Ausgewählte Gedichte Bertolt Brechts. Analyse und Fragestellungen


Hausarbeit, 2020

26 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Gedicht 1: Die Legende vom Toten Soldaten
Brechts Weg zum Pazifismus: Die Legende vom toten Soldaten als Satire

Gedicht 2: Erinnerung an Marie A
Brechts Erinnerung an die Marie A. – Liebesgedicht oder Parodie von Liebeslyrik?

Gedicht 3: Aus dem Lesebuch für Städtebewohner
Brechts Großstadtlyrik: Aus dem Lesebuch für Städtebewohner

Gedicht 4: Terzinen über die Liebe
Brechts Terzinen über die Liebe- Einheit, Auflösung und Trennung – Dreiteilung des Gedichtes auf mehreren Ebenen
Brechts Terzinen über die Liebe und Dantes Hölle – Intertextualität

Gedicht 5: Verschollener Ruhm der Riesenstadt New York
Kapitalismus-Kritik in Verschollener Ruhm der Riesenstadt New York – Brechts politische Lyrik

Literaturverzeichnis

Gedicht 1: Die Legende vom Toten Soldaten

Brechts Weg zum Pazifismus: Die Legende vom toten Soldaten als Satire

Um der satirischen Schreibweise der Ballade nachzugehen, ist es sinnvoll zunächst die Merkmale der Satire zu erläutern.

„In der literaturwissenschaftlichen Forschung besteht mittlerweile weitgehend Konsens, dass unter Satire ein form- und gattungsübergreifendes Stilprinzip zu verstehen ist, das vor allem durch eine satirische Intention gekennzeichnet ist und durch zumindest drei Merkmale bestimmt werden kann: durch Aggressivität, durch den Bezug auf eine Norm und durch die Wahl indirekter Mittel“ (Wetzel 2012, S. 278).

Die aggressive Schreibweise satirischer Texte dient vorrangig der kritischen Meinungsäußerung, so Wetzel. Eine klare Festlegung darüber wer oder was kritisiert wird, sei dabei nicht möglich, allerdings weise die Satire immer einen Bezug zu realen Gegebenheiten auf. Die Intention dessen liege nicht darin „persönliche Schwächen eines Individuums anzuprangern“ (ebd. S. 279), sondern anhand dieser generelle „Denk- und Verhaltensweisen“ (ebd.) zu kritisieren. „Das Merkmal des Normbezugs der Satire“ (ebd.) spielt laut Wetzel darauf an, dass Verfasser und Verfasserinnen1 auf bestimmte „Missstände“ (ebd.) verweisen. Dies geschehe indirekt, also ohne die Verwendung von offensichtlichen Argumenten, sondern durch die Verfremdung des vermittelten Inhaltes mittels bestimmter Stilmittel: Wetzel nennt die Über- und Untertreibung, die veränderte Darstellung der Wirklichkeit, den Anachronismus, also eine falsche zeitliche Einordnung und das Groteske, also die Zusammenführung von Aspekten, die nicht zusammengehören. Zudem betont er die Bedeutung „der Ironie – dem Tadel durch Lob – […] der Parodie – dem Austauschen des Inhalts unter Imitation der Form – […] [und] der Travestie – der Darstellung eines identischen Inhalts in anderer Form“ (ebd.).

Einige Forscher*innen gehen davon aus, dass Bertold Brecht, wie die meisten seiner Zeitgenoss*innen, zunächst positiv dem Kriegsausbruch gegenüberstand (vgl. Kittstein 2012, S. 27). Seine anfängliche patriotische Gesinnung werde in Gedichten deutlich, die er in den Augsburger Neusten Nachrichten und der München-Augsburger Abendzeitung veröffentlichte. Diese Veröffentlichungen nahmen allerdings bereits im Sommer 1915 ein Ende. Ulrich Kittstein steht dieser Theorie, „dass die nationalistische Euphorie des Kriegsausbruches bei Brecht Schritt für Schritt durch eine kritische Sicht auf den Chauvinismus und Militarismus des Kaiserreiches abgelöst worden sei“ (ebd.) skeptisch gegenüber und verweist auf „nachdenklich und gedämpfte Töne“ (ebd.) in Brechts früheren Gedichten (vgl. ebd.).

Die Legende vom toten Soldaten ist vermutlich Ende des ersten Weltkrieges entstanden, als Brecht seinem Dienst in einem Lazarett in Augsburg nachging und erschien in die Kleinen Tageszeiten der Abgestorbenen (vgl. Riha 1979, S. 75). Für Kittstein markiert die Ballade „sowohl den Abschluss als auch den Höhepunkt der Reihe seiner [anti-patriotischen] Kriegsgedichte […]“ (Kittsein 2012, S. 31). Riha sieht in einigen Strophen den unmittelbaren „Reflex auf Ort und Vorfälle mit denen der Autor damals [im Lazarettdienst] konfrontiert war“ (Riha 1979, S. 75). Diese Lesart habe allerdings „seine Grenze im Text selbst“ (ebd.). Erst wenn die Ballade als Satire gelesen werde, können Leser*innen „das Spezifische von Motivik und Form“ (ebd.) nachvollziehen.

