Javier Cercas dokufiktionaler Roman "Soldados de Salamina". Aufarbeitung Spaniens historischer Erinnerung


Studienarbeit, 2018

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Javier Cercas’ Soldados de Salamina

3. Gedächtnistheoretische Begriffe
3.1. Das individuelle Gedächtnis
3.2. Das kommunikative Gedächtnis
3.3. Das kollektive Gedächtnis
3.4. Das kulturelle Gedächtnis

4. Der Pakt des Vergessens: Spaniens Umgang mit seiner Geschichte

5. Erinnerung und Gedächtnis in Soldados de Salamina
5.1. Das Erinnern der Sieger: Los amigos del bosque
5.2. Das Erinnern der Besiegten: Los recuerdos de Miralles
5.3. Stilistische Relativierung der Verlässlichkeit historischer Wahrheitsfindung

6. Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der vorliegenden Hausarbeit „Javier Cercas: Arbeiten an Spaniens historischer Erinnerung“ soll der Fragestellung nachgegangen werden, wie Javier Cercas‘ dokufiktionaler Roman Soldados de Salamina zur Aufarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs als Teil des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses Spaniens beiträgt. Ziel der Arbeit ist es, unter Berück­sichtigung erinnerungstheoretischer Ansätze Cercas‘ literarischen Umgang mit Erinne­­rung und Wahrheit (Fakten vs. Fiktion) zu analysieren und den Mehrwert des Romans für das kollektive Gedächtnis Spaniens im Rahmen der sukzessiven Aufarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs zu ermitteln. Die Motivation zur Themenwahl liegt darin begründet, dass die Verfasserin im Sommer­semester 2018 ein Javier Cercas-Seminar zu zwei seiner emble­ma­tischsten Werke, darunter Soldados de Salamina, mit dem Fokus Transmediales Erzählen besucht hat. Darüber hinaus besteht durch private Verbindungen nach Spanien ein hohes persönliches Interesse an der spanischen Literatur, Kultur, Politik und Geschichte.

Aktuell ist in Spanien hinsichtlich der Bewältigung seiner dunklen Vergangenheit ein Umbruch zu spüren. Der von allen Parteien mitgetragene sogenannte Pakt des Vergessens, der nach Ende der Franco-Diktatur durch die Verabschiedung eines Amnestiegesetzes dazu führte, dass alle Akteure der (Nach-)Kriegsverbrechen schuldfrei blieben und sich in der Öffent­lichkeit ein Mantel des Schweigens über sie legte, weicht allmählich dem Versuch, den unzähligen Opfern des Bürgerkriegs und Franquismus Gerechtig­keit widerfahren zu lassen. In der Literatur hat sich seit dem letzten Jahrzehnt ein Trend des Schreibens wider das Vergessen herausgebildet: Spanische Autoren der sogenannten Enkelgeneration greifen zunehmend Episoden aus Bürgerkrieg und Diktatur auf, um ein öffentliches Bewusst­sein zu wecken für das Geschehene als Teil der spanischen Geschichte, das nicht durch ein kollektives Totschweigen ungeschehen zu machen ist. So auch Javier Cercas, der in seinem Roman eine partikulare Begebenheit im Spanischen Bürger­krieg nachzeichnet und dabei als ein Novum, das ihn von anderen Literaten abhebt, das Schicksal eines Falan­gisten – dessen Beinahe-Erschießung durch die Republikaner – mit journalistischen Mitteln erforscht.

