Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Narrativ in Adieu au langage
3. Adieu au langage als Affront gegen die Sprache
3.1. Beherrschende Kraft des Bildes
3.2 Inszenierung von Gewalt als neue Form des Sehens
4. Beherrschende Kraft der Sprache
4.1 Sprache als defizitäres Instrument der Welterschließung
4.2 Dichotomie zwischen Hund und Mensch
5. Asymmetrie zwischen Sehen und Sprechen
6. Zum Verhältnis von Natur und Metapher
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
9. Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Adieu au langage, ein Film, der mit seiner kompromisslosen Direktheit den Zuschauer durch eine Tour de force einer ohrenbetäubenden Geräuschkulisse, eine Kopfschmerz erregende und Schwindel verursachende Bilderflut bugsiert, gelegentliches beklagendes Aufschreien verursacht und den Zuschauer nach durchgestandenen 71 Minuten mit einem fragenden und entsetzten Blick über das erlebte babylonische Sprachgewirr endlich aus der Vorstellung entlässt. Ein Filmwerk, welches mit größter Impertinenz Zeichen setzen und bleibende Spuren hinterlassen möchte. Diese hier beschriebene audiovisuelle Gewalt ist das Werk des einflussreichen Jahrhundertregisseurs Jean-Luc Godard, dessen Aufführung auf dem Festival de Cannes 2014 für Aufsehen sorgte und der Beleg dafür ist, dass der mittlerweile 86-Jährige - nicht wie man zunächst vermuten würde, von allen guten Geistern verlassen wurde - sondern im Gegenteil der Filmwelt noch einiges zu sagen hat und das Ergebnis seiner nicht nachlassenden geistigen Kräfte ist, die im schonungslosen und enervierenden Leinwandspektakel ihren Niederschlag finden. Nicht nur bezeugt Godard mit seinem respektablen sage und schreibe 117. Film eine intensive und unablässige Auseinandersetzung mit dem filmischen Material, auch handelt es sich bei Adieu au langage um seinen ersten 3-D Langfilm (und das als Videofilmemacher), dessen außergewöhnlicher Einsatz dem essayistischen Bilderreigen noch einen letzten Feinschliff verleiht, wodurch ein unvergessliches Rezeptionserlebnis garantiert ist.1 In seinem spielerisch-subversiven Umgang mit der 3-D-Technik schöpft Godard das Potenzial in einer bisher ungenutzten Weise aus und führt vor Augen, wie denn ein dreidimensionales Filmerlebnis aus der Sicht eines avantgardistischen Filmemachers noch aussehen kann. David Bordwell goutiert ihn als „the best new film I’ve seen this year, and the best 3D film I’ve ever seen.”2
Die folgende Arbeit versucht sich diesem elitären Kunstfilm in seiner Komplexität zu nähern und soll einen Zugang zu diesem hermetischen Film erarbeiten. Obgleich insbesondere seine jüngsten Filme wie Film Sodalisme, 3 X 3 D und allen voran Adieu au langage keine narrative und sinnhafte Kohärenz geschweige den kausal-logische Bilderfolgen erkennen lassen, sondern sich vielmehr in Form einer vielschichtigen Collage aus fragmentiertem und wie willkürlich zusammengefügtem Bild-, Schrift- und Tonmaterial darbietet, so lassen sich dennoch mit einem geschulten Auge Godards Inszenierungsmechanismen sowie deren verborgener Sinngehalt eruieren. Ziel der Arbeit wird es also sein, anhand seines neusten Filmes Adieu au langage die Mechanismen seiner Bildproduktion, sowie dessen Gestaltungskriterien zu untersuchen, die bewusst mit Sehgewohnheiten brechen zu Gunsten einer gänzlich neuen unkonventionellen Seherfahrung, die dem Auge mehr offenbart, als die bloße Sichtbarkeit der Realität. Ein Sehen, das ohne den Kamerablick unsichtbar wäre. Dies mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, da dem Zuschauer, ehe er sich versieht, der Blick gestohlen und die Sicht durch dissoziative Erzähltechnik wieder versperrt wird. Auch wird gezeigt, auf welche Weise Godard in Adieu au langage über das Medium Film selbst reflektiert, wofür seine Bilder stehen und der Logik welcher sie folgen, wenn sie aus ihrem üblichen Kontext entrissen werden. Sowohl die Sprache als Verständigungssystem, als auch Bilder werden hinsichtlich ihrer Wirkungskraft befragt und in ihrem medialen Erscheinen als störender Gewaltakt untersucht. Trotz der Polyfonie seiner Collageästhetik und dem Mangel an narrativer Kohärenz, ist die Arbeit von dem Vorhaben getrieben, sowohl die Formstruktur des Films als auch den Inhalt, soweit er sich zu erkennen gibt, in wechselseitige Beziehung zu setzen. Jedoch sei angemerkt, dass die Komplexität des Films mit all seinen Querverweisen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, weshalb an ausgewählten Szenen versucht wird Godards Intention exemplarisch zu umreißen.