„Das Motiv des lebenden Toten“ (ebd.) durchzieht die gesamte Ballade, indem sie die Geschichte eines, dem Anschein nach, heldenhaft verstorbenen Soldaten erzählt, der exhumiert, geehrt und anschließend nochmals bestattet wird (vgl. ebd.). Laut Riha wird damit das Motiv der Heldenlegende von der „Treue über den Tod hinaus“ (ebd.) aufgenommen. Bereits im Titel der Ballade wird darauf hingewiesen (vgl. ebd.). Auch für Schuhmann ist eine solche Anspielung erkennbar, indem gezeigt wird, „auf welch ungeheure Weise ein Mensch auf eine Heldentat vorbereitet wird“ (Schuhmann 1995, S. 20). Zudem verweist er auf das groteske Verfahren des Sterbens, Exhumierens und abermaligen Sterbens im Gegensatz zum „Übergang vom Leben in den Tod“ (ebd.), wie es in Legenden der Fall ist. Laut Schoeps lässt sich die satirische Absicht des Verfassers auch im formalen Aufbau der Ballade wiedererkennen. „Die für die Heldenballade typische volkstümliche Chevy-Chase-Strophe mit Wechsel von vier- und dreihebigen Versen, Kreuzreim und männlichen stumpfen Versausgängen“ (Schoeps 2001, S. 54) steht im Kontrast zum Inhalt der Ballade.

Bereits in der ersten Strophe wird die „Verherrlichung des Krieges und [die] pathetische Apotheose seiner Opfer“ (Riha 1979 S. 76) ins Gegenteil verkehrt, da der Soldat seine vermeintlich ruhmreiche Tat aus Verzweiflung begeht, so Riha. „Beißend“ (Schoeps 2001, S. 53) ironisch ist nach Schoeps zudem die Tatsache, dass der Soldat nach fünf Jahren Kriegsdienst nicht heimkehrt, sondern sich freiwillig für den Tod entscheidet. Deutlich werde daran, dass der Soldat, stellvertretend für Soldaten generell, vom Kaiser ausgenutzt wird, „als Mensch zählt er nicht“ (ebd.).

In der zweiten Strophe wird diese Instrumentalisierung von Menschenleben durch den Kaiser nochmals auf groteske Weise bestätigt. Der Tod des Soldaten ist für den Kaiser „noch vor der Zeit“ (Z. 8). Dem Soldaten steht es deshalb nicht frei, „den Zeitpunkt seines Todes mitzubestimmen, so wird unter dem Kaiser der rechte Augenblick vom obersten Kriegsherrn bestimmt“ (Schuhmann 1995, S. 21). Zudem zeigt sich im falschen Mitleid des Herrschers seine eigentliche Intention, nämlich „blankes Kalkül […] [und] purer Egoismus“ (Riha 1979, S. 76). Auch die „zeitliche Abfolge der Ereignisse“ (Schuhmann 1995) wird somit anachronistisch dargestellt, der Tote muss abermals dem Befehl des Kaisers folgen und erlernt in den folgenden Strophen nochmals das Marschieren (vgl. ebd.).

In den Strophen 3 bis 8 wird beschrieben, wie der Verstorbene wieder „kriegsverwendungsfähig“ (Schoeps 2001, S. 53) gemacht wird. Schoeps sieht darin eine Anspielung auf die „militärische Begräbniszeremonie“ (ebd., S. 54), welche allerdings durch die Auferstehung eines Toten „in perverser Umkehrung erschein[t]“ (ebd.). Dazu werden die „geweihten Gegenstände, Spaten und Weihrauchfass“ (ebd.) verwendet, um den Soldaten zu exhumieren. Ironischerweise sind diese Gegenstände normalerweise für das Gegenteil, nämlich die Bestattung, dienlich (vgl. ebd.). „Die groteske Übersteigerung“ (Schuhmann 1971, S. 38) einen Toten als „k.v.“ (V.19) zu befinden, spielt laut Schuhmann auf Militärärzte der Zeit an, „[…] die gewissenlos Kinder oder Greise in den Krieg schickten“ (ebd.). Ironischerweise wird in der sechsten Strophe die Nacht als „blau und schön“ (V.22) beschrieben, allerdings verdeckt der Helm die Sicht des Soldaten, der Krieg verdrängt also alles Schöne (vgl. Schoeps 2001, S. 53). Alles in allem steht Schuhmann zufolge die schöne Nacht im Gegensatz zur „gespensterhaft-unwirklichen Szenerie“ (Schuhmann 1971, S. 68) des Friedhofs. Somit werden reale Aspekte aufgenommen und übertrieben dargestellt, wodurch „das Überwahre“ (ebd.) zum Vorschein komme (vgl. ebd.).

In den Strophen 9 bis 18 wird die absurde Parade durch die Dörfer beschrieben.

„Voran [ein Geistlicher, danach] die Militärkapelle, flotte Marschmusik spielend, dahinter ein Herr im Frack, gefolgt von der kaiserlichen Fahne (eigentlich das mit Schwarz-Weiß-Rot übertünchte, verdeckte Leichentuch des Soldaten), und dahinter, fast unsichtbar schließlich der taumelnde Soldat im Stechschritt, gestützt von zwei Sanitätern“ (Schoeps 2001, S. 53).