2. Javier Cercas’ Soldados de Salamina

Die von Javier Cercas im Jahr 2001 publizierte, von ihm selbst als relato real1 bezeichnete, da im Kern auf Tatsachen beruhende Erzählung Soldados de Salamina behandelt eine erstaunliche Episode des Spanischen Bürgerkriegs, von der der intradiegetische2 Ich-Erzähler, gescheiterter Schriftsteller und Journalist namens Javier Cercas (Homonym zum realen Buchautor und Literaturprofessor Cercas), durch Zufall Kenntnis erlangt und die er im Verlauf der Geschichte mit journalistischer Akribie recherchiert: Rafael Sánchez Mazas, seinerzeit Mitbegründer der faschistischen Falange Española, Schriftsteller und Verfasser der Parteihymne sowie enger Vertrauter des Partei­führers José Antonio Primo de Rivera, entkam einer Massenerschießung durch die Linken in den letzten Bürgerkriegs­tagen zuerst durch einen Streifschuss und dann bei seiner anschließenden Verfolgung dank eines anonymen republikanischen Soldaten, der ihn, obwohl in seinem Waldversteck auf­gespürt und bereits mit dem Gewehr anvisiert, nach intensivem Blickkontakt in einem Akt des Mitgefühls entkommen ließ. Beeindruckt von dieser Begebenheit, macht sich der fiktive Cercas auf die Suche nach den näheren Umständen der vereitelten Erschießung und zuletzt auch nach der Identität jenes Soldaten, der in seinem relato real über Sánchez Mazas, das er im Begriff ist zu schreiben, den noch fehlenden Helden verkörpern könnte. Gleichzeitig nimmt der reale Cercas seine Leserschaft mit auf eine detektivische Recherche nach authentischen Dokumenten und Aussagen von noch lebenden Zeitzeugen des Spanischen Bürgerkriegs sowie dem fehlenden Puzzleteil im Schaffens­prozess eines Romans.

Der Roman untergliedert sich in drei Teile: In Kapitel 1 befragt Cercas die beiden noch lebenden amigos del bosque Daniel Angelats und Joaquim Figueras sowie Maria Ferré, Tochter der Helferfamilie der republikanischen Deserteure, zu ihrer Zeit mit Sánchez Mazas im Waldversteck und erfährt die näheren Umstände seiner Flucht. Kapitel 2, das mit Soldados de Salamina denselben Titel trägt wie der Roman, stellt ein Buch im Buch dar. Es bildet das vorläufige Endprodukt von Cercas‘ Recherche- und Schreib­prozess – sein relato real über Sánchez Mazas‘ Beinahe-Erschießung und Entkommen sowie das politische und literarische Wirken des Falangisten vor und nach dieser Begebenheit. In Kapitel 3, Cita en Stockton, im Gegensatz zu den ersten beiden Teilen frei von echten Zeit­zeugenaussagen, kreiert der reale Autor Cercas den Kriegsveteranen Antoni Miralles, und liefert so dem fiktiven Cercas – vom Schriftsteller Roberto Bolaño auf dessen Spur gebracht und bei der Suche nach ihm von seiner leicht einfältigen Freundin Conchi unterstützt – die Gelegenheit, in einem Interview mit Miralles in dessen französischer Altersresidenz vielleicht doch noch den anonymen Soldaten des Erschießungs­kommandos und damit den dringend benötigten Helden für ein passables Ende seines relato real zu finden.

3. Gedächtnistheoretische Begriffe

In der Gedächtnisforschung sind zwei Begriffe grundlegend, die zuweilen fälschlich synonym gebraucht werden: Gedächtnis und Erinnerung. Gedächtnis bezeichnet nach J. Assmann (2011) „ die Fähigkeit, Erlebtes und Gelerntes zu behalten, aber auch zu vergessen, um Neues aufnehmen zu können; Erinnerung […] de[n] Akt, sich im Gedächtnis Gespeichertes bewusst zu machen“ (ebd.: 233; Hervorh. d. d. Verf.). Oder, um es mit A. Assmann (2011) auszudrücken: Das Gedächtnis als Teil des neuronalen Netzwerks im menschlichen Gehirn bildet die organische Voraussetzung für die „Tätigkeit des Zurückblickens auf vergangene Ereignisse“ (ebd.: 182).

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung als zwei eng verknüpften kulturellen Phänomenen hat seine Anfänge in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hunderts. Um 1920 war es vornehmlich der französische Soziologe Maurice Halbwachs, der das Gedächtnis sozialer Gruppen zum Gegenstand seiner Forschungsarbeit machte und mit bahn­brechenden, wenngleich die Kritik seiner Zeitgenossen auf sich ziehenden Aus­füh­run­gen zur mémoire collective (vgl. Halbwachs 1950) den Begriff des kollektiven Gedächtnisses als in einer Wechselbeziehung zum individuellen Gedächtnis stehend prägte und darauf seine „Theorie zur sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung“ (Erll 2005: 14) begründete. Zu jener Zeit war in Wissenschaftskreisen jedoch die Annahme populär, das Überliefern von Kultur geschehe nicht durch bewusste menschliche Interaktion, sondern aufgrund eines gene­tischen Rassengedächtnisses (ebd.: 21). So wurden Halbwachs‘ weg­weisende Über­legungen erst wieder ab der 1980er Jahre zum Forschungsgegenstand gemacht, allen voran durch das oben zitierte Forscher­ehepaar Aleida und Jan Assmann, die das Konzept des kulturellen Gedächtnisses einführten, sowie Halbwachs‘ Landsmann Pierre Nora mit seinem Fokus auf die sogenannten lieux de mémoire, kulturell geprägte Erinnerungsorte (ebd.: 13).

