Eine Diagnose (-Arbeit) zur Rechenstörung (Zahlverständnis)

Entwicklung eines informellen Diagnosetests sowie einem entsprechenden Förderplan


Hausarbeit, 2017

47 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


I. Inhaltsverzeichnis

II. Abbildungsverzeichnis

1. Vorwort

2. Anamnese - Beschreibung des Jugendlichen

3. Basale und Pränumerische Diagnostik

4. Diagnose mathematischer Leistungen - Schwerpunkt Zahlverständnis
4.1 Zählen-Zahlwortreihe
4.2 Zahlen lesen und schreiben
4.3 Zahldarstellung, Zahlauffassung und Stellenwertsystem
4.4 Mengenwahrnehmung / Mengenverständnis
4.4.1 Perzeptive Mengenbeurteilung
4.4.2 Mengeninvarianz
4.4.3 Kognitive Mengenbeurteilung
4.5 Zahlbeziehungen
4.5.1 Vorgänger/Nachfolger
4.5.2 Verdoppeln / Halbieren
4.5.3 Teil-Ganzes-Beziehung
4.5.4 OrdinalesZahlverständnis
4.5.5 RelationalesZahlverständnis
4.6 Zusammenfassung der mathematischen Leistungen

5. Transkription der Diagnose
5.1 Transkript eines exemplarischen Ausschnitts
5.2 Auswertung derTranskription

6. Förderung
6.1 Förderziele - Ausgewählte Inhaltsbereiche und deren Umsetzung
6.2 OrganisationderFörderung

7. Reflexion mit persönlicher Meinung

IV. Literaturverzeichnis

II. Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Zahlverortung am Zahlenstrahl 1

Abb. 2 Die Mitte zwischen zwei Zahlen finden

Abb. 3Zahlwortreihe

Abb. 4 Zahlen schreiben

Abb. 5 Zahlen lesen

Abb. 6 Zahldarstellung - Zehnersystem-Material

Abb. 7 Zahldarstellung - Stellenwerttafel

Abb. 8 Zahlen auffassen und erkennen

Abb. 9 Schätzen

Abb. 10 Mengeninvarianz

Abb. 11 Kognitive Mengenbeurteilung

Abb. 12 Vorgänger / Nachfolger

Abb. 13 Verdoppeln / Halbieren

Abb. 14 Addition - Strategie

Abb. 17 Zahlzerlegung 3

Abb. 16 Zahlzerlegung 2

Abb. 15 Zahlzerlegung 1

Abb. 18 Zahlen ordnen

Abb.20Zahlengeordnet-B. 2

Abb.l9Zahlengeordnet-B. 1

Abb. 22 Zahlverortung 2

Abb. 21 Zahlverortung 1

Abb. 24 Zahlen Längen zuordnen 2

Abb. 23 Zahlen Längen zuordnen 1

Abb. 25 Zahlen Längen zuordnen 3

Abb. 26Zahlbeziehungen erkennen und nutzen

Abb. 28 Mitte finden 2

Abb. 27 Mitte finden 1

Abb. 29 Mitte finden 3

Abb. 30 Mitte finden 4

1. Vorwort

Die vorliegende Diagnosearbeit soll keine Rechenstörung im Sinne der WHO identifizieren. Diese Auslegung ist sehr eng gefasst und darf nur von Ärzten durchgeführt werden, daher wird hier von dieser abgesehen. Die vorliegende Arbeit beinhaltet eine informelle Diagnose und ist darauf fokussiert, dem betreffenden Jugendlichen mit Mathematik-Problemen zu helfen (vgl. Kittel 2011: 14f.). Für die Basis angemessener Hilfe bedarf es zunächst eines Überblicks über die mathematischen Fähigkeiten sowie generelle Probleme des Jugendlichen (vgl. Kaufmann/Wessolowski 2011: 20).

Ferner wurde diese Arbeit im Rahmen des von Herrn Prof. Dr. A. K. geleiteten Seminars „Rechenstörung - Mit Förderung eines Jugendlichen" erstellt. Da hierbei zwei Studierende immerein Kind bzw. einen Jugendlichen gemeinsam diagnostizieren und fördern, wird auch die entsprechende Arbeit zu demselben Jugendlichen verfasst. Damit dennoch jeweils zwei unterschiedliche, individuelle Diagnosearbeiten erstellt werden können, wurden die Diagnose- sowie Förderaspekte in Zahl- und Operationsverständnis aufgeteilt.

