Ein Ausweg aus der Legitimationskrise der Demokratie? Hannah Arendts Revolutionstheorie im Kontext der Theorie der Postdemokratie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

32 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Theorie der Postdemokratie
2.1 Von der Kritik am Neoliberalismus zur Postdemokratie-Theorie
2.1.1 Die Parabel der Demokratie
2.1.2 Die Hegemonie des Neoliberalismus
2.2 Der Ertrag der Theorie der Postdemokratie

3. Zum Machtkonzept in der Vita Activa
3.1 Das Handeln und die Pluralität
3.2 Die Öffentlichkeit und ihre Durchdringung durch private und öffentliche Interessen

4. Zum Arendtschen Revolutionsbegriff
4.1 Die Unterscheidung zwischen Freiheit und Befreiung
4.2 Der Mayflower-Pakt
4.3 Die Sicherung der politischen Freiheit
4.4 Der Ertrag der Vita Activa und der Arendtschen Revolutionstheorie

5. Zum freiheitlichen Republikanismus
5.1 Repräsentation als Problem der institutionalisierten Freiheit
5.2 Die Räterepublik

6 Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In Europa präsentieren derzeit rechtsorientierte Parteien identitäre Lösungen für die von ihnen postulierte Legitimationskrise der liberalen Demokratie. Vor diesem Hintergrund scheint eine Auseinandersetzung mit der Kritik am Neoliberalismus relevant. Vor allem der Postdemokratie-Diskurs gibt hierfür wichtige Anhaltspunkte aus dem Bereich der Kritischen Theorie.

Der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch (geb. 1944) ist ein wichtiger Vertreter des Postdemokratie-Diskurses und bekannter Kritiker des Neoliberalismus. Sein Werk „Die Theorie der Postdemokratie“ (2008) (TdP) gilt als Klassiker der Zeitdiagnose des 21. Jahrhunderts. Crouch analysiert die Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Demokratie und legt dabei Defizite der modernen westlichen Demokratien frei.1

Mit seiner These der Postdemokratie kann er in das Denken von Jacques Rancière und Sheldon Wolin eingereiht werden (Ritzi 2014: 11). Kernargument seiner Theorie ist, dass die demokratischen Verfahren im Zuge der Neoliberalisierung der Demokratie unglaubwürdig geworden sind. In der Postdemokratie werden nach seinem Verständnis demokratische Verfahren durch die Machtspiele einflussreicher Lobbyisten ausgehöhlt. Die Politik wird demnach hinter verschlossenen Türen betrieben und trägt so zur Apathie und Depolitisierung breiter Bevölkerungsschichten bei. Dies führt Crouch zufolge dazu, dass die westlichen Demokratien aufgrund der fehlenden Intervention der Staaten in die kapitalistische Ökonomie unpolitisch werden (Meyer 2011: 1).

Die These dieser Arbeit lautet, dass nicht, wie von Colin Crouch behauptet, externe Kräfte für die Legitimationskrise der Demokratie verantwortlich sind, sondern ein Verständnis von Demokratie, welches ihr Versprechen von Einheit in Verbindung mit der Selbstbestimmung des Volkes in sein Gegenteil verkehrt hat. Um dies aufzuzeigen, stellt die Arbeit die Theorie Crouchs in den Kontext der politischen Philosophie Hannah Arendts (geb. 14. Oktober 1906, gest. 4. Dezember 1975).

Hannah Arendts Denken und Wirken waren geprägt von den Erfahrungen des Totalitarismus zur Zeit des Dritten Reiches. Ihre Philosophie wurde von der Existenzphilosophie in der Tradition Karl Jaspers und Martin Heideggers begründet. So verweist ihr Denken auf das Selbst als einzigartige Quelle der Freiheit (Trwawny 2012: 45f.). Den Menschen begreift sie über sein Handeln und die Welt wie auch die in ihr existierenden politischen Ordnungen als eine öffentliche Angelegenheit (Breier 2001: 9). Zwei ihrer Werke sind für diese Arbeit leitend:

In dem 1958 erschienenen Werk „Vita Activa“ (2016) (VA) unterscheidet Hannah Arendt zwischen dem Raum des Öffentlichen und dem Bereich des Privaten und analysiert das menschliche Handeln. In „Über die Revolution“ (2015) (ÜdR), das 1963 erschien, beschreibt sie einen Idealtypus der Revolution, der auf zwei Kernelementen ihrer politischen Philosophie gründet: die Macht des Handelns und die politische Freiheit. Beiden Werken sind ihre Kritik an der Moderne und ihre Diagnose der Weltentfremdung gemein.