Trotz unterschiedlicher Terminierung von Gedächtnis und Erinnerung hebt Erll zwei wichtige ge­mein­same Kriterien hervor: den Gegenwartsbezug und den konstruktiven Charakter (ebd.: 7). Das Erinnern – als subjektive Rekonstruktion von Vergan­genem – sei ein „sich in der Gegenwart vollziehende[s] […] Zusammenstellen […] verfüg­barer Daten[;] Vergangen­heits­versionen änder[t]en sich […] gemäß den veränderten Gegenwarten“ (ebd.). So sei das Erinnern von Individuen und Gruppen kein „Spiegel der Vergangenheit“, jedoch ein „Indiz für die Bedürfnisse und Belange der Erinnernden in der Gegenwart“ (ebd.).

Nachfolgend werden die kultur- und medienwissenschaftlich gängigsten Gedächtnis­begriffe – das individuelle, kommunikative, kollektive und kulturelle Gedächtnis – näher betrachtet, da sie im weiteren Verlauf dieser Arbeit den theoretischen Rahmen der Roman­analyse bilden.

3.1. Das individuelle Gedächtnis

A. Assmann (2018) sagt:

[E]s [ist] die Erinnerungsfähigkeit […], die Menschen erst zu Menschen macht. […] Die je eigenen biographischen Erinnerungen sind unentbehrlich, denn sie sind der Stoff, aus dem Erfahrungen, Beziehungen und vor allem das Bild der eigenen Identität gemacht ist. (ebd.: 24)

Dieser geläufigen Sichtweise auf das Erinnern als eine dem Individuum inhärente, von anderen Menschen losgelöste Fähigkeit widerspricht Halbwachs insofern, als dass er auf die Einbettung von Erinnerungen in ein raumzeitliches Datengeflecht verweist, welches erst durch das Kollektiv, zu dem das Individuum gehört, mit Sinn gefüllt werde:

Usualmente se considera a la memoria como una facultad propiamente individual, es decir que aparece en una conciencia reducida a sus propios recursos, aislada frente a otros. […] [N]o es posible cuestionar que ubicamos nuestros recuerdos en un espacio y en un tiempo […] entre fechas que no tienen sentido más que en relación a los grupos de los que formamos parte […]. (Halbwachs 2002: 7)