Diese Arbeit befasst sich daher hauptsächlich mit dem Zahlverständnis, wobei auch Überschneidungen zum Operationsverständnis aufgezeigt werden, da diese in diversen Aufgaben bzw. deren Lösungen einhergehen (vgl. Kaufmann/Wessolowski 2011: 20).

2. Anamnese - Beschreibung des jugendlichen

B. war zum Testzeitpunkt 13 Jahre alt und besuchte die sechste Klasse einer ländlichen Gemeinschaftsschule. Das bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler nicht wie herkömmlich gemeinsam „frontal" unterrichtet werden, sondern jede/r an ihren/seinen auf das individuelle Niveau angepassten Lernschritten arbeitet. B. befindet sich trotz der aktuellen Wiederholung der sechsten Klasse weiterhin nur auf dem untersten, dem G-Niveau (es gibt drei Niveaustufen). Das ist für B. eher demotivierend, weil er keinen Erfolg sieht. Ferner macht B. diese „Ehrenrunde" zu schaffen, weil er sich im Vergleich mit seinen früheren Klassenkameraden mit den nun jüngeren nicht so gut versteht. Die Tatsache, dass er eine Klasse wiederholen musste, scheint einen schwächenden Einfluss auf sein Selbstbewusstsein gehabt zu haben. Seine forthin schlechten Leistungen im Fach Mathematik kommen dahingehend noch erschwerend hinzu. Laut eigenen Aussagen Bastians scheint seine Mathematiklehrerin auch nicht sehr positiv ihm gegenüber eingestellt zu sein und wirkt eher defizitorientiert. Beispielsweise wollte sie ihm sogar den Zugang zu Termen verwehren, weil sie meinte er könne das vermutlich noch nicht begreifen. Dies war für ihn ein weiteres negatives Erlebnis, was ihm lediglich signalisierte, dass er ein „hoffnungsloser Fall" sei. Er ist jedoch schon so weit in seinem Verständnis, dass er verstanden hat, dass es wichtig ist, am aktuellen Schulstoff trotzdem teilzuhaben, weil er das Versäumte sonst nicht mehr alles nachholen kann. Außerdem lässt es vermuten, dass er von Grund auf eigentlich motiviert ist, weiterzukommen und Neues zu begreifen.

Die Schulsituation ist folglich nicht optimal für B., auch aus dem Grund, weil die Lernenden an Gemeinschaftsschulen sehr selbstständig arbeiten müssen. Dieses ist für B. jedoch noch sehr schwierig, wie auch der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie vermerkte. Dieser führte verschiedene Tests (HRT 1-4 und MAESTRA 5-6+) sowie Verhaltensbeobachtungen durch. Laut ihm wirkt B. teilweise eher noch wie ein Grundschüler, ist jedoch schon sehr bedacht auf sein Äußeres. Er lässt sich sehr leicht ablenken, schaut viel in der Gegend herum und hat eine ausgeprägte Langsamkeit. Darüber hinaus benötigt er äußerst viel Struktur von außen, um in der Lage zu sein, zu arbeiten. Ferner verliert er schnell seine Konzentration sowie auch die Motivation, Aufgaben zu bewältigen. Es lässt sich daher ableiten, dass er eine sehr gering ausgeprägte Anstrengungsbereitschaft hat. Außerdem wurde bei B. eine Aufmerksamkeitsstörung festgestellt. All diese Feststellungen haben sich im Laufder Diagnose und Förderung bewahrheitet.

Der Mediziner beschrieb hinsichtlich Bastians mathematischer Fähigkeiten, dass er keine Rechenstörung habe, es ihm lediglich an Routinen und dem Verfügbarsein des Einmaleins fehle. Das nötige Mengen-, Zahl- und Operationsverständnis sei vorhanden, wobei auch erwähnt wurde, dass dies auch auf der Grundlage von Tests, die eigentlich für das Grundschulniveau vorgesehen sind, basiert. Unter anderem deshalb, bedarf es hinsichtlich dieser Einschätzungen zu Bastians Mathematik-Leistungen einer kritischen Betrachtung. Darüber hinaus wurde mit B. eingangs der Basis-Mat 4-8 durchgeführt, welcheraufzeigte, dass der mathematische Basissoff noch nicht hinreichend verstanden wurde. Das Ergebnis lag mit einem Wert von 45 Punkten 22 Punkte unter der Mindestpunkteanzahl. Damit scheinen in jedem Fall erhebliche Defizite vorhanden zu sein. Ferner können die Einschätzungen des Mediziners Bastians Mathematik-Leistungen betreffend auch auf Grund der späteren informellen Diagnose und der verbrachten Zeit mit B. nicht (ganz) bestätigt werden, was im Verlaufdieser Arbeit beleuchtet werden soll.