Unmissverständlich wird hier auf eine Militärparade verwiesen, welche laut Riha durch einige Aspekte besonders deutlich wird. Vor allem das Motiv des „Wiedersehn“ (V. 61) und die Musik der „Tschindra“ (ebd.), sowie die „im Textzusammenhang makaber wirkende Formulierung für Stechschritt“ (Schoeps 2001, S. 70): „Schmeißt seine Beine vom Arsch“ (V. 36) seien dafür typisch. Allerdings werde durch den Marsch des lebenden Toten die Parodie der „militärische[n] Schaustellung“ (ebd.) deutlich. Der vorangehende „Pfaffe“ (V. 30) verliert laut Schoeps seine eigentliche Funktion eines Geistlichen und sorgt lediglich dafür, den Totengestank mit Weihrauch zu übertünchen, somit werden die kirchlichen Befürworter und Unterstützer des Krieges kritisiert. Noch grotesker erscheint die Bemalung des Leichentuchs; damit werde die Kehrseite des Patriotismus und des Krieges aufgezeigt und die Wirklichkeit verdeutlicht, nämlich der Schrecken des Krieges in Form von kotbeschmierten Leichentüchern (vgl. Schoeps 2001, S. 53). Schuhmann zufolge steht der „Herr im Frack“ (Z. 45) stellvertretend für ein gesamte Gesellschaftsklasse, die auch noch 1918 den Ersten Weltkrieg weiter vorantreiben wollten.

„In grotesker Übersteigerung führt Brecht den Chauvinisten […] ad absurdum“ (Schuhmann 1971, S. 70).

Selbst die Tiere folgen ihm in ihrem Franzosenhass (vgl. ebd.). In den letzten Strophen wird dann auch das „gaffende Volk“ (Riha 1997, S. 79) thematisiert, welches, wie die Tiere, die Propaganda so verinnerlicht hat, dass es den grotesken Aufmarsch eines Toten nicht als solchen wahrnimmt, sondern diesen vor lauter Euphorie bejubelt (vgl. ebd.). Somit wird gleich mehrmals Kritik an übertriebenen Nationalstolz, Fremdenhass und der damit verbundenen Kriegseuphorie geübt. Letztlich stirbt der junge Soldat ein zweites Mal den „Heldentod“ (Z.18). Das „Morgenrot“ (V.74), welches in der letzten Strophe beschrieben wird, lässt sich laut Schuhmann als positive Deutung auf eine neue Zeit nach dem Ende des Krieges verstehen. Vor dem Hintergrund dieser Deutungsrichtung wirkt das zweimalige Sterben des Soldaten noch sinnloser (vgl. Schuhmann, S. 71).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Legende vom toten Soldaten durchgehend mit satirischen Elementen gespickt ist. Bereits der Titel der Ballade verweist auf eine Legende. Allerdings stellt sich direkt in der ersten Strophe heraus, dass es sich um eine Parodie einer Heldenlegende handelt, wodurch insbesondere das Motiv des Heldentods kritisiert wird. Neben der Legenden-Parodie finden sich aber auch andere Inhalte, wie die Begräbniszeremonie und die Militärparade wieder. Die gesamte Szenerie des Gedichtes wirkt grotesk und übertrieben, wodurch den Rezipienten und Rezipientinnen die Wahrheit, also der Schrecken des Krieges, nähergebracht wird. Zudem wird das Geschehen anachronisch dargestellt, da das Leben dem Tod folgt. Letztlich lassen sich auch ironische Aspekte finden, welche ebenfalls signifikante Merkmal einer Satire sind. Vor der Folie der Satire wird am gesamten Kriegsgeschehen Kritik geübt, allerdings werden einige Personen und Verhaltensweisen besonders bemängelt. Neben dem Kaiser, der Menschenleben für den Krieg instrumentalisiert, sind dies vor allem die Chauvinisten. Beide stehen stellvertretend für die Kriegsbegeisterung. Ehrenvolle Soldatenbestattungen und Militärparaden werden im Zuge dessen als Verschleierungstaktiken entlarvt.

Gedicht 2: Erinnerung an Marie A.

Brechts Erinnerung an die Marie A. – Liebesgedicht oder Parodie von Liebeslyrik?

Die Erinnerung an Marie A. wirkt insbesondere durch eine auffällige Liebes- und Sexualsymbolik und durch die an ein Lied erinnernde „Klangfülle“ (Knopf 1996, S. 74) wie ein typisches Liebesgedicht, wenn auch der Inhalt davon in gewisser Weise abweicht. Oftmals wurde das Gedicht jedoch als sentimentale Lyrik mit dem zentralen Thema einer vergangenen Liebschaft eingeordnet. Jan Knopf hingegen geht davon aus, dass das Lied viel mehr als Parodie eines Liebesgedichtes verstanden werden kann und bezieht seine Forschungsergebnisse in besonderem Maße auf entstehungsgeschichtliche Aspekte (vgl. ebd.).

Benno von Wiese kategorisiert das Gedicht Erinnerung an Marie A. als Liebesgedicht. Da dieses in Brechts Hauspostille (1927) erschienen ist, wirke es „inmitten der wilden Balladen, der rauhkehligen Gesänge von Seeräubern und Soldaten“ (Wiese von 1956, S. 485) zunächst unpassend, wenn nicht sogar unwirklich. Allerdings stellt von Wiese fest, dass das Hauptmotiv des Liebesgedichtes das Vergessen sei und durch den beschriebenen „Traum“ (V. 4) und den „Sommerhimmel“ (V. 5) Übereinstimmungen mit der einleitenden Ballade von den Abenteurern aufweist.

Das Gedicht weist einen „fünfhebigen Jambus“ (Knopf 1996, S. 78) auf, lediglich der zweite und vierte, sowie der sechste und achte Vers jeder Strophe reimen sich (vgl. ebd.). Zunächst wird die Szenerie beschrieben, die „an jedem Tag“ (V.1) vorzufinden war. Im „blauen Mond September“ (V.1) hält das lyrische Ich „sie, die stille bleiche Liebe“ (V.3) im „Arm“ (V.4). Alles spielt sich im Sommer „unter einem jungen Pflaumenbaum“ (V. 2) ab, während eine „Wolke“ (V. 6), die als „sehr weiß und ungeheuer oben“ (V. 7) beschrieben wird, vorbeizieht.

