Leseprobe
Inhalt:
I. Der bürgerliche Staat in statu nascendi
II Ein neuer ästhetischer Entwurf: Romantisierung der Wirklichkeit
III. Sonderlinge und Außenseiter
IV. Die Kritik an den Philistern
V. Die schwarze Romantik
VI. Kritik an den Romantikern
Vorwort
Dass die Romantik eine Gegenbewegung zur Aufklärung war, ist der Sache nach nicht anzuzweifeln. Gegenstand der folgenden Betrachtungen soll sein, wie sich die Romantiker dazu alternative „Gegenwelten“ geschaffen haben, und zwar „ in der Romantik“. Die Präposition „in“ grenzt die Epoche der Romantik von den anderen literarischen Epochen - Aufklärung, Weimarer Klassik - von vornherein ab, die um 1800 literarisch wirksam waren. Mit ihrer Literatur formulierten die Romantiker katexochen eine abweichende Rezeption von Wirklichkeit und Sicht auf ihre vorfindliche Welt, mit der sie nicht zufrieden waren und an der sie einiges auszusetzen hatten. Wie sich diese explizit antiaufklärerische Kritik artikulierte und welches ihr Zweck war, nämlich (nicht nur) literarisch ein „Rollback“ des Mystizismus und des Aberglaubens zu bewerkstelligen, soll im Folgenden aufgezeigt und erklärt werden.
Dazu werden zunächst die polit-ökonomischen Bedingungen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschten, kurz skizziert. Daran schließt sich eine Untersuchung der romantischen Weltsicht und des Versuchs einer „Romantisierung der Wirklichkeit“ an, wie sie von Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis) programmatisch entworfen worden war.
Anhand zweier Aspekte, die die „Gegenwelten in der Romantik“ beschreiben, werden diese näher analysiert werden. Die romantischen Schriftsteller verstanden sich durchaus als „Sonderlinge und Außenseiter“ im Literaturbetrieb ihrer Zeit oder wurden von ihrer Umgebung dazu gemacht. Eingegangen wird danach auf die „Kritik an den Philistern“, mit der die Romantiker - zu den beiden oben Angesprochenen wird sich Clemens Brentano gesellen - den Gegensatz zu dieser bürgerlichen Umgebung begründeten. Ein „praktischer“ Gesichtspunkt der Gegenwelten in der Romantik wird das Bild abrunden. Dies wird an zwei Beispielen schwarzromantischer Literatur - Hoffmanns „Goldner Topf“ und von Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ - gezeigt werden.
Dass diese Form oppositioneller Dichtung Widerspruch und Kritik auf sich zog, wird im Anhang verdeutlicht.
I. Der bürgerliche Staat in statu nascendi
Warum haben sich die Romantiker eigentlich alternative „Gegenwelten“ geschaffen? Und wie sahen die „Welten“ aus, gegen die sie ihre Auffassung von Wirklichkeit stellten? Dazu ist ein Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit nötig, die sie romantisieren wollten.
Der ehemalige Dritte Stand - bestehend aus Beamten, Kaufleuten, Advokaten, Lehrern, Händlern und Handwerkern - hatte die führende wirtschaftliche Rolle innerhalb der bestehenden Gesellschaft übernommen - ohne allerdings den (damit implizit unterstellten) politischen Macht- und Souveränitätsanspruch schon durchsetzen zu können; deswegen konzentrierte sich die bürgerliche Elite zunächst auf ihre „Kernkompetenz“, die Ökonomie, sowie auf kulturelle Einflussnahme innerhalb der weiter existierenden absolutistischen Strukturen.1 Gegen das alte Regime des Absolutismus und des Feudalismus hatte sich der Dritte Stand - in Frankreich politisch und sehr gewaltsam - durchgesetzt. Aber in den deutschen Kleinstaaten und freien Städten, die sich 1815 dem Deutschen Bund angeschlossen hatten, hatte er sich eben nur auf der Basis seiner ökonomischen Dominanz behauptet. Ansätze einer Industrialisierung waren erkennbar, aber von den Fortschritten, die andere Länder diesbezüglich schon gemacht hatten, war er weit entfernt.2 Das aufstrebende Bürgertum hatte sich die Ideen der Aufklärung zu eigen gemacht, hatte eine eigene bürgerliche Kultur (Schulbildung der Bürgersöhne, florierende Theater, Lesezirkel und allgemeine Verbreitung von Literatur, damit Entstehung eines Verlagswesens etc.) etabliert und sich auch in dieser Sphäre von der Vormachtstellung der Fürsten und absolutistischen Herrscher emanzipiert und sich eine eigene „Gegenwelt“ geschaffen. Eine Welt, in der Arbeit und Pflichtbewusstsein den Mittelpunkt des Lebens bestimmten und Freizeit als Luxus angesehen wurde, die man sich erst leistete, wenn die Arbeit erledigt war - vor allem in protestantisch geprägten bürgerlichen Milieus im Unterschied zu katholischen Gegenden, in denen der Glaube nicht verinnerlicht werden musste, in denen man mit seiner Gottesansprache nicht auf sich selbst verwiesen wurde, sondern nach außen sich zeigen konnte, zumal diese religiöse Ausprägung viel leichter zu praktizieren war; kurz, eine Welt, in der das schlechte Gewissen sich nicht zum Maßstab des Handelns machte, in dem so etwas wie Rituale der Lebensfreude erlaubt waren und in denen das christliche Leben bunter, prächtiger und „geruchsintensiver“ angelegt war. Nicht umsonst haben diese Attribute christlichen Lebens viele Romantiker zum Katholizismus konvertieren lassen, wo es eine Heiligen-Magie gab und das Wunderbare nicht verleugnet werden musste, in dem der Primat der Spiritualität nicht durch Rationalität verdrängt worden war, wo also das ganze „Eiapopeia vom Himmel“ (Heine) sicheren Bestand hatte.