Bleibt noch der familiale Kontext Bastians zu beschreiben. Bastians Eltern sind seit zwei Jahren geschieden. Er hat einen älteren Bruder (17 Jahre), der ebenfalls schon an der Pädagogischen Hochschule in Mathematik diagnostiziert sowie gefördert wurde und eine diagnostizierte Dyskalkulie aufweist. Daher wurde Bastians Mutter auch vermehrt aufmerksam auf Bastians schwache Leistungen in Mathematik, vermutete bei ihm ebenfalls eine Rechenstörung und ließ verschiedene Tests durchführen. Seine Mutter ist eine freundliche, jedoch sehr impulsive Frau, bei der es sich vermuten lässt, dass diese Impulsivität zu Hause auch in die negative Richtung ausschlagen kann. Grund zu dieser Annahme ist unter anderem Bastians stark variables Verhalten und emotionales Befinden, was in der Diagnose basaler Grunderfahrungen noch genauer umschrieben werden soll. Zu derTatsache, dass B. ein Scheidungskind ist, kommt noch hinzu, dass die Mutter zur Zeit der Diagnose und Förderung auch einen neuen Mann geheiratet hat. Dies impliziert auch eine komplette Reorganisation der Familienverhältnisse: B. wohnt mit zwei Halbgeschwistern, dem neuen Mann und seinem Bruder unter einem Dach. Dies ist jedoch schon seit ca. anderthalb Jahren so. Es ließ sich ferner feststellen, dass die Hochzeit der Mutter und die damit einhergehenden organisatorischen Angelegenheiten wenig Raum für B. und seine Bedürfnisse ließen. In Gesprächen mit der Mutter, sie solle mit B. beispielsweise das Einmaleins üben, schien sie erst motiviert. Hinterher erzählte B. ein wenig deprimiert jedoch, dass seine Mutter ihm ein Computerprogramm dafür gekauft hatte. Es lässt sich an dieser Stelle vermuten, dass seinerseits eigentlich eine stärkere Bindung zu seiner Mutter gewünscht ist, aber leider „zu kurz zu kommen" scheint. Derart dynamische Familienstrukturen und -Neuorganisierungen dürfen nicht unterschätzt werden. Für Kinder und Jugendliche sind solche Veränderungen kein leichtes Spiel und führen zu Unsicherheitsgefühlen, Orientierungslosigkeit, sozialemotional schwachem Verhalten, geringem Selbstwertgefühl und sogar zu Brüchen und Abfällen des Leistungsverhaltens. Die Wiederheirat sowie das Hinzukommen neuer Geschwister stellt an dieser Stelle teilweise besonders schwierige Momente für die betreffenden Kinder und Jugendlichen dar (vgl. Schlemmer 2004: 155-157). Somit lassen sich Bastians Leistungsabfall, sein sozial- und emotional abweichendes Verhalten, seine Aufmerksamkeitsstörung sowie Konzentrationsschwäche möglicherweise ergründen und eventuell fundierte, ganzheitliche Lösungs- bzw. Förderansätze finden.

Zu Beginn wurde auch noch ein Einzelgespräch mit B. geführt, bei dem seine Mutter nicht dabei war. Aus seiner eigenen Sicht hat er Probleme mit dem Einmaleins, besonders mit der7er, 8er und 9er Reihe, das große Einmaleins bereitet ihm scheinbar noch größere Schwierigkeiten. Darüber hinaus fällt ihm das Bruchrechnen, die Division - welche für das Bruchrechnen eine Voraussetzung ist-sowie die Multiplikation mit mehrstelligen Zahlen sehr schwer. Uhrzeiten kann er lediglich von Digitaluhren ablesen. Den Zahlenstrahl und die Stellenwerttafel hat er seiner Meinung nach auch nicht vollständig begriffen. BeiTextaufgaben - bzw. Sachaufgaben - weiß er gar nicht, was er machen soll und die Dezimalzahlen seien für ihn ebenfalls mit großen Schwierigkeiten behaftet. Laut eigenerAussage funktioniert die Addition und Subtraktion sowie die anderen Reihen des kleinen Einmaleins sehr gut. Auf die Frage, ob er manchmal auch die Finger zur Hilfe nähme, um zu rechnen, antwortete er mit „Ja". Dies konnte jedoch im Verlauf dieser Diagnose undFörderungnichtfestgestelltwerden.