Die Beschreibung ist laut von Wiese „ganz gegenwärtig, unversehrt lebendig im erinnernden Bewußtsein (sic!)“ (Wiese von 1956, S. 485). Dennoch wirken die vermittelten Bilder, wie die Erfüllung von Klischees, die mit übermäßig vielen Adjektiven beschrieben werden und durch die „liedhaften a-, au- und o-Assonanzen“ (ebd.) an „eine Leierkastenmelodie“ (ebd.) erinnern. Zudem werde hier bereits die symbolische Aufladung des Gedichtes deutlich, mit dem „Mond“ als Zeichen der Liebe (bzw. in der Zweiten Strophe mit der Bedeutung Monat) und dem „Pflaumenbaum“ mit einer „sexuellen Konnotation“ (Knopf 1996, S. 74). Diese werde durch die Farbe „blau“ gemäß lyrischer Tradition nochmals bestätigt (vgl. ebd.) Gegensätzlich wirke die schemenhafte Beschreibung der im Titel genannten „Marie A.“, zur klaren Beschreibung der Wolke, was die „Pseudo-Romantik“ (Wiese von 1956, S. 486) der ersten Strophe, entschlüssele (vgl. ebd.). Auch Klaus Schuhmann geht davon aus, dass in der ersten Hälfte dieser Strophe das „Stimmungsbild“ (Schuhmann 1971, S. 104) nur ein Klischee ist und im Kontrast zur Beschreibung der Wolke steht. Sprachlich manifestiere sich dies durch die „sentimentbeladenen (sic!) Attribute der ersten Verse (‚blau, jung, still, weich, hold‘)“ (ebd.) im Kontrast zur Wiederholung des Verbes „war“ (V. 6-8).

In der zweiten Strophe wird deutlich, dass das Ereignis schon lange zurückliegt:

„Seit jedem Tag sind viele, viele Monde Geschwommen still hinunter und vorbei“ (V. 9-10)

Zentral ist hier die Frage „was mit der Liebe sei“ (V. 12), die das lyrische Ich aufgrund von Erinnerungslücken nicht beantwortet. Das „Gesicht“ (V. 15) bleibt verschwommen, lediglich die Erkenntnis: „Ich küßte (sic!) es dereinst“ manifestiert die Erinnerung.

Von Wiese stellt die Vermutung an, dass mit den Erinnerungslücken auch ein „Nichterinnern-Wollen“ (Wiese von 1956, S. 487) einher geht. Zudem geht er davon aus, dass die zentrale Frage von einem „fragenden ‚du‘ (V. 12)“ (ebd.) an das lyrische Ich gerichtet wird. Auch Schuhmann sieht darin einen „fiktiven Frager“ (Schuhmann 1971, S. 105). Er geht weniger davon aus, dass das lyrische Ich absichtlich versucht die Erinnerungen zu verdrängen, sondern dass es an seinen damaligen Gefühlen zweifelt. Diese wurden nämlich, im Gegensatz zur Wolke, nur in einer Art Rausch erlebt (vgl. ebd.).

In der dritten Strophe wird ein „Kuß (sic!)“ (V. 17) thematisiert, den das lyrische Ich ebenfalls vergessen hätte, „wenn nicht die Wolke da gewesen wär (sic!)“ (V.18). Zudem gibt es einen Bezug zur Gegenwart, wenn es heißt:

„Die Pflaumenbäume blühn (sic!) vielleicht noch immer Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind“ (V. 21-22).

Auch in der dritten Strophe wird, von Wiese zufolge, das Vergessene lediglich durch die Erinnerung an die „Wolke“ vergegenwärtigt, „dahinter dämmert die Liebe jenes Septembertages aus dem Dunkel des Vergessens“ (Wiese von 1956, S. 488). Nun heißt es „Sie war sehr weiß und kam von oben her“ (V. 20), womit der Wortlaut aus der ersten Strophe nur geringfügig verändert wird. Von Wiese sieht darin eine Art Vorzeichen für das Vergessen:

„nicht mehr der Standort („sie war“), sondern die Herkunft („sie kam“) wird bezeichnet, eine Bewegung aus der Höhe her, auf das Erlebende zu “ (ebd.).

Zudem wird laut Schuhmann die Vergänglichkeit der Liebe in Bezug auf die „Wolke“ deutlich, da diese „nur Minuten“ (V. 23) zu sehen war, dann „schwand sie schon im Wind“ (V. 24) (vgl. Schuhmann 1971, S. 106). Er verweist auch auf die Zeilen 23 und 24, die wie bereits erwähnt, im Präsens verfasst sind. Er bezieht seine Interpretation an dieser Stelle auf Schöne, welcher darin einen „umgewandelten Zeitbezug“ (ebd.) erkennt. Demnach stehe das Präsens für das Vergessen und das Präteritum für das tatsächliche Erleben (vgl. ebd.). Deutlich wird, dass von Wiese und Schuhmann beide das Gedicht als Liebesgedicht einordnen, welches folgenden Aufbau aufweist. Ihnen zufolge wird in der ersten Strophe das „Liebeserlebnis“ (ebd., S. 104) einer vergangenen Zeit dargestellt. Daraufhin folgt in der zweiten Strophe das Vergessen und in der dritten Strophe „die Vergegenwärtigung des damaligen Septembertages durch die Wolke“ (ebd.).

