamental für diese. Sie ist folglich eine Art Werk­zeug, welches nur geeignet ist, wenn es sein Ziel - erfolgreiche Kommunikation - erreicht. Sprache hat neben der instrumentellen auch eine Index-Funktion: Indem wir auf eine be­stimmte Art und Weise sprechen, übertragen wir eine Identität und machen uns einer sozi­alen Gruppe zugehörig. Diese Informationen, die wir mit Sprache bewusst oder unbewusst übermitteln, nutzen andere Menschen auch, um uns (auf Grund unseres linguistischen Ver­haltens) zu ‘bewerten' (vgl. Wells 1982: 29-31). Ein fremdsprachlicher Akzent kann auf in­strumenteller Ebene nicht nur zu unverständlicher Aussprache führen, sondern auf der In­dex-Ebene auch zu einer negativen Bewertung des Sprechenden (vgl. Moyer 2013: 14). Teils wird fremdsprachlicher Akzent sogar als mangelndes Interesse, unzureichende Fä­higkeiten oder gar beides interpretiert (vgl. Schmitt 2016: 24). Im Kontext von Phonodidaktik ist es daher wichtig, diese beiden Funktionen zu integrieren.

Aussprache-Unterricht kann und soll daher auf verschiedenen Ebenen stattfinden: auf dem basalen Level, um Kommunikation sicherzustellen; auf dem Index-Level soll sie Lernenden helfen, negative Stereotypisierungen zu vermeiden (vgl. Schmitt 2016: 16).

Prinzipiell soll das Unterrichten von Phonetik und Phonologie auf eine Verständlichkeit der Lernenden ausgerichtet sein (vgl. Schmitt 2016: 16). Was genau als hinreichend ‘verständ­lich' gilt, lässt sich jedoch nicht immer einfach definieren. Als bedeutendster Faktor, der eine mögliche Unverständlichkeit bewirken kann, wird der Einfluss aus der jeweiligen Mut­tersprache des Fremdsprachenlernenden betrachtet (vgl. Schmitt 2016: 17). Anzustreben ist daher eine sogenannte „angenehme Verständlichkeit“, welche zwar hörbare mutter­sprachliche Einflüsse erlaubt, diese dem Hörenden aber keine zu große Bürde auferlegen dürfen (vgl. Schmitt 2016: 17).

Es scheint daher schlüssig, einen möglichst geringen Anteil muttersprachlicher Attribute in die Zielsprache zu übernehmen, da dies nicht nur Verständnisschwierigkeiten, sondern so- gareine negative Wahrnehmung dersprechenden Person hervorrufen kann.

Fremdsprachlicher Akzent darf aber keineswegs nur negativ konnotiert sein, denn er ist lediglich nicht zielgerechte Aussprache, die auf dem Transfer muttersprachlicher Merkmale und Regeln basiert. Ebenso bedeutungsvoll wie Variation für frühe phonologische Entwick­lung (vgl. Piske et al. 2002) der Muttersprache ist diese auch im Phonetik-Phonologie-Er­werb einer Fremdsprache. Eine nicht zielgerechte Aussprache liefert daher nicht nur Hin­weise auf den jeweiligen Herkunftsort oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sondern auch darüber, in welchem sprachlichen Entwicklungsstand sich betreffende Ler­nende befinden und wie diese die fremde Sprache prozessieren. Nicht-muttersprachliche Variationen in einer Fremdsprache geben somit Aufschluss darüber, welche Prozesse (bspw. phonologische) beim Fremdsprachenerwerb beteiligt sind und gewähren einen Ein­blick in das nicht sichtbare Phänomen des Spracherwerbs. Somit dürfen ‘Fehler' von Ler­nenden weniger als solche, sondern besser als schlichte Variation zielsprachlicher Äuße­rungen betrachtet werden. Variation sprachlicher Performanz sollte wiederum als Phäno­men betrachtet werden, das durch genaue Untersuchungen ermöglicht, präzisere Aussa­gen darüber zu treffen, wie artikulatorische, perzeptuelle, organisatorische und kommuni­kative Fähigkeiten von Fremdsprachenlernenden reifen und interagieren. Denn es sind ge­nau diese Fähigkeiten und nicht nur sprachliche Kompetenzen, die Lernende dazu befähi­gen, die Laute einer Sprache zu erwerben (vgl. Piske et al. 2002: 249).

Im Bereich des Zweitspracherwerbs ist die Bedeutung des Alters zum jeweiligen Erwerbs­beginn stets ein zentrales Moment (vgl. z.B. Pallier 2007). Besonders für phonetisch-pho- nologische Professionalität wird allgemein davon ausgegangen, dass auf Grund kindlicher physiologischer Gegebenheiten resp. die Plastizität des Gehirns eine bessere phonologi­sche Performanz in der Zielsprache zu erwarten ist (vgl. Weiß 2012: 164; Lightbown & Spada 2006: 92-100; Simmonds et al. 2011:2). Daher gilt ein besonderer Fokus dem frühen kindlichen Zweitspracherwerb. Um zu verstehen, wie die Entwicklung der verschiedenen artikulatorischen Mechanismen vonstatten geht und wie Kinder lernen, diese zu kontrollie­ren, bedarfes detaillierter Forschung in diesem Bereich (vgl. Wode 1999: 1268).

Da wie erwähnt, sprachliche Variationen nicht nur ein wesentlicher Bestandteil phonologi- scher Entwicklung sind, sondern diese darüber hinaus eine diagnostische Funktion erfüllen, soll in dieser Forschungsarbeit mit Hilfe der Untersuchung kindlicher Variationen der frühe Zweitspracherwerb untersucht werden. Die Forschung bezieht sich auf deutsche Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren, die Englisch in einem natürlichen Kontext erwerben. Die Variationen der kindlichen Äußerungen beziehen sich dabei auf die Divergenz zu den ver­gleichsweise muttersprachlichen Äußerungen, welche als zielgerecht gesetzt werden. Die Forschungsfrage lautet daher wie folgt:

Unterscheiden sich die fremdsprachlichen Produktionen deutscher Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren, die Englisch in einem natürlichen Kontext lernen, von denen mutter­sprachlicher Äußerungen, und wenn ja, in welcher Weise findet Variation statt?

Für die Beantwortung dieser Frage wird zunächst auf Sprache und das Phänomen ihres Erwerbs allgemein eingegangen. Hierzu werden bestehende Theorien dargelegt und mitei­nander verknüpft. Ferner wird der Erstsprach- sowie der Zweitspracherwerb genauer be­leuchtet, wobei der Fokus dem Phonetik-Phonologie-Erwerb gilt. Ein Schwerpunkt in der theoretischen Bearbeitung der Forschungsfrage liegt anschließend in der Untersuchung des Transfers aus der Muttersprache. Dem folgt eine genaue Betrachtung möglicher Vari­ationen im Deutsch-L1/Englisch-L2-Erwerb, woraufhin ein Versuch stattfindet, die For­schungsfrage unterZuhilfenahme theoretischer Fundamente vorläufig zu beantworten. Daran knüpft schließlich die empirische Forschung an und soll am Ende gemeinsam mit den theoretischen Elementen zu einer fundierten Antwort führen.