3. Basale und Pränumerische Diagnostik

Da diese Diagnose im Verlauf des Sekundarstufenalters durchgeführt wurde, wird hinsichtlich der basalen und pränumerischen Diagnostik lediglich auf auffällige Momente eingegangen. Zu basalen Grunderfahrungen gehören insbesondere auch soziale und kognitive Aspekte (vgl. Kittel 2011:102). In diesem Bereich haben sich bei B. zum einen Normabweichungen im Hinblick auf die Konzentrationsfähigkeit das Arbeitsverhalten feststellen lassen. Seine Konzentration ist stark Tagesform-abhängig und daher einerseits äußerst variabel und andererseits sehr kurzfristig. Auffällig war jedoch auch, dass B. bei Spielen wie „Dobble", bei dem es vornehmlich um Wahrnehmungskonstanz (vgl. ebd. 105) und die damit verbundene Konzentration deutlich besser funktionierte als bei Mathematik-Aufgaben. Das lässt darauf schließen, dass er Mathematik als eher unangenehm empfindet und sich dementsprechend nicht soweit kontrollieren kann, sich trotz eher negativer Gefühle zu konzentrieren. Die Bedeutung emotionaler Instabilität äußerte sich jedoch nicht nur mit Blick auf die Konzentration. Es zeigte sich, dass B., wenn es im nicht so gut zu gehen schien, auf keinen Lösungsansatz bei mathematischen Problemen kommen konnte. Einfachste Aufgaben und Problemstellungen, die er an „guten" Tagen teilweise problemlos bewältigen konnte, wurden unter dem Einfluss negativer Emotionen zu unüberwindbaren Hürden. Die starke Abhängigkeit seines Leistungsverhaltens von seiner emotionalen Disposition steht B. deutlich im Weg. Bedauerlicherweise ist sein emotionales Befinden sehr instabil. Versuche, etwas über die Gründe dafür herauszufinden, blieben vergeblich. Zu vermuten bleibt - wie bereits oben erwähnt - die Instabilität der familialen Verhältnisse sowie eventuell eine Vernachlässigung seitens der Eltern. Ferner konnte beobachtet werden, dass auch das Arbeitsverhalten stark unter der emotionalen Befindlichkeit leidet. Es war manchmal kaum möglich, B. zum Angehen eines mathematischen Problems zu motivieren. Nicht selten kam es vor, dass er Aufgaben sehr schnell und vollkommen unreflektiert, ohne jegliche Überlegung anging. Auf die Aufforderung zu erklären, wieso er so oder so handelte, kamen oft selbst nach wiederholtem Nachfragen keine Antworten. Es war ihm teilweise auch vollkommen egal, ob sein Vorgehen richtig oder falsch war, er schien zuweilen über keinerlei Motivation oder Bereitschaft zu verfügen. Somit bestätigte sich die medizinisch festgestellte sehr gering ausgeprägte Anstrengungsbereitschaft. An „schlechten" Tagen war es wenig sinnvoll, das geplante mathematische Programm durchzuführen und so kam es nicht selten vor, dass improvisiert und Pläne modifiziert werden mussten. Die ausgeprägte Instabilität seiner emotionalen Befindlichkeiten und der damit verbunden stark variierenden Leistungen zeigte sich auch darin, dass gleiche oder sehr ähnliche Aufgaben und Bastians Lösungsversuche zu unterschiedlichen Zeitpunkten stark differierten - hierauf soll im weiteren Verlauf nochmals Bezug genommen werden.

Bastians geringe Konzentrationsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft spiegelten sich nicht nur in den gemeinsamen Stunden, sondern auch in den Hausaufgaben. Es ließ sich erkennen, dass er Aufgaben oft anging ohne überhaupt richtig hingesehen oder gar nachgedacht zu haben (vgl. Lorenz/Radatz 2008: 72f.). Ein Beispiel soll dies veranschaulichen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 Zahlverortung am Zahlenstrahl 1 hingesehen und einfach unüberlegt die