Eine andere Interpretationsrichtung schlägt Jan Knopf ein, der das vermeintliche Liebesgedicht als Parodie eines solchen versteht. Er stimmt zwar zu, dass zunächst einige Aspekte sentimental wirken, welche er aber durch den Einbezug der Entstehungsgeschichte als einen parodistischen Zweck entlarvt. Brecht habe die Erinnerung an Marie A. unter dem Titel Sentimentales Lied No. 1004 am 21.11.1920 um 20:00 Uhr im Zug nach Berlin in seinem Notizbuch niedergeschrieben (vgl. Knopf 1996, S. 73). Knopf verweist auf die Handschrift Brechts, welche so wirke als hätte er das Gedicht rasch verfasst und nur wenige Korrekturen bzw. Veränderungen gegenüber der endgültigen Fassung vorgenommen, „ein ausgesprochener Geniestreich des jungen Brecht“ (ebd., 74). Zudem bestätigt er die „ungeheure Klangfülle“ (ebd.) des Gedichtes, welche, wie bereits oben erläutert, besonders durch die „lautliche[n] Zeichen“ zu Anfang des Gedichtes, sowie die Liebes- und Sexualsymbolik erzeugt wird. Jan Knopf nennt noch weitere formale Aspekte, die auf ein Liebesgedicht verweisen, welche, mit Verweis auf den ersten Teil des Essays, nicht weiter aufgeführt werden. Alles in allem hält er fest, dass das Gedicht bei ungenauem Lesen tatsächlich wie eine Liebeslyrik wirke:

„Es hat das ‚ewige‘ Thema der Liebe zum Inhalt, bezieht seine Wirkung durch den Klang, setzt intensive Stimmungswerte, erscheint vollkommen gegenwärtig und erfüllt die ‚geformte Beständigkeit des Kunstwerks‘ mit seinen Naturbildern“ (ebd., S. 76).

Da die Erinnerung an Marie A. in der Hauspostille veröffentlich wurde, erläutert Knopf, dass diese als „Parodie auf die Haus- und Kirchenpostillen Luthers“ (ebd., S. 76) zu verstehen sei. Dort erschien das Gedicht unter den Chroniken. Er merkt an, dass die Chroniken des Alten Testaments „exemplarische Taten und Lebensläufe“ (ebd.) enthalten und im Gegensatz zur Nicht-Anwesenheit der vermeidlichen Geliebten im Gedicht stehen. Zudem habe Brecht das Gedicht, immer vorgetragen, indem er „die Strophenziffern als Ordinalzahlen mitlas“ (ebd.) und so eine romantische Stimmung verhinderte. Im Weiteren weist er darauf hin, dass das Gedicht vor dem Hintergrund einer bestimmten Quelle, nämlich eines Schlagers, und nicht allein durch Brechts dichterisches Können entstanden ist (vgl. ebd., S. 77). Das Lied erschien in verschiedenen Fassungen; in der deutschen Sprache ist es unter dem Titel Du hast mich nie geliebt oder Verlor`nes Glück bekannt. Unter Rückbezug auf eine „parodistische“ (ebd.) Aufbereitung des sentimentalen Liedes durch Karl Valentin, geht Knopf davon aus, dass auch Brechts Erinnerung an Marie A. als Parodie des Schlagers zu verstehen ist. Zudem verweist Knopf auf Hans Riemann, welcher festgestellt hat, dass Brechts Gedicht eine Umdichtung der deutschen Fassung Leopold Sprowackers ist. Diesbezüglich stellt Knopf sehr überzeugend dar, dass einige Formulierungen nur geringfügig verändert wurden. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu überschreiten wird nicht en detail auf jede Änderung eingegangen. Die prägnantesten Übereinstimmungen -neben diesen Formulierungen- sind die Verortung in der Natur, das (verkehrte) Liebesthema und die dialogische „Ansprache“ (ebd., S. 78) in der zweiten Strophe. Auch formal sei das Gedicht, mit Ausnahme des Refrains, mit dem Lied identisch. Der anfangs andere Titel Sentimentales Lied No. 1004 sei demnach eine „Anspielung auf die Quelle“ (ebd.). Zudem sei die damit einhergehende Ankündigung eines gefühlvollen Gedichts ein weiterer Beleg für die ironische Deutungsweise. Vor dem Hintergrund dieser Lesart gehe die persönliche Note, das Erlebende des lyrischen Ichs, verloren und damit auch „das Subjektive“ (ebd., S. 79), was maßgeblich für die Lyrik sei. Des Weiteren erläutert Knopf, dass die Zahl 1004 als ein Bezug auf die 1003 Geliebten Don Giovannis in Mozarts gleichnamiger Oper gesehen werden könne (vgl. ebd.). Und auch für die nachträgliche Titeländerung findet Knopf in seinem 2001 erschienen Aufsatz eine plausible Erklärung. Diese habe tatsächlich etwas mit Marie Rose Aman zutun, die einige als Adressatin des Gedichtes erkennen zu glauben (vgl. Knopf 2001, 80). Knopf hingegen verweist darauf, dass jene Frau meistens „Rosemarie“ (ebd.) oder in verkürzter Form „Rosl“ (ebd.) genannt wurde. Ihre ältere Schwester hingegen trug den Namen „Maria“ (ebd.) und war ein unerfüllter Schwarm Brechts, weshalb Knopf es für wahrscheinlich erachtet, dass Brecht „mit ihren Namen [der Schwestern] Schindluder betrieb, sie sozusagen zu einer Person verschmelzen ließ“ (ebd.). Demgemäß sei der Titel „ein raffiniertes Versteckspiel des Autors“ (ebd.) und das Gedicht eines der „widersprüchlichsten und widerständigsten der deutschen Literatur“ (ebd.). Nichtsdestotrotz werde die Frau entindividualisiert und für männliche Gelüste instrumentalisiert, sie habe einen „zynischen Abstand [zum] lyrischen (männlichen) Ich […]“ (Kopf 1996, S. 81). Das lyrische Ich sei kein ehemals Liebender, der sich wehmütig zurückerinnert, sondern eine narzisstische Person, die Frauen für seine Zwecke gebraucht und so letztlich zu seinem eigenen „Verschleiß“ (ebd.) beiträgt. Das zentrale Thema des Gedichtes ist Knopf zufolge somit nicht die Liebe, das Vergessen und die Erinnerung an eine vergangene Liebe, sondern „die Auslöschung des Individuums“ (ebd.).