Eine Welt, in der sich Leistung und Bildung lohnen sollten und damit ein Gegen entwurf zu dem Müßiggang des Adelsstandes etabliert wurde, ein Antagonismus sich zwischen den Ansprüchen des selbstbewusst-mündigen bürgerlichen Individuums auf der einen und der feudalistisch-absolutistischen Gesellschaft auf der anderen Seite formierte: eine neue Arbeitsethik3, die auf den dem Ersten Stand überlegenen ökonomischen Notwendigkeiten beruhte: die Bürger waren die wesentlichen Akteure des wirtschaftlichen Lebens, die entwickelte Arbeitsteilung hatte sich in der Manufaktur bereits als höchst effektiv erwiesen und mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften und mit dem Einsatz erster Maschinerie war der Übergang in eine andere Produktionsweise angekündigt, die die Arbeitsteilung komplett als wirtschaftliche Methode ein- und durchsetzte, nämlich als Übergang in die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise, die den Gebrauchswert nicht mehr achtete, sondern den (Tausch-) Wert pur zum Prinzip erhob. Damit und mit der Mentalität des Verzichtes und der Selbstdisziplinierung tauchte auch die Konzeption einer Bürger- oder Zivilgesellschaft (societas civilis) in der Welt auf und bestimmte fortan die gesellschaftliche Wirklichkeit mit all den Implikationen, die einen funktionierendes Wirtschaften damals schon früh auszeichnete: radikales Nützlichkeitsdenken mit dem alleinigen Maßstab, aus Geld mehr Geld zu machen. Diese Form, eine dem Primat der Wirtschaft - der Markt ist alles und ganz alternativlos - folgende Gesellschaft, freilich befand sich, wie gesagt, am Anfang des 19. Jahrhunderts noch in statu nascendi, prägte aber bereits das gesellschaftliche Leben in nicht unerheblicher Weise: Vertragsfreiheit und zunehmende Konkurrenz der Individuen um die Teilhabe am ökonomischen Erfolg auf allen Ebenen.4
In seinem Werk über die Romantik benennt Rüdiger Safranski dies, indem er in diesem Zusammenhang „rationales Denken“ einerseits und „rationelles Agieren“ andererseits unterscheidet.5 Mit dem „Rationalen“ ist das gemeint, was die privaten Produzenten als freie Konkurrenten auf dem freien Markt treiben, - für diese ist das der Inbegriff von Vernunft. Es ist dies die praktisch umgesetzte Forderung der Aufklärer (Kants Sapere aude) umgemünzt auf die wirtschaftlichen Bedingungen ihrer Akteure. Mit dem „Rationellen“ spricht Safranski an, was diesem Treiben notwendig praktisch zugrunde liegt: mit Zweckmäßigkeit, Pragmatismus, Effektivität und Nützlichkeitsdenken die Maximierung des angestrebten Erfolges auf ebendiesem Markt sicherzustellen.
Zum Aushalten dieser Bedingungen gehört unentbehrlich eine christlich gefärbte Moral, die von den dafür zuständigen Vertretern beider Fraktionen bereitgestellt wird (Gott liebt mich ganz besonders, weil ich beruflich so erfolgreich bin; umgekehrt findet das religiöse Konkurrenzsubjekt aber auch göttlichen Trost für die unausweichlich beigebrachten Niederlagen, die das Geschäft natürlich auch immer wieder bereit hält). Aber auch eine aufklärerisch-ethisch-deistisch geprägte Moral, die den selbstbewussten Bürgern bestätigte, dass ihr Erfolg ausschließlich ihr eigener Verdienst sei, weswegen sie sich auch für die Kosten seiner Durchsetzung nicht zu schämen brauchten, hilft dabei, das Geschäftsleben und seine Auswirkungen von einer höheren Instanz sich legitimieren zu lassen.