Somit sind nach Halbwachs Einzelerinnerungen immer Teil eines kollektiven Gedächtnisses (siehe 3.3.), die nie für sich allein stehen. Diese etwas andere Betrachtungsweise ist dennoch nach­vollziehbar, sind zurückliegende Ereignisse in der Tat doch oft mit anderen Menschen verknüpft, die die Erinnerung an das Geschehene mit uns teilen können. Halbwachs bezeichnet etwa die Familie, eine Glaubensgemeinschaft oder Arbeitskollegen als soziale Gruppen, zu denen ein Mensch gehört und deren Erlebnisse von den Mitgliedern überindividuell, das heißt, gruppenspezifisch erinnert werden (Erll 2005: 16; Halbwachs 2002: 5). Für Halbwachs sind menschliche Erinnerungen also dem kollektiven Gedächtnis zugehörig: Eine Einzelerinnerung stelle eine bestimmte, individuell unter­schied­lich gewichtete, veränderbare Perspektive innerhalb des kollektiven Gedächt­nisses dar, welches alle Einzelerinnerungen gruppiere. Kollektives und individuelles Erinnern seien somit nicht deckungs­gleich (ebd.: 6), sondern stünden „in einer Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit“ (Erll 2005: 16). Gleichzeitig postuliert Halbwachs, das individuelle Gedächtnis sei weder in sich geschlossen noch von seinem Umfeld isoliert. Wolle er seine eigene Vergangenheit wachrufen, so sei der Mensch auf die Erinnerungen anderer angewiesen (Halbwachs 2002: 6) Diese Betrachtungsweise wird aus Sicht der Verfasserin jedoch da schwierig, wo alle Mitglieder der, nennen wir sie Erinnerungsgruppe versterben und lediglich ein Individuum mit seiner Einzelerinnerung übrigbleibt. Ist diese Erinnerung dann nicht mehr valide, da ihr Gedächtnis nach Halbwachs doch miterinnernde Protagonisten benötigt, die nun allesamt nicht mehr existieren? Erll (2005: 15) vermag Halbwachs’ Gedanken durch ein anschau­liches Beispiel zu erhellen: „[F]ür Halbwachs [hätte] wohl ein Caspar Hauser keine Erinnerung, der einsame Robinson Crusoe aber sehr wohl, weil er im Geiste auf die sozialen Bezugsrahmen seiner Heimat zurückgreifen kann.“ (ebd.; Hervorh. d. d. Verf.) Entscheidend ist für Halb­wachs somit die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, an die sich individuelle Erinne­rungen knüpfen, selbst – so lässt sich Erlls Robinson Crusoe-Beispiel deuten – wenn die Gruppenmitglieder zum Erinnerungszeitpunkt nicht mehr präsent sind. Und auch A. Assmann (2018) geht letztlich mit Halbwachs, wenn sie darlegt, Erinnerungen seien durch individuelle Lebensläufe und Betrachtungsweisen zwar stets verschieden, existierten jedoch „nicht isoliert, sondern […] mit den Erinnerungen anderer vernetzt “ (ebd.: 24; Hervorh. i. O.). Zusammenfassend erachtet Halbwachs das individuelle Gedächtnis also als Teil eines Kollektivs, welches aus vielen Einzelerinnerungen das Gedächtnis einer sozialen Gruppe formt. Erll (2005: 16) weiß dies abermals sehr treffend auszudrücken:

Nicht die Erinnerung selbst also, sondern die Kombination der Gruppenzugehörigkeiten und daraus resultierender Erinnerungsformen und -inhalte sind […] das wirklich Individuelle, das die Gedächtnisse einzelner Menschen voneinander unterscheidet. (ebd.)

Wie aber werden Erinnerungen wachgerufen? Der individuelle Erinnerungsprozess kann, so J. Assmann (2011), einerseits willentlich, das heißt, ganz bewusst als aktiver Vorgang von uns selbst ausgelöst werden, ebenso aber auch passiv, provoziert durch andere Menschen, materielle Dinge (z.B. Fotos) oder Sinneswahrnehmungen wie z.B. Gerüche (ebd.: 233).

A. Assmann (2018) zufolge stellen individuelle Erinnerungen dabei lediglich fragmentarische, zusammen­hanglose Moment­aufnahmen des Vergangenen dar, die „[e]rst durch Erzählungen […] nachträglich eine Form und Struktur [erhalten], die sie zugleich ergänzt und stabilisiert“ (ebd.: 25). Danach sind erzählte Erinnerungen niemals vollständig; stets fehlen Teilstücke, die nicht erinnert werden, oder es wird etwas hinzugefügt, damit das (wenige) Erinnerte im Nachhinein einen Sinn ergibt. Auch weist Assmann auf die Flüchtigkeit und Instabilität von Erinnerungen hin (ebd.), die sich mit den Menschen veränderten, mit der Zeit verblassten oder gar verschwänden. Erst je häufiger eine Erinnerung nacherzählt werde, desto stabiler sei sie im Gedächtnis verankert. Ebenso beeinflusse unsere Lebens­erfahrung den Stellen­wert einer Erinnerung: „Insbesondere verändern sich die Relevanzstrukturen und Bewertungsmuster im Laufe des Lebens, so dass ehemals Wichtiges nach und nach unwichtig und ehemals Unwichtiges in der Rückschau wichtig werden kann.“ (ebd.)

Die Tatsache, dass Erinnerungen stets bruchstückhaft sind und beim Nacherzählen ergänzt werden, mit der Zeit verschwimmen oder gar verloren gehen können und retrospektiv, gepaart mit der individuellen Lebenserfahrung, oftmals eine andere Gewichtung erfahren, erscheint auch für die spätere Romananalyse von Interesse, insbesondere in Hinblick auf die Verlässlichkeit erzählter Erinnerungen durch Zeitzeugen.