Letztlich zeigt sich, dass Erinnerung an die Marie A. etliche formale und sprachliche Übereinstimmungen mit der Liebeslyrik aufweist, sodass das Motiv des Vergessens als Grundthema auf den ersten Blick einleuchtet. Allerdings liefert Knopf textexterne Informationen, die auf eine parodistische Lesart hinweisen. Insbesondere die zahlreichen Übereinstimmungen mit dem damals bekannten Schlager verdeutlichen, dass es sich bei dem Gedicht wahrscheinlich nicht um eine Liebeslyrik handelt.

Gedicht 3: Aus dem Lesebuch für Städtebewohner

Brechts Großstadtlyrik: Aus dem Lesebuch für Städtebewohner

Laut Mennemeier wurde Brechts Großstadt-Erlebnis durch seinen Umzug nach Berlin im Jahre 1924 geprägt. Das Lesebuch sei nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen und Einstellungen nachvollziehbar: Demnach sah Brecht die Großstadt als Ort der Entfremdung „vom wahren Menschsein“ (Mennemeier 1982, S. 91). Aus dem Lesebuch für die Städtebewohner ist nach der Hauspostille erschienen und somit Brechts zweite Gedichtsammlung (vgl. Vaßen 2001, S. 178). Die Lesebuch - Gedichte sind bereits zwischen 1926 und 1927 entstanden und wurden 1930 in Brechts Versuchen unter dem heutigen Titel veröffentlicht (vgl. Schuhmann 1971, S. 213). Eigentlich wollte Brecht „einen lyrischen Zyklus der Städtegeschichten“ (Knopf 1984, S. 56) auf Schallplatten aufnehmen, allerdings wurde ausschließlich die schriftliche Veröffentlichung umgesetzt. Knopf zufolge lässt sich bei den Gedichten zwar eine Verbundenheit auf formaler und inhaltlicher Ebene feststellen, allerdings bilden sie „keinen geschlossenen Zyklus“ (ebd.): Die Gedichte 1 bis 3 zeichnen sich durch die Verwendung des Imperativs aus. Die Gedichte 4 bis 6 hängen durch die „berichtende Form“ (ebd.) miteinander zusammen. Alle sechs Gedichte weisen zudem einen eingeklammerten Schlusssatz auf. Die Gedichte 7 und 8 knüpfen an die Anweisungen der ersten drei Gedichte an, obwohl sie nicht in der Befehlsform verfasst sind. Und auch das 9. Gedicht „enthält 4 Aufforderungen“ (ebd.). Die Gedichtsammlung wird häufig der Neuen Sachlichkeit zugeordnet und als behavioristisch bewertet (vgl. ebd., S. 55f.).

Obwohl die Anfänge der Neuen Sachlichkeit schon deutlich früher einzuordnen sind, wurde diese erst 1925 durch eine Kunstausstellung bekannt und fällt somit in den Zeitraum der Weimarer Republik. Maßgebend für die Neue Sachlichkeit ist die Intention die „moderne Wirklichkeit angemessen dazustellen“ (Müller, S. 6). Ein wichtiges Thema bildet das Großstadtleben, das allerdings auch im Realismus, Naturalismus und Expressionismus behandelt wird (vgl. ebd.). Müller legt die wichtigsten Merkmale für die „Konzeption des neusachlichen Schreibens“ (Müller, S. 25) fest: Die Figur trägt keine individuellen Züge, sondern repräsentiert einen „sozialen Typus“ (ebd.); auf die „Psychologisierung“ (ebd.) wird gänzlich verzichtet. Es wird nur ein für den zeitlichen Kontext beispielhafter Abschnitt aus dem Leben der Figur dargestellt. Die Handlungen werden nur knapp wiedergegeben, häufig aus der Sicht eines „journalistischen Berichterstatters“ (ebd.). Die neusachliche Schreibweise ist an den Behaviorismus angelehnt; „äußere Verhaltensweisen“ (ebd.) dienen der Bestimmung von Gefühlslagen. Durch die Orientierung an dieser Richtung soll „das Ideal, nüchtern zu schreiben“ (ebd., S. 14) gelingen. Die Handlungen werden nicht vom Erzähler (auktorialer Erzähler) bewertet, weshalb politische Richtungen nicht eindeutig nachvollzogen werden können. Der Schreibstil der Neuen Sachlichkeit wird auch als „Gebrauchsliteratur“ (ebd., S. 26) bezeichnet und ist durch alltagssprachliche Tendenzen leicht verständlich (vgl. ebd., S. 25f.).