Die Arbeit argumentiert auf Grundlage der beiden genannten Werke Arendts, dass die Volksrepräsentation durch Parteien zu einer sinkenden Qualität der Demokratie geführt hat. Indem die Arbeit Arendts Begriffe der Macht und der politischen Freiheit näher beleuchtet, sollen Crouchs These des endgültigen Verlustes des Politischen in der Postdemokratie widersprochen und zudem Auswege aus der postulierten Legitimationskrise der Demokratie aufgezeigt werden.

Die Arbeit gliedert sich in sechs Abschnitte. An die Einleitung anschließend zeigt der zweite Teil die Theorie der Postdemokratie von Crouch auf. Die Teile drei, vier und fünf beziehen sich auf die politische Philosophie Arendts. Der dritte Teil zeigt die grundlegenden Konzepte Handeln, Pluralität und Öffentlichkeit entlang der VA auf. Sie sind wichtig, um die im vierten Teil diskutierte Arendtsche Revolutionstheorie mit ihren Paradigmen von Macht und politscher Freiheit zu verstehen. Diese führen über in den fünften Teil, welcher Arendts Idee des freiheitlichen Republikanismus als möglichen Ausweg aus der Legitimationskrise der Demokratie erläutert. Der sechste Teil bietet eine Zusammenfassung der Ergebnisse und das Fazit.

Neben den Quellen stammt wichtige Literatur unter anderem von Meyer (2011), Ritzi (2014) und Wöhl (2011). Alle drei geben vertiefende Einblicke in die Theorie der Postdemokratie. Kräuter (2009), Meints (2012) und Meyer (2013) geben Auskunft über das Machtkonzept von Arendt. Altaus (2000) und Brunkhorst (2007) zeigen vertiefende Einblicke in ihre politische Philosophie. Die Textsammlungen von Breier und Gantschow (2012) sowie von Thiel und Volk (2016) wie auch die Beiträge von Roviello (1997) und Bonacker (2015) geben wichtige Einblicke in Arendts Revolutionstheorie sowie in ihr Konzept des freiheitlichen Republikanismus. Hidalgo (2014) gibt in einem umfassenden Werk Auskunft über die Antinomien der Demokratie, wobei er Arendts politische Philosophie sowie Crouchs Theorie der Postdemokratie auf diese bezieht.

2. Zur Theorie der Postdemokratie

Der folgende Teil bezieht sich auf Gegenwartsdiagnosen und diskutiert die Auswirkungen des Neoliberalismus auf die liberalen westlichen Demokratien. Aufgrund des Umfangs der Arbeit wird die TdP nur fragmentarisch dargestellt. Um den Transformationsprozess der Demokratie zu verdeutlichen, liegt das Hauptaugenmerk auf der von Crouch verwendeten Parabel der Demokratie. Anschließend daran wird argumentiert, dass die These der Postdemokratie nicht haltbar ist.

2.1 Von der Kritik am Neoliberalismus zur Postdemokratie-Theorie

Um Crouchs Kritik am Neoliberalismus zu untersuchen, ist es unerlässlich, zunächst Liberalismus genauer zu bestimmen. Jean-Claude Michéa fasst die liberalen Prinzipien unter dem Begriff des politischen Liberalismus folgendermaßen zusammen:

„In einer liberalen Gesellschaft steht es demnach dem Einzelnen frei, den Lebensstil zu verfolgen, den er mit seiner Vorstellung von Pflicht (sofern er eine solche besitzt) und Glück am besten für vereinbar hält, mit der einzigen Einschränkung natürlich, dass seine Entscheidungen nicht die entsprechende Freiheit der anderen beeinträchtigen dürfe.“ (Michéa 2017: 33)

