Um Jesus exegetisch beschreiben zu können, muss er sich zuerst darüber klar werden, welche Bedeutung die Person Jesus Christus in seinem Leben einnimmt. Nur so ist es möglich, auch beispielsweise mythische Aspekte in die Analyse eines Textabschnitts mit einzubeziehen, um so die Ganzheitlichkeit eines Textes nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Denn eine zu bruchstückhafte Herangehensweise an die Evangelien war sicher auch nicht das Ziel der damaligen Verfasser.
Unter diesen Maßgaben soll im Folgenden die Perikope von der Heilung eines Blinden bei Jericho (Mk 10, 46-52) exegetisch untersucht werden. Dieser Text scheint mir dazu besonders gut geeignet zu sein, da er nicht nur thematisch eine wichtige Rolle innerhalb des Markusevangeliums spielt, sondern mich auch persönlich sehr berührt. Der erstaunliche Glaube des Bettlers, der die Macht hat, Wunder geschehen zu lassen, wirkt auf mich sehr eindringlich und ergreifend. Mit Hilfe der historisch-kritischen Methode sollen Besonderheiten entdeckt, Zusammenhänge erkannt und erschlossen und der Entstehungshintergrund näher beleuchtet werden. Die dabei vollzogenen Schritte sind: Literarkritik, Synoptische Quellenkritik, Formgeschichte und Redaktionsgeschichte. Außerdem sollen am Ende der Arbeit auch neuere exegetische Ansätze wie die psychologische Bibelauslegung Beachtung finden.
Auf eine textkritische Analyse der Perikope wird verzichtet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Übersetzungsvergleich
3. Literarkritik
3.1 Abgrenzung des Textes
3.2 Kontextstellung
3.3 Textaufbau
3.4 Einheitlichkeit des Textes
4. Synoptische Quellenkritik
4.1 Vergleich mit Mt 20, 29-34
4.2 Vergleich mit Lk 18, 35-43
5. Formgeschichte
5.1 Gattungsbestimmung
5.2 Überlieferungsgeschichte und der „Sitz im Leben“
5.3 Traditionsgeschichte
6. Redaktionsgeschichte
6.1 Funktion der Perikope innerhalb des Markusevangeliums
6.2 Die redaktionelle Überarbeitung der ursprünglichen Geschichte
7. Methodische Weiterentwicklungen
7.1 New Literary Criticism
7.2 Psychologische Bibelauslegung
7.3 Mythische Rationalität im Neuen Testament
8. Abschließende Bemerkung
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Aufgabe der neutestamentlichen Exegese liegt darin, „zu einem tieferen Verständnis des Gotteswortes zu führen, wie es sich in der geschichtsgebundenen Gestalt des Neuen Testaments darbietet, dessen theologischen Gehalt zu erfassen und seine Botschaft für den heutigen Menschen zum Sprechen zu bringen.“[1] Als Mittel zur Erfüllung dieser dreifachen Aufgabe hat sich seit der Aufklärung das Instrumentarium der historisch-kritischen Methode herausgebildet, die überall dort angewendet wird, wo schriftlich überlieferte Traditionen in mehreren, voneinander abweichenden Varianten vorliegen oder wo ein Prozess der Verschriftlichung von paralleler mündlicher Überlieferung begleitet wird. Bei dieser Herangehensweise kommt es darauf an, alle in Frage kommenden Fakten mit nachvollziehbaren Methoden zu überprüfen, die den eigentlichen Sinn eines bestimmten Textabschnitts näher beleuchten sollen. Dabei ist die historisch-kritische Methode „weder voraussetzungslos noch unveränderlich“.[2]
Kritisiert wird häufig die zu hohe Wissenschaftlichkeit dieser Methode; Wissenschaft und Glaube werden oft als Gegensätze aufgefasst. Grundlage dieser Kritik ist die Vorstellung, dass die Wissenschaft sichere, weil beweisbare Ergebnisse hervorbringe, während es auf religiöser Ebene nichts Beweisbares gebe. Wissenschaft müsse wertneutral betrieben werden, während Glaube und Religion auf einer subjektiven Ebene basieren. Von solchen Vorstellungen sind auch viele Bibelwissenschaftlicher nicht frei, sondern scheinen diese sogar bewusst zu einem Prinzip zu erheben. Dabei empfinden sie die Maxime „Zurück zu den Quellen!“ als eine befreiende Botschaft, durch die sie vorurteilsfrei und ohne Bindung an dogmatische Grundsätze ans Werk gehen können. Auf diese Weise glaubt die Bibelwissenschaft zu fundierteren Ergebnissen zu gelangen, da ihr heute auch bei weitem mehr sachkundliche Voraussetzungen zur Verfügung stehen als noch zu früheren Zeiten.