2. Das Narrativ in Adieu au langage
Herauszufinden, worum es in dem kryptisch-verschlüsselten Film Adieu au langage im Konkreten geht, ist die wohl eigentlich große Herausforderung und benötigt die Bereitschaft zu einem Denkexperiment. Eine erzählerische Einheit, wie sie Godard noch zu Beginn seiner Schaffensphase mit seinen ersten Nouvelle Vague-Filmen wie Außer Atem oder Alphaville gewährleistete, löst sich mit jedem folgenden Film sukzessive auf und findet nun in Adieu au langage ihre bisherige Verdichtung.
Godard selbst skizzierte sein Filmprojekt vor der Realisierung lapidar mit den Worten: „Es ist über einen Mann und eine Frau, die nicht mehr länger die selbe Sprache sprechen. Der Hund, den sie auf Spaziergänge mitnehmen, greift dann ein und spricht. Wie ich es machen werde, weiß ich noch nicht. Der Rest ist leicht.“3 Worte, welche die kaum zu überblickende Komplexität seines Filmes in ihrer Konkretion deutlich abzuwiegeln scheinen. Nicht nur wirkt Adieu au langage wie ein zusammenhangsloses Konglomerat aus Bilder, Schrift und Ton, deren Gleichzeitigkeit den Zuschauer regelrecht erschlägt, auch prasselt erschwerender Weise ein mannigfaltiger Assoziationsraum aus Reflexionen über Philosophie, Literatur, Politik und nicht zuletzt der Kinematographie selbst, auf den Zuschauer ein. Trotz der disparaten Bilder lassen sich streckenweise narrative Zusammenhänge erkennen, die Interpretationsansätze zulassen, sofern man den Film mindestens ein zweites Mal gesehen hat.
Beim genauen Rezipieren, zeigt sich, dass der Film in zwei Segmente aufgeteilt ist, einem Prolog und einem Hauptteil, die sich wiederum - quasi als Doppelstruktur - in zwei Abschnitte teilen, wobei diese Teilung in „1 La nature“ (TC 00:01:24) und „2 La métaphore“ (TC 00:10:42) aufgrund ihrer Heterogenität und dem radikalen Cross Cutting kaum ins Auge fällt. Zumal diese Markierungen als orientierungsstiftende Ankündigung der Kapitel im Schwarm von Schriftinserts untergehen. Insbesondere dann, wenn man irritiert feststellt, dass es sich beim zweiten Teil um eine wiederholende Variation des ersten Teils handelt und dass auch die Figuren, die sich verblüffend ähnlich sehen, plötzlich mit anderen Schauspielern besetzt sind. In beiden Teilen wird jeweils ein Paar gezeigt, (Josette und Gédéon im ersten und Ivitch und Marcus im zweiten Teil) deren Beziehungen sich jeweils am emotionalen Gefrierpunkt befinden. Was die Figuren eigentlich miteinander verbindet und welches die Auslöser für ihre Konflikte sind, bleibt im Film unerwähnt.
Gewiss ist - die Sprache als Verständigungsmittel funktioniert bei beiden nicht mehr: Sie reden schwermütig aneinander vorbei, diskutieren über Gerechtigkeit bis Blut fließt, ringen verzweifelt nach Sinn und suchen philosophisch nach Antworten. Einzig der zugelaufene Hund, dessen einsame streunende Spaziergänge durch die Natur von Beginn an die Filmhandlung regelmäßig unterbrechen, scheint wieder so etwas wie Nähe in die Beziehung zu bringen. Dazwischen wechseln die Jahreszeiten sowie die Landschaftsbilder gepaart mit Spuren der Zivilisation wie verpixelte und in Fehlfarben gedrehte Autofahrten, ein an- und ablegendes Kreuzfahrtschiff, ein mit Touristen gefüllter Hafen. Neben diesen Impressionen, gibt es einen weiteren Schauplatz, der im Zusammenhang mit dem Konflikt der Paare auftaucht.