Liberale Gesellschaften orientieren sich demnach am negativen Freiheitsbegriff. Damit einher gehen zwei Prinzipien: die zentrale Rolle von Rechten und Institutionen sowie die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre. Das Politikverständnis ist staatszentriert und der den Staat konstituierenden Verfassung wird eine hohe Bedeutung beigemessen. Der Staat sichert die Durchsetzung von Grundrechten und Privatinteressen in einer nach den Marktprinzipien organisierten Gesellschaft (Ottmann 2006: 317.).

Eine liberal und repräsentativ verstandene Demokratie steht für das Versprechen auf individuelle Freiheitsrechte und formale politische Gleichheit (Wöhl 2011: 37). Die Partizipation des Volkes geschieht allein durch Wahlen, wobei sich die Wahlkämpfe nicht von Marktentscheidungen oder Werbekampagnen unterscheiden. Entscheidend ist dabei, dass nicht durch, sondern für das Volk regiert wird (Ottmann 2006: 318jjj.).

Doch wie unterscheidet sich der Liberalismus vom Neoliberalismus und wie wirkt letzterer auf die liberale Demokratie ein? Kritiker bezeichnen mit dem Begriff des Neoliberalismus zunächst einen Wandel, der nationalstaatliche Demokratien seit dem Ende des Kalten Krieges mit neuen ökonomischen Ideologien und Deutungsmustern konfrontiert. Diese Ideologien haben gleichzeitig Einfluss auf die Handlungsoptionen und Legitimationsgrundlagen des Staates (Ritzi 2014: 13).

Zentral ist dabei die Idee der Individualisierung. Kritiker des Neoliberalismus gehen davon aus, dass die Maximierung des individuellen Nutzens zur grundlegenden Motivation aller menschlichen Handlungen wird. So erfolge die rationale Abwägung der Handlungsoptionen nach dem Prinzip des Kosten-Nutzen Kalküls. Wichtig ist, dass dem Neoliberalismus in der Kritischen Theorie eine Hegemonialstellung zugeschrieben wird. Grund dafür ist die Annahme, dass die gesamte Gesellschaft mit den Kriterien betriebswirtschaftlicher Nutzenkalküle und der Orientierung am Wettbewerb durchdrungen wird, wodurch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nachhaltig verschoben werden (Candeias 2008: 302).

Die Auswirkungen des Neoliberalismus auf die liberale Demokratie werden dabei entlang der sogenannten neoliberalen politischen Rationalität beschrieben. Sie beschreibt, wie die „abstrakt imaginierte liberale politische Freiheit des Individuums und StaatsbürgeInnenrrechte zunehmend mit KundInnenrechten auf dem freien Markt unter Wettbewerbsbedingungen“ gleichgesetzt wird (Wöhl 2011: 38). Anders gesprochen, wird hier von einer modernen Leistungsgesellschaft ausgegangen, die rational nach dem Marktprinzip organisiert ist (Wöhl 2011: 40).

Hierbei wird sich in der Kritischen Theorie auf Michel Foucalts Gouvernementalitätsstudien bezogen. Er argumentierte dort, dass der liberale Staat die Ökonomie reguliere, während im Neoliberalismus die Ökonomie selbst zum regulierenden Prinzip des Staates werde. So habe der klassische Liberalismus noch unter dem Zeichen der Freiheit des Einzelnen gestanden; doch im Zentrum der neoliberalen Marktrationalität stünde nun vor allem die Freiheit der Ökonomie (Wöhl 2011: 37f.) Zwar gibt es auch im Neoliberalismus noch Staatsinterventionen. Diese sind jedoch, anders als während der Ära des Keynesianismus, darauf ausgerichtet, die Freiheit des Marktes herzustellen und zu sichern (Demivoric 2008: 25; Vgl. Foucault 2004: 190).