Wie bereits oben erwähnt ist das 1. Gedicht durch unterschiedliche, im Imperativ verfasste Aufforderungen gespickt. Am Ende aller fünf Strophen steht ein Appell: „Verwisch die Spuren“ (V. 6, V. 12, V. 17, V. 27, V. 29)

Schuhmann ist der Auffassung, dass sich diese Aufforderungen an einen Neuankömmling richten, der „in die ungeschriebenen Gesetze des Städtedschungels“ (Schuhmann 1971, S. 214) eingeführt wird. Auffallend sei die kühle Sprache, welche der Wiedergabe der Wirklichkeit diene, die sich in den Gesetzmäßigkeiten der Stadt widerspiegelt (vgl. ebd., S. 215f.). So wird der „angehende Städtebewohner“ (ebd., S. 215) aufgefordert, sich von seinen „Kameraden“ (V 1) zu trennen. Er solle ihm dies durch seine „zugeknöpfte Jacke“ (V. 2) unterbreiten und ihm fortan den Zutritt verweigern (vgl. Z. 6). Schuhmann erläutert, dass es sich bei dem „Kameraden“ ebenfalls um einen aus dem Dorf stammenden Neuankömmling handelt. Somit werde aufgezeigt, dass „menschlicher Beistand und Freundlichkeit“ (ebd.) im städtischen Leben keinen Platz haben, weshalb die freundschaftliche Beziehung beendet wird. In der zweiten Strophe wird geraten, dieses Verhaltensmuster auch auf die „Eltern“ (V. 7) zu übertragen, dieses Mal dient der heruntergezogene „Hut“ (V. 9) als Verschleierungsmittel. Laut Schuhmann zeigt sich, dass nicht nur freundschaftliche, sondern auch familiäre Beziehungen beendet werden müssen, um in der Stadt zu überleben. Nach und nach kommt es zu einer Auslöschung des Gesichts des Neuankömmlings (vgl. ebd.). In der dritten Strophe wird der neue Städter aufgefordert das zu essen was „da ist“ (V. 13), „in jedes Haus zu gehen“ (V. 14) und „jeden Stuhl“ (V. 14) zu benutzen. Darin sieht Schuhmann einen Verweis auf die Auswirkungen, der scheinbar für die Stadt typischen „Anonymisierung“ (ebd.). Neben dem Verfall der moralischen Werte in den ersten beiden Strophen werde aufgezeigt, dass Straftaten gar nicht mehr verfolgt werden können. Die vierte Strophe enthält die Aufforderung selbst das Denken an andere zu unterdrücken (V. 18f.) und nirgendwo eine „Unterschrift“ (V. 20) ein „Bild“ (V. 21) oder Worte (vgl. V. 22) zu hinterlassen. In der fünften Strophe weitet sich die Auslöschung des Individuums sogar auf das Grabmal aus, welches ebenfalls anonymisiert wird (vgl. V. 25-28). Zusammenfassend hält Schuhmann fest:

„Sein Städteleben, das mit der Auslöschung des menschlichen Antlitzes begonnen hat, endet ebenso im Dunkel der Anonymität.“ (ebd.)

Mennemeier erläutert, dass die Rezipient*innen des Gedichts die Verhaltenstipps an den Neuankömmling nicht befolgen sollen. Denn der Sprecher befolge offensichtlich seinen eigenen Ratschlag nicht und gebe somit „subjektiv ehrlich […] eine objektiv falsche Wahrheit“ (ebd., S. 96) wieder. Brechts Intention liegt demnach darin, die Leser*innen zur Erkennung der Wahrheit zu befähigen. Die Wahrheit ist laut Mennemeier in der zeitlichen Einordnung des Gedichtes zu suchen: Das Gedicht solle die Weimarer Republik als eine „Wolfsgesellschaft“ (ebd., S. 97) und das Stadtleben als eine „inhumane Welt“ (ebd.) entlarven. Er geht geht davon aus, dass das Gedicht „eine didaktische Absicht“ (Mennemeier 1982, S. 93) verfolgt und das Ziel hat:

„die Wahrheit des falschen Bewußtseins (sic!) dieser Gesellschaft, ihren hinter der ideologischen Periphere versteckten ideologischen Kern zum Vorschein zu bringen.“ (ebd. S. 94)

Eine ähnliche Intention erkennt Schuhmann in dem 3. Lesebuch -Text. Dieser thematisiere die Ermordung der Eltern des Städtebewohners, der -von Geldnot getrieben- seine Eltern umbringt, um das Erbe für sich zu beanspruchen (vgl. Schuhmann 1971, S. 218). So heißt es:

„Und du sollst verschwinden wie der Rauch im Himmel Den niemand zurückhält.“ (V. 5f.)

Laut Schuhmann zeigt das Gedicht auf, dass die Empathie und das soziale Miteinander durch das Stadtleben verloren gehen und an Stelle dessen „die entartete Geste der Ruchlosigkeit“ (ebd.) tritt. Das 8. Gedicht thematisiert Schuhmann zufolge, wie „Träume und Hoffnungen“ (ebd., S. 225) in der Großstadt verloren gehen, so heißt es:

„Laßt (sic!) eure Träume fahren, daß (sic!) Man mit euch Eine Ausnahme machen wird.“ (V. 1f.)

„Laßt euren Kontakt in der Tasche Er wird hier nicht eingehalten.“ (V. 5f.)

Laßt nur eure Hoffnung fahren „Daß ihr zu Präsidenten ausersehen seid.“ (V. 7f.)