2. Sprache - Eine komplexe menschliche Fähigkeit & wie man sie lernt

„Language is the most complex skill that any of us will ever master. Despite this complexity nearly every human child succeeds in learning language“ (MacWhinney 2001: 486) Der Mensch - sofern nicht physiologisch beeinträchtigt - verwendet jeden Tag tausende Sprachlaute, um Gefühle, Wünsche, Absichten und dergleichen auszudrücken. Ebenso viele Laute umgeben den Menschen, wenn lautliche Kommunikation stattfindet. Jedoch sind sich die meisten Sprechenden und Zuhörenden weder darüber bewusst, was sie tun, wenn sie Sprache produzieren sowie perzipieren, noch welche Körperteile an diesen Prozessen maß­geblich beteiligt sind, noch was Sprache eigentlich ist (vgl. Gut 2009: 5; Wode 1988: 15). Die Bedeutung des Begriffs „Sprache“ sowie ihre unterschiedlichen Verwendungszusammen­hänge lassen sich zwar intuitiv erschließen dennoch passiert Sprache gänzlich unbewusst (vgl. Wagner 1997: 6). Die Frage „Was ist Sprache eigentlich?“ wird von verschiedenen Lin­guisten unterschiedlich beantwortet. Sapir (1921) beschreibt Sprache als Symbolsystem, das Kommunikation ermöglicht, bei Bloomfield (1926) umfasst sie alle möglichen Äußerungen in einer Sprachgemeinschaft. Chomsky erklärt Sprache sogar mathematisch und sagt sie sei eine Menge von Sätzen bestehend aus einer finiten Sequenz sprachenspezifischer Phoneme (vgl. Chomsky 1957: 13). Halliday wiederum betrachtet Sprache als etwas Dynamisches, das nicht existiert, sondern vielmehr passiert, sowie die Aktivitäten Zuhören, Sprechen, Lesen und Schreiben einschließt (vgl. Halliday et al. 1964; Wagner 1997: 2-5). Somit lässt sich Sprache als abstraktes System und zugleich konkretes, hörbares Handeln verstehen, das es Menschen ermöglicht, ihr Inneres nach außen zu tragen und sich mit anderen zu verständigen.

An den Prozessen der Sprachproduktion/-Perzeption sind unzählige Teilprozesse und zahl­reiche auditive sowie artikulatorische Organe beteiligt. Sprache und besonders ihr Erwerb ist derart vielschichtig, dass es die Sprachwissenschaft bis heute nicht geschafft hat, vollständig zu ergründen, wie Menschen diese komplexe Fähigkeit tatsächlich erwerben (vgl. Wode 1988; Gut 2009; Lightbown & Spada 2006; Wienold 1973: 9). Fakt ist jedoch, dass „jeder normale Mensch [sprechen kann]“ (Butzkamm 1981:150). Das impliziert auch, dass jeder die Fähigkeit besitzt, sprechen zu lernen, „aber nur ein paar Spezialisten wissen, [...] was dabei vorgeht“ (ebd.). Überdies ist bekannt, dass Sprache sowohl bewusst als auch unbewusst gelernt wer­den kann. Letzteres trifft im Allgemeinen immer auf den Erstspracherwerb zu, welcher erfolgt, ohne dass ihm eine reflektierte Kenntnis des Aufbaus und Regelsystems derjeweiligen Spra­che zugrunde liegt. Sprachenlernen ist demnach ratiomorph und bedingt nicht zwingend rati­onales Lernen (vgl. Wode 1988: 15ff.).

2.1 Spracherwerb als Verarbeitung sprachlichen

Inputs & die Kreativität des Lerners Der komplexe Prozess des Spracherwerbs verläuft zwar unbewusst, jedoch keineswegs un­systematisch. Besonders die Fehler, die Lernende machen, sind Indikatoren für eine innere Systematik und liefern zum einen essentielle Indizien dafür, wie die beteiligten kognitiven Sys­teme funktionieren und zum anderen Informationen über den jeweiligen erreichten Entwick­lungsstand (vgl. ebd.: 17f., 22). Neben dem Erwerb automatisierter muskulärer Aktivitäten (Sprachproduktion) gehört der Aufbau mentaler Repräsentanten für die Laute und Lautse­quenzen, die Sprachlernende umgeben (Sprachperzeption), zum Verlauf des Spracherwerbs (vgl. Gut 2009:41). Die Basis dafür bildet der sprachliche Input, dem die Lernenden ausgesetzt sind. Dieser Sprachfluss muss segmentiert und die in ihm befindlichen bedeutungstragenden Phoneme erkannt werden. Lernende verarbeiten diese registrierten sprachlichen Signale zu mentalen Repräsentanten, welche dann die Basis zur Produktion zielsprachlicher Äußerungen bilden (vgl. Wode 1988: 45).

Der Prozess der Perzeption mit anschließender Speicherung der sprachlichen Informationen geht der Produktion voraus und bildet die Grundlage für den gesamten Lernvorgang. Das heißt jedoch nicht, dass Lernende schlicht imitieren und anschließend reproduzieren. Hinter dem Sprachlernvorgang steht eine bedeutende Kreativität des Lernenden. Dieser muss aus dem Input selbst auswählen und anschließend selbstständig verknüpfen (vgl. ebd.: 22; De Hower: 26). Dabei scheint es so, als leiten Lernende Hypothesen über Strukturen der Zielsprache ab, überprüfen und ändern diese anschließend (vgl. Wode 1988: 17f.).

Festzuhalten bleibt, dass Sprachenlernen interaktionistisch erfolgt, Input von außen also es­senziell ist. Andererseits sind die im Individuum verfügbaren Lernfähigkeiten bedeutungsvoll, um Lernen überhaupt zu ermöglichen. Das bedeutet, dass Sprachenlernen ein Wechselspiel endogener und exogener Gegebenheiten ist, das um die Kreativität des Lernenden erweitert wird und letztlich zu Output führt (vgl. ebd.: 22-25).

2.2 Theoretische Ansätze zur Erklärung von Spracherwerb

Wie Sprachenlernen tatsächlich passiert, lässt sich nicht vollständig und eindeutig erklären, jedoch haben sich unterschiedliche Ansätze zur Erklärung dieses komplexen Phänomens her­ausgebildet. Theorien zur Erlernbarkeit von Sprachen gehen aufgrund der Vielschichtigkeit weit überden Bereich der Einzelwissenschaft Linguistik hinaus (vgl. Wienold 1973:13). Daher müssen verschiedene Perspektiven integriert werden.

Einen Erklärungsansatz liefert die Lerntheorie des Behaviorismus (Skinner 1957). Demnach lernen Kinder Sprache durch Imitation des gehörten Sprachflusses aus der Umgebung und anschließende positive Verstärkung. Bedingt durch diese Ermutigung imitieren und üben Kin­der weiter bis sich schließlich ein Habitus korrekten Sprachgebrauchs entwickelt hat (vgl. Weiß 2012: 155; Lightbown & Spada 2006: 15). Dementsprechend lässt sich eine enorme Bedeut­samkeit sowohl der Qualität als auch Quantität des Sprachinputs, dem Kinder ausgesetzt sind, entnehmen (vgl. ebd.). Eine logische Konsequenz des Behaviorismus, nämlich dass Kinder lediglich genau das sagen können, was sie zuvor gehört haben, steht jedoch gänzlich im Kon­trast zur Realität. Der kindliche Umgang mit Sprache ist - in regelgeleiteter Weise - äußerst kreativ. Kinder reduzieren Silben, verwenden nicht zielsprachliche syntaktische Strukturen so­wie existierende Wörter mit abweichender Flexion. Sie erfinden sogar neue Wörter und nicht zuletzt variiert auch die Aussprache inter- und intraindividuell erheblich (vgl. Weiß 2012:155f.). Somit müssen weitere Theorien hinzugezogen werden.