Zu den augenscheinlichsten Auswirkungen gehören dabei die Deregulierungen des Kapitalverkehrs sowie die Privatisierung staatlicher Aufgaben. Sie reichen weit über die westlichen Nationalstaaten hinaus. In der Theorie ist der sogenannte postdemokratische Verfall demokratischer Institutionen zu einer wichtigen Kategorie bei der Bestimmung westlicher Nationalstaaten geworden (Meyer 2011: 2).

Crouchs kritische Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus basiert hauptsächlich auf seinen Untersuchungen zum sozialen Wandel in Westeuropa im 20. Jahrhundert. Er kritisiert das liberale Demokratieverständnis und befürwortet die Einführung weitgehender politischer Beteiligungsmöglichkeiten (Ritzi 2014: 16f.). Die folgenden zwei Abschnitte gehen auf die wichtigsten Punkte seiner Theorie ein.

2.1.1 Die Parabel der Demokratie

Ausgangspunkt der Überlegungen Crouchs zur Postdemokratie ist das Paradox der Demokratie im 21. Jahrhundert. Crouch zufolge sind die demokratischen Verfahren unglaubwürdig geworden, obwohl die Demokratie, gemessen an der Zahl demokratisch verfasster Staaten, auf ihrem Höhepunkt angekommen ist (Crouch 2008: 7f.).

„Die relativ niedrigen Anforderungen, die im Rahmen des liberalen Demokratieverständnisses an das Funktionieren des politischen Systems gestellt werden, führen zu einer Zufriedenheit, die uns blind machen kann für ein neuartiges Phänomen, das ich als Postdemokratie bezeichnen möchte.“ (Crouch 2008: 10)

Den Transformationsprozess liberaler Demokratien hin zur Postdemokratie zeigt Crouch mit einer nach unten geöffneten Parabel, die sich über drei Zeiträume erstreckt. Zeitraum 1 bzw. prä-X ist die vordemokratische Zeit, in Zeitraum 2 erlebt die Demokratie ihre Blütezeit und in Zeitraum 3 bzw. post-X hat die Bedeutung von Demokratie bzw. X nachgelassen (Crouch 2008: 31). Postdemokratie kommt also eine Doppelbedeutung zu. Sie bedeutet einerseits „danach“, andererseits aber auch „nicht mehr“ (Meyer 2009: 195).

Die Parabel soll also einen Prozess des Abfalls der Demokratie von einer zuvor realisierten Hochform verdeutlichen. Dieser Abfall scheint unaufhaltbar, denn er wird von Crouch als eine Folge von historischen Ereignissen dargestellt. Bei der Beschreibung der Übergänge der unterschiedlichen Phasen der Demokratie bleibt Crouch jedoch ungenau.

Da Crouch die Blütezeit der Demokratie in der Zeit nach tiefen politischen Krisen verortet (Crouch 2008: 14), bietet es sich an, die zweite Phase mit der historischen Periode nach dem Zweiten Weltkrieg gleichzusetzen und den Übergang zur dritten Phase mit der Zeit nach den Ölkrisen der 1970er Jahre. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg waren beispielsweise in Deutschland der Enthusiasmus für den Wiederaufbau wie auch die politische Beteiligung durch Interessengruppen groß. Dagegen wurden seit den 1970er die Märkte geöffnet und die Industriearbeiter erfuhren in der Folge einen Bedeutungsverlust. Denn die politischen Systeme des Westens waren nicht mehr auf die Arbeiterklasse angewiesen (Crouch 2008: 17). Im Folgenden werden diese Entwicklungen genauer entlang der zweiten Phase und des Übergangs zur dritten Phase dargestellt.

Im Zuge des Wiederaufbaus der kriegsgezeichneten Länder setzte sich die fordistische Produktionsmethode auf Basis der keynesianischen Wirtschaftspolitik durch. Das bedeutete, dass die Logik des Zyklus von Massenproduktion und -konsum mit einem nachfrageorientierten Politikansatz verbunden war. Dies ging einher mit dem Ausbau des Sozialstaates. Crouch geht davon aus, dass die Idee eines Neuanfangs eine gesellschaftliche Illusion erzeugte und zu einer regen politischen Beteiligung führte (Crouch 2008: 14f.). Die Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates und das Erstarken der Sozialdemokratie zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wertet Crouch positiv für die Demokratie (Crouch 2008: 16). Die Blütezeit der Demokratie ist deshalb in dieser Phase zu verorten.