3.2. Das kommunikative Gedächtnis

Auch für das kommunikative Gedächtnis legte wiederum Halbwachs den Grundstein, indem er seinem Konzept des kollektiven Gedächtnisses verschiedene Ausprägungen zuschreibt und eine davon als Familien - oder kollektives Generationengedächtnis bezeichnet (Erll 2005: 16). Durch die mündliche Weitergabe von Erlebtem, etwa bei Familienfeiern, käme es zu einem „ Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen und Nachkommen “ (ebd.; Hervorh. i. O.). A. Assmann (2018) stellt als entscheidendes Charakteristikum des kommuni­ka­tiven Gedächtnisses seine auf etwa achtzig bis hundert Jahre, das heißt, auf maximal drei Generationen limitierte Lebens­dauer heraus (ebd.: 26). Dass Halbwachs vom Generationengedächtnis spricht, ist also durchaus zutreffend. Für ihn können Erinnerungen überhaupt erst durch gemeinsames Kommunizieren entstehen. Sprache ist damit, so führt A. Assmann Halbwachs‘ Gedanken weiter, wichtigster Stützpfeiler des kommunikativen Gedächtnisses, welches u.a. auf Inter­aktion, räumlicher Nähe und geteilten Lebens­erfahrungen basiert (ebd.: 25). Diese Inter­aktion zeichnet sich aus durch das persönliche Erzählen und Weitererzählen durch drei Generationen – die der Älteren, Kinder und Enkel –, welche „eine Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft bilden“ (ebd.). So erweitert sich der Horizont der eigens erlebten Erinnerungen um die der von den älteren Generationen erzählten (ebd.: 25f). Nach dem Aussterben dieser drei Generationen bricht das im kommunikativen Gedächtnis geteilte Erinnerungswissen jedoch unweigerlich weg, so dass A. Assmann metaphorisch vom „ Kurzzeitgedächtnis einer Gesellschaft“ spricht (ebd.: 26; Hervorh. i. O.). Auch in Soldados de Salamina wird das Erinnern oder Nichterinnern von Zeitzeugen und ihren Nachkommen zum Thema gemacht, wie Kapitel 5 zeigen wird.

3.3. Das kollektive Gedächtnis

Das kollektive Gedächtnis lässt sich als gesellschaftliches Diskursphänomen beschreiben, das von mehreren Personen einer Gruppe aus dem Bedürfnis nach einer gemeinsamen, identitäts­stiftenden Erinnerung heraus geformt wird. Wie bereits unter 3.1. in den Ausführungen zum individuellen Gedächtnis gesehen, wurde der Begriff kollektives Gedächtnis von Halbwachs ins Leben gerufen. In seinem erstmals 1925 verwandten Gedächtniskonzept, der mémoire collective, sind Individualerinnerungen Teil sozialer Gruppengedächtnisse – z.B. von Familien, Glaubensgemeinschaften, Schul­­klassen, Firmen­belegschaften oder Reisegruppen –, deren Mitglieder Menschen im Laufe ihres Lebens unwillkürlich werden. Das kollektive Gedächtnis, so führt Erll (2005: 17) Halbwachs‘ Gedanken aus, orientiert sich „an den Bedürfnissen und Belangen der Gruppe in der Gegenwart und verfährt daher stark selektiv und rekonstruktiv. Dabei sind Verzerrungen und Umgewichtungen bis hin zur Fiktion möglich.“ (ebd.; Hervorh. i. O.). Die Schlagworte Selek­tion, Rekonstruktion und Fiktion werden uns bei der Roman­analyse wieder­begegnen.

Halbwachs‘ radikaler Ansatz zur sozialen Bedingtheit jeglicher Individualerinnerung, der die Ausbildung eines rein individuellen Gedächtnisses praktisch negiert, erfuhr zu seiner Zeit bereits starke Kritik und ist bis heute nicht unumstritten. So spricht Sontag (2003: 85f) einer organisch gedächtnislosen Gesellschaft jegliche Fähigkeit zum gemeinschaftlichen Erinnern ab (A. Assmann 2011: 13). Dem widerspricht A. Assmann, indem sie zu Recht mit der Fähigkeit des menschlichen Gedächtnisses argumentiert, sich auch an nicht selbst Erlebtes zu erinnern (ebd.: 14), wie schon unter 3.2. zum kommunikativen Gedächtnis aufgezeigt.