Jedoch gibt es auch in den Evangelien vieles, wo auch die rationale Wissenschaftlichkeit versagt. So zum Beispiel die Zeugung Jesu durch den Heiligen Geist, Jesu Wundertaten und schließlich seine Auferstehung und Himmelfahrt. Um auch diese Aspekte in der Exegese in angemessener Form zu berücksichtigen, muss sich der Exeget selbst vor allem zunächst als Christ und nicht als Wissenschaftler verstehen. Um Jesus exegetisch beschreiben zu können, muss er sich zuerst darüber klar werden, welche Bedeutung die Person Jesus Christus in seinem Leben einnimmt. Nur so ist es möglich, auch beispielsweise mythische Aspekte in die Analyse eines Textabschnitts mit einzubeziehen, um so die Ganzheitlichkeit eines Textes nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Denn eine zu bruchstückhafte Herangehensweise an die Evangelien war sicher auch nicht das Ziel der damaligen Verfasser.[3]
Unter diesen Maßgaben soll im Folgenden die Perikope von der Heilung eines Blinden bei Jericho (Mk 10, 46-52) exegetisch untersucht werden. Dieser Text scheint mir dazu besonders gut geeignet zu sein, da er nicht nur thematisch eine wichtige Rolle innerhalb des Markusevangeliums spielt, sondern mich auch persönlich sehr berührt. Der erstaunliche Glaube des Bettlers, der die Macht hat, Wunder geschehen zu lassen, wirkt auf mich sehr eindringlich und ergreifend. Mit Hilfe der historisch-kritischen Methode sollen Besonderheiten entdeckt, Zusammenhänge erkannt und erschlossen und der Entstehungshintergrund näher beleuchtet werden. Die dabei vollzogenen Schritte sind: Literarkritik, Synoptische Quellenkritik, Formgeschichte und Redaktionsgeschichte. Außerdem sollen am Ende der Arbeit auch neuere exegetische Ansätze wie die psychologische Bibelauslegung Beachtung finden.
Auf eine textkritische Analyse der Perikope wird verzichtet. Dies geschieht vor allem aus dem Grund, da ich noch keine ausreichenden Kenntnisse über die Herangehensweise an diese Form der Textanalyse besitze. Außerdem verfüge ich momentan nur über geringe Grundkenntnisse der griechischen Sprache, die mir eine solche Form der Betrachtung nicht erlauben. Ersatzweise soll im Folgenden allerdings ein Übersetzungsvergleich vorgenommen werden, der den griechischen Text des Novum Testamentum Graece von Nestle-Aland[4] als Grundlage hat und an welchem die Lutherübersetzung von 1984[5], die Einheitsübersetzung von 1979[6] sowie die Schlachter-Übersetzung von 2002[7] nachvollzogen werden sollen.
2. Übersetzungsvergleich
Innerhalb der Textkritik wird versucht, anhand der vielen Textüberlieferungen den ursprünglichen Wortlaut eines Textes wiederherzustellen. Dieser Teil der vorliegenden Arbeit beschränkt sich jedoch darauf, einzelne Bibelübersetzungen anhand des griechischen Textes von Nestle-Aland nachzuvollziehen. Auf diese Weise sollen interpretationsbedürftige Begriffe und Textstellen dargelegt werden. Dies birgt in sich schon einige Schwierigkeiten, da im Griechischen, genauso wie im Deutschen, ein Wort verschiedene Bedeutungen haben kann. So ist es nur schwer möglich, ein Wort nach Bedeutung und Grammatik als besser bzw. schlechter übersetzt zu bewerten. Es sollen daher nur einige Auffälligkeiten herausgehoben werden.