Der Zusammenbruch des Keynesianismus in den 1970er Jahren leitet demnach das Abfallen der Parabel ein. Die wirtschaftliche Dynamik verlagerte sich in der folgenden Zeit von nachfrageorientierter Politik auf die Logik der Aktienmärkte (Crouch 2008: 18). Gründe für die sinkende Qualität der Demokratie sieht Crouch im wachsenden globalen Wettbewerb und in der steigenden Zahl von Bankrotten und von Arbeitslosigkeit (Crouch 2008: 46). Unter der Amtszeit des US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan in den achtziger Jahren brachen die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen zeitweise vollkommen weg. Crouch zufolge reduzierte sich die Demokratie in Amerika von da an auf das Abhalten von Wahlen (Crouch 2008: 20).

Ob die dritte Phase mit oder nach dem, Ende des 20. Jahrhunderts einsetzenden, neoliberalen Demokratieverständnis beginnt, bleibt unklar. Einige Merkmale der liberalen Demokratie werden in der Postdemokratie verstärkt. Doch von einer genauen Definition der Postdemokratie sieht Crouch ab. Er charakterisiert sie jedoch durch vier Merkmale:

Erstens bleiben auf der formal-institutionellen Ebene demokratische Institutionen und Prozeduren erhalten. Gleichzeitig entwickeln sich politische Verfahren insofern zurück, als der Einfluss privilegierter Eliten wieder zunimmt. Zweitens gibt es zunehmend weniger Inhalte in der Parteipolitik. Das führt dazu, dass Spitzenpolitiker kaum mehr Berührungspunkte mit der breiten Öffentlichkeit haben und die Politikinhalte der Parteien hauptsächlich auf die Optimierung von Wahlergebnissen ausgerichtet werden. Dies führt dazu, dass das politische System in der Postdemokratie drittens allein von ökonomischen Interessen bestimmt wird. Crouch verstärkt diese These sprachlich, indem er die sogenannte politische Klasse als Firma bezeichnet. Damit gemeint ist eine politische Klasse, die aus der engen Zusammenarbeit zwischen Spitzenpolitikern und Wirtschaftseliten hervorgegangen ist und politische Entscheidungen vor allem an einer prosperierenden Wirtschaft ausrichtet. Somit werden die Bürger viertens praktisch entmachtet. Denn sie wählen zwar politische Repräsentanten. Diese agieren aber in einem System, das ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen Repräsentation des Willens derer, die sie gewählt haben, weitgehend verwehrt (Ritzi 2014: 17f.; Vgl. Crouch 2008: 5ff).

2.1.2 Die Hegemonie des Neoliberalismus

Wie gezeigt wurde, zeichnet sich die Postdemokratie dadurch aus, dass geringe Anforderungen wie bspw. Wahlbeteiligung an die Demokratie gestellt und somit große Spielräume für Lobbyisten aus der Wirtschaft geschaffen werden. Weil der Staat von jeglichen Interventionen in die kapitalistische Ökonomie absieht, wird das demokratische System Crouch zufolge letztlich unpolitisch und die Gesellschaft bewegt sich über die Demokratie hinaus (Crouch 2008: 31ff.).

Crouch verdeutlicht dies am Beispiel der wachsenden Macht der Wirtschaftseliten über Regierungen und Gewerkschaften. Sie zeigte sich im Zuge des Zusammenbruchs des Keynesianismus deutlich. In diesem Zeitraum bekamen die Eigentümer globaler Unternehmen ein effektives Durchsetzungsmittel gegen ihre nationalen Regierungen in die Hand: die Drohung einer Abwanderung vom nationalen Markt, die direkt in Verluste von Arbeitsplätzen wie Steuereinnahmen münden würde. Nach Crouch sind den Bürgern außerdem Einflussmöglichkeiten genommen und an Unternehmen weitergegeben worden, die ihrerseits weder Bürgerrechte besitzen noch Steuern zahlen (Crouch 2008: 47).