Im Kontrast zum Behaviorismus, der den menschlichen Geist auch als sogenannte „Black Box“ betrachtet, steht der Kognitivismus, welcher die Eigenaktivität des Menschen betont (Piaget 1972). Darauf beruhend wird Sprache als Teilaspekt allgemeiner Kognition verstanden. Spracherwerb basiert folglich auf generellen kognitiven Lernstrategien und einer prinzipiellen Symbolisierungsfähigkeit des Kindes (vgl. Weiß 2012: 156). Aktuellere Theorien liefern noch weitere Erklärungsansätze.

Eine dieser Theorien ist der Nativismus, deren bedeutendster Vertreter und Entwickler Noam Chomsky (1959) ist. Er schreibt Menschen eine sprachspezifische Prädisposition zu, welche es ermöglicht - trotz unzureichenden Sprachinputs - scheinbar mühelos in relativ kurzer Zeit und ohne systematische Korrekturen eine oder gar mehrere Sprachen zu erlernen (vgl. Weiß 2012: 156). Laut Chomsky besitzen alle Menschen eine genetische Ausstattung, die speziell für Sprache und ihr Erlernen angelegt ist - eine Art Spracherwerbs-Apparat. Diese angebo­rene Fähigkeit macht es quasi unmöglich, Spracherwerb zu verhindern, sobald menschliche Wesen von Sprache umgeben sind (vgl. Lightbown & Spada 2006: 20).

Da sprachlicher Input stets unzureichend ist, weil er immer nur einen Teil aller möglichen Äu­ßerungen einer Sprache darstellt, erscheint die Annahme einer solchen angeborenen Fähig­keit kreativen Spracherwerbs plausibel. Im Nativismus wird dieses speziell menschliche, an­geborene Sprachwissen auch als Universalgrammatik bezeichnet und bildet innerhalb dieser Theorie den universellen Bauplan. Definieren lässt sie sich als „system of principles, condition and rules that are elements or properties of all human languages“ (Lehmann 1982: 80; zitiert nach Chomsky 1975: 29) oder etwas weiter differenziert als quasi finites „set of [principles] [...] that constitute the Jnitial state’ of the language learner, hence the basis on which language develops“ (Lehmann 1982: 80). Die Prinzipien, von denen hier die Rede ist, werden auch als angeborene sprachliche Leitlinien hinsichtlich universeller grammatischer Strukturen verstan­den und schließlich im Sprachentwicklungsverlauf durch Verarbeitung des umgebenden sprachlichen Inputs um jeweilige einzelsprachliche Parameter erweitert (vgl. Gut 2009: 100).

Auf Grund der Annahme einer quasi eigenständigen Spracherwerbsfähigkeit nimmt der Nati­vismus auch an, dass Spracherwerb weitgehend unabhängig von anderen nonverbalen kog­nitiven Entwicklungen verläuft. Ein Beleg für die Existenz der Universalgrammatik scheinen kross-linguistische Ähnlichkeiten - Similaritäten über mehrere Einzelsprachen hinweg - zu liefern (vgl. Weiß 2012: 156).

Ein weiterer Ansatz, um Spracherwerb erklärbar zu machen, liefert der Interaktionismus, wel­cher menschliche Interaktion als Kern für Sprachenlernen annimmt. Ausgangspunkt hierfür waren Lev Vygotskys (1978) Entdeckungen in den 1920ern und 1930ern. Aus seinen Be­obachtungen zu Erwachsenen-Kind-Interaktionen folgerte er, dass sich Sprache primär durch soziale Interaktion entwickelt. Vygotsky behauptet dabei auch, dass unterstützende interaktive Umgebungen Kinder dazu befähigen ein höheres Niveau sowohl hinsichtlich ihres Wissens als auch ihrer Performanz zu erzielen (vgl. Lightbown & Spada 2006: 25). Bruner (1975) ent­deckte, dass Eltern in früher Eltern-Kind-Interaktion ihre Art zu sprechen gezielt an die Fähig­keiten bzw. Bedürfnisse des Kindes anpassten, was Vygotskys Hypothese untermauert. Im Gegensatz zum Nativismus, welcher eine sprachspezifische Prädisposition im Mensch an­nimmt, geht der Interaktionismus von einer allgemeinen genetischen Prädisposition sozialer Interaktion aus. Sprache als Form und Teil sozialen Handelns entsteht demzufolge aus sozi­alen Verhaltensweisen (vgl. Weiß 2012: 156f.).

Aus der Schnittmenge der aufgeführten Theorien lässt sich festhalten, dass sprachlicher Input die essenzielle Basis für Sprachenlernen bildet. Auf dieser Grundlage, sei es durch Imitation und/oder kreatives Verarbeiten mit Hilfe eines angeborenen Sprach-Apparats, werden Laute und Lautsequenzen verarbeitet, internalisiert und mit mentalen Repräsentanten verknüpft, so­dass am Ende einer Entwicklungsphase sprachliche Produktion stattfinden kann. Unterstüt­zende, dem individuellen Entwicklungsstand entsprechende Sprache ist dabei ebenso bedeu­tungsvoll wie das Vorhandensein sozialer Interaktion. Überdies sind sowohl sprachliche Qua­lität als auch eine entsprechende Quantität wesentliche Kriterien im Spracherwerbsprozess. Schließen lässt sich ferner, dass Spracherwerb ohne explizite Unterweisung unter variablen Umweltbedingungen nicht passiv, sondern unter ständiger Aktivität des Lernenden erfolgt (vgl. Wode 1988:47-56).

Welche physiologischen Gegebenheiten im Menschen Sprache allgemein voraussetzt, wird nachfolgend skizziert.

2.3 Anatomische Grundlagen menschlicher Sprach(lern)-fähigkeit

Spracherwerb ist nur unter der Gegebenheit eines Lernsystems, welches in Art und Funkti­onsweise der des menschlichen Gehirns gleichkommt, möglich. Das impliziert auch die An­nahme über das Vorhandensein eines gattungsspezifisch einheitlichen Sprachsystems, das flexibel bzw. plastisch genug ist, um in variablen Sprachlernsituationen zu funktionieren. Dies wiederum bedeutet, dass, um Sprachlernfähigkeit adäquat zu untersuchen, nicht nur erforscht werden muss, wie kleine Kinder ihre Erstsprache lernen, sondern auch, wie eine Zweit- oder Drittsprache erworben wird, wie Adoleszente und Erwachsene Sprachen lernen - formell oder informell - und wie bspw. vergessene Sprachen wiedergelernt werden (vgl. ebd.: 26f.). Zunächst werden bezüglich der menschlichen Sprach- und Sprachlernfähigkeit anatomische Grundlagen beleuchtet, welche die des Gehirns resp. Gedächtnisses als unabdingbaren Teil impliziert (vgl. Wode 1988: 60-80).