Halbwachs‘ Konzept der mémoire collective lässt sich insgesamt in drei Dimensionen unter­teilen: Es umfasst neben dem sozial bedingten individuellen und dem sich durch Kommunika­tion formenden Generationengedächtnis eine weitere Ebene, in der kulturelles Wissen lang­­fristig tradiert wird (Erll 2005: 18). Letztere Dimension war Wegbereiter für die Ass­mann­sche Theorie des kulturellen Gedächtnisses, das im Folgenden thematisiert wird.

3.4. Das kulturelle Gedächtnis

In dem Maße, in dem die Kriegsgeneration und damit die Zeitzeugen der Geschichte all­mäh­lich aussterben, sind Forschung und Gesellschaft mehr und mehr auf andere, nach­haltige Überlieferungswege der Vergangenheit angewiesen. Hier kommt das auf die Assmanns zurückgehende mediengestützte kulturelle Gedächtnis ins Spiel (Erll 2005: 3). A. Assmann (2011) beschreibt dieses als ein Konstrukt, „das sich langfristig in Texten und Bildern, Vor­stellungen und Praktiken als ein kulturelles Erbe aufbaut“ (ebd.: 181). Das Assmannsche Konzept verbindet kulturelle Erinnerung mit der Herausbildung einer kollektiven Gruppenidentität im Kontext politischer Legitimierung (Erll 2005: 27). Dabei existierten mit dem bereits thematisierten kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis „zwei ‚Gedächtnis-Rahmen‘“ (ebd.): Während der erstere durch verbale Alltags­kommunikation geprägt ist und eine zeitliche Limitierung erfährt, kann das symbolträchtige, objektivierte kulturelle Gedächtnis ganze Jahrtausende umfassen (ebd.: 28; J. Assmann 2011: 236) und damit den „begrenzten Horizont lebendiger Generationen“ (Erll 2005: 18) überwinden. Im Fokus des kulturellen Gedächtnisses stehen mythische Erzählungen und feierliche Rituale, die den traditionellen Identitätskern einer Gemeinschaft bilden und von Spezialisten in verschiedensten Ausdrucksformen – etwa durch Texte, Bild und Tanz – weiter­getragen werden (ebd.: 28f). Wenngleich das kulturelle Gedächtnis institutionell und medial gestützt wird – etwa durch Museen, Bibliotheken, Schulen und Lehrende, Kirchen und Prediger etc., die historisch geprägte Traditionen, Wissen und Werte einer Gesellschaft konservieren (J. Assmann 2011: 237) und zur identitätsstiftenden Kanonisierung beitragen, ist es nicht gänzlich geschützt vor gezielter Manipulation durch politische Einflussnahme zum Zwecke von Macht(erhalts)bestrebungen:

[P]olitische Zerstörungsaktionen wie Bücherverbrennungen […], wo das kulturelle Gedächtnis Gegen­stand staatlicher Verfolgung wird, zeigen […] den potenziell subversiven, herrschafts­kritischen Charakter des kulturellen Gedächtnisses. […] Die Sieger haben mit dem Sieg ihr Ziel erreicht und benötigen die Vergangenheit nicht, die Verlierer dagegen sehen ihr Ziel in einer zukünftigen Wiedergutmachung und können es nur durch die wachgehaltene Erinnerung an die Niederlage […] anstreben. (ebd.: 234; Hervorh. d. d. Verf.)

So geschehen auch nach dem Spanischen Bürgerkrieg3 und dem sich ihm anschließenden fast vierzigjährigen franquismo 4. Einer gemeinsamen Aufarbeitung der blutigen Vergangen­heit des Landes wurde von offizieller Seite jahrzehntelang durch den sogenannten Pakt des Vergessens ein Riegel vorgeschoben, dessen Inhalte und Auswirkungen nun eingehender betrachtet werden.