Hier lässt sich deutlich erkennen, dass B. vermutlich nicht einmal genau hingesehen und einfach unüberlegt die Zahlen verortet hat. Im gemeinsamen Gespräch mit ihm und auf ein Nachfragen, wieso er das so gemacht hätte, viel es ihm rasch auf. Solcherlei Fehler, die zu vermeiden wären, sind im Verlauf dieses Semesters häufig aufgetreten. B. braucht stets Zuspruch, motivierende Worte und Hinweise, dass er sich konzentrieren solle. Ist das gegeben, funktioniert es sehr viel besser. Dementsprechend scheint seine Selbstständigkeit, Leistungs- und Arbeitsbereitschaft sowie sein Konzentrationsvermögen bezogen auf sein Alter noch nicht ausreichend zu sein. Hinsichtlich der Pränumerik ließ sich lediglich feststellen, dass B. Probleme mit diversen Begriffen hat. Er kann beispielsweise noch nicht direkt zuordnen, welche Operationen hinterden Begriffen Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division stehen. Die Verwendungsolcher „Fachbegriffe" ist für ihn noch problematisch. Ferner kennt er den Unterschied zwischen Mitte und Hälfte nicht. So war es beispielsweise unmöglich für ihn, auf einemZahlenstrahldiegefordertenMittenzweier Zahlen zu finden, wie nachstehend zu sehen ist:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb 2: Die Mitte zwischen zwei Zahlen finden

Hier war es B. nicht möglich, die Mitte von 3000 und 4000 zu finden. Er äußerte immer Abb. 2 Die Mittezwischen zweiZahlenfinden wieder, dass doch 2000 die Hälfte von 4000 sei. Auf den Hinweis, dass dies richtig sei, hier aber die Mitte zwischen diesen zwei Zahlen gesucht sei, reagierte er ohne jegliches Verständnis. Er konnte mit den beiden Begriffen nicht adäquat umgehen noch sie unterscheiden. An dieser Stelle lässt sich einerseits vermuten, dass ihm der Unterschied zwischen „Hälfte" und „Mitte" noch nicht klar ist, andererseits hat er noch Probleme mit den Zahlbeziehungen - worauf unter Punkt 4.6.4.3 näher eingegangen wird.

4. Diagnose mathematischer Leistungen - Schwerpunkt Zahlverständnis

Zahlverständnis impliziert die Fähigkeit des Zählens und Abzählens, d.h. Zahlwortreihen sicher ab jeder beliebigen Zahl vorwärts und rückwärts aufsagen zu können - nicht nur in Einer-, sondern auch in Zweier- und/oder Zehnerschritten. Ferner müssen Zahlen richtig gelesen und geschrieben werden können (beispielsweise bei einem Zahlendiktat). Auch die Fähigkeit zur Auffassung und Darstellung von Zahlen mittels verschiedener Hilfsmittel (Stellenwerttafel, Zehnersystem-Material), Zahlbeziehungen zu erkennen und darzustellen (Ordinal- und Relationaler Zahlaspekt), sowie Mengen und ihre zugeordneten Zahlen (Symbole) wahrnehmen (Kardinalzahlaspekt) und schätzen zu können, gehören zu einem fundierten Zahlverständnis (vgl. Kittel 2011: 109-112; Kaufmann/Wessolowski 2011: 20-24). Diese Komponenten werden nachfolgend detailliert beleuchtet sowie mit Beispielen von Bastians Lösungsversuchen visualisiert und interpretiert. Da Zahl- und Operationsverständnis unmittelbar Zusammenhängen, wird diesbezüglich immer wieder Bezug genommen (vgl. Kaufmann/Wessolowski 2011: 20).

4.1 Zählen - Zahlwortreihe

Bei nachstehender Aufgabe sollte B. vorwärts und rückwärts, erst in Einer-, anschließend in Zweier- und Zehnerschritten zählen. Die Fähigkeit, dies zu bewältigen, ist fundamental für sicheres Rechnen ohne abzählen zu müssen (vgl. ebd.). Die Zahlen wurden im Raum von 100 bis 1300 ausgewählt, da sich in den vergangenen Stunden bereits gezeigt hatte, dass das Zählen im Raum bis 100 für B. keine Schwierigkeit darstellt. Es wurden ungerade Zahlen, bei denen sowohl Zehner als auch Hunderterübergange bewältigt werden mussten, gewählt. Gerade Zahlen erwiesen sich in den vorangegangenen Stunden bereits als ein Leichtes für B. Ferner wurde darauf geachtet, dass ähnlich aussehende Ziffern, naheliegende Zahlen wie 8 und 9 gewählt, um zu testen, ob B. Schwierigkeiten diesbezüglich hat und evtl. Perseverationsfehler macht (vgl. Kittel 2011: 92).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb 3: Zahlwortreihe