Da Sprache stets Perzeption und Produktion umfasst, werden ferner diese beiden einherge­henden Fähigkeiten sowie die an diesen jeweiligen Prozessen beteiligten Organe betrachtet (vgl. Wode 1988; Gut 2009).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 Sprachregionen und korres­pondierende Areale der linken He­misphäre (Schmidt 1977: 308)

2.3.1 Anatomische Grundlagen und Funktionsweisen des Gehirns im Hinblick auf Sprache

Das menschliche Gehirn hat nicht nur die Aufgabe, Sinneseindrücke passiv zu verarbeiten, sondern vielmehr diese zielgerichtet zu koordinieren. Dabei gibt es unterschiedliche Leistungs­bereiche bzw. Hirnfunktionen - sensorische, motorische, vegetative und integrative - zu de­nen auch die Perzeption und Produktion von Sprache gehören. Die unterschiedlichen Hirn­funktionen sind in verschiedenen Hirnrealen angelagert. Auch die Aufteilung der zwei Hirnhälf­ten, den Hemisphären, ist dabei bedeutsam. Das Zentrum für Sprache liegt in der Regel in der linken Hemisphäre. Einen Nachweis für das konkrete Vorhandensein eines solchen Sprach­zentrums im Gehirn liefern u.a. Beispiele erheblicher sprachlicher Beeinträchtigungen von Pa­tienten mit Hirnverletzungen (vgl. Wode 1988: 66ff.).

Abb. 1 zeigt drei existierende Regionen für Sprache. Ferner lässt sie erkennen, wie viele Elemente (z.B. Lippen, Kiefer, Zunge, Kehle) sowie korrespondierende Prozesse, die eine muskulär adäquate Ausführung dieser Bewegungsappa­rate ermöglichen sollen, in den Sprachprozess involviert sind. Lediglich eine geringe Fehlfunktion innerhalb dieser Bereiche kann Sprache be- oder gar verhindern (vgl. Wode 1988: 66-72).

Darüber hinaus spielt das Gedächtnis beim Sprachenler­nen eine erhebliche Rolle. Dieses kann einerseits als Fähigkeit, sich etwas mehr oder weniger bewusst merken zu können, und andererseits auch als Ort, an dem alle Informationen gespei­chert werden, verstanden werden. Beim Spracherwerb müssen sprachliche Strukturen bzw.

Laute gespeichert und mit passenden Repräsentanten verknüpft werden, damit diese später zur Verwendung zur Verfügung stehen. Das Behalten dieser sprachspezifischen Informatio­nen erfolgt selektiv, d.h. es wird nur das gespeichert, was im jeweiligen Kontext bedeutungsvoll ist (vgl. ebd.: 74ff.). Das verdeutlicht auch, wie wichtig zunächst die Fähigkeit zur Sprach­perzeption für die ihr nachgelagerte Sprachproduktion ist.

2.3.2 Anatomische Grundlagen derSprachperzeption

Um Sprache perzipieren zu können, ist es maßgeblich, dass ein Mensch hören kann. Ohne die Fähigkeit zu hören, lassen sich keine relevanten linguistischen Einheiten (Phoneme, Sil­ben, Wörter) erlernen und somit auch keine mentalen Repräsentanten für diese entwickeln. Damit ist ohne die Fähigkeit des Hörens/der Sprachwahrnehmung auch keine Sprachproduk­tion möglich. Die für Sprachperzeption wesentlichen Systeme lassen sich in das periphere auditive (das Ohr) und das interne auditive (die relevanten Teile des Gehirns) unterteilen. Das periphere auditive System besteht aus drei Komponenten - äußeres, mittleres und inneres Ohr.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 Das menschliche periphere au­ditive System (Clark et al. 2007: 299)

Das äußere Ohr besteht aus der Ohrmuschel (Pinna), dem einzig sichtbaren Teil des Ohrs sowie dem Ohrkanal (Meatus). Die Pinna dient dem Schutz innerer Hörorgane, der Meatus fungiert als Leitungsbahn für alle linguistisch re­levanten Geräusche. Das mittlere Ohr umfasst das Trom­melfell , die miteinander verbundenen Gehörknöchelchen (Malleus, Incus, Stapes) sowie die mit ihnen verknüpften Muskeln. Im Mittelohrwerden zum einen ankommende Ge­räusche an das Innenohr weitergegeben, zum anderen werden diese verdeutlicht sowie deren Lautstärke reguliert - zum Schutz des Innenohrs. Der Laut-Transport geschieht durch das Umwandeln der Variationen des Laut-Drucks in der Luft in äquivalente mechanische Bewe­gungen. Diese Aufgabe übernehmen die Gehörknöchelchen .

Das Innenohr befindet sich im Schädel und besitzt eine sehr komplexe Struktur, in der sich u.a. die Ohrschnecke (Cochlea) befindet. Sie ist derwichtigste Teil für die Sprachperzeption.

Die Funktion des Innenohrs ist es, die transformierten mechanischen Bewegungen des Mittel­ohrs in neuronale Signale umzuwandeln, die dann an das Gehirn, in dem sich das interne auditive System befindet, weitergegeben werden können (vgl. Gut 2009: 183-186). Hier fängt Sprachperzeption tatsächlich an. Der daran maßgeblich beteiligte Teil des Gehirns ist der au­ditive Kortex. Dieser ist während der Wahrnehmung von Sprache aktiv und dekodiert Sprachfluss in Äußerungen bzw. Wörter. Es scheint, als sei in diesen Prozess eher die linke Hemi­sphäre involviert, während sich bei schlichter Wahrnehmung von Musik und Prosodie mehr Aktivität in der rechten Hemisphäre zeigt (vgl. ebd.: 187ff.).

Sprachperzeption ist ein derart komplexer Prozess, dass derzeit noch nicht vollständig be­kannt ist, wo genau sich welche Funktionen der an Sprachperzeption beteiligten Elemente des Gehirns befinden (vgl. ebd.: 189).

2.3.3 Anatomische Grundlagen derSprachproduktion

An der Sprachproduktion sind drei Systeme sprachlicher Organe beteiligt: das respiratorische, das phonatorische und das artikulatorische. Das respiratorische System besteht aus dem Brustkorb, den Zwischenrippenmuskeln, dem Zwerchfell, den Lungen, den Bronchien und der Luftröhre. Dieses System stellt den für Sprache essenziellen Luftstrom bereit - in deutscher und englischer Sprache ist dieser egressiv . Der Kehlkopf und die Stimmlippen bilden das phonatorische System . Letztere haben primär unterschiedliche für den menschlichen Körper lebensnotwendige Funktionen. Eine sekundäre Funktion ist essenziell für die Phonation - die Generierung einer hörbar akustischen Energiequelle. Dafür öffnen und schließen sich die Stimmlippen mit hoher Geschwindigkeit und erzeugen so eine Vibration, welche u.a. dafür verantwortlich ist, ob stimmhafte oder stimmlose Laute realisiert werden (vgl. Gut 2009: 13­22).

Nachdem der Luftstrom aus dem respiratorischen System den Kehlkopf passiert hat, tritt er schließlich ins artikulatorische System ein - entweder ungestört oder gebrochen, je nach Sta­tus der Stimmlippen bzw. der Stimmritze. Dieses System, auch Vokaltrakt genannt, besteht aus drei Höhlen - der Rachen-, Mund- und Nasenhöhle. Überdies gehören zu diesem System sowohl aktive (Velum, Zunge, Lippen und Unterkiefer) als auch passive (Gaumenzäpfchen, Gaumen, Kieferkamm) Artikulatoren (vgl. Abb. 3). Das Zusammenspiel aktiver und passiver Artikulatoren in den verschiedenen Höhlen bestimmt letztlich welcher Laut - Vokale oder Kon­sonant - produziert wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4 Vokal-Realisation - Lage der Zunge (Bies- wanger & Becker2010: 55)

Vokale werden anders charakterisiert als Konsonanten. Sie sind stets stimmhaft, d.h. die Stimmlippen vibrieren. Ferner ist die Lage der Zunge (vorne - hinten, hoch - tief) maßgeblich dafür, welcher Vokal re­alisiert wird (vgl. Abb. 4). Außerdem be­deutungsvoll ist die Positionierung der Lip­pen , d.h., ob diese während der Vokal-Re­alisation gerundet oder nicht gerundet sind (vgl. ebd.: 23-29).