4. Der Pakt des Vergessens: Spaniens Umgang mit seiner Geschichte

Der englische Philosoph John Locke (1972) postuliert: „Nur wer sich erinnern kann […], kann auch Verantwortung übernehmen und ist eine Person im sozialen und juristischen Sinne.“ (zit. n. A. Assmann 2011: 185) Folgen wir diesem Postulat, so wurde das spanische Volk durch den in der transición 5 geschlossenen sogenannten Pakt des Vergessens – span. pacto del olvido – von seiner juristischen, letztlich aber auch moralischen Verantwortung zur Aufarbeitung der (Kriegs-­)Verbrechen im Spanischen Bürgerkrieg und Franquismus entbunden. Die Erinnerung an die Gräueltaten wurde bewusst totgeschwiegen, von offizieller Seite in einen Mantel des Schweigens gehüllt, der nun erst allmählich Löcher bekommt. Somit war Spanien in den vergangenen Jahrzehnten gewissermaßen geprägt von einem kollektiven Vergessen. Das Amnestiegesetz von 1977, das die zwei Bürgerkriegslager – im Kern rechte, konservative Nationali­sten vs. linke, progressive Republikaner – aussöhnen und durch ein rasches Ruhenlassen der Vergangenheit im von separatistischem, links- und rechtsradikalem Terror bedrohten Transitionsprozess politische Stabilität gewähr­leisten sollte, gewährte allen Tätern von vor 1977 politisch begangenen Verbrechen Straf­freiheit. Durch diese Generalamnestie kamen nicht nur alle politischen Gefangenen frei, es wurde zudem der Weg versperrt für eine strafrechtliche Verfolgung aller im Bürgerkrieg und Franquismus verübten Menschenrechts­verbrechen. So blieben mindestens 140.000 Morde6 (vielleicht sogar noch mehr) an Regimekritikern des Franquismus ungesühnt, und unzählige Kriegs­opferfamilien – umtrieben von der Ungewissheit, was mit ihren Angehörigen geschah – können bis heute ihren Frieden nicht finden. Diesen Menschen spottet der kollektive Pakt des Vergessens geradezu . Treffend erscheint in diesem Kontext die Assmannsche Analyse:

[B]ei Friedensschlüssen [ist] zur Vermeidung von Rachezyklen gemeinsames Vergessen angezeigt […]. Dies Vergessen verbietet sich aber , wo es nicht um Sieger und Besiegte, sondern um Täter und Opfer geht. Hier kann nur gemeinsame Erinnerung Frieden und Aussöhnung bringen. (J. Assmann 2011: 234; Hervorh. d. d. Verf.)

Erfreulicherweise ist in der jüngeren Vergangenheit Spaniens ein Umdenken hinsichtlich des Umgangs mit seiner Geschichte erfolgt. Vor wenigen Tagen – nach jahrelangem Ringen – genehmigte es das spanische Abgeordnetenhaus, aus dem einstigen Franco-Mausoleum El Valle de los Caídos, das dieser sich schon zu Lebzeiten selbst als über­dimensionales, glorifizierendes Denkmal setzte und das lange Zeit als Pilgerstätte für Alt­franquisten galt, den Körper des Diktators zu exhumieren und zu verlegen; und dies noch vor Jahresende7. Unklar bleibt hingegen, was anschließend mit der Stätte passieren soll, ob sie etwa zum Denkmal in Erinnerung an die an diesem Ort Gefallenen umfunktioniert wird8. Dem Noraschen Konzept der Erinnerungsorte folgend, welche an „geographische Orte, Gebäude, Denkmäler und Kunstwerke ebenso […] wie historische Persönlichkeiten, Gedenktage, philosophische und wissenschaftliche Texte oder symbolische Handlungen“ gebunden sein können (Erll 2005: 23), würde dem Valle de los Caídos damit ein neuer, für das kulturelle Gedächtnis des Landes sicherlich gewichtiger Symbolwert als Erinnerungsort an seine (Nach-)Kriegsopfer zuteil. Auch wurden in vielen spanischen Städten inzwischen frankistisch konnotierte Straßennamen umbenannt.7 Möglich macht diese Maßnahmen eine Modifikation des 2007 verabschiedeten Ley de la Memoria Histórica – dem Gesetz des historischen Andenkens –, das auch die staatliche Exhumierung von Kriegsopfern aus ano­nymen Masse­ngräbern vorsieht. Bis zur Verab­schie­dung dieses Gesetzes war es indes ein langer Weg. Denn das General­amnestie­gesetz von 1977 war, so Brinkmann (2008), mit einer stillen Über­ein­kunft aller politischer Parteien verbunden, die Schuldfrage und – damit einher­gehend – auch die nach den Verantwortlichen der Gräueltaten nicht in der Tages­politik aufzugreifen. Brinkmann nutzt hier das traurige Wortspiel der „Amnestie und Amnesie“ (ebd.: 109). Jene Amnesie überdauerte beinahe das ganze 20. Jahrhundert. Erst um die Jahr­tausend­wende, als bereits immer weniger Kriegs­zeitzeugen existierten (gleichwohl aber ihre über das kommunikative Gedächtnis an die nächsten Generationen weitergetragenen Erinnerungen), war es ausgerechnet die Enkel­genera­tion, die das auferlegte Schweigen brach. Brinkmann führt dies auf den sogenannten „Generationenfaktor“ zurück (ebd.: 114): Während für die Bürger­kriegs­kinder „die friedliche Überwindung des Franquismus zu einer zentralen Lebensfrage“ geworden war (ebd.), vermochten sich die Enkel leichter von der historischen Tabuisierung zu lösen und diese kritisch zu hinterfragen (ebd.: 114f).