Von den Romantikern wurden die Folgen solch moralischen Verhaltens, das sich die Bürger neben ihrem Geschäft leisteten und das ganz selbstverständlich in ihren Alltag integriert war und sich dort in oft merkwürdiger Weise zeigte, übrigens verächtlich als unecht und als geheuchelt, i.e. als Philister-Moral verspottet. Das wird unten im IV. Kapitel näher untersucht werden.6
Diese hier - notwendig knapp - skizzierten gesellschaftlichen Bedingungen fanden die romantischen Schriftsteller also vor.7 Als Kinder der Aufklärung gefiel ihnen zunächst einerseits die neu gewonnene Freiheit des Individuums, seine (erlaubte) Betätigung als freier Bürger und Vertragspartner (selbstverständlich gab es immer noch Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, in denen der bürgerliche Fortschrittsgedanke noch nicht angekommen war), andererseits beäugten sie diese Freiheit sehr argwöhnisch, weil ihnen aufgefallen war, was diese umgekehrt bewirkte: denn mit der zunehmenden allgemeinen Durchsetzung der Anerkennung der Menschen als gleichberechtigte Teilnehmer des in Gang gesetzten gesellschaftlichen Prozesses, ergo als Personen, entstand auf erweiterter gesellschaftlicher Stufenleiter eine, in ihren Augen, neue Unfreiheit, deren Zwängen sie sich unterworfen sahen. Modern ausgedrückt könnte man formulieren, dass ihnen die „Kosten“ der neuen Freiheit zu hoch waren.
Auf dieser gesellschaftlichen Folie betraten die romantischen Autoren also die literarische Bühne mit ihren Wortmeldungen und ihrem Idealismus. Diese sich im Umbruch befindliche Wirklichkeit - heute trägt sie in ihrer vollständig entwickelten Form den Titel freie Marktwirtschaft - wollten sie romantisieren.
Das war ihre Kritik an den Verhältnissen, die sie ganz und gar falsch fanden und gegen die sie rebellierten. Wirklich politisch dachten sie dabei nicht, es ging ihnen recht eigentlich nur um eine Verschiebung des ästhetischen Horizonts - auch wenn viele von ihnen sich der national-patriotischen Bewegung anschlossen, die die französischen Besatzer vertreiben wollte. Ihre Abneigung mündete nicht in politischen Taten, sondern in einer patriotischpoetischen Deutschtümelei; ihre politischen Ansichten waren weitgehend reaktionär.8 9
Die Transformation ihrer so beschaffenen Wirklichkeit in eine andere, idealere Realität wollten sie mittels einer Rebellion des künstlerischen Geistes umsetzen. Das setzten die Frühromantiker auf die literarische Tagesordnung - jedoch nur in ihren Köpfen, in ihrer Fantasie, in ihren poetischen Schriften. Erst Heine schaffte es, sich aus diesem idealistischen Sumpf beim Schopfe zu packen und zu befreien; er dachte politisch, weil er in seinen Texten die gesellschaftlichen Missstände brandmarkte, teilweise so radikal, dass er nicht nur Publikationsverbot erhielt, sondern auch vor der Zensur und der Polizei nach Frankreich fliehen musste.
II. Ein neuer ästhetischer Entwurf: Romantisierung der Wirklichkeit
Nachdem nun deutlich geworden ist, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit beschaffen war, gegen die die Romantiker ihre Einwände vorbrachten, nämlich eine, in der das Individuum hauptsächlich auf seine ökonomische Tauglichkeit und seine Nützlichkeit für fremde Zwecke reduziert wurde und diese Benutzung auch nicht verweigerte, sondern darin für sich eine Chance sah, mit seinen materiellen Zwecken besser zum Zuge zu kommen -, ist nun zu untersuchen, wie sich die „Gegenwelten“in der Romantik artikuliert und dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit den literarischen Kampf angesagt hatten und mit welchem Programm das bewerkstelligt werden sollte.10
So antworteten die frühen Romantiker auf die oben skizzierten gesellschaftlichen Veränderungen mit einem ästhetischen Entwurf, der mit einer religiös konnotierten, naivdestruktiven und unwissenschaftlichen Kritik an den Errungenschaften der Aufklärung11 ansetzte. Sie beklagten die Erfolge der Aufklärung, die die Durchsetzung der bürgerlichen Freiheit als philosophisch-ideologischer Überbau begleiteten. Die Initiierung einer literarischen Bewegung gegen die im Bürgertum weitgehend durchgesetzten Prinzipien der Aufklärung um 1800 hatte zum Resultat eine Verherrlichung des Irrationalen, und zwar von Beginn an.12
Wie grenzten sich die Frühromantiker mit ihrer Programmatik von den Grundsätzen der Aufklärung ab, was hatten sie an ihr auszusetzen? Zur Klärung dieser Frage ist zunächst an die wichtigsten Schlüsselbegriffe der Aufklärung zu erinnern:13
- Befreiung (Ausgang) des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit (Kant)
- Primat der Vernunft
- Prinzip der Kritik, Aufforderung zum eigenständigen Denken (Autonomie der Vernunft)
- Toleranz, Gewissens- und Glaubensfreiheit als Menschenrecht
- Emanzipation/Anerkennung und Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums
- Postulat einer „Vernunftreligion“ versus einer „Offenbarungsreligion“
- Säkularisierung (Enteignung geistlicher Territorien, Auflösung von Klöstern, usw.)