Im Gegensatz zu Vokalen können Konsonanten stimmhaft oder stimmlos sein. Sie werden hinsichtlich dreier Merkmale charakterisiert: Ort und Methode derArtikulation (vgl. Tab. 1 und 2) sowie Status der Stimmritze - geschlossen (stimmhaft) oder geöffnet (stimmlos) (vgl. ebd. 30-33). Einen Überblick über die wichtigsten zu unterscheidenden Konsonanten veranschau­lichen Tabelle 1 und 2.

Tab. 1 Mögliche Konsonanten und die erforderliche Aktion derArtikulatoren (vgl. Gut 2009:31)

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In Ergänzung zu den Methoden der Artikulation stellt Tabelle 2 mögliche Orte der Artikulation sowie die beteiligten Artikulatoren dar.

Tab. 2 Artikulationsorte und involvierte Artikulatoren beispielhafter Konsonanten (vgl. Gut 2009: 32)

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Die für die Untersuchung der im Rahmen dieser Arbeit bedeutsamen Laute, und die an ihnen beteiligten Artikulatoren werden unter 5.3 genauer charakterisiert sowie ihre Variations- bzw. Substitutionsmöglichkeiten im Verlauf des zweitsprachlichen Lauterwerbs beleuchtet.

Bei Betrachtung der vorangegangenen, simplifizierten anatomischen Dispositionen und Pro­zesse, die zu Sprachperzeption sowie -Produktion befähigen, lässt sich erahnen, wie komple­xes und weit umfassendes das Phänomen Sprache ist. Ebenso faszinierend wie sie selbst - mit all ihren involvierten interaktiven Systemen - ist ihr Erwerb.

Wie Menschen lernen, diese in ihnen verfügbaren Systeme erfolgreich und zielgerichtet für Sprache zu verwenden, soll im weiteren Verlauf dargelegt werden.

3. Der Erstspracherwerb

Die Erstsprache (L1) ist die Sprache, die erstes erlernt wird. Sie wird auch als Mutterspra­che bezeichnet. Wann genau ihr Erwerb beginnt, hängt von der Sichtweise ab, was als natürliche Sprache charakterisiert wird. Ausgehend von Saussures (1916) konventioneller Zuordnung beginnt er deutlich später als wenn schlichtes Lautieren als Spezifikum heran­gezogen wird. So wird aus konventioneller Perspektive spätestens mit der Produktion erster Wörter vom Beginn des Spracherwerbs gesprochen (vgl. Wode 1988: 121). Heute ist je­doch bekannt, dass Spracherwerb schon weit vor der ersten Sprach- bzw. Wort-Produktion beginnt - nämlich bereits im Mutterleib. Da der Kern dieser Arbeit im Lauterwerb von Kin­dern liegt, wird sich nachfolgend lediglich auf relevante Aufgaben des Phonetik-Phonologie­Erwerbs beschränkt. Dabei werden die Erwerbsaufgaben hinsichtlich Sprachperzeption und -Produktion gesondert voneinander beleuchtet. Ferner wird für den Erstspracherwerb (L1-Erwerb) an dieser Stelle Deutsch als L1 angenommen, da sich die Forschungsarbeit auf den zweitsprachlichen Lauterwerb vorwiegend deutscher Kinder bezieht und somit das deutsche phonemische System als phonologische Basis für den später dargelegten Zweit­spracherwerb (L2-Erwerb) herangezogen wird (vgl. ebd.; Weiß 2012: 157ff.; Gut 2009: 41).

3.1 Spracherwerb - Beginn, Voraussetzungen & Aufgaben

Der Beginn sowie die verschiedenen Stadien des Spracherwerbs sind mindestens ebenso faszinierend wie das Phänomen „Sprache“ selbst. Dabei liefert die Vorstellung darüber, sich bspw. in einem Land zu befinden, in dem eine völlig fremde Sprache gesprochen wird, einen Eindruck darüber, wie es Neugeborenen vielleicht ergehen muss: Es fühlt bzw. hört sich an, als würde ein gänzlich unsystematischer Lautfluss auf einen einströmen, den es - falls möglich - irgendwie zu dekodieren gilt.

Kinder resp. Neugeborene müssen den Lautstrom ihrer Umgebungssprache entschlüsseln, d.h. Input systematisch und selektiv verarbeiten. Dieser Vorgang des Herausfilterns rele­vanter Segmente scheint aus Sicht eines Erwachsenen äußerst komplex und lässt erken­nen, welche Leistung das menschliche Gehirn quasi unbemerkt vollbringt. Für Kinder bzw. Neugeborene ist esjedoch völlig natürlich, sich in dieserSituation zu befinden.

Dekomposition bezeichnet den Prozess der Entschlüsselung, welcher die Basis für spätere zielsprachliche Enkodierungen, die aus den dekomponierten Merkmalen rekonstruiert wer­den, bildet. Lernende müssen diesbezüglich verschiedene Aufgaben bewältigen und über drei wesentliche Voraussetzungen verfügen (vgl. Wode 1981: 32; Wode 1988: 81, 122f.; Weiß 2012: 159).

Zunächst müssen Kinder im Stande sein, Schall wahrzunehmen sowie über eine allge­meine Lautierfähigkeit verfügen. Ferner muss ein Kind begreifen, dass sich Schall mit Be­deutung verknüpfen lässt. Darüber hinaus müssen auch bestimmte psychologische Gege­benheiten erfüllt sein, um eine kognitive Bewältigung von Objekten, Konzepten sowie deren Relationen zu ermöglichen - Generierung mentaler Repräsentanten (vgl. Wode 1988: 121f.).

Zu den Erwerbsaufgaben gehört dann primär, dass das Kind feststellt, ob eine lautliche Äußerung im Gegensatz zu bspw. einem „Hatschi“ absichtsvoll und bedeutungsvoll ist. Überdies muss es wahrnehmen können, ob der Lautstrom eine Sequenz der Muttersprache - hier: Deutsch - darstellt und nicht z.B. das Englisch einer anderen Person aus der Um­gebung.

Sind diese Aufgaben bewältigt, muss das Kind die perzipierten Laute in - die Zielsprache betreffend - relevante Einheiten segmentieren, bspw. Phoneme, Silben und Wörter. Über derart beeindruckende Fähigkeiten verfügen bereits Säuglinge (vgl. Weiß 2012: 159).

Wie bereits eingangs erwähnt, sind beim Spracherwerb zwei Prozesse - die Sprachperzep­tion und die Sprachproduktion - relevant. Diese sind zwar verschieden jedoch nicht unab­hängig voneinander, denn Kinder erlernen die Produktion verständlicher Laute gemäß sprachspezifischer phonetischer Normen der sie umgebenden Gemeinschaft (vgl. Flege 1981: 445f.). Das impliziert die Verknüpfung von Sprachproduktion und -Perzeption und lässt annehmen, dass letztere der Sprachproduktion vorausgeht (vgl. ebd.).