Eberhard Nestle verzichtete in seinem 1898 veröffentlichten Novum Testamentum Graece auf eine eigene griechische Textfassung, sondern „legte seiner Ausgabe die drei großen wissenschaftlichen Editionen des 19. Jahrhunderts zugrunde, nämlich Tischendorf (T), Westcott-Hort (H) und zunächst R. F. Weymouth, an dessen Stelle seit der 3. Auflage (1901) die Ausgabe von B. Weiß (W) trat.“[8] Er schuf damit einen „modernen ‚textus receptus’“[9] und stellte so für die Textkritik einen erheblichen Fortschritt dar.
Martin Luther hielt sich bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments an die griechische NT-Ausgabe des holländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam (1469 – 1536). Luther selbst revidierte bis zu seinem Tod immer wieder den Text. Nach seinem Tod wagte die Evangelische Kirche lange Zeit nicht, den Text zu verändern. Erst Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr der Text eine notwendige Revision. 1984 wurde schließlich die dritte Revision von der Evangelischen Kirche akzeptiert, die unter anderem die Namensschreibung über die ganze Bibel neu regelt.[10]
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Lutherübersetzung weitgehend genau mit dem griechischen Text von Nestle-Aland übereinstimmt. Jedoch ist auffällig, dass das Verb ερχονται[11] (V. 46) in der Lutherbibel mit „sie kamen“ wiedergegeben wird, obwohl die Übersetzung im Präsens genauer wäre. Womöglich hängt die Wiedergabe des Verbs im Präteritum aber mit der zeitlichen Angleichung an die anderen Verbformen im Text zusammen.
Anders sieht es da schon in der Einheitsübersetzung von 1979 aus. Die Einheitsübersetzung ist eine ökumenische Bibelübersetzung ins Deutsche, die 1962 bis 1980 von katholischen und evangelischen Theologen erarbeitet wurde.[12] An ihr lässt sich der griechische Text von Nestle-Aland weniger gut nachvollziehen. Auch hier wird das Verb ερχονται (V. 46) im Präteritum übersetzt. Weiterhin ist auffällig, dass das Wort και, das im griechischen Text jeweils einleitend am Versanfang steht, in der Einheitsübersetzung überhaupt nicht berücksichtigt wird. Auch der Anfang des Verses 48 wird nicht exakt wiedergegeben. Steht in der Einheitsübersetzung: „Viele wurden ärgerlich und befahlen im zu schweigen“, so steht im griechischen Text bloß: και επετιμων αυτω πολλοι ινα σιωπηση. Das Wort „ärgerlich“ taucht hier nicht auf und muss daher als eine Hinzufügung seitens der Einheitsübersetzung bewertet werden, zumal dieses Adjektiv weder in der Lutherübersetzung noch in der Schlachter-Bibel wiedergegeben wird. Daneben ist auch V. 51 nicht wörtlich aus dem Griechischen übersetzt. Hier wurde, wahrscheinlich, um der besseren Verständlichkeit Willen, drastisch gekürzt. Beispielsweise wurde aus και αποκριθεις αυτω ο Іησους ειπεν bloß: „Und Jesus fragte ihn“.
Die Schlachter-Bibel von Franz Eugen Schlachter (1859 – 1911) ist sinngemäß urtextgenau, oft sogar konkordant, aber an vielen Stellen auch dynamisch gleichwertig, so dass eine gut verständliche, sprachlich schöne und doch urtextgenaue Übersetzung entstanden ist.[13] Auffällig ist hier, dass das Wort ερχονται (V. 46) nicht, wie in der Luther- und Einheitsübersetzung, im Präteritum wiedergegeben ist, sondern korrekt im Präsens. Insgesamt stimmt sie an vielen Stellen mit der Lutherübersetzung überein (vgl. z.B. V. 49b, 51b, 52b).