Vorwärtszählen ab 187 in Einer-Schritten stellte kein Problem für B. dar, wobei er beim Übergang von 189 zu 190 kurz stockte und zuerst 200 sagte. Er hat den Fehler jedoch direkt selbst bemerkt und verbessert. Die ersten Schwierigkeiten zeigten sich beim Vorwärtszählen ab 185 in Zweier-Schritten. Hier stockte B. nach der 189 eine Weile, kam dann aber nach ca. 7 Sekunden auf 191 und zählte anschließend richtig weiter. Der Übergang von 199 zu 201 bereitete keine Probleme. Durcheinander kam B. erst richtig beim Vorwärtszählen ab 1089 in Zweier-Schritten. Nachdem er bei 1099 war, folgte bei ihm 2901, 2903, 2905 usw. Zum einen könnte es darauf hinweisen, dass er die Konzentration verlor und durcheinanderkam. Andererseits könnte dies aber auch ein Indikator dafür sein, dass er mit den Stellenwerten noch durcheinanderkommt und zumindest beim Zählen im Kopf noch keine gefestigte Vorstellung diesbezüglich hat. Vermuten lässt sich auch, dass er bei mehrstelligen Zahlen zumindest in der Vorstellung noch Schwierigkeiten mit dem Hunderterübergang hat. Dies könnte wiederum im Zusammenhang mit einem noch nicht gefestigten mentalen Stellenwertsystem Zusammenhängen. Beim Zählen ab 205 (rückwärts in Zweier-Schritten) kam er abermals durcheinander. Den Hunderterübergang meisterte er problemlos, jedoch verirrte er sich nach der 193 und landete bei 101, 99, 97 usw. Hier zeigt sich, dass selbst im Hunderterraum teilweise noch Probleme beim Zählen auftreten. Es lässt sich an dieser Stelle auf Grund seines bereits beobachteten unüberlegten und teils zu schnellem Herangehen an Aufgaben jedoch eher vermuten, dass er nicht konzentriert genug war. Es lässt sich aber auch vermuten, dass er über eine geringe Merkfähigkeit verfügt und so beim mentalen Zählen die vorige Zahl bereits vergessen hat, vielleicht auch, weil ihn dieser Vorgang kognitiv noch sehr beansprucht.

Die nächsten Fehler traten beim Zählen in Zehnerschritten ab 989 (vorwärts) auf, wobei B. 990, 1009, 1019 usw. weiterzählte. Hier zeigt sich wieder eine Unsicherheit hinsichtlich der Stellenwerte, die teilweise noch durcheinanderbringt. Möglicherweise war er aber lediglich verwirrt, in welchen Schritten er eigentlich zählen sollte, denn schließlich zählte er nach dem Fehler richtig weiter, was wiederum ein Indikator für seine geringe Konzentrationsfähigkeit sowie unüberlegte Herangehensweise sein könnte (vgl. Lorenz/Radatz 2008: 72f.).

Beim Zählen in Zehner-Schritten ab 137 (rückwärts) zählte er zunächst richtig. Nach 107 folgte dann jedoch 87. Er stockte eine Weile, bemerkte aber schnell, dass 97 die richtige Zahl gewesen wäre und korrigierte sich. Es ließe sich auch hier präsumieren, dass dieser Fehler abermals auf Bastians Konzentrationsschwäche zurückzuführen ist und er während des Zählens - offensichtlich besonders beim Rückwärtszählen - so angestrengt ist, dass er die vorige Zahl bereits vergessen hat, wenn er die nächste Zahl gefunden hat. Auf Grund seiner schnellen, impulsiven, unreflektierten Herangehensweise könnten diese Auffälligkeiten lediglich Flüchtigkeitsfehler sein.

Prinzipiell hatte B. beim Zählen keine großen Schwierigkeiten. Bei 15 Zahlwortreihen hat er lediglich bei drei (20%) einen Fehler gemacht, ohne diesen bemerkt zu haben. Auf Grund der problemlosen sowie fehlerfreien Lösung von 80% der Zahlwortreihen könnte davon ausgegangen werden, dass die unterlaufenen Fehler eher auf seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit sowie sein unüberlegtes, schnelles Vorgehen zurückzuführen sind (vgl. Lorenz/Radatz 2008: 72f.). B. beherrscht die Zahlwortreihe größtenteils und ist ebenso fähig eine Korrespondenz zwischen Zahlwort und Zeigesequenz herzustellen (vgl. Kaufmann/Wessolowski: 20f.). Ferner verwechselt er ähnlich aussehende Ziffern wie 8 und 9 nicht und kann mit Zahlen, die diese Ziffern enthalten, hinsichtlich des Zählens umgehen. Eine weitere Förderung ist an dieser Stelle trotzdem sinnvoll, da er noch Unsicherheiten bei Zehner- und Hunderterübergängen zeigt - besonders beim Rückwärtszählen. Eine Förderung in diesem Bereich soll B. durch Routine und das Sprechen über Zahlen noch mehr Sicherheit im Umgang mit diesen ermöglichen und die Stellenwerte festigen.