So zeigt der Beginn des Filmes einen Bücherstand, um den sich der Philosoph Davidson und zwei seiner Studenten versammelt haben, deren intellektuelles Schwadronieren jedoch von einem Gewaltakt unterbrochen wird, als aus einem Mercedes, dem deutschen Klischee nach, ein schroffer Anzugträger die Figur Josette, aller Wahrscheinlichkeit nach seine ExFrau, auf deutsch mit „ich mach dich fertig du Nutte“ (TC 00:09:24) beschimpft und sie körperlich bedrängt. Es fallen Schüsse, die, wie sich erst viel später in einer Rückblende herausstellt, jemanden anderes verwundet haben. Dieses Szenario, das gewissermaßen als Prolog des Films fungiert, bildet den Auslöser und Auftakt für die Beziehung zwischen Josette und Gédéon, der das Geschehen beobachtet und sich daraufhin Josette mit „I am in your command“ anbietet (TC 00:10:40). Auch diese Szene wird als Erzähleinheit zum wiederholten Male in einer Variation gezeigt, diesmal jedoch mit der Besetzung Ivitch, während der gewalttätige deutsche Ehemann gleich besetzt bleibt. Die chaotische Sprunghaftigkeit der Szenen weiter anreichemd, bedient sich Godards Erzählung noch Archivmaterialien aus der Kriegsgeschichte, etwa Hitlers Luftwaffe, sowie Filmklassikern aus der frühen Hollywoodära, die sich ebenso kontrastierend gegenüberstehen.
3. Adieu au langage als Affront gegen die Sprache
So willkürlich sein Film sich dem Zuschauer darbietet, so abgeklärt und zielorientiert laufen seine Bilder auf die beabsichtigte Botschaft hinaus. Die Sprache als Bedeutungsträger und Verständigungsmittel ist unzuverlässig und das in doppelter Weise.
Weder unter den Figuren scheint das Zeichensystem zum common sense beizutragen, noch auf der Formebene des Films, die das Handlungsgeschehen reflektiert, kann die Kluft zwischen dem filmischen Medium und dem Zuschauer überbrückt werden. Bereits die ersten Minuten des Vorspanns geben Aufschluss über den Diskurs des Filmes und antizipieren die radikale Erzähltechnik Godards, die den bilderübergreifenden Zusammenhang auf der Leinwand regelrecht zu zerreißen droht und sich stattdessen einer Heterogenität des filmischen Materials verschrieben hat. Der Vorspann beginnt bereits mit Black Screens, vor dessen Hin tergrund französische Zitate einschließlich englischer Übersetzung eingestreut werden.
Abbildung 1
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Bereits das erste Zitat „Those lacking imaginations take refuge in reality“ (Vgl. Abb. 1) präfiguriert Godards performative Technik des Bildentzuges, die im Folgenden dem Imaginieren des Zuschauer und dem im- mersiven Eintritt in die filmische Narration ohne Unterlass unterlaufen. Damit unterstellt er gleichzeitig seinem dissoziativen Einsatz von Bildern, die Zuflucht in der Realität suchen, einen höheren Wahrheitsgehalt und signalisiert mit der dargebotenen Bildergewalt seine Abwehrhaltung gegenüber der Verführungskraft von Bildern im allgemeinen. Anschließend erscheint in leuchtendem Rot, unterstützt durch eine momenthafte dramatische Streichorchester- passage das Wort „Adieu“, dessen alarmierendes Aufscheinen mit gleichzeitigem Ertönen der Musik als ein deutliches Warnsignal auf die bevorstehende Seherfahrung aufzufassen ist. Darauf schließt ein weiteres Zitat an ,,if non-thought contaminates thought“, gefolgt von ,,It was the best time we ever had“ (TC 00:00:23).