- Aufwertung und Förderung der (Natur-)Wissenschaften
- Pädagogik als zentrales Anliegen: Erziehung zur Mündigkeit, „Menschenbildung“
- Konsequenzen für eine neue Lebenspraxis/Lebensführung des Individuums:
- Aufwertung der Familie als Heim und Schutz
- Trennung von Arbeits- und Privatsphäre
- Neuer Stellenwert von Freundschaft als vertrauensvolle Anerkennung des anderen sowie gegenseitiger Identifikationsmöglichkeit; und als Ideal nicht berechnender Bezugnahme aufeinander
- Erweiterung kommunikativer Möglichkeiten durch Formen von Geselligkeit, und Diskursivität (literarische Salons etc.)
Diese Merkmale der Aufklärung waren den Theoretikern der Romantik verdächtig, weil sie in ihrer Anwendung wichtige Seiten menschlicher Existenz ausblenden bzw. verleugnen würden.14 Sie bemängelten:
- die Vernachlässigung der Ganzheit des Individuums, zu der auch die Welt des Gefühls und der unendlichen Fantasie gehören würde;
- damit die Reduzierung des Subjektes auf das Rationale;
- die einseitige, der Ratio geschuldete Wirklichkeitsauffassung, die das Mysterienhafte und Wunderbare, das der menschlichen Existenz zu eigen sei, leugnen und bekämpfen würde;
- die Trennung von Mensch und Natur durch die Ökonomisierung der Wissenschaften;
- die einseitige Betrachtung der Natur unter nur empirischen Gesichtspunkten, damit Verleugnung des in ihr enthaltenen göttlichen Anteils, der aus ihrem paradiesischen Ursprung abgeleitet ist;15
- die Selbstverherrlichung des Menschen und die damit einhergehende Untergrabung höchster christlicher Werte samt Bekämpfung ihrer Organisationen (Kirchen) und
- damit die Propagierung eines Menschenbildes, das sich an Nützlichkeitskriterien orientieren würde.16
Davon ausgehend kann nun genauer erklärt werden, was es mit der romantischen Weltsicht auf sich hat und was es bedeutet, wenn „die Welt romantisiert“ werden soll. Dazu ist es notwendig, zum einen den Blick auf das 1798 von Friedrich Schlegel in der Zeitschrift Athenaeum publizierte 116. Fragment zu richten, das das zentrale ästhetische Programm enthält, mit dem sich die romantischen Enthusiasten auf den Weg machten, nicht nur die gewohnten Lesegewohnheiten zu verändern,17 sondern mit Hilfe der Poesie eine ganz neue Kunstauffassung zu etablieren. Und zum anderen müssen wir uns die Äußerungen von Novalis zu diesem Zweck vornehmen.
Friedrich Schlegel gilt als der theoretische Kopf und einer der Begründer der Romantischen Schule. Mit seiner programmatischen Erklärung hat er der romantischen Bewegung die (literarische) Stoßrichtung vorgegeben. Er beschreibt das romantische Selbstverständnis folgendermaßen:
„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. (...) Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“. (...)18
Was heißt das?
Kam es der Aufklärungsliteratur vor allem darauf an, z.B. durch moralisierende Fabeln erzieherisch zu wirken oder ihren Adressaten über/durch das Genre „Roman“ Bildung zu vermitteln (als „Bildungsroman“; z.B. Wielands „Geschichte des Agathon“) und insbesondere durch das Drama aufklärerische Gedanken zu verbreiten (Lessing), also nützlich zu sein, auf (natur-)wissenschaftlicher Klarheit zu bestehen, „die Dinge“ durch Nach-Denken zu prüfen, so war dieser Zweck bei den frühen Romantikern durchgestrichen. Sie verfolgten ein anderes Ziel mit Literatur bzw. mit dem, was sie unter Poesie verstanden. Sie wollten (antiaufklärerisch) gerade nicht erzieherisch wirken, sondern ein „gediegner Bildungsstoff“ sollte als Werkzeug der (Universal-)Poesie fungieren. Bildung wird von Schlegel (und den Romantikern überhaupt) nur in Verbindung mit Kunst gedacht. Bildung, die sich aus angesammeltem nützlichem Wissen formt und nach außen wirken will, war damit per definitionem nicht gemeint.
Wenn diese neue Poesie mit den Attributen „progressiv“ und „universal“ Gültigkeit beanspruchte, war damit etwas ganz anderes als in der Aufklärung gemeint, die ja auch fortschrittlich und für alle Menschen (universal) da sein sollte; und eben nicht nur für die gebildete Aristokratie. Ausgangspunkt für Schlegel und Novalis war die Unzufriedenheit mit den Resultaten der Aufklärung, die den Primat der Vernunft erkämpft hatte. Dem stellten sie den Primat des Gefühls und der Kunst gegenüber.19
Friedrich Schlegel begreift Poesie also als gegenläufig zur Rationalität. Wenn er eine Universalpoesie proklamiert, will er nicht nur eine Verschmelzung der literarischen Gattungen herbeiführen,20 sondern diese sollte außerdem fungibel mit den anderen damals universitären Geisteswissenschaften sein; auch die „Tiefgelehrten“ und mit ihnen die Philosophie und Rhetorik hätten sich der Poesie zu subsumieren.21 Diese sollte endlich die Disparatheit und Zersplitterung der Welt heilen und den ganzheitlichen Anspruch der Romantiker umsetzen. Der romantische Autor ist damit das Subjekt dieses Verlangens, das Werkzeug der immanenten Willkür dieses Programms. Zu seiner Umsetzung bedient er sich der Unabgeschlossenheit, des bewusst Fragmentarischen seiner Texte („Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann“). Seine Schriften sind Ausdrücke seiner grenzenlosen Fantasie, seiner Träume, seines Unbewussten, seiner seelischen Abgründe und seiner „Genialität“.