4.2 Zahlen lesen und schreiben

Zahlen richtig lesen sowie schreiben zu können ist ein weiteres Element des Zahlverständnisses. Unsicherheiten in diesem Bereich können zu falschen Ergebnissen führen und sind ein möglicherlndikatorfürein noch nicht vollständiges Verständnis der Stellenwerte. Da in der deutschen Sprache eine Richtungsinversion bezüglich Lesen und Schreiben besteht, kann das Anlass für Probleme geben und diese möglicherweise auch ein Hinweis für eine Rechts-Links-Orientierungsschwäche sein (vgl. Kittel 2011:109; Kaufmann/Wessolowski 2011: 21). Um diesbezüglich bei B. Klarheit zu gewinnen, wurden ihm zunächst zehn Zahlen zwischen 100 und 90 000 000 vorgelesen, welche er anschließend schreiben sollte. Dieser große Zahlenraum wurde gewählt, weil B. bereits 13 Jahre alt ist und mit derart großen Zahlen umgehen können müsste. Zudem wurden bewusst Zahlen gewählt, die zwischendrin den Stellenwert Null enthielten, um zu testen, ob dies für ihn eine Schwierigkeit darstellt. Darüber hinaus wurden abermals Zahlen, welche die Ziffern 8 und 9 in unmittelbarer Näher enthielten, gewählt, um zu sehen, ob diese nah beieinanderliegenden Zahlen und ähnlich aussehenden Ziffern in der richtigen Vorstellung verfügbar sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4 Zahlenschreiben

B. war in der Lage bis auf die drei letzten und längsten alle Zahlen korrekt zu schreiben. Bei den richtigen Schreibweisen gab es hinsichtlich der Zeit, die er dafür benötigte, keine Auffälligkeiten. An achter Stelle sollte er statt 10 000 012 eigentlich 1000 012 schreiben. Die neunte Zahl war 1 339 001, B. schrieb jedoch 139 000 001. Die zehnte und letzte Zahl sollte 8 909 021 lauten, er schrieb 899 000 021. Bei den Zahlen im Millionenbereich zeigt sich eine deutliche Unsicherheit bezüglich der Anzahl von Nullen. Diese Zahlen sind zwar auch für normentsprechende MathematikLernende und sogar Lehrende schwierig vorstellbar bzw. ein mentales Bild von ihnen zu haben, trotzdem sollte eine Sicherheit hinsichtlich der Stellenwerte sowie der Anzahl von Nullen vorhanden sein. Bei B. scheint es fast so, als hätte er keinerlei Vorstellung davon, wie viele Nullen eigentlich zu Zahlen im Millionenbereich gehören. Es schien bei diesen Aufgaben nicht so, als würde er tatsächlich über die einzelnen zu besetzenden Stellen nachdenken und strukturiert Vorgehen. Das, sowie die von ihm unkorrekt besetzen Stellen lassen schließen, dass er wahllos, willkürlich vorgeht, weil Zahlen im Millionenbereich und ihre zugehörigen Stellenwerte für ihn noch völlig fremd sind.

Positiv anzumerken bleibt, dass er keine Schwierigkeiten mit der Richtungsinversion zeigt und alle Zahlen, die unter einer Million liegen, völlig fehlerfrei niederschreiben konnte. Dabei hat er sich auch nicht durch zwischenliegende Nullen oder nahe beieinanderliegende Achter und Neuner verwirren lassen.

Anschließend bestand Bastians Aufgabe darin, vorliegende Zahlen zwischen 0 und 100 000 000 vorzulesen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb 5: Zahlen lesen

Dies war kein Problem für ihn, alle Zahlen wurden richtig vorgelesen. Die Richtungsinversion hinsichtlich Wort und Schrift war kein Hindernis für ihn, die Zahlen fehlerfrei zu verbalisieren. Aus diesen beiden Aufgaben lässt sich darüber hinaus schließen, dass die Zahlperzeption schon deutlich stärker ausgebildet ist als die Produktion. Sieht B. Zahlen vor sich, kann er sie ohne Probleme lesen. Werden sie ihm allerdings nur verbal präsentiert und er muss dazu selbst ein Bild - erst mental, dann schriftlich - produzieren, zeigt sich sein noch nicht verfestigtes Verständnis von großen Zahlen und dem damit verbundenen Stellenwertsystem.