[...]


1 Ins Deutsche übersetzt von Willi Zurbrüggen als „ Erzählung nach der Wirklichkeit” (Cercas 2017: 75).

2 Literarische Erzählebene, in der die Erzählinstanz Figur innerhalb der Diegese (= Erzählung) ist (siehe Stenzel 2001: 81).

3 Von 1936-1939 kämpften konservative, katholische Rechte gegen republikanisch-sozialistisch und anar­chi­stisch orientierte Linke (siehe Stenzel 2001: 109); das konservative, nationalistische Lager ging als Sieger hervor.

4 Spanische Bezeichnung für die vom Ende des Spanischen Bürgerkriegs 1939 bis zum Tod Francos am 20.11.1975 andauernde autoritäre Diktatur des faschistischen Generals Francisco Franco – zu dt. Franquismus. (vgl. z.B. Wörterbuch der Real Academia Española, http://dle.rae.es/?id=IPVpyMO (Zugriff 23.9.18).

5 transición: Beschreibt den Demokratisierungsprozess Spaniens nach Ende der Franco-Diktatur, d.h., die mit Francos Tod 1975 eingeläutete Übergangsphase bis zur demokratischen Regierungsbildung. Durch Parlaments­wahlen im Oktober 1982, aus denen die sozialistische PSOE als die mit absoluter Mehrheit gewählte neue Regierungspartei hervorging, konsolidierte sich Spanien als demokratischer Staat (siehe Stenzel 2001: 111f).

6 Zu den Opferzahlen des Franquismus siehe z.B. den Online-Artikel von Suchsland (2006): Kampf der zwei Spanien. In: Telepolis. Hannover: Heise online. https://www.heise.de/tp/features/Kampf-der-zwei-Spanien-3407374. html (Zugriff 9.9.18) oder Alcántara (2016): Desmontando las cifras de la Fundación Francisco Franco sobre la represión franquista. https://radiorecuperandomemoria.com/2016/11/22/desmontando-las-cifras-de-la-fundacion-francisco-franco-sobre-la-represion-franquista/ (Zugriff 8.9.18).

7 siehe Público -Online-Artikel von Torrús (2018): „Eduardo Ranz, el alma máter de la exhumación de Franco”, https://www. publico.es/politica/eduardo-ranz-alma-mater-exhumacion-franco.html (Zugriff 19.9.18)

8 siehe El País -Online-Artikel von Arnaldo (2018): „¿Qué hacer con el Valle de los Caídos?“, https://elpais.com/ cultura/2018/07/19/babelia/1532021552_798354.html (Zugriff 19.9.18)

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Details

Titel
Javier Cercas dokufiktionaler Roman "Soldados de Salamina". Aufarbeitung Spaniens historischer Erinnerung
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
26
Katalognummer
V935481
ISBN (eBook)
9783346264183
ISBN (Buch)
9783346264190
Sprache
Deutsch
Schlagworte
javier, cercas, roman, soldados, salamina, aufarbeitung, spaniens, erinnerung
Arbeit zitieren
Jessica Wunder (Autor:in), 2018, Javier Cercas dokufiktionaler Roman "Soldados de Salamina". Aufarbeitung Spaniens historischer Erinnerung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/935481

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