Mit ihrer fragmentarischen Substanz bilden die Texte einen regressus ad infinitum, indem sie sich - kaum sind sie „fertiggestellt“ - immer wieder selbst „progressiv“ zurücknehmen, in ihrer willkürlich hergestellten Unfertigkeit - und so Universalität erlangen sollen.
Die Gültigkeit der Universalpoesie, also der „romantischen Dichtart“, ist angesichts ihres unendlichen Anspruchs absolut,22 jedenfalls nach normal-menschlichen Maßstäben, denn nur Menschen mit einem Bezug zu einer höheren Wahrheit, i.e. eine religiös-mystische („divinatorisch“), haben überhaupt das Recht, sich in diese Sphäre einzumischen; ansonsten ist diese bestimmte Poesie mit einem Kritikverbot belegt. Der Autor, der das erkannt hat, ist befugt, in freier Beliebigkeit nur seiner eigenen Fantasie und Schöpfungskraft zu folgen, er ist keiner anderen Instanz Rechenschaft schuldig, sondern setzt sich selbst als absolutes Subjekt, das aber immerzu nur zu relativen, d.h. unfertigen Ergebnissen (Fragmenten) seines Schaffens gelangt: „ Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“.23
Darüber waren sich also die Wortführer der Romantik sehr wohl im Klaren. Insofern kann die romantische Theorie eine Theorie der Vergeblichkeit genannt werden.24 Ihre Mittel, diese Vergeblichkeit zu artikulieren, waren, wie eben ausgeführt, einerseits das gewollt Fragmentarische ihrer Dichtung und andererseits die sich selbst reflektierende Ironie des Dichters, die auch als Romantische Ironie bezeichnet wird.
Exkurs: Was ist Romantische Ironie?
Die Betrachtung der Weltsicht der Romantiker bzw. zu ihrer Absicht, die Welt zu romantisieren, macht es auch nötig, einen kurzen Blick auf eines ihrer poetischen Mittel zu werfen, nämlich auf die „Romantische Ironie“. Friedrich Schlegel hat den Begriff der Ironie in die moderne Literatur eingeführt.25
Vorweg: Nicht gemeint ist das rhetorische Stilmittel der Ironie, also das Übertriebene und das Hervorheben des Gegenteils des Gemeinten zur Verdeutlichung desselben. Vielmehr bezeichnet der Terminus eine ästhetische Technik und eine ästhetische Grundhaltung, mit der die eigenen Bedingungen des Schreibens reflektiert und sichtbar gemacht werden sollen. Mittels dieser Technik erhebt sich der romantische Künstler über sein Kunstwerk, stellt es zur Disposition, nimmt sich zurück, macht sich gleichsam darüber lustig und propagiert auf diese Weise seine schöpferische Freiheit und seine Willkür beim Schreiben seiner Texte. Mit dieser Form der Selbstreflexion zweifelt der Autor zudem die Objektivität seiner Texte an, wenn er die Grenzen zwischen seiner erlebten Realität als Schreiber und seiner künstlerischen Fantasie verschwimmen lässt. Zugespitzt könnte man sagen, dass der romantische Schriftsteller seine Leser mit seinem Werk nicht nur auf eine falsche Fährte locken möchte, ihn verwirren will, sondern ihn mit in den Schaffensprozess einbeziehen möchte. Das führt uns E.T.A. Hoffmann in seinem „goldnen Topf“ sehr praktisch vor. Indem er den schriftstellerischen Prozess zum Gegenstand seines märchenhaften Entwicklungsromans macht, entwickelt er ein irritierendes Spiel mit verschiedenen Deutungsund Realitätsebenen, i.e. eine andauernde Verschiebung der Erzählperspektive zwischen auktorialem, personalem und Ich-Erzähler. Der permanente Wechsel zwischen profaner bürgerlicher Alltagswelt und poetisch-paradiesischer Märchenwelt sorgt beim Leser für eine gewollt-ironische Brechung seiner Wahrnehmung. Und der auktoriale Erzähler der Entwicklung des Anselmus mischt sich nicht nur in die Geschichte ein und nimmt den Leser in das erzählte Geschehen mit, sondern kommentiert es zudem. Der personale Erzähler schildert Anselmus‘ innere Wahrnehmungen, seine Gedanken und Gefühle. Der Ich-Erzähler fungiert schließlich als der Autor Hoffmann selbst, wenn dieser sich Gedanken über den Schluss der Geschichte macht. Dass er Alkohol für sein weiteres Schreiben benötigt, ist erstens makaber-ironisch und zweitens referentiell eine karikierende Beschreibung der Alkoholsucht des Autors Hoffmann - und wird damit selbst zum Zubehör des eigenen Werkes. Indem er Teil der eigenen Geschichte wird, löst Hoffmann das romantische Ideal ein, die Grenzen zwischen Poesie und dichterischer Existenz zu verwischen.
Der letzte Satz des „goldnen Topfes“ bringt die Programmatik der Romantiker, der sich Hoffmann verpflichtet weiß, übrigens exakt auf den Punkt, „denn ist (...) Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?“ 26
[...]
1 An dieser Stelle ist ein kurzer Hinweis zu den politökonomischen Gegebenheiten der Entstehung des bürgerlichen Staates angebracht: Mit der weiteren politischen Emanzipation des Bürgertums vollendet sich die Scheidung von privatrechtlicher und politischer Verfügungsgewalt. Die Dichotomie von Bourgeois und Citoyen, diese gesellschaftliche Chimäre aus Wirtschaftsbürger und mündigem Staatsbürger, war damit im ungeschriebenen Programm der neu sich herausbildenden Gesellschaftsform, die den Tauschwert zum absoluten Maßstab erhob, bereits enthalten.
2 „Kennzeichnend für die Industrialisierung (...) ist deshalb die Ungleichzeitigkeit und räumliche Disparität der Entwicklungen, die sich schließlich zum Durchbruch einer neuen Wirtschaftsweise ergänzen. Dieser ereignete sich in Deutschland ab den 1840er Jahren - nachdem während der 1830er Jahre wichtige Voraussetzungen realisiert worden waren. Binnen weniger Jahrzehnte fand der Wandel vom Agrarstaat, der Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts insgesamt, in weiten Teilen sogar noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinein war, zum Industriestaat statt, der um die Wende zum 20. Jahrhunderts vorherrschte - ungeachtet einiger weiterhin agrarisch geprägter Regionen. Binnen einer Generation veränderte sich nicht nur die ökonomische Basis, vielmehr lebten, dachten, fühlten die meisten Deutschen um die Wende zum 20. Jahrhundert anders als noch um die Mitte, gar zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Alte Traditionen und Werte waren zerstört, zumindest in Frage gestellt worden, gänzlich neue Orientierungen und Mentalitäten setzten sich bei großen Teilen der Bevölkerung durch.“ www.rspree.wordpress.com/2011/03/08/industrielle-revolution-industrialisierung/ (abgerufen 20.6.2020).
3 Knapp 100 Jahre später analysiert Max Weber dieses Phänomen in seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ innerhalb der neuen geisteswissenschaftlichen Disziplin namens Soziologie.
4 Auch an dieser Stelle ist ein sachlich-wissenschaftlicher Hinweis angebracht: Wenn im Folgenden immer wieder der Begriff „Konkurrenz“ auftaucht, wird nur banal festgehalten, dass in dieser Welt „Konkurrenz herrscht“ und sie als Prinzip zwischenmenschlichen Verkehrs allgegenwärtig ist und als ebenso herrschendes wie anonymes Gesetz das Verhalten moderner Individuen prägt. Jedem ist das spätestens seit der Schulzeit in seinem Kampf um gute Noten bekannt und geläufig: sie entscheiden, ob dann später auf dem Markt der Arbeit sich die Chancen auf eine bessere Stelle innerhalb der beruflichen Hierarchie erhöhen. Ja sogar im Privatleben werden ständig merkwürdige Anstrengungen unternommen, sich gegen und auf Kosten von Mitbewerbern durchzusetzen und zu übertreffen.
5 R. Safranski, Romantik, Eine deutsche Affäre, Fischer-Verlag, München 2009, S. 193f.
6 Novalis - eigentlich hieß er Georg Philipp Friedrich von Hardenberg - bemerkt dieses sich innerhalb des Staates durchgesetzte Verhältnis der wirtschaftlichen Teilnehmer und beklagt den Verlust eines Ideals, das er selbst eine „politische Quadratur des Zirkels“ nennt, nämlich die verloren gegangene (tatsächlich ja nie existiert habende) Versöhnung des „rohen Eigennutzes“ der Bürger“ mit ihrem übergeordneten großen Ganzen bitterlich. Durch diesen Eigennutz (heutzutage auch moralisch bedenklich als „Gier“ bezeichnet), also der „gemeine Egoismus“ bürgerlicher Individuen, wird für Novalis die einstige (eingebildete) Übereinstimmung des Bürgers mit seinem Staat untergraben. Damit geht für ihn ein sittlicher Niedergang einher, weil die Bürger sich von „Luxus“ und „Sinnlichkeit“ verführen lassen würden.
7 „ Jetzt scheint die vollkommene Demokratie und die Monarchie in einer unauflöslichen Antinomie begriffen zu sein - der Vortheil der Einen durch einen entgegengesetzten Vortheil der Andern aufgewogen zu werden. Das junge Volk steht auf der Seite der erstern, gesetztere Hausväter auf der Seite der zweiten. Absolute Verschiedenheit der Neigungen scheint diese Trennung zu veranlassen. Einer liebt Veränderungen - der Andre nicht. Vielleicht lieben wir alle in gewissen Jahren Revolutionen, freie Concurrenz (sic!), Wettkämpfe und dergleichen demokratische Erscheinungen. Aber diese Jahre gehn bei den Meisten vorüber - und wir fühlen uns von einer friedlicheren Welt angezogen, wo eine Centralsonne den Reigen führt, und man lieber Planet wird, als einen zerstörenden Kampf um den Vortanz mitkämpft (...) “ In: Novalis, Fragmente und Studien, Politische Aphorismen (Nr.68), Reclam, Ditzingen 1996, S. 64
8 Axel Sanjosé fasst das sehr treffend zusammen: „Eine deutsche Sonderentwicklung besteht in der Geburt des Reaktionären aus dem Geist der Romantik: auf der einen Seite mehrten sich die - ursprünglich z. T. progressiv motivierten - nationalen Töne, die von Autoren wie Ernst Moritz Arndt (Der Gott, der Eisen wachsen ließ, Was ist des Deutschen Vaterland?) und Justinus Körner (Leyer und Schwert, 1814) zunehmend mit einer konservativen Haltung verbunden wurden; der Publizist Joseph von Görres etwa wirkte nach einer kurzfristigen Verbannung wegen seines Buches Deutschland und die Revolution (1819) als christlich-konservativer Essayist und Herausgeber. Im Vergleich zu anderen war Eichendorff trotz seiner unverhohlen anti-revolutionären Gesinnung ein vergleichsweise eigenständiger und toleranter Geist. Brentano glitt in einen mystischen Katholizismus ab, und Friedrich Schlegel, der im Athenaeum die Französische Revolution noch als eines der herausragendsten Ereignisse seiner Zeit bezeichnet hatte, wechselte nach einem Jahrzehnt ins katholisch-konservative Lager und sah als dezidierter Anhänger der Restauration im monarchistischen System den Garant aller christlichabendländischen Werte.“ Siehe unter www.xlibris.de/Epochen/Romantik (abgerufen 25.4.2020)
9 Die romantische Neigung zur Restauration, die in ihrer Sehnsucht nach „der alten Zeit“ - gemeint ist das Mittelalter - einen Programmpunkt hatte, lässt sich an Friedrich Schlegel verdeutlichen. Nachdem er im Frühjahr 1808 zur katholischen Kirche übergetreten war und gegen die „moralische Fäulnis“ seiner Zeit zu predigen begann, hat er die Abkehr von den Idealen seiner Jugend selbst deutlich genug ausgesprochen: „Diese ästhetische Träumerei, dieser unmännliche pantheistische Schwindel, diese Formenspielerei müssen aufhören“, notiert er später als Hofsekretär Metternichs, der sich an seine frühromantische Phase nur als einen Makel in seiner Vita erinnert. Zit. nach Johannes Harnischfeger, Die Hieroglyphen der inneren Welt. Romantikkritik bei E.T.A. Hoffmann, University of California, 1988, S.71
10 Arnold Ruge hatte 1840 einen „Romantischen Katechismus“ verfasst, der auf sehr ironische Weise in 12 Punkten darlegt, woran „ein echter Romantiker glaubt“. Nachzulesen unter Arnold Ruge, Romantischer Katechismus, In: Bertold Heizmann und Theodor Pelster, bsv Arbeitsbuch Deutsch /Literaturepochen / Romantik, München 1995, S. 168, unter Bezugnahme auf: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst. Angebunden: Intelligenzblatt / 3.Leipzig 1840. Digitalisiert von der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, siehe www.ub.uni-koeln.de/cdm/compoundobject/collection/hallische/id/3869/rec/1 (abgerufen 26.4.2020)
11 Neben Kants Ausführungen in seinem Beitrag „Was ist Aufklärung?“ für die „Berlinische Monatsschrift“ (1784) ist vor allem die instruktive Abhandlung von Christoph Martin Wieland „Sechs Antworten auf sechs Fragen“ (1781) zu nennen: „Ein paar Goldkörner aus Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen" (1781) in: C. M. Wielands sämtliche Werke. Dreißigster Band, G. J. Göschensche Verlagshandlung 1857 bzw. unter www.projekt- gutenberg.org/wieland/6antwort/6antwort.html (abgerufen 25.4.2020)
12 Unterschlagen werden soll dabei nicht, dass es in der Frühromantik auch eine recht fortschrittliche Auffassung von der Rolle der Frau in den Beziehungen der Geschlechter gab. Erwähnt sei hier nur Caroline Schlegel (Ehemann August Wilhelm Schlegel), später Frau von Schelling, Dorothea Schlegel, Bettina von Arnim, Rahel Varnhagen und auch Karoline von Günderrode.
13 Die folgenden Ausführungen basieren teilweise auf dem Skript der Vorlesung der Profes. Achim Landwehr und Christoph Nonn „Einführung in die Geschichte der Neuzeit“, Düsseldorf. Siehe https://www.geschichte.hhu.de/fileadmin/redaktion/Fakultaeten/Philosophische_Fakultaet/Geschichtswissenschaft en/Geschichte_Allgemein/Dateien/BM_Neuzeit/EV_Neuzeit/07_Aufklaerung.pdf (abgerufen 31.5.2020)
14 Novalis notierte zum Beispiel dazu: „Der Religionshass dehnte sich folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe. (...) Die Mitglieder [des Empirismus, H.M.] waren rastlos beschäftigt, die Natur, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, - jede Spur des Heiligen zu vertilgen und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden.“ (...) „Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Freiheit ihr Liebling [der Aufklärer, H.M.] geworden. Sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft, Aufklärung. In Deutschland betrieb man dieses Geschäft gründlicher, man reformierte das Erziehungswesen, man suchte der alten Religion einen neuen vernünftigen, gemeinen Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch;...“ (...). In: Novalis, Fragmente und Studien, Die Christenheit oder Europa, Reclam, Ditzingen 1996, S. 77f.
15 Das mag die Intention Eichendorffs gewesen sein, als er diesen Gedanken ins Poetische übersetzte:
16 Als Beispiel und ergänzend zu der gegenaufklärerischen Agitation ist August Wilhelm Schlegel anzuführen, der sich 1802 in einer Vorlesung in Berlin zur Aufklärung geäußert hatte:
17 Die wesentlichen Punkte seiner Rede sind zusammengefasst: - Das Symbol des Lichtes (enlightenment) der Aufklärer sei sehr raffiniert ausgedacht, aber letztlich nur aus reiner Bequemlichkeit erfunden worden. Schlegel ahnte natürlich noch nichts von der literarischen „Abnormität“ einer schwarzen Romantik, die zehn Jahre später auf radikale Weise seinen poetischen Idealismus mit einer „Gegenwelt“ des Schreckens desavouieren würde.
18 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 165-256. Erstdruck in: Athenäum (Berlin), 1.Bd., 2.Stück, 1798
19 Das Aufmachen dieses Gegensatzes ist jedoch ein Fehler. Zwar existiert ein Gegensatz von Verstand und Gefühl, denn das Gefühlte ist nicht das Begriffene. Das Gemeinsame der beiden Kategorien besteht nun aber darin, dass Fühlen und Denken zwei unterschiedliche Formen der Willensbetätigung sind. Festzuhalten ist, dass ein Fühlen ohne die Einschaltung der denkenden Instanz, der Ratio, nicht möglich ist. Jeder nachvollziehbaren sprachlichen, ja sogar mimischen Äußerung, ist eine geistige Verausgabung bzw. die Tätigkeit des Verstandes und seines Resultates, des Gedankens, vorangegangen. Kein Gefühl ohne Gedanken, was aber von dem Fühlenden nicht als ein solcher „realisiert“ wird, da dieser Prozess „im Hintergrund“ abläuft. Man kann nicht nicht denken.
20 Etwas, was einem seit Beginn des 21. Jahrhunderts wieder begegnet. Es gibt kaum noch einen bedeutenden Roman, der nicht auf die Bühne gebracht und dergestalt vermarktet worden ist. Die Dramatisierung des Epischen und das Regietheater haben die Grenzen der beiden Gattungen verschwinden lassen und in völlige konstruktivistische Beliebigkeit aufgelöst.
21 „Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie: Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt seyn.“ In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 147-164, Fragment 115
22 „Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, oder durch eine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“ In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 147-164, Fragment 117
23 Siehe FS 18 Im Übrigen: Wie modern die Forderung nach Beliebigkeit des Denkens ist, kann auch in der modernen systemisch-konstruktivistischen Didaktik und überhaupt in der Pädagogik unserer Zeit studiert werden. Die Folgen der Auflösung des Lernens in „alles ist erlaubt“ und „alles ist richtig“, weil alles relativ ist, sind bereits in der zunehmenden Nivellierung der Wissensstandards großflächig zu beobachten: das Wissen nimmt stetig ab und die erschreckend zunehmende Verdummung der Lernenden ist an ihren Resultaten tagtäglich im Unterricht zu besichtigen. Das Urteil trifft auch neuerdings auf die zu, die vor den zum Lernen Anzuleitenden stehen.
24 Das erinnert ideengeschichtlich an die Philosophie des Absurden, an den Sisyphos-Mythos, den Albert Camus in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt seiner existentialistischen Philosophie gestellt hatte. Alle menschlichen Bemühungen sind letzten Endes vergeblich. Der Stein - metaphorisch gesprochen - rollt, kaum hat Sisyphos es geschafft, ihn den Berg hochzuschieben - dies war die göttliche Strafe für seinen Frevel, den Tod (Thanatos) überlistet zu haben, - den Berg wieder hinab und er muss von vorne beginnen. Selbstverständlich hat dieser philosophische Ansatz eine ganz andere Qualität als der literarische Ansatz der Frühromantiker, aber hinsichtlich des Vergeblichkeitsbegriffs ergibt sich doch eine erstaunliche Kommensurabilität der beiden Theorien.
25 In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 147-164. Erstdruck in: Lyceum der schönen Künste (Berlin), 1. Bd., 2. Teil, 1797. Hier das 42. Fragment.
26 E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf, Schöningh-Verlag (Einfach Deutsch), Braunschweig, 2011, S. 93