3.2 Phonetik-Phonologie-Erwerb

Die kleinsten zu erwerbenden sprachlichen Einheiten sind Phoneme resp. ihre lautlichen Realisationen, die Phone. Ein Phon ist charakterisiert als das „kleinste wahrnehmbare dis­krete Laut-/Geräusch-Segment, das innerhalb eines Sprechstroms wahrnehmbar ist“ (Fox- Boyer & Neumann 2017: 14), wohingegen ein Phonem die kleinste bedeutungsunterschei­dende linguistische Einheit definiert (vgl. ebd.). Phone beziehen sich daher auf Sprache als tatsächliche physiologische, hörbare Realisation von Phonemen, welche im Gegensatz dazu Elemente von Sprache-als-System definieren. Allophone sind sprachenspezifische Aussprachevarianten eines Phonems (vgl. Bieswanger& Becker 2010: 59, 61-63).

Während des Phonetik-Phonologie-Erwerbs muss das Kind folglich ein phonetisches sowie phonologisches Inventar etablieren. Das bedeutet, dass es einerseits dazu in der Lage sein muss, Phone korrekt artikulieren zu können und andererseits die Fähigkeit entwickeln, das betreffende Phon an korrekter Stelle (phonemisch zielgerecht) im Wort zu verwenden (vgl. ebd.: 15).

Vor der Realisation von Phonemen - Produktion - steht jedoch die Perzeption (vgl. Gut 2009: 201) . Während kindlicher Sprachentwicklung ist der Übergang von rein phonetischer Perzeption zur phonologischen fließend. Die perzeptuellen Dispositionen von Kleinkindern sind faszinierend und bis heute ein viel untersuchtes Phänomen (vgl. ebd.: 17). Ergebnisse unzähliger Forschung vieler Jahre gewähren einen Einblick in die Komplexität von Sprach­perzeption und -Produktion und klärt dieses Geschehen dennoch nicht vollständig.

3.2.1 (Frühe) Sprachperzeption - alles andere als eine triviale, passive Aufgabe

Bei der Perzeption von Sprache arbeiten verschiedene Systeme auf komplexe Weise zu­sammen. Es genügt nicht, lediglich Frequenzen, Intensitäten und die Dauer eines Laut­stroms wahrzunehmen. Vielmehr bedarf es einer linguistischen Interpretation neuronaler Signale, die an den auditiven Kortex übertragen werden. Sprachperzeption beschreibt den Prozess dessen, wie Hörende akustische Signale als bedeutungsvolle Botschaften deko­dieren . Die Komplexität dieses Vorgangs zeigt, dass adäquate Wahrnehmung von Sprache alles andere als eine triviale Aufgabe ist. Überdies unterliegt sie ebenso wie die Sprachpro­duktion einer Sequenz verschiedener Entwicklungsstufen, die im Folgenden beschrieben werden (vgl. Gut 2009: 195).

Bereits unmittelbar nach der Geburt können Säuglinge die Stimme ihrer Mutter von der anderer Personen differenzieren. Das deutet darauf hin, dass Sprachperzeption schon prä­natal beginnt. Drife (1985) konnte zeigen, dass bereits Föten Schall wahrnehmen und die­sen zu einem gewissen Maß differenzieren. Darüber hinaus zeigen Neugeborene - vergli­chen mit anderen Geräuschen - eine deutliche Präferenz für die menschliche Sprache. Nach dem ersten Monat verfügen sie bereits über Diskriminierungsfähigkeiten, d.h. sie neh­men Unterschiede hinsichtlich Stimmhaftigkeit bei Verschlusslauten war - z.B. [d] und [t]. Auch Vokale von /a/ bis /i/ werden differenziert. Ab dem dritten Monat gelingt ihnen dies dann gleichermaßen bei Sonoranten wie bspw. /r/ und /l/. Nach zwei weiteren Monaten sind Säuglinge in der Lage, Artikulationsorte wie die bei bspw. [g] und [b] zu diskriminieren. Die besondere Fähigkeit der Säuglinge liegt außerdem darin, dass sie - im Gegensatz zu Er­wachsenen - dazu in der Lage sind, phonetische Unterschiede jeder Sprache dieser Welt zu diskriminieren, auch dann, wenn der Kontrast für ihre eigene Zielsprache irrelevant ist. Gegen Ende des ersten Lebensjahres nimmt diese generelle Wahrnehmungsfähigkeit pho­netischer Kontraste ab und die Diskriminierungsfähigkeit wird auf die in der Muttersprache relevanten Phoneme eingegrenzt. Im Gehirn läuft quasi eine Art Statistikprogramm, das erfasst, welche Laute zielsprachlich vorkommen, also bedeutungsvoll sind. In den ersten zehn bis zwölf Monaten werden dann diejenigen Laute, die in der Muttersprache nicht ver­treten und somit irrelevant sind, ‘eliminiert'. Überdies werden erste stabile Beziehungen muttersprachlicher Laute und deren zugehörige Bedeutung und/oder syntaktische Funktion etabliert. Die Grundlage des an die Muttersprache gebundenen phonologischen Systems ist geschaffen und die Plastizität des Gehirns nimmt ab (vgl. Kuhl 2004; Weiß 2012: 159; Gut 2009: 201; Simmonds et al. 2006: 4).

Es wird vermutet, dass die Entwicklung des phonologischen Systems der Muttersprache schrittweise über die ersten Lebensjahre hinweg verläuft. Die Konstruktion eines sogenann­ten mentalen Lexikons mit phonologischen Repräsentanten von Wörtern schreitet langsam voran und verläuft bis ins Jugendalter (vgl. ebd; Gut 2009: 201; Kauschke 2012: 28).

Generell lässt sich sagen, dass Menschen eine ausgeprägte Fähigkeit besitzen, selbst sehr geringe Differenzen zwischen zwei Lauten wahrzunehmen. So gelingt es, dass auch vari­able lautliche Realisationen eines Phonems als ein und derselbe Laut kategorisiert werden können. Diese Fähigkeit wird durch den Begriff kategorische Perzeption beschrieben und besagt, dass „gradual differences between acoustic properties of sounds are not percieved in a linear fashion, [...Jlisteners rather group sounds into categories“ (Gut 2009: 196) (vgl. ebd.: 195f.). Darüber hinaus kann der Mensch auch Wörter wahrnehmen bzw. verstehen, selbst wenn diese falsch ausgesprochen werden oder durch Nebengeräusche gestört wer­den. Das lässt abermals darauf schließen, dass Sprachperzeption keinesfalls ein lediglich passiver Prozess ist. Hörende müssen in die Interpretation von Sprache aktive Prozesse integrieren, d.h. es muss eine aktive Partizipation mentaler Repräsentanten stattfinden.

Ferner hat sich gezeigt, dass sich Sprachperzeption nicht ausschließlich auf akustische Reize stützt. Sie basiert auch auf visuell wahrgenommen Sprachreizen, wie etwa die Be­wegung der Lippen (vgl. McGurck & McDonald 1976). Daraus lässt sich folgern, dass laut­begleitende artikulatorische Bewegungen für den Erwerb der Sprache ebenso bedeutend sind wie hörbarer Input. Das Gehirn verlässt sich sowohl auf das, was mit dem auditiven System, als auch im visuellen Kanal wahrgenommen wird (vgl. Gut 2009: 199ff.).