Obwohl es, wie schon erwähnt, viele Möglichkeiten gibt, einen griechischen Text ins Deutsche zu übertragen, soll hier trotzdem auf die Übersetzung des Verbs αναβλεπειν eingegangen werden, das in konjugierter Form in den Versen 51 und 52 auftaucht. In allen Übersetzungen wird dieses Verb mit „wieder sehen können“ übersetzt, was gleichsam die (körperliche) Heilung des Blinden voraussetzt. Ursprünglich hat dieses Wort im Griechischen aber die Bedeutung von „aufblicken“. Die Übersetzung mit „wieder sehen können“ ist also gleichsam schon eine Interpretation der jeweiligen Übersetzer. Der griechische Text setzt jedoch nicht unbedingt eine Heilung des Blinden voraus, sondern er besagt einzig und allein, dass der Blinde durch Jesus zum Glauben gefunden hat und nun wörtlich „aufblicken“ kann. Wird in den deutschen Übersetzungen also vor allem die körperliche Heilung in den Vordergrund gestellt, so lässt der griechische Text diese Möglichkeit offen.
Ich habe mich entschieden, meine Exegese auf der Übersetzung von Martin Luther[14] basieren zu lassen. Sie stimmt nicht nur weitgehend mit dem griechischen Text von Nestle-Aland überein, sondern ist meiner Ansicht nach auch die schönste Übertragung des griechischen Urtextes in die deutsche Sprache. Da ich auch bisher hauptsächlich mit der Lutherbibel gearbeitet habe, steht sie mir ungleich näher als die Einheitsübersetzung oder die Schlachter-Bibel und ist mir sprachlich wesentlich vertrauter. Bei genaueren sprachlichen Analysen werde ich in dieser Arbeit aber auch auf den griechischen Text verweisen.[15]
[...]
[1] Heinrich Zimmermann: Neutestamentliche Methodenlehre. Darstellung der historisch-kritischen Methode. Stuttgart71982. S. 17.
[2] Udo Schnelle: Einführung in die neutestamentliche Exegese. Göttingen5 2000. S. 11.
[3] Grundlage dieser Ausführungen ist der Sammelband von Hubert Frankemölle (Hrsg.): Lebendige Welt Jesu und des Neuen Testaments: eine Entdeckungsreise. Freiburg, Wien (u. a.) 2000.
[4] Kurt Aland (Hrsg.): Synopse der vier Evangelien. Griechisch-deutsche Ausgabe der Synopsis Quattuor Evangeliorum. Auf der Grundlage des Novum Testamentum Graece von Nestle-Aland, 26. Auflage, und des Greek New Testament, 3rd Edition, sowie der Lutherbibel, revidierter Text 1984, und der Einheitsübersetzung 1979. Stuttgart 1989.
[5] Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers mit Einführungen und Bildern. Revidierte Fassung 1984. Stuttgart 1999.
[6] Stuttgarter Neues Testament. Einheitsübersetzung mit Kommentar und Erklärungen. Stuttgart2 2004.
[7] John MacArthur Studienbibel. Schlachter-Version 2000. Genf 2002.
[8] Schnelle, Exegese, S. 36.
[9] Ebd.
[10] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Lutherbibel (15.04.2005)
[11] Auf die Akzentsetzung muss aus computertechnischen Gründen verzichtet werden.
[12] Vgl. http//de.wikipedia.org/wiki/Einheits%C3%BCbersetzung (15.08.2005)
[13] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Schlachter-Bibel (15.08.2005)
[14] Bibelzitate, die sich auf die Lutherbibel beziehen (vgl. Anm. 5), werden im Folgenden nicht mehr in den Fußnoten nachgewiesen.
[15] Zitate aus dem griechischen Neuen Testament beziehen sich ab sofort immer auf die Aland-Synopse (vgl. Anm. 4).
- Arbeit zitieren
- Tino Wiesinger (Autor:in), 2005, Exegese von Mk 10, 46-52: Die Heilung eines Blinden bei Jericho, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93136
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