Crouch zieht für diese Beobachtung einen Vergleich zwischen den heutigen Wirtschaftseliten, bestehend aus Aktiengesellschaften und Multimilliardären, und den Aristokraten des vorrevolutionären Frankreichs. Nach Crouch ist ihnen der Besitz politischer Macht gemein wie auch die Befreiung von Steuern bzw. der Fakt, dass sie keiner abgrenzbaren Gemeinschaft zu Loyalität verpflichtet sind. Auf der anderen Seite stehen die heutige Mittelklasse und die Bauern des 18. Jahrhunderts, die Steuern zahlen, doch keine politischen Rechte besitzen (Crouch 2008: 47).

Crouch will zeigen, dass das Volk innerhalb der nationalstaatlichen Gesellschaft unter dem Einfluss der zentralen wirtschaftlichen Akteure der globalisierten Märkte nicht mehr mit seiner Entscheidungsteilhabe mitwirken kann. Den Grund dafür sieht er erstens in einer seit dem Globalisierungsschub der 1970er Jahre erfolgten Monopolisierung des Einflusses auf die wichtigsten politischen Entscheidungen der westlichen Demokratien durch die Lobbyisten der transnationalen Wirtschaftskonzerne. Zweitens steht ihm zufolge der Dynamik des freien Marktes heute kein gleichwertiges Machtpotential mehr gegenüber (Meyer 2009: 195).

Das Problem, das sich daraus für Crouch ergibt, ist das Erstarken der Klassengesellschaft (Crouch 2008: 70):

„Heute jedoch bewegen wir uns aufgrund der steigenden Abhängigkeit der Regierungen vom Wissen der Spitzenmanager und der führenden Unternehmer sowie der Abhängigkeit der Parteien von ihren Geldgebern kontinuierlich auf eine Situation zu, in der es eine neue - politisch und ökonomisch - dominierende Klasse gibt.“ (Crouch 2008: 70)

Nach Crouch bezeichnet der Begriff der Klasse Zusammenhänge zwischen „ökonomischen Positionen und dem Ausmaß an Zugang zu politischer Macht“ (Crouch 2008: 70) bestimmter Gruppen. Das Erstarken der Klassengesellschaft ist für Crouch ein wichtiges Indiz für den Anbruch des postdemokratischen Zeitalters (ebenda).

Wie sein Ideal der fordistischen Phase der Demokratie zeigt, geht Crouch von einem egalitären Demokratiebegriff aus, der partizipatorisch-republikanisch ist. Demnach ist das Ziel demokratischen Handelns „to make it possible for ordinary people to better their lives by becoming political beings and by making power responsive to their hopes and needs“ (Ritzi 2014: 14).

2.2 Der Ertrag der Theorie der Postdemokratie

Das Problem der postdemokratischen These Crouchs ist, dass sie ohne empirische Belege verbleibt. Zwar beschreibt sie Entwicklungstendenzen der europäischen Demokratie während der Globalisierungswelle der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Meyer 2009: 199). Jedoch bewertet Crouch die westlichen Demokratien vordergründig anhand der politischen Herrschaft der Sozialdemokratie (Hidalgo 2014: 489). Letzteres zeigt sich daran, dass Crouch den Keynesianismus in der zweiten und somit stärksten Phase der Demokratie ansiedelt. So erkennt er im keynesianischem Wohlfahrtsstaat einen Kompromiss zwischen radikalem Wirtschaftsliberalismus und revolutionärem Sozialismus (Hidalgo 2014: 491).

Es bietet sich daher zunächst an, Crouchs Ansatz normativ zu bewerten. In diesem Sinne ist seine Theorie als negative Zukunftsvision zu verstehen (Ritzi 2014: 23f.). Denn die Parabel des postdemokratischen Verfalls westlicher Nationalstaaten zeigt, dass die westlichen Demokratien seit den Nachkriegsgesellschaften der 1950er Jahre und dem Zusammenbruch des Keynesianisms auf die Postdemokratie zusteuern (Meyer 2011: 2). Zwar fehlen dafür empirische Belege, doch Crouchs Theorie kann dann zumindest als Warnruf gesehen werden (Richter 2006: 28).