All diese Prozesse sind nur ein Teil dessen, was scheinbar beiläufig passiert, wenn der Mensch Sprache ausgesetzt ist und gewähren einen kleinen Einblick in das komplexe Sys­tem der Sprachperzeption, welche den Grundstein für gelingende Sprachproduktion legt (vgl. ebd.: 201).

3.2.2 (Frühe) Lautproduktion

Produktion von Sprache ist ebenso wie die Sprachwahrnehmung auf Grund ihrer Komple­xität äußerst faszinierend und umfasst neben der Koordination von bis zu 100 Muskeln noch viele weitere Komponenten (vgl. Ackermann & Riecker 2010). Essenziell ist dabei für Ler­nende zunächst, dass sie über stabile mentale Repräsentanten phonologischer Formen verfügen. Nur so ist es möglich, dass diese später korrekt, d.h. in Form adäquater Phone realisiert werden können. Daher wird - wie bereits erwähnt - davon ausgegangen, dass die Perzeption der Produktion von Lauten vorausgeht (vgl. Gut 2009: 201). Die mentalen Re­präsentanten der perzipierten Laute müssen zum Zweck der Produktion dann quasi rück­formiert werden. Das impliziert zunächst den Erwerb automatisierter muskulärer Aktivitäten der Sprechorgane, sodass diese je nach gewünschter Phonem-Realisation korrekt koordi­niertwerden können. Das bedeutet, dass Babys bzw. kleine Kinder erst einmal lernen müs­sen, ihre angeborenen aktiven sowie passiven Artikulatoren mit Atmung und Phonation adäquat in Einklang zu bringen, sodass bedeutungsvolle phonetische Formen und Sequen­zen entstehen. Ein komplexer Prozess, der einige Monate bis Jahre dauert, muss durch­laufen werden, um die Kompetenz korrekter Sprachproduktion zu erwerben.

Die Tatsache, dass auch zu früh geborene Babys schreien, deutet darauf hin, dass die Fähigkeit zur Lautproduktion ebenso wie die der Perzeption schon vor der Geburt des Men­schen gegeben ist. Postnatal beginnt sie tatsächlich mit dem Geburtsschrei (vgl. Wode 1988: 122).

Neugeborene haben jedoch noch keinerlei Kontrolle über ihre Sprechorgane und produzie­ren daher anfangs lediglich Schreie sowie unbeabsichtigte Phonationen, die als „reflexive Laute“ klassifiziert werden (vgl. Gut 2009: 41). Diese erste Phase der Lautierung dauert etwa drei bis acht Wochen. Säuglinge schreien während dieser Zeit auf Grund von Erschre­cken, Hunger, Durst, Schmerzen und dergleichen. Sie fangen aber auch schon ohne Un­mutsanlässe an, zu vokalisieren bzw. zu lallen (vgl. Wode 1988:123). Etwa ab dem zweiten Monat haben Babys eine gewisse Kontrolle über ihre Sprechorgane entwickelt und begin­nen zu „gurren“. Dabei werden stimmhafte Laute mit angehaltener Zunge produziert, die später durch Glottisschläge separiert werden. Zwischen dem vierten und siebten Monat verfügen Säuglinge über eine erhöhte Kontrolle des Kehlkopfs sowie der artikulatorischen Muskeln. Damit beginnt die Phase des lautlichen Spielens, d.h. sie erkunden die Möglich­keiten ihres Artikulationsapparates und versuchen sich in Lautstärkeregelung, Tonlage so­wie den Artikulationsorten. Bevor Kleinkinder etwa ab dem sechsten Monat in die „Babbel“- Phase eintreten, befinden sie sich in einer ausschließlich rezeptiven Phase. Das heißt, dass sie die sie umgebenden Laute ausschließlich perzipieren und so die Eigenschaften ihrer Muttersprache allmählich internalisieren (vgl. Simmonds et al. 2011: 3).

Unter „babbeln“ wird das Formen von Lautsequenzen bestehend aus einer Kombination von Konsonant und Vokal - einer Silbe - verstanden. Es wird auch „murmeln“ genannt und weist ab dem neunten Monat bereits sprachenspezifische Charakteristika auf. Diese Phase dauert etwa bis Ende des ersten Lebensjahres (vgl. ebd.; Wode 1988: 123f.).

Ab dem ersten vollendeten Lebensjahr produzieren die meisten Kleinkinder erste Worte bzw. Lautsequenzen, die mit einer Bedeutung verknüpft sind und absichtsvoll getätigt wer­den. Dabei wird zunächst lediglich ein Wort pro Atemzug gebildet (one-word stage). In die­ser Phase merken sie auch schon, dass es Phone gibt, die schwieriger zu artikulieren sind als andere. Etwa ein weiteres halbes Jahr später beginnen Babys zwei Wörter während eines Atemzuges aneinander zu reihen (two-word stage). Anschließend wird die Länge von Wortsequenzen sukzessive erweitert (multiple-word stage) (vgl. Gut 2009: 41f.).

Die Abfolge des Erwerbs deutschsprachlich relevanter Laute lässt sich wie folgt (s. Abb. 7) beschreiben.

Tab. 3 Erwerb des deutschen Lautinventars mit Differenzierung bzgl. phonetischem und phonologischem Er­werb (Kauschke 2012: 34)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Aus Tabelle 3 wird deutlich, dass manche Laute gegenüber anderen sehr früh erworben werden. Ferner ist die Unterscheidung zwischen phonetisch und phonologisch erworben wichtig. Als phonetisch erworben gilt ein Laut, wenn er ungeachtet seines funktionalen Kon­texts - isoliert - in korrekter Weise phonetisch realisiert werden kann. Um ein Phonem erworben zu haben, muss ein Phon im jeweiligen phonemischen Kontext korrekt gebildet bzw. eingebettet werden können (vgl. Kauschke 2012: 34).

Ein weiteres wichtiges Element auf dem Weg zum Erwerb sprachlich produktiver Kompe­tenzen bilden phonologische Prozesse (Abb. 7). Sie sind charakterisiert als „durch syste­matische Vereinfachungsprozesse generierte regelhafte Abweichungen zielsprachlicher Lautsequenzen bzw. Wortformen“ (ebd.: 35) (vgl. ebd.). Dabei werden strukturelle von sys­temischen Prozessen differenziert. Strukturelle Vorgänge führen zu einer Vereinfachung der Wortstruktur, wobei sich die Anzahl von Silben oder Phonemen innerhalb eines Wortes verändert. Bei systemische Prozessen bleibt die Wortstruktur erhalten, Phoneme werden durch andere Phoneme substituiert oder assimiliert (vgl. Fox-Boyer & Neumann 2017: 28f.). Einen Überblick über einige phonologische Prozesse skizziert Tabelle 4.

Tab. 4 Darstellung phonologischer Prozesse im Deutschen (vgl. Fox-Boyer & Neumann 2017: 43f.; Kauschke 2012: 36))

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Rahmen der Untersuchung von Lauterwerb, dienen Phonologische Prozesse auch als deskriptives Instrument, um Besonderheiten kindlicher Variationen in der Aussprache zu beschreiben. Dabei wird vermutet, dass Kinder zwar bereits über die korrekte erwachse­nensprachliche Repräsentation verfügen, jedoch die richtige phonetische Realisation auf Grund artikulatorischer Einschränkungen noch vermeiden und somit auf „vereinfachte“ For­men mit Hilfe phonologischerProzesse zurückgreifen (s. Tab. 4) (vgl. ebd.: 35f.).