An dieser Stelle wird sichtbar, worauf das „Adieu“ Bezug zu nehmen scheint. Wirken die letzten Worte wie ein nostalgischer Seufzer nach der einstigen Jugend, greift dieser Ausruf noch tiefer in die Vergangenheit. Es handelt es sich wohl um eine Zeit, in der der Mensch noch mit sich im Einklang war. Eine Zeit, in der die Sprache noch ihre Funktion erfüllte und im Stande war, die Wirklichkeit abzubilden, bevor dass saussuresche Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat zu bröckeln begann. Godard spielt hier aller Voraussicht nach auf die ontologische Philosophie an, in der noch im aristotelischen Sinne eine Strukturanalogie zwischen Sprache und Wirklichkeit konstatiert wurde.4 Diese Brücke, die die Sprache noch zur Seinsebene zu schlagen vermochte, zerschlägt Godard nun in Adieu au langage völlig. War die Sprache bei Aristoteles noch der Schlüssel zur Wirklichkeit, führt Godard im Sinne Platons nun eine spürbare Diskrepanz zwischen Sprache und Realität vor.
Adieu au langage ist selbst als sprachlicher Gewaltakt zu verstehen, der sowohl den Bildern als auch den Worten ihr Verständnis raubt und jegliches sprachliche Instrument der Verständigung auf den Kopf stellt. Godard, der sich seit Beginn seines filmischen Schaffens von der „realistischen“ Erzählweise der Illusionsmaschinerie Hollywoods distanziert, dessen Filmsprache sich der Realität unterordnet und die Grenze zwischen Realität und Abbildung tilgt, schöpft das Potenzial des Films aus dem subversiven Reservoir des technischen Mediums, um auf den Prozess der Herstellung von Realität zu verweisen. Sein Augenmerk richtet er damit im Kant'schen Sinne auf die Bedingung der Möglichkeit von Erzählen, worin er Kategorien wie Wahrheit und Erkenntnis als Konstrukte zu enthüllen sucht.5 Es ist also nur konsequent, dass er die postulierte Transparenz des filmischen Mediums, die heimtückisch und ideologisch eine Scheinrealität für sich beansprucht, unter Beschuss nimmt.
Dem Abbildungswahn, der zur Zeit in der Illusionstechnik des Dreidimensionalen gipfelt, unterstellt Godard ein Machtpotenzial, dessen manipulative Kraft Bilder an die Stelle der Realität setzt und den Zuschauer immersiv zu beherrschen sucht. Gleichwohl weist Godard in seinem filmischem OEuvre unermüdlich darauf hin, dass die Realität schon immer aus mehreren Einstellungen besteht und als Spannungsverhältnis von Konkretion und Abstraktion zu begrei- fen ist.6 Demgegenüber birgt ein Abklatsch der Wirklichkeit die Gefahr, herrschende Machtstrukturen zu reproduzieren und alternative Sichtweisen zu versperren. Godards filmische Verfahrensweise folgt damit ganz klar poststrukturalistischen Methoden, insofern er hartnäckig an den Grundfesten filmischer Konventionen rüttelt und in seiner sogenannten Archäologie der Bilder auf die Produktion von Bedeutungen aufmerksam macht.
Wie in Adieu au langage sichtbar wird, subsumiert Godard unter Sprache die komplette Semiotik des Films, die von Bildern über Schrift bis hin zum Ton ihre Verwendung findet. All diese heterogenen Gestaltungsformen lässt er in ihrer Synchronizität, kraft der Montagetechnik kollidieren und begreift sie in ihrer polyphonen Synergiekraft als Waffe gegen festgefahrene Sehgewohnheiten, die das Ergebnis filmischer Konventionen sind.
3.1. Beherrschende Kraft des Bildes
Dergestalt wird auch der Zuschauer, dem nicht Kohärenz und Harmonie zum Konsum entgegengebracht wird, mit einer ausnahmslos disharmonischen und enervierenden Bild- und Tongewalt konfrontiert. Godard erteilt der Sprache eine Absage, aber nicht nur auf der Gestaltungsebene des Discourse in Form einer essayistischen Collage, sondern lässt die Spannungen auch auf der Ebene der Histoire zwischenmenschlich austragen, sodass selbst Form und Inhalt in Adieu au langage eine konfliktreiche Wechselbeziehung eingehen und sich gegenseitig kommentieren.
So nimmt sich der Film ausschließlich Konflikte zum Narrativ, wie das kommunikative Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen und das in Kombination mit regelmäßigem Einstreuen echter Kriegsszenarien. Gleich die erste erzählerische Sequenz einer zwischenmenschlichen Interaktion, die nach der Einblendung disjunktiver Kriegsbilder folgt, zeigt eine etwas merkwürdig versetzte zwischenmenschliche Kommunikation. Schauplatz bildet wiederum der bereits erwähnte Bücherstand (Vgl. Abb.2). Die Bilder zeigen den Professor Davidson anmutig im philosophischen Werk blätternd und Isabelle, vermutlich seine Studentin, die wie ein Hascheri versetzt hinter ihm sitzt und auf ihr Smartphone starrt.
Deren Abstand zueinander wird nicht nur räumlich markiert, in dem der Professor bildfüllend platziert ist und sie im Verhältnis zu seinem Körper winzig schräg hinter ihm herausragt, sondern wird auch durch die Wahl des Mediums signalisiert, das eine intellektuelle Diskrepanz erzeugt.
Während sie googelt, macht er auf seine Entdeckung des Subtitels „experiment in literary investigastion“ (TC 00:02:40) in Solzhenitsyns Hauptwerk Der Archipel Gulag aufmerksam, welcher gleichzeitig auf der Metaebene auf die investigative Buchanalyse des Professors aufmerksam macht, im Unterschied zur passiven Bedienung der Suchmaschine Google. Hier zeigt sich bereits eine medienbedingte Diskrepanz in der Möglichkeit von Wissensaneignung, die selbstverständlich auch hermeneutische Veränderungen in der Erschließung von Wissen zur Folge hat. So scheint ein verändertes Kommunikationsverhalten mit dem symbolisch ausgetragenen Widerstreit zwischen Schrift und digitaler Technik, einherzugehen. Als er versucht sie in seine Entdeckung des Subtitels einzuweihen, starrt er jedoch unentwegt in sein Buch und kommentiert stattdessen lakonisch, dass sie es nicht zu googeln brauchte, denn schließlich hat es der russische Schriftsteller Solzhenitsyn auch ohne Hilfe Googles geschafft. Mit dem Finger auf den Titel klopfend ruft er sie, ihre Unaufmerksamkeit ermahnend, zu sich. Ihre Interaktion wirkt sehr unnatürlich und angespannt. So macht sie sich tatsächlich die Mühe aufzustehen, um den Titel etwas stockend und rein reproduzierend vorzulesen um sich daraufhin wieder hinzusetzen und sich erneut ihrem Smartphone zu widmen.
Ein etwas merkwürdiger, aber raffinierter philosophischer Dialog zwischen den beiden über den Einsatz des Daumens umreißt in Form einer Metapher den veränderten Medienkonsum und seine Folgen (TC 00:02:57).
D: What does it do?
I: I don't understand.
D: The thumb. What does it do?
I: It thumbed.
D: What did it do before?
I: It thumbed.
D: So it's Little Thumb.
I: That's one way of putting it.
D: And to mark the trail?
I: Pebbles.
D: Where is the ogre?
Abbildung 2
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Anhand dieser raffinierten Analogie vollzieht Godard auf diegetischer Ebene einen Affront gegen die den Menschen beherrschende Technik. Waren es noch Steine, die der literarischen Figur des kleinen Däumlings im Märchen von Charles Perrault, als Grundlage für Bewegung dienten, sind es im digitalen Zeitalter die Bilder, die dem Daumen als Oberfläche fungieren. Seine Botschaft wird hier offensichtlich: Er kritisiert den Technikwahn als Ausgeburt des Kapitalismus und macht mit der Metapher des Menschenfressers „Ogre“ darauf aufmerksam, dass nicht der Mensch Herr über die Technik ist, sondern sie umgekehrt uns beherrscht. Dem korrespondiert auf der Gestaltungsebene, im Gleichtakt mit der Erwähnung des Menschenfressers, ein Black Screen, aus dessen dunkler Tiefe Tschaikowskys bedrohlicher und düsterer slawischer Marsch ertönt (TC 00:03:32).
In einem Interview mit der Zeitung Die Zeit stellt Godard einen Vergleich zwischen seinem alten Tastentelefon und der Beziehung zwischen Herrchen und Hund an. Im Gegensatz zum Smartphone, hat Godard beim Tippen auf seinem Apparat nicht den Eindruck, dass er beherrscht wird, sondern konstatiert entsprechend der gemeinsamen Leine, die Herrchen und Hund verbinden, „zwei Herren oder zwei Sklaven“7, während er der Beziehung zwischen Mensch und Smartphone ein einseitiges Dominanzverhältnis unterstellt. Dies allerdings nicht durch die Substitution mechanischer Tasten durch virtuelle, sondern durch die Macht des Bildes, des Bildschirmes.
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Abbildung 3
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Abbildung 4
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Es wundert daher nicht, weshalb gerade sein Hund namens Roxy Miéville der eigentliche Protagonist im Film ist. Diese eben beschriebene asymmetrisch anmutende Kommunikation, die das Ergebnis technischer Vereinnahmung ist, manifestiert sich auch in Godards medienreflexiver Bildgestaltung. So fixiert die Kamera bildimmanent das Display Isabelles, als sie Bilder des Schriftstellers Solzhenitsyn in einem Bilderverzeichnis nacheinander betrachtet (Vgl. Abb. 3, TC 00:03:46) und wechselt synchron zur Daumenbewegung, die Smartphonenutzung imitierend, zur neuen Einstellungsszene, in der wieder Medien ertastende Finger, insbesonde re der Daumen, zum Einsatz kommen.
Hier zeigt sich Godards Vorliebe zu schrägen Kameraperspektiven, Figuren aus ungewöhnlichen Winkeln abzufilmen oder gar ihren Kopf aus dem Bildkader herauszuschneiden (Vgl. Abb. 4, TC 00:03:59). Gerade diese Verkehrung konventioneller Blickverhältnisse durch die Kamera konterkariert das ebenso merkwürdige Kommunikationsverhalten der Figuren, die anstelle einer Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, pantomimenhaft und plakativ zur Schau stellend ihre Smartphones hin und her tauschen, während die Studentin sämtliche Bücher lesend abtastet. Umso aufschlussreicher erweisen sich jedoch Bücher, sprich Literatur, als Godards intermediale Referenz, welche die Situation gewissermaßen kommentieren. Ist man mit Godards Erzähltechnik vertraut, so weiß man, dass sämtliche literarischen und philosophischen Zitate nie willkürlich platziert, sondern die Handlung intermedial perspektivieren. Bezeichnenderweise greift die Studentin gerade zum einflussreichen Werk Dostojewskis, „die Dämonen“8, der darin den totalitären Geist der westlichen Zivilisation kritisiert und seine Verachtungen gegenüber deren Machtstreben und Zerstörungslust zum Ausdruck bringt.
Ein weiteres einschlägiges Werk, das sie zur Hand nimmt, ist das poststrukturalistische Werk des französischen Philosophen Emmanuel Levinans, Die Zeit und das Andere (TC 00:04:15)9, der darin eine Ethik der unausweichlichen Asymmetrie zwischenmenschlicher Beziehung zum Anderen postuliert, wonach die Akzeptanz des Anderen und seine Bejahung nur in einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht sowie in einer Verbalisierung als den entscheidenden Moment, erfolgen kann. Diese Gedanken werden in der Beziehung zwischen Josette und Gédéon nochmals aufgegriffen, als Gédéon mehrmals hintereinander, ohne Resonanz zu erhalten, den Satz ,,If being face to face invents language“ betont, selbst aber Abstand zu Josette behält, die Kamera stattdessen ein sich gegenüberstehendes Liebespaar im Fernseher fixiert ( Vgl. Abb. 5, TC 00:30:20).
[...]
1 Beatrice Behn: Adieu au langage. 22.05.2014. In: Kino-Zeit. [Online verfügbar]
2 David Bordwell und Kristin Thompson: Adieu au langage: 2+2x3D. 07.09.2014. In: Observation on filmart. [Online verfügbar]
3 Jean-Luc Godard entdecken. 1980 - 2014. Kommentierte Filmografie. Vorlesung am 13.6.12. In: 24 short films about design. [Online verfügbar]
4 Nikola Kompa: Handbuch Sprachphilosophie. Stuttgart 2015. S. lf.
5 Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschunq bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard. Bielefeld 2015. S. 64.
6 Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harum Farocki und Jean-Luc Godard. Bielefeld 2015. S. 162.
7 Katja Nicodemus: Es kommt mir obszön vor. Interview mit Jean-Luc Godard. 06.10.2011. [Online verfügbar]
8 Fjodor Dostojewskij: Die Dämonen. Aus dem Russischen von Hermann Röhl. Köln 2012.
9 Emmanuel Levinans: Die Zeit und der Andere. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. Hamburg 2003.