Eine andere Möglichkeit für den Umgang mit der Theorie der Postdemokratie bietet Meyer (2011). Nach ihrer Auffassung kann die Postdemokratie, systematisch verstanden, auf eine Tendenz zur Selbstverkehrung eines bestimmten Konzepts von Demokratie hinweisen. In diesem Fall würde die entscheidende Frage nicht lauten, welche externen Kräfte die Demokratie derart schwächen, dass sie sich in eine Postdemokratie wandelt. Stattdessen müsse danach gefragt werden, welches Verständnis von Demokratie dafür verantwortlich ist, dass sich das Versprechen von Gleichheit und Selbstbestimmung des Volkes in sein Gegenteil verkehrt (Meyer 2011: 2).

In diesem Sinne soll die vorliegende Arbeit entlang der Revolutionstheorie von Arendt verbreitete Vorstellungen von Demokratie aufzeigen, die sich mit Blick auf Crouchs Theorie als postdemokratisch erweisen könnten. Dabei wird entlang der VA und der ÜdR argumentiert, dass die westlichen Demokratien nicht, wie von Crouch behauptet, aufgrund einer Hegemonie des Neoliberalismus unpolitisch geworden sind, sondern sich das, mit Arendt gesprochen, genuin Politische aufgrund der Einführung des demokratischen Repräsentationssystems nie vollends entfalten konnte.

3. Zum Machtkonzept in der Vita Activa

Dieser Teil bezieht sich auf die VA und Arendts Verständnis von Macht. Aufgrund des Umfangs der Arbeit erfolgt nur eine fragmentarische Darstellung der VA, in welcher sie den Machtbegriff in Verbindung mit den Begriffen Handeln, Öffentlichkeit und Pluralität erklärt. Die Erläuterung dieser Konzeptionen gibt zum einen Aufschluss über Arendts Verständnis des genuin Politischen und ist zum anderen grundlegend für den vierten Teil.

3.1 Das Handeln und die Pluralität

Arendt stellte ihrem Grundlagenwerk VA die Klärung der Frage nach den Grundbedingungen der menschlichen Existenz voraus. Damit eng verknüpft sind Fragen nach der Möglichkeit einer Wiederbelebung des politischen Raums und nach der Zentralität des politischen Handelns und Sprechens (Schües 2012: 51).

Dabei entdeckt Arendt die aristotelische Vita Activa wieder als aktive Partizipation der Bürger. Durch diese bewahren sie die Voraussetzungen von Freiheit und Sicherheit, die in demokratischen Massengesellschaften durch Totalitarismus bedroht sind (Maissen 2006: 15).

[...]


1 Crouch erhebt, wie andere Autoren über die Postdemokratie auch, Anspruch der Geltung seiner Aussage für die westlichen Demokratien im Allgemeinen. Er bezieht sich jedoch hauptsächlich auf das demokratische System der USA (Ritzi 2014: 14).

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Ein Ausweg aus der Legitimationskrise der Demokratie? Hannah Arendts Revolutionstheorie im Kontext der Theorie der Postdemokratie
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Seminar für Politische Theorie, Philosophie und Ideengeschichte)
Veranstaltung
Demokratietheorien
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2019
Seiten
32
Katalognummer
V934123
ISBN (eBook)
9783346274656
ISBN (Buch)
9783346274663
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politische Philosophie Hannah Arendt Colin Crouch Revolution Postdemokratie Ideengeschichte Handeln Macht Partizipationsversprechen, Krisen der Demokratie, Freiheitsgründungen der Demokratie
Arbeit zitieren
Johanna Rall (Autor:in), 2019, Ein Ausweg aus der Legitimationskrise der Demokratie? Hannah Arendts Revolutionstheorie im Kontext der Theorie der Postdemokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/934123

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