Versprechungen der „Mutter“ (V. 3.) in der Großstadt „vom Tellerwäscher zum Präsidenten aufzusteigen“ (ebd.) entpuppen sich als leere Hülsen. Auf die „dreimalige Negation“ (ebd., S. 226) folgen die drei Aufforderungen:

„Aber legt euch ordentlich ins Zeug“ (V. 9)

„Ihr müßt (sic!) euch ganz anders zusammennehmen“ (V. 10)

„Ihr müßt das ABC noch lernen:“ (V. 12)

Letztlich bleibt jedoch jede Anstrengung ohne Erfolg; „der Mensch bleibt Sklave seiner Verhältnisse“ (ebd.). Letztlich zeigt sich anhand der beispielhaft ausgewählten Gedichte, dass die Großstadt als ein hoffnungsloser Ort dargestellt wird, der das soziale Miteinander der Menschen untergräbt und sie auf ihrer Suche nach Ruhm und Erfolg zum Äußersten treibt.

Schuhmann hält fest, dass die Lesebuch-Gedichte „Verhaltensweisen“ (ebd., S. 221) aus einer kapitalistischen Welt repräsentieren. Auf Grundlage dessen solle bei den Rezipient*innen ein Lernprozess angeregt werden. Er kritisiert allerdings, dass Brecht zwar aufzeige, wie die Welt in seinen Augen nicht sein soll, den Leser*innen aber keine möglichen Verhaltensänderungen offeriert (vgl. ebd.). Der Autor stehe „ganz offensichtlich im Banne behavioristischer Gedankengänge“ (ebd., S. 223). Allerdings sei der Behaviorismus ungeeignet, um soziale Aspekte des menschlichen Verhaltens zu ergründen. Die Darstellung negativer Verhaltensweisen in einer kapitalistischen Welt nehme „einen unverhältnismäßig großen Raum“ (ebd.) ein. Er zeige zwar auf, wie die Menschen durch äußere kapitalistische Einflüsse verändert werden, untergrabe jedoch den Einfluss des Individuums auf seine Umwelt (vgl. ebd.). Zudem werden die sozialen Beziehungen „sachlich, nüchtern und unbeteiligt“ (ebd., S. 214) dargestellt, so Schuhmann. Diese sachliche Darstellung führe „zu einer mechanischen Bewertung des Menschen“ (ebd., S. 223) und lasse die proletarische Gesellschaftsschicht außer Acht (vgl. ebd.). Auch Vaßen erläutert, dass bereits der Titel der Gedichtsammlung darauf hindeutet, dass diese „lehrhafte Tendenzen“ (Vaßen 2001, S. 178) hat, weshalb es sich um ein beispielhaftes Werk für Brechts „Gebrauchslyrik“ (ebd.) handle. Allerdings ist er der Auffassung, dass die Gedichtsammlung vor dem Hintergrund des Behaviorismus fehlgedeutet wird. „Der Schlüssel zum Verständnis“ (ebd., S. 181) liege darin, die Gedichte nicht ausschließlich auf das Geschriebene zu reduzieren und ihren „Lehrstück-Kontext“ (ebd.) zu berücksichtigen.

Knopf stellt dar, dass die Lesebuch -Gedichte „das, was in ihnen als direkte Wiedergabe und entsprechend direktes Bekenntnis des Autors aufgenommen wird, distanziert und indirekt wiedergeben, also gerade von der Unmittelbarkeit befreien, für die der Behaviorismus (und entsprechend die >>Neue Sachlichkeit<<) Ausdruck ist.“ (Knopf 1984, S. 57)

Bereits das 1. Gedicht sei durch subjektive Elemente gespickt, da die Aufforderungen an ein „Du“ (ebd.) gerichtet werden. Durch den angefügten Satz „[Das wurde mir gesagt.]“ (V. 30) werde deutlich, dass es sich bei dem Sprecher um das lyrische Ich handelt. Knopf schlussfolgert, dass das Gedicht als „Selbstreflexion“ (ebd.) zu verstehen ist. Auch er geht wie Schuhmann davon aus, dass das Grundthema das Überleben in der Stadt bildet. Da das lyrische Ich bereist vermittelte Weisheiten wiedergibt, könne die nüchterne Sprache nicht als Verweis auf die „mangelnde Kommunikation in den Städten“ (ebd.) verstanden werden. Die Nüchternheit der Sprache sei der ungewöhnlichen Kommunikationssituation geschuldet, da sie „ein Medium des Bewußtseins (sic!) […] und der […] kritischen Reflexion“ (ebd.) ist. Aber auch Knopf geht davon aus, dass das Lesebuch den Leser*innen etwas beibringen soll. Die Intention Brechts bestehe darin, dass diese desillusioniert werden und die „Wirklichkeit der kapitalistischen Welt“ (ebd.) erkennen. In Wirklichkeit habe sich mit dem städtischen Leben ein anderer „Menschentypus“ (ebd., S. 58) gebildet. Um eine bessere, sozialistische Lebensweise in den Städten zu schaffen, müssen die Rezipient*innen diese Entwicklung nachvollziehen, so Knopf (vgl. ebd.).

[...]


1 Im Folgenden wird die genderneutrale Schreibweise „Verfasser*innen“ verwendet.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Ausgewählte Gedichte Bertolt Brechts. Analyse und Fragestellungen
Hochschule
Universität Vechta; früher Hochschule Vechta
Note
1,0
Jahr
2020
Seiten
26
Katalognummer
V934497
ISBN (eBook)
9783346254214
ISBN (Buch)
9783346254221
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ausgewählte, gedichte, bertolt, brechts, analyse, fragestellungen
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Ausgewählte Gedichte Bertolt Brechts. Analyse und Fragestellungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/934497

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