Die Vielzahl der dargestellten möglichen Prozesse deutet auf eine finite Anzahl von Varia­tionsmöglichkeiten hin, lässt aber auch erkennen, dass es je nach angewandten Prozessen zu vielschichtigen inter- sowie intraindividuellen Variationen kindlicher Aussprache kommen kann. Hinsichtlich intraindividueller Variationen lässt sich ein Bezug zu den jeweiligen Ent­wicklungsstadien herstellen (vgl. Tab. 5).

Tab. 5 Reihenfolge der Überwindung entwicklungstypischer phonologischerProzesse (vgl. Kauschke 2012:37)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Laufe der Sprachentwicklung kommt es stetig zu neuen Strukturen in der Produktion, die auf unterschiedlichen phonologischen Prozessen basieren (einen Überblick skizziert Tab. 5) (vgl. Weiß 2012: 160). Pro Entwicklungsstadium gibt es abermals nur eine finite Anzahl phonetischer Realisationsvariationen. So lässt sich erahnen, wie es zu den ver­schiedensten sprachlichen Realisationen während des kindlichen Erstspracherwerbs kom­men kann.

Der Übergang zwischen den einzelnen Entwicklungsphasen ist fließend, d.h. neben neu erworbenen Strukturen befinden sich auch stets alte. Die von den Lernenden gesprochene Sprache ist somit äußerst dynamisch und schwankt auf einem Kontinuum von Nichtwissen bis hin zu voller Beherrschung. In der Fachsprache wird sie als Interimssprache bezeichnet (vgl. Wode 1988: 81, 85, 91).

Von Bedeutung ist neben intraindividuellen Unterschieden auch die Existenz interindividu­eller Variationen. Es gilt zu beachten, dass die chronologische Entwicklung des Spracher­werbs - Perzeption und Produktion - nicht per se bei allen Kindern gleich verläuft. Alle Entwicklungsprozesse, so auch die der Sprache unterliegen innerhalb gewisser Grenzen individuellen Variationen (vgl. Wode 1988 81, 123). Wie bedeutend Variation im Entwick- lungsverlaufdes Phonologie-Erwerbs ist, wird nachstehend beleuchtet.

3.2.3 Variation als wichtiges Charakteristikum früherphonologischer Entwicklung

Phonetik-Phonologie-Erwerb beinhaltet wie schon erwähnt sowohl inter- als auch intra-in­dividuelle Variationen. Nach Ingram (1989: 203) schließen diese Unterschiede hinsichtlich des phonetischen Inventars, verschiedene Substitutionsmuster, sowie eine Reihe phonolo- gischer Kontraste ein. Demnach operieren schon Kleinkinder mit einer Reihe phonologi- scher Regeln, welche schließlich die individuellen Lautsegmente bestimmen. Nach Wode (1988) deuten die phonetischen Variationen darauf hin, dass Kinder Sprache zunächst nicht auf Grundlage von Phonemen kodieren, sondern auf Basis einzelner Wörter.

Die Gründe für Variationen liegen neben dem Einsatz unterschiedlicher phonologischer Prozesse im komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren: Kontrolle über neuromo­torische Fähigkeiten, perzeptuelle Kompetenzen, organisatorische Fähigkeiten auf menta- ler/kognitiver und kommunikativer Ebene. Wörter sind somit Ergebnisse der Koordination all dieser Faktoren. Daher scheint es schlüssig, dass es zu unterschiedlichen Bewältigungs­mustern und damit verbundenen lautlichen Variationen im Verlaufdes Lauterwerbs kommt (vgl. Piske et al. 2002: 319f.).

Manche Variationen im sprachlichen Output sind jedoch nicht ausschließlich durch artiku- latorische Schwierigkeiten zu erklären. Da perzeptuelle Repräsentanten stets mit dem se­mantischen Kodierungssystem sowie den neuromotorischen Strukturen, die den phoneti­schen Code repräsentieren, verknüpft werden, finden mache Produktionsschwierigkeiten auch in perzeptuellen Problemen ihre Ursache. Wort-Repräsentanten sind möglicherweise noch nicht zugänglich oder die Kinder können sich schlichtweg nicht an das Gehörte erin­nern (vgl. ebd.: 323).

Demnach können zahlreiche Variationsmöglichkeiten auftreten, wie bereits in Tab. 5 skiz­ziert. Die unterschiedlichen Realisationen können dabei durch nicht zielgerechte Öff- nung/Schließung des Mundes und/oder inkorrekter Lage der Zunge beim Bilden von Voka­len, nicht zielführendem Artikulationsort oder inadäquater Artikulationsmethode bedingt sein (vgl. ebd.: 325)

Variationen sind keinesfalls negativ zu betrachten. Wie auch die phonologischen Prozesse dienen sie als Instrument, um Aussagen über den jeweiligen Entwicklungsstand eines Ler­nenden treffen zu können. Sie gewähren Einblicke in die systematische Verarbeitung sprachlichen Inputs und sind von großer Bedeutung für die Spracherwerbsforschung - so­wohl im Bereich L1 als auch L2. Sie geben Aufschluss darüber, welche Präferenzen Kinder hinsichtlich bestimmter Laute haben bzw. welche Artikulatoren sie bereits fähig sind zu kon­trollieren und zu koordinieren. Variation ist ein Phänomen, das es Forschern ermöglicht stetig mehr über psycholinguistische Prozesse sowie die sprachlichen Entwicklungsstufen zu lernen (vgl. ebd. 328, 349).

Nicht nur im Rahmen des L1-Erwerbs ist die systematische Variation ein bedeutungsvolles Phänomen. Mindestens ebenso faszinierend sowie viel untersucht ist sie beim Erwerb einer L2. Auch hier folgen die Variationsmuster bestimmten Systematiken und dienen gleicher­maßen sowohl als Vereinfachung für die Lernenden als auch zur Untersuchung wie L2- Erwerb erfolgt und auf welcher Entwicklungsstufe sich betreffende Lernende befinden. Im Folgenden soll geklärt werden, in welcher Weise derlei Variationen im Bereich des L2-Er- werbs auftreten. Diesbezüglich sollen auch mögliche Ursachen beleuchtet werden. Zunächst wird der L2-Erwerb im Allgemeinen sowie grundlegende Termini erläutert und Unterschiede zum L1-Erwerb herausgestellt.

[...]


1 Aus Gründen der fließenderen Lesbarkeit sind in dieser Arbeit mit lediglich einer Gender-Bezeichnung stets sowohl männliche als auch weibliche Personen gemeint.

Ende der Leseprobe aus 97 Seiten

Details

Titel
Englischlernen in bilingualen Kindergärten
Untertitel
Eine Studie zum Lauterwerb bei Drei- bis Sechsjährigen
Hochschule
Pädagogische Hochschule Weingarten  (Englische Sprachwissenschaft und ihre Didaktik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
97
Katalognummer
V925578
ISBN (eBook)
9783346253026
ISBN (Buch)
9783346253033
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit wurde nach alter Prüfungsordnung zur Erlangung des ersten Staatsexamens verfasst. Das entspricht heute der Masterarbeit.
Schlagworte
(früher) Spracherwerb, Fremdsprachenerwerb, Lauterwerb, Phonetik und Phonologie, Englisch im Kindergarten, Phonologische Prozesse, Interimssprache, Zielsprachliche Variationen
Arbeit zitieren
Simone Fay (Autor:in), 2018, Englischlernen in bilingualen Kindergärten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/925578

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