4.3 Zahldarstellung, Zahlauffassung und Stellenwertsystem

Grundsätzlich wird bei der Zahlauffassung getestet, ob einer bestimmten vorgegebenen Anzahl von Objekten die zugehörige (Kardinal-)Zahl zugeordnet werden kann und vice versa (vgl. Kittel 2011: 112; Kaufmann/Wessolowski 2011: 21). Da sich im Verlauf der mit B. verbrachten Zeit zeigte, dass er diesbezüglich keine Schwierigkeit hat, wurde eine derartigeAufgabenstellung in dem informellen Test vernachlässigt. Jedoch wurde eine modifizierte, schwierigere Art der Zahlauffassung integriert. Dabei sollte er sich mittels vorgegebener, ausgefüllter Stellenwerttafel die betreffenden Zahlen mental vorstellen und anschließend verbalisieren, wie im weiteren Verlauf dargestellt wird. Zunächst sollte jedoch getestet werden, ob und inwiefern Bastians Fähigkeit Zahlen darzustellen, ausgebildet ist. Hierzu sollteer zunächst die vorgegebenen Zahlen vorlesen und mittels Zehnersystem-Material enaktivdarstellen, d.h. legen. Anschließend sollte er verbalisieren, wie viele Tausender, Hunderter, Zehner und Einer er benötigte, sowie die betreffende Zahl in eine Stellenwerttafel eintragen. Vorgegeben waren die Zahlen 1 503 und 2 379. Beide Zahlen konnte B. problemlos lesen sowie mit dem Material legen (s. Abb. 7).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb 7: Zahldarstellung - Zehnersystem-Material

Der Transfer auf die symbolische Ebene - beide Zahlen korrekt in die Stellenwerttafel eintragen - stellte ebenfalls kein Problem dar (s. Abb. 8).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 7Zahldarstellung - Stellenwerttafel

Da es wichtig ist, zu testen, ob dieser Vorgang auch umgekehrt möglich ist, wurden B. - andersrum - Zahlen mittels Zehnersystem-Material präsentiert woraufhin er diese auf die symbolische Ebene transferieren musste (vgl. Kittel 2011:112). Auch das konnte B. völlig fehlerfrei sowie in angemessenem Zeitrahmen bewältigen.

Im nächsten Schritt sollte Bastians Zahlauffassungsfähigkeit näher beleuchtet werden. Dabei sollte er Zahlen, die mit Hilfe der Stellenwerttafel veranschaulicht waren, erkennen und als symbolische Zahl synthetisieren. Dabei ist es erforderlich, dass B. die Stellenwerttafel und das zugehörige Zehnersystem-Material als Hilfsmittel in der Vorstellung benutzt. Dieses mentale Vorstellungsvermögen ist hinsichtlich der Arbeits-/Hilfsmittel bedeutungsvoll, da diese sonst anstatt zu helfen lediglich abhängig machen (vgl. Kittel 2011: 47).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb 8: Zahlen auffassen und erkennen

Die Zahlen, die von B. aufgefasst, in seiner Vorstellung vorhanden und letztlich verbalisiert werden sollten, wurden hinsichtlich ihrer Stellenwert-Darstellung so gewählt, dass ein Übertrag bzw. Umtausch von zehn Zehnern zu einem Hunderter erkannt werden musste (s. Zeile 1 & 3). Fernerhin wurden Stellen leer gelassen, um zu sehen, ob die Vorstellung von Nullen zwischen Ziffern sowie ihre Bedeutung für die sich daraus ergebende Zahl vorhanden ist. Des Weiteren sollte anhand dieser Aufgabenstellung geprüft werden, ob die eingetragenen Ziffern an den einzelnen Stellen nicht als Zahlen, sondern als Repräsentanten für die Anzahl von verschiedenen Stellenwerten wahrgenommen werden (können). Dieser Aspekt ist bezüglich des Zahlverständnisses bedeutungsvoll, da er zeigt, ob eine Vorstellung der Stellenwerte vorhanden und diese in Beziehung zu den daraus resultierenden Zahlen besteht.

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Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Eine Diagnose (-Arbeit) zur Rechenstörung (Zahlverständnis)
Untertitel
Entwicklung eines informellen Diagnosetests sowie einem entsprechenden Förderplan
Hochschule
Pädagogische Hochschule Weingarten  (Mathematik und ihre Didaktik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
47
Katalognummer
V925589
ISBN (eBook)
9783346371683
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rechstörung, Mathematikdidaktik, Diagnose und Förderung, Informelle Diagnoseinstrumente, Zahlverständnis, Operationsverständnis
Arbeit zitieren
Simone Fay (Autor:in), 2017, Eine Diagnose (-Arbeit) zur Rechenstörung (Zahlverständnis), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/925589

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