Psychologische Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend und ihre Bedeutung für ein gelingendes Leben. Was sind Maßnahmen Sozialer Arbeit?


Bachelorarbeit, 2020

90 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Glossar

1 Einleitung

2 Begriffsannäherung
2.1 Soziale Arbeit
2.1.1 Definitionsvielfalt Soziale Arbeit
2.1.2 Soziale Arbeit als Dienstleistung
2.1.3 Soziale Arbeit als Wissenschaft/Theorie
2.2 Was ist die Kindheit?
2.3 Was ist die Jugend?

3 Das gelingende Leben
3.1 Die unterschiedlichen Theorieansätze
3.1.1 Das gelingende Leben nach Martha Nussbaum
3.1.2 Das gelingende Leben nach dem Konzept der Lebensbewältigung von Lothar Böhnisch
3.1.3 Das gelingende Leben nach dem Konzept der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch
3.2 Gelingendes Leben in der aktuellen Theoriediskussion Sozialer Arbeit
3.3 Zusammenfassende Betrachtung: Gelingendes Leben und die Bedeutung für die Soziale Arbeit?

4 Psychologische Grundbedürfnisse in Kindheit und Juge
4.1 Geschichtlicher Überblick und aktueller Erkenntnisstand
4.2 Eltern (Familie) geben Orientierung
4.3 Die psychologische Grundbedürfnisse nach der Konsistenztheorie von Grawe
4.3.1 Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
4.3.2 Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
4.3.3 Das Bedürfnis nach Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung
4.3.4 Das Bedürfnis nach Bindung
4.4 Zusammenfassende Betrachtung: Die psychologischen Grundbedürfnisse im Zusammenspiel

5 Psychologische Grundbedürfnisse und die Bedeutung für ei gelingendes Leben
5.1 Psychologische Grundbedürfnisse - Interpretation des Amoklaufes von Emsdetten
5.1.1 Kontrolle/Orientierung
5.1.2 Lustgewinn/Unlustvermeidung
5.1.3 Bindung
5.1.4 Selbstwerterhöhung/Selbstwertschutz
5.2 Analyse der Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung für ein gelingendes Leben am Fallbeispiel „Amoklaufvon Emsdetten“
5.2.1 Gelingendes Leben und das Grundbedürfnis nach Bindung
5.2.2 Gelingendes Leben und Grundbedürfnis nach Selbstwerterhöhung/Selbstwertschutz
5.2.3 Gelingendes Leben und das Bedürfnis nach Lustgewinn/Unlustvermeidung
5.2.4 Gelingendes Leben und das Bedürfnis nach Kontrolle/Orientierung
5.3 Abschließende Betrachtung der Grundbedürfnisse im Fall von Sebastian und die Bedeutung für ein gelingendes Leben

6 Befriedigung psychologischer Grundbedürfnisse - Maßnahme Sozialer Arb
6.1 Schulsozialarbeit
6.1.1 Ziele und Aufgaben der Schulsozialarbeit
6.1.2 Ganztägige Angebote
6.1.3 Schulsozialarbeit - Möglichkeit der Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse
6.2 Die offene Jugendarbeit
6.2.1 Ziele und Aufgaben der offenen Jugendarbeit
6.2.2 Die Gruppenarbeit
6.2.3 Jugendarbeit - Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse in der Praxis

7 Fazi

Literaturverzeichni

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Entwicklung der äußeren Beeinflussbarkeit der Bindung über den Lebenslauf 31

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Gegenüberstellung der Grundbedürfnisse

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Glossar

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Die Soziale Arbeit als Profession verbindet die Prävention und Lösung sozialer Problemlagen mit Bildungs- und Erziehungsprozessen, die Menschen befähi­gen sollen, diese Problemlagen aktiv und als Subjekte ihres Lebens zu bewälti­gen. Ein Aufgabengebiet Sozialer Arbeit ist es zur Bewältigung problembe­lasteter und krisenhafter Lebenslagen in diesen Bereichen, Hilfe und Unterstützung zu leisten. Menschen sind Individuen und besitzen verschiedene Kompetenzen bzw. Fähigkeiten um Alltag zu bewältigen, sie denken und handeln unterschiedlich. Begründet liegt dies in ihrer Biographie. Jeder einzelne macht unterschiedliche Erfahrungen im Leben, beginnend in der Kindheit und Jugend. In diesen Lebensphasen werden Menschen intensiv geprägt. Angefangen bei der Entwicklung von Instinkten (z.B. Urvertrauen), der Aneignung kognitiver Kompetenzen, bis hin zu sozialen Fähigkeiten - das Leben im Miteinander. Krisensituationen müssen überstanden werden, damit „Normalität“ schnell wieder einkehrt. Doch nicht jeder kann aus eigener Kraft heraus sich den Schwierigkeiten des Lebens stellen und empfindet es als mühsam und problematisch. Die unterschiedlichen Problemlagen der menschli­chen Individuen erzeugen Komplexität und stellen hohe Anforderungen an die Profession Soziale Arbeit. Damit die Sozialarbeiterinnen diesem gerecht werden können, gibt es in der Sozialen Arbeit verschiedene Konzepte, Methoden und Theorien, die der Arbeit als „Handwerkzeug“ dienen. Ob und wie das Wissen eingesetzt wird, ist je nach Adressatenjnnen unterschiedlich und ist an den Einzelfall bzw. Gruppenfall gebunden.

Sehr häufig sehen sich pädagogische Fachkräfte in Kinder- und Jugendein­richtungen mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert, deren Verhalten eine große Herausforderung darstellt. Das Robert-Koch-Institut ermittelte in seiner KiGGS-Studie (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland 2007 und 2012), dass bei einem Fünftel (20,2%) der Kinder und Jugendlichen im Alter von drei bis 17 Jahren psychische Auffälligkeiten festge­stellt wurden. Bei mehr als die Hälfte der Betroffenen sind zusätzlich deutliche bzw. massive Beeinträchtigungen im sozialen und familiären Alltag zu verzeichnen (vgl. Pfreundner, 2015, S. 5).

Wie schon erwähnt, sind die Kindheit und die Jugend entscheidende Entwicklungs- und Prägungsphasen von Menschen. In diesen Lebensphasen kann die Soziale Arbeit gut ansetzen und präventiv sowie lösungsorientiert auf soziale Problemlagen einwirken. In Bezug auf die Kinder und Jugendlichen möchte die Soziale Arbeit unterstützend auf deren Ziele hinarbeiten. Im Vordergrund steht die Entwicklung von Kompetenzen und Ressourcen, damit Alltag sich „gelingend“ bzw. „glücklich“ anfühlt. Junge Menschen brauchen in ihrer Entwicklung fürsorgliche Unterstützung von Erwachsenen. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist dabei die Arbeit mit den psychologischen Grundbedürfnissen. Hierbei geht es um die Kontrolle und Orientierung im Leben, die Lust und einen gesunden Umgang mit Unlust, die Selbstwertarbeit und die Beziehungen zu anderen, damit die Mädchen und Jungen Alltag gut bewältigen können. Aber wie wirkt die Befriedigung oder die Verletzung dieser Grundbedürfnisse auf die Kinder und Jugendlichen? Wann kann ein Leben als „gelingend“ bezeichnet werden? Ausgehend von diesen Fragestellungen möchte sich der Autor dieser Arbeit mit folgender Forschungsfrage auseinandersetzen:

„Welche Bedeutung haben die psychologischen Grundbedürfnisse in der Kindheit und Jugend für ein gelingendes Leben?

Aus der Psychologie geht hervor, dass der Status der Befriedigung der Bedürf­nisse einen hohen Einfluss auf die gesundheitliche Psyche und somit das Leben der Menschen hat. Sie beeinflussen die Gefühlswelt und gleichzeitig das Denken und Handeln. Ausgehend davon erhält das Konzept der psycho­logischen Grundbedürfnisse einen immer höheren Stellenwert in der Sozialen Arbeit. In unterschiedlichen sozialarbeiterischen Arbeitsfeldern wird sich intensi­ver mit bedürfnisorientierter Arbeit für Kinder und Jugendliche auseinanderge­setzt. Es werden Angebote entwickelt, die sich an die Bedürfnisse heranwachsender Menschen richten, mit dem Ziel auf ein gelingendes Leben hinzuarbeiten.

Die Arbeit gliedert sich in sechs Teile. Zu Beginn werden wichtige Fachbegriffe geklärt, die dem Verständnis des Themas dienen. Anschließend folgt eine Auseinandersetzung mit den Fragestellungen: „Was ist gelingendes Leben?“ und „Was bedeutet gelingendes Leben für die Soziale Arbeit?“. Als nächstes werden die psychologischen Grundbedürfnisse dargestellt und erläutert. Ausgehend von den Erläuterungen zum Thema gelingendes Leben und psychologische Grundbedürfnisse wird im nächsten Kapitel eine Analyse durchgeführt, die anhand eines Fallbeispiels aus der Literatur die Auswirkungen der psychologischen Grundbedürfnisse in der Kindheit und Jugend auf ein gelingendes Leben untersucht. Im vorletzten Abschnitt setzt sich der Autor mit bedürfnisorientierten Maßnahmen Sozialer Arbeit auseinander. Untersucht werden die Methoden der Arbeitsfelder Schulsozialarbeit und der offenen Jugendarbeit. Ein Fazit, welches die zuvor erläuterten Aussagen noch einmal zusammenfasst und miteinander in Verbindung setzt, mit einem kurzen Ausblick auf mögliche Lösungsansätze, beschließt die Arbeit.

2 Begriffsannäherung

Zur genauen Themendarlegung gilt es zunächst, sich mit den Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen. Begonnen wird mit der Definition „Soziale Arbeit“. Danach folgen die Erläuterungen zu den Fragestellungen: „Was ist die Kindheit?“ und „Was ist die Jugend?“ mit anschließender Überleitung zu den Kapiteln mit den Themen „Das gelingende Leben“ und „Psychologische Grundbedürfnisse in der Kindheit und Jugend“. Die Bedeutungen der genann­ten Begrifflichkeiten werden in den jeweiligen Abschnitten näher erläutert.

2.1 Soziale Arbeit

Sozialarbeit (Erwachsenenfürsorge) und Sozialpädagogik (Kinder- und Jugend­fürsorge) haben die gleichen geschichtlichen Wurzeln. Der Zusammenschluss beider Fachbegriffe bildet den Begriff „Soziale Arbeit“. Im Mittelalter wurden zwischen Hilfe für Erwachsene und Kindern bzw. Jugendlichen keine Unterschiede gemacht. Gegen Ende des Mittelalters sind Kinder und Jugendli­che gesondert behandelt worden, um vorbeugend vor Verwahrlosung zu schützen.

Mit der Zeit hat sich die Erwachsenen- und Jugendfürsorge auseinanderentwi­ckelt, jeweils eigene Hilfe-Modelle wurden entworfen. Nach Ende des zweiten Weltkrieges haben sich die Inhalte beider Fachbereiche dann zunächst allmäh­lich, mittlerweile jedoch wieder soweit aufeinander zubewegt, dass heute von Soziale Arbeit als Dachbegriffgesprochen wird (vgl. Thole, 2012, S. 19-20).

2.1.1 Definitionsvielfalt Soziale Arbeit

Was Soziale Arbeit heißt, ist nicht mit einem Satz zu erklären. Darauf verweisen viele Autoren, die sich mit dieser Fragestellung beschäftigt haben.

Vor dem Hintergrund der langen historischen Entwicklung Sozialer Arbeit zur Profession und unter dem Aspekt sozialer Verantwortung als Menschenrechts­profession für die Bewältigung sozialer Probleme ist die internationale Definition der International Federation of Social Workers (IFSW), zusammen mit dem Berufsmandat, als berufsethisches Leitbild maßgebend für Begriffsklärung Sozialer Arbeit (vgl. Schilling/Klus, 2015, S. 239f).

„Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte1 Profession und wissen­schaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt2 bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit3, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen4. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlerge­hen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein5.

Diese Definition kann auf nationaler und/oder regionaler Ebene weiter ausgeführt werden“ (IFSW, 2016).

Soziale Arbeit ist eine öffentliche Kinder- und Jugendfürsorge, mit dem Ziel durch vorbeugende und erzieherische Hilfsmaßnahmen Kinder und Jugendliche vor Verwahrlosung zu schützen.

Des Weiteren beinhaltet sie die Umsetzung der gesetzlich und administrativ organisierten öffentlichen Hilfsmaßnahmen für Ratsuchende und Hilfsbedürfti­ge. Im Laufe der Zeit entwickelte sich das Aufgabenfeld Sozialer Arbeit weiter und versteht sich heute als öffentliches Hilfsangebot für Menschen aller Alters­stufen.

Im Dienstleistungssektor gibt es unterschiedlich strukturierte und konzipierte Einrichtungen und soziale Dienste. Aufgrund der Komplexität und der Vielfalt der Tätigkeitsfelder umfasst die Soziale Arbeit unterschiedliche Methoden, Handlungsebenen und Berufsgruppen. Sie ist die professionelle Ausgestaltung dessen, was die Sozialpolitik den Bürgerinnen in gesetzlichen Rahmen­bedingungen an Rechten und Pflichten zugesprochen hat (vgl. Schilling/Klus, 2015, S. 240-241).

2.1.2 Soziale Arbeit als Dienstleistung

Im heutigen Sinne wird Soziale Arbeit als ein Dienstleistungsberuf angesehen. Bürgerjnnen erhalten über diese Dienstleistungsarbeit ein positives Angebot an Unterstützungen, um ihre sozialen Rechte in Anspruch nehmen können. Soziale Arbeit ist demnach eine Bürgerjnnenaufgabe, die von Sozialarbeiterjnnen/Sozialpädagogenjnnen wahrgenommen wird, damit anderen Bürgerinnen eine Hilfsleistung zur Realisierung ihrer sozialen Rechte zur Verfügung steht. Festgelegt ist dieser Anspruch z.B. im SGB (vgl. Schilling/ Klus, 2015, S. 105).

Zielgruppen Sozialer Arbeit sind Menschen aller Altersstufen. In erster Linie geht es um Soziale Beratung, Erziehung, Bildung, Betreuung, aber v.a. auch um das Bemühen, präventiv tätig zu werden. Sowohl in Theorie und Praxis bemüht sich die Soziale Arbeit diese Ziele zu realisieren.

Ziele der Sozialen Arbeit beziehen sich hauptsächlich aufzwei Bereiche:

1. Hilfe zur Selbsthilfe (individuelle Funktion)
2. Verbesserung bzw. Veränderung gesellschaftlicher Umstände (gesellschaftliche Funktion)

Durchgeführt wird Soziale Arbeit von öffentlichen (z.B. Jugendamt) und freien Trägern (z.B. Wohlfahrtsverbänden, Jugendverbänden). Deren Aufgaben und Zusammenarbeit ist im SGB geregelt (vgl. Schilling/Klus, 2015, S. 241).

2.1.3 Soziale Arbeit als Wissenschaft/Theorie

An den Hochschulen wird Soziale Arbeit weiter durch Forschung ausgebaut. Sie ist eine eigenständige Handlungswissenschaft unter Zuhilfenahme wissen­schaftlicher Bezugsdisziplinen (z.B. Human- und Sozialwissenschaften, Psychologie, Politologie, Pädagogik).

Des Weiteren greift die Wissenschaft Soziale Arbeit auf Praxistheorien zurück. Erklärungsmodelle entstehen aus der Praxis selbst heraus. Von wenigen Einzelfällen werden allgemeine Aussagen geschlossen (vgl. Schilling/Klus, 2015, S. 164). Thole spricht von einer „Theorie der Praxis“, die aber noch keine durchsystematisierte Form gefunden hat. Begriffe einer Theorie der Praxis sind Sozialer Raum, Habitus und Kapital. Es geht darum, neben Erklärungswissen auch Handlungswissen zur Verfügung zu stellen. Thole stellt allerdings fest: „Die sozialpädagogische Theorie der Praxis befindet sich noch auf dem Webstuhl und bislang vorliegende Muster lassen allenfalls Konturen des erhoff­ten Ergebnisses erkennen. Korrekturen an den Vorschlägen sind geradezu erwünscht, notwendig“ (Thole, 2012, S. 32).

2.2 Was ist die Kindheit?

Evolutionär betrachtet stellt die Kindheit eine junge Lebensphase dar. Im Primatenlebenslauf, erst beim Homo habilis der vor ca. 1,5 bis 2,1 Millionen Jahren lebte, stellte die Kindheit eine eigene Entwicklungsphase dar. Bei den nachfolgenden Primatenarten wurde die Kindheit immer länger. Sie umfasst beim neuzeitlichen Menschen, dem Homo sapiens, die Zeitspanne zwischen zwei Jahren und dem Beginn der Pubertät. Kulturell beinhaltet diese biologisch basierte Definition jedoch verschiedene Aufgaben und Zielsetzungen. Als Säuglingsalter werden die ersten beiden Lebensjahre bezeichnet. Dies ist eine Entwicklungsphase, die unterschiedlich lang bei allen Primatenarten auftritt.

Die Logik der Kindheitsphase besteht darin, sich die kulturellen Werkzeuge anzueignen, die es ermöglichen, die Kompetenzen für das Erwachsenenleben zu erwerben. Nach dem Säuglingsalter mit einer hohen Entwicklungsgeschwin­digkeit folgt die Kindheit. Sie ist die Lebensphase mit dem zweithöchsten Entwicklungstempo und entsprechend vielen Veränderungen (vgl. Keller, 2013, S. 34).

In der frühen Kindheit (0 bis 6 Jahre) entwickeln sich der Aufbau des emotionalen Urvertrauens, die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und grundlegende sensorische und motorische Fertigkeiten. Die darauffolgende späte Kindheit (6 bis 11 Jahre) beinhaltet das Lernen im sozialen System Schule. Es werden männliche oder weibliche Rollenverhalten eingeübt, Beziehungen zu Gleichaltrigen geknüpft und Freund­schaften aufgebaut. Des Weiteren entsteht Gewissen, Moral und Wertpriorität. Auffällig an dieser Auflistung von Entwicklungsaufgaben ist, dass die Phase „Kindheit“ offenkundig von „Aufbauarbeiten“ jeglicher Art bestimmt ist - das Kind expandiert in die Welt (vgl. Graßhoff et al., 2018, S. 5).

In der Soziologie wird die Kindheit als die erste Altersphase eines Individuums im Lebenslauf bezeichnet, die gesellschaftlich, kulturell und historisch bedeut­sam in der Unterscheidung zum Erwachsenen gemacht wird. Sie wird vielmehr als eine wesentliche Strukturkategorie von Gesellschaften begriffen und ist somit ein sozial hergestellter Raum innerhalb einer Gesellschaft. Dieser wird als ein Bestandteil einer Sozialstruktur aufgefasst, der permanent existiert, zeitlich begrenzt besetzt und belebt wird.

Zu den wesentlichen Merkmalen der Kindheit gehört die räumliche und gedank­liche Separierung von Kindern, die darauf basiert, dass der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen bedeutsam gemacht wird. Kindheit wird als eine Abweichung vom Maßstab einer nur unklaren definierten und wenig ausgearbeiteten Vorstellung von „Erwachsenheit“ bzw. als deren Vorstufe behandelt (vgl. Hungerland, 2018, S. 221 -222).

„Indem Kinder als besonders vulnerabel gezeichnet, zumindest aber in ihrer Besonderheit als explizit schützenswert begriffen werden, rechtfertigt sich deren Separierung aus der Erwachsenenwelt und Verödung in einen institutionalisierten Schon- und Vorbereitungs­raum. Scholarisierung und Pädagogisierung beschreiben den

Prozess, wonach die auf ihren Entwicklungsstatus festgeschriebenen Kinder besonders und zielgerichtet von Erwachsenen begleitet und angeleitet werden müssten, und zwar in eigens geschaffenen Institutionen der Erziehung und Bildung“ (Hungerland, 2018, S. 222).

In der Phase der Kindheit haben aus psychologischer Sicht die innere Welt der individuellen Bedürfnisse, Intentionen, Wünsche und Präferenzen der Kinder Priorität in der Lebensgestaltung. Dies macht das Kind zu einem einzigartigen Wesen, das im Mittelpunkt der familiären Sozialisation steht und das darin unterstützt werden muss, alle seine Kompetenzen optimal zu entwickeln (vgl. Keller, 2013, S. 35). „Im Zentrum steht das Kind ist das Credo derfamiliären wie der institutionellen Erziehung“ (Keller, 2013, S. 35).

2.3 Was ist die Jugend?

Als „Jugend“ wird eine bestimmte Lebensphase bezeichnet, wie auch ein bestimmter Personenkreis, die dieser Lebensphase zugeordnet wird. Entwicklungspsychologisch betrachtet, beginnt die Jugend mit dem Eintritt der Pubertät (Geschlechtsreife). Dies ist das Ende der Kindheit und der Beginn des Jugendalters. Der Übergang ins frühe Erwachsenenalter gilt als vollzogen, wenn der Jugendliche bestimmte erwachsenen Rollen angenommen hat, z.B. die Erwerbstätigkeit oder die Elternrolle. Dem entsprechend kann für die Lebensphase Jugend keine eindeutige Altersgrenze angegeben werden, da diese zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen. Des Weiteren ist das Ende des Jugendalters schwierig zu bestimmen, weil maßgeblich durch die längeren Ausbildungszeiten bedingt einige zentrale Aspekte der Erwachsenen­rolle (Erwerbstätigkeit und damit ökonomische Selbstständigkeit, Heirat, Eltern­schaft) von den Heranwachsenden inzwischen relativ spät übernommen werden. In Bereichen, die früher dem Erwachsenenalter zugeordnet wurden (Sexualität und Partnerschaft, Bürgerrechte, Konsumbeteiligung), sind die heutigen Jugendlichen schon früher aktiv (vgl. Kessels, 2013, S. 39).

In der Pubertät erfolgt die kulturelle Einbettung, also die Weise, in der sich Jugendliche sowohl mit den körperlichen Umbrüchen auseinandersetzen als auch ihren Platz in der Gesellschaft erarbeiten können. Dies wird als Adoles­zenz bezeichnet (vgl. Graßhoff et al., 2018, S. 10).

Es setzen körperliche Veränderungen (physische Indikatoren) ein und die ersten Fragen zur Geschlechtsrollenangemessenheit entwickeln sich. Das geschlechtertypisierte Verhalten wird zunehmend bedeutsamer, denn es werden verstärkt Geschlechtsrollennormen orientierte Erwartungen an die Jugendlichen gestellt (vgl. Kessels, 2013, S. 39).

„Bezieht man sich auf die internationale entwicklungspsychologische Forschung zu Heranwachsenden (Adoleszenz), werden nach Steinberg (1993) drei Phasen altersmäßig differenziert: die frühe Adoleszenz von 11 bis 14 Jahren, die mittlere Adoleszenz von 15 bis 17 Jahren und die späte Adoleszenz von 18 bis 21 Jahren“ (Kessels, 2013, S. 39).

Soziale Beziehungen verändern sich dahingehend, dass die Jugendlichen nach Unabhängigkeit von den Eltern streben und zunehmend die Peers bedeutender werden. Die Familie spielt dennoch eine wichtige Rolle im Leben der Jugendli­chen. Die wahrgenommene Anerkennung durch die Peers ist allerdings in der Jugendphase eine der wichtigsten Determinanten des Selbstwertgefühls. Die Zugehörigkeit zu Gruppierungen oder Cliquen werden zentral für die Selbstde­finition. Eine besondere Relevanz für Jugendliche bekommt die Frage, was andere über sie denken (vgl. Kessels, 2013, S. 40).

Kognitiv verändert sich die Zunahme der Fähigkeiten, abstrakt und hypothetisch zu denken, mehrere Dimensionen eines Problems gleichzeitig zu betrachten, Dinge stärker relativ als absolut aufzufassen, die Perspektivenübernahme zu meistern und insgesamt sophistiziertere und elaboriertere Informationsverarbei­tungsstrategien zu verwenden. Diese Verfeinerung der kognitiven Funktionen stoßen eine jugendspezifische Tendenz zum kritischen Denken an, die sich sowohl auf die Außenwelt als auch auf das eigene Selbst richtet. Die wachsen­de metakognitive Fähigkeit, das eigene Denken und Tun zu reflektieren, ermöglicht Introspektion und stärkt die selbstregulativen Kompetenzen von Jugendlichen (vgl. Kessels, 2013, S. 40).

In der Soziologie wird die Jugend als eine gesellschaftliche Kategorie bezeich­net. „Sie beschreibt ein Generationsverhältnis kultureller und institutioneller Zuschreibungen“ (Luedtke, 2018, S. 205). Der gesellschaftliche, strukturelle Wandel bedingt durch zunehmende funktionelle Ausdifferenzierung, Arbeitstei­lung und Technologisierung führte zur Erhöhung der formalen Bildung und zur Verlängerung der Bildungsphasen. Daraus ergeben sich für junge Menschen Individualisierungsmöglichkeiten. Der Kompetenzvorsprung Erwachsener gegenüber Jugendlichen verringerte sich durch den technologischen Wandel bzw. kehrte sich mitunter um. Zusätzlich stehen jungen Menschen in der Jugendphase mehr Zeit- und Verhaltensfreiräume zur Entwicklung und Entfal­tung der Persönlichkeit zu. Die Jugendphase wurde zur Qualifikationsphase und Phase der Identitätsentwicklung. Jugend steht für das verlängerte Heraus­halten aus der Erwerbsarbeit und die sozialisatorische Nutzung der Zeit für (Aus-)Bildung, zur Selbstentfaltung und Identitätsentwicklung. In Bezug auf die gesellschaftliche Funktionalität wird von der Schul- und Ausbildungsjugend gesprochen. Sie dient dem Qualifikationserwerb für Berufsrollen (vgl. Luedtke, 2018, S. 205-208).

3 Das gelingende Leben

Im folgenden Kapitel wird der Versuch unternommen, den Begriff „gelingendes Leben“ an unterschiedlichen Theorieansätzen herauszuarbeiten. Gelingendes Leben nimmt Einfluss auf die Charakterisierung Sozialer Arbeit und stellt gleich­zeitig eine Zieldimension dar. Bedeutende Theoretikerjnnen der Sozialen Arbeit haben sich in ihren Werken und Theorien indirekt mit dem Begriff „gelingendes Leben“ auseinandergesetzt. Dies zeigt, dass die Auffassungen zum gelingenden Leben einen Beitrag zur Profilierung der Sozialarbeitswissen­schaften leistet (vgl. Wahl, 2002, S. 3). Ableitend daraus ist zu erkennen, dass die Interpretationen zum gelingenden Leben offen sind für verschiedenste Theorieansätze und praktische Arbeitsweisen Sozialer Arbeit. Auch auf bereits bestehende Gegenstandbestimmungen nehmen die Auffassungen Bezug und knüpfen produktiv daran an.

Schlussendlich könnte aus der Formel „gelingendes Leben“ eine Leittheorie Sozialer Arbeit konzipiert werden, gerade vor dem Hintergrund vielfältiger neuer Aufgabenfelder, die der Sozialen Arbeit gegenwärtig zuwachsen (vgl. Wahl, 2002, S. 3-4).

3.1 Die unterschiedlichen Theorieansätze

Anhand unterschiedlicher Theorien Sozialer Arbeit soll in diesem Abschnitt der Begriff „gelingendes Leben" erläutert werden. Begonnen wird mit dem Werk zur „Gerechtigkeit oder Das gute Leben“ von Martha Nussbaum. In ihrem Buch bezieht sie Stellung zum Begriff „gelingendes Leben“.

Danach erfolgt die Begriffsklärung anhand der Lebensbewältigung von Lothar Böhnisch. Auch er setzt sich indirekt in seiner Theorie der Lebensbewältigung mit dem gelingenden Leben auseinander. Als letztes werden die Interpretatio­nen zum gelingenden Leben von Hans Thiersch in seiner Theorie der Lebens­weltorientierung erläutert.

3.1.1 Das gelingende Leben nach Martha Nussbaum

Die Philosophin Martha Nussbaum vertritt in ihrer politischen Gerechtigkeitsphi­losophie den sogenannten „Capability Approach“ (Befähigungsansatz). Sie stellt in ihrem Werk die Frage, was ein gutes menschliches Leben ausmacht. Nach dem Befähigungsansatz hat jeder Mensch individuelle Bedürfnisse, z.B. Verbundenheit, Humor, Spiel, Sexualität, Nahrung und Schutz (vgl. Nussbaum, 2016, S. 190 - 197). Des Weiteren erstellt sie eine Liste von Fähigkeiten, die sie für so grundlegend hält, dass aus ihrer Sichtweise „ein Leben, dem eine dieser Fähigkeiten fehlt, kein gutes menschliches Leben ist, unabhängig davon, was es sonst noch aufweisen mag“ (Nussbaum, 2016, S. 202). Das gelingende Leben (Nussbaum: „Das gute Leben“)

Martha Nussbaum liefert eine Liste von Fähigkeiten des menschlichen Lebens, die die Basis für ein gutes Leben darstellen. Ausgegangen wird davon, ist eine der Fähigkeiten nicht vorhanden, kann es bezweifelt werden, ob es sich tatsächlich noch um ein menschliches Leben handelt. Zur Förderung des Guten ist es von Bedeutung, die Liste zu zentralisieren, denn sie bietet eine Minimaltheorie des guten Lebens. Nussbaum definiert folgende Grundfähigkei­ten des Menschen (vgl. Nussbaum, 2016, S. 57 -58):

1. ein menschliches, lebenswertes Leben von normaler Dauer
2. gute Gesundheit sowie angemessene Ernährung, Unterkunft, Sexualität und Mobilität
3. Vermeidung von Schmerz, freudvolle Erlebnisse
4. Sinne benutzen, Vorstellen, Wahrnehmen und Denken
5. Gefühle (er)leben - Liebe, Traurigkeit, Sehnsucht und Dankbarkeit
6. Ausübung praktischer Vernunft - Vorstellungen vom Guten (dem Positi­ven) machen, über eigene Lebensplanung kritisch nachdenken
7. Verbundenheit mit anderen Menschen - verschiedene familiäre und soziale Beziehungen eingehen
8. Leben mit Tieren und der Natur
9. Lachen, Spielen und Erholung
10. Das eigene Leben führen und nicht das Leben eines anderen
10a. Das eigene Leben in persönlicher Umgebung und Kontext leben

Nussbaum erläutert, dass es zwei Grundfähigkeiten des Menschen gibt, die alle anderen Fähigkeiten durchdringen und diese somit organisieren und strukturie­ren. Zum einen ist es die praktische Vernunft, zum anderen die Verbundenheit mit anderen Menschen. Sie beschreiben ein Leben als menschlich. Alle Lebewesen nutzen ihre Sinne, ernähren oder bewegen sich, aber jeder auf seine eigene Art und Weise. Das Menschliche bei diesen Handlungen ist, dass jede dieser Tätigkeiten als erstes von der praktischen Vernunft geplant und koordiniert wird. Als zweiter Schritt greift nun die Verbundenheit mit anderen Menschen während der Ausführung der Tätigkeiten. Zum Beispiel unterscheidet sich die menschliche Ernährung und Sexualität von denen der Tiere. Der Mensch koordiniert seine Handlung zuerst durch die praktische Vernunft (er möchte zum Beispiel gesund essen und kauft Gemüse auf dem Bio-Markt ein) und mit gegenseitiger Rücksichtnahme und Fürsorge zu Anderen (er lädt seine ältere Nachbarin zum Essen ein, da er weiß, dass sie selten frisch für sich alleine kocht und ihr das fehlt) (vgl. Nussbaum, 2016, S. 59 - 62).

3.1.2 Das gelingende Leben nach dem Konzept der Lebensbewältigung von Lothar Böhnisch

Das Konzept der Lebensbewältigung ist ein Theorie-Praxis-Modell. Es entwickelt und systematisiert Hypothesen zum Betroffenen und zu dem entspre­chenden Bewältigungsverhalten von Menschen in Krisensituationen. Diese müssen nicht unbedingt den Adressatenkreis der Sozialen Arbeit bilden. Gewonnene Erkenntnisse werden diagnostisch erarbeitet und entsprechende Handlungsaufforderungen an die Soziale Arbeit abgeleitet. Gleichzeitig ist es ein Konzept, dass nicht beim Individuum stehen bleibt. Es ist in der Lage, die gesellschaftlichen und sozialinteraktiven Bedingungen aufzuschließen, die das individuelle Bewältigungshandeln, wie den sozialarbeiterischen Zugang dazu beeinflussen. In all diesen drei Dimensionen des Modells findet sich die Grundkomponente „gelingende Bewältigung“ - die Chance der Thematisierung, des Mitteilen- und Aussprechenkönnens innerer Hilflosigkeit und Ohnmacht - wider. Die Mehrdimensionalität fordert auf, immer wieder die Hintergrundbedin­gungen psychosozialer Arbeit zu diskutieren. Die Grenzen sozialarbeiterischen Handelns können darin reflektiert werden (vgl. Böhnisch, 2019, S. 11). Das gelingende Leben (Böhnisch: „gelingende Bewältigung“)

Auch wenn des Konzept der Lebensbewältigung andere Schwerpunkte vornimmt, so ist doch ähnliches gemeint wie mit dem Begriff „gelingendes Leben“. Böhnisch nutzt dafür den Ausdruck „gelingende Bewältigung“. Die durch die Moderne entstandene Arbeitsteilung und Individualisierung hat zwar den Menschen sozial freigesetzt, dem Individuum aber nicht vermittelt, was Freiheit bedeutet und wie es sich darin behaupten kann. Infolgedessen entstan­den typische Bewältigungsprobleme des modernen Menschen, ausgehend durch eine gleichgültig verhaltene Arbeits- und Wirtschaftswelt.

Wahlmöglichkeiten und Freiheit steht der Not gegenüber sich entscheiden zu müssen. Freiheit heißt auch Zwang zur Entscheidung, denn der moderne Mensch kann sich nicht nicht entscheiden. Dort wo er sich nicht entscheidet, entstehen Bewältigungsprobleme. Der Entscheidungsdruck und die -nöte hindern ihn, eigene Chancen fürs gute Leben zu verwirklichen (vgl. Böhnisch 2001, S. 1119). „Unter (Lebens-)Bewältigung wird das Streben nach psychischer Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenskonstellationen verstanden. Lebenssituationen und -konstellationen werden dann als kritisch bezeichnet, wenn die bisherigen eigenen Ressourcen der Problem­lösung versagen oder nicht mehr ausreichen und damit die psychi­sche Handlungsfähigkeit beeinträchtigt ist“ (Böhnisch, 2019, S. 20).

Psychische Handlungsfähigkeit ist ein Element im Magnetfeld des Selbstwerts. Der Mensch ist handlungsfähig, wenn er soziale Anerkennung und Wirksamkeit erhält und darüber seinen Selbstwert stärken kann. Wenn die Balance zwischen psychischem Selbst und sozialer Umwelt nicht mehr gegeben ist, dann ist die Lebensbewältigung vom Scheitern bedroht (vgl. Böhnisch, 2019, S. 20).

Gelingende Bewältigung bzw. Lebensbewältigung heißt Normalisierung. Ziel ist es, die Balance zwischen „Ich“ und „Wir“ wiederherzustellen. Soziale Orientie­rungslosigkeit, Selbstwertprobleme oder Desintegration haben den Verlust des psychischen Gleichgewichts zu Folge. Lebensbewältigung strebt nach der „Wiedererlangung eines homöostatischen (Gleichgewichts-) Zustandes“ (Böhnisch, 2001, S. 1120).

Lebensbewältigung ist gekennzeichnet mit Mühsal und Leid. Die Not und die sich daraus ergebenden Hindernisse müssen überwunden werden. Das Überstehen von Krisensituationen im Leben erfordert spezielle Fähigkeiten und Kompetenzen, also Strategien der Problembewältigung. Leben wird bewältigt, wenn es gelingt, den Alltag und die damit verbundene Routine wiederherzu­stellen (vgl. Wahl, 2002, S.11).

Des Weiteren ist gelingende Bewältigung die Chance der Thematisierung, des Mitteilen- und Aussprechenkönnens innerer Hilflosigkeit und Ohnmacht. Hilflosigkeit und Ohnmacht drücken sich durch innerlichen Druck aus, den man loswerden muss. Ausgangspunkt sind sozial negative Erlebnisse, die sich in Frust widerspiegeln. Entlastung ist möglich, wenn darüber gesprochen werden kann, d.h. einer anderen Person die belastenden Probleme zu erzählen. Böhnisch nennt dieses „Thematisierung“. Dabei geht es nicht nur um den sprachlichen Akt, sondern vor allem auch den sozial-interaktiven Vorgang des Mitteilens und damit des Anknüpfens von Beziehungen bis hin zum Eintreten in soziale Netzwerke (vgl. Böhnisch, 2019, S. 21 -22).

3.1.3 Das gelingende Leben nach dem Konzept der Lebensweltorientie­rung von Hans Thiersch

Das Konzept der Lebensweltorientierung orientiert sich an die Adressatenjnnen Sozialer Arbeit, an ihre Lebensschwierigkeiten, an den Auffassungen ihrer Lebensverhältnisse und ihren Ressourcen. Auf der anderen Seite bezieht sie sich auf subjektbezogene, als auch auf gesellschaftliche Bedingungen und Möglichkeiten. Die Stärkung der Lebensräume, der sozialen Bezüge der Adressatenjnnen, ihrer Ressourcen und (Selbst-) Hilfemöglichkei­ten stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Ziel ist es, ihnen einen „gelingenderen Alltag“ zu ermöglichen. Die Lebensweltorientierung fokussiert sich auf die Bearbeitung der Schwierigkeiten und Probleme in der Komplexität des Alltags. Parallel ist die lebensweltorientierte Arbeit aber auch zu verfremdend und provozierend, um Betroffene aus den Verstrickungen des Alltags herauszube­gleiten. Lebensweltlich zu agieren heißt insofern, auf die in der Lebenswelt vorhanden Probleme von Menschen einzugehen und zusammen mit ihnen eine „Vision“ gelingenderen Lebens zu entwickeln und zu unterstützen (vgl. Füssen- häuser, 2006, S. 127). Das gelingende Leben (Thiersch: „gelingenderem Alltag“)

In seinem Konzept der Lebensweltorientierung bezieht sich Hans Thiersch auf den Alltag bzw. die Lebenswelt und spricht mehrfach und unterschiedlich von „gelingenderer Lebenswelt“, von „gelingendem Alltag“ oder auch „gelingende­rem Alltag“ (vgl. Thiersch 1992, S. 27).

Alltägliche Lebenswelten sind die Orte, an denen sich Alltag vollzieht (z.B. Familie, Sozialraum oder Nachbarschaften). Die Alltäglichkeit wird als Bewälti­gungsmuster in dem der Mensch handelt beschrieben. Die alltägliche Lebens­welt und die Alltäglichkeit als Handlungsmodus sind untrennbar miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Alltägliche Lebenswelten sind geprägt durch gesellschaftliche Strukturen, die Lebenslagen. Dies sind Geschlechterstrukturen, politische, soziale, kulturelle, ethnische und materielle Bedingungen und Ressourcen. Die Lebenswelt ist auch die Welt subjektiver Deutungen, die Welt des erfahrenen Raums, der erfahrenen Zeit, der sozialen Beziehungen, die Welt der komplexen Aufgaben des Besorgens in Pragmatiken und Routinen (vgl. Grunwald/Thiersch, 2016, S. 304 - 306). Thiersch spricht von Dimensionen der Lebenswelt. Die erfahrene Zeit bezieht sich auf die Gliederung des Tages, der Woche und die strukturierende Zeit im Lebenslauf. Es sind die unterschiedlichen Bewältigungsaufgaben und Kompetenzen in den Lebensphasen. Der erfahrene Raum meint räumliche Verhältnisse, in dem Erlebnisse wahrgenommenen und gestaltet werden. Dies sind z.B. geprägte ländliche Strukturen oder städtische Milieus, in den Ressourcen, Abgrenzungen und Auseinandersetzungen zwischen den Territorien wahrgenommen werden und in denen sich bewegt wird. Menschen in ihren sozialen Beziehungen bedeuten z.B. Kinder und Heranwachsende im Kontext des sozialen Geflechts von Familien in Mehrgenerationenverhältnissen, Nachbarschaften, Freund­schaften und Öffentlichkeit (vgl. Grunwald/Thiersch, 2016, S. 306).

„Alltäglichkeit als eine spezifische Weise des Zugangs zur Welt kann verstanden werden als der Modus, in dem Menschen die anfallenden vielfältigen Aufgaben zu bewältigen versuchen. Sie agieren pragma­tisch und stützen sich auf Routinen. Sie sind interessiert an der Erledigung und dem Erledigungserfolg. Siewollen sich als kompetent erfahren, vor sich bestehen und von Anderen geachtet werden“ (Grunwald/Thiersch, 2016, S. 306).

„Die alltäglichen Lebenswelten und das Agieren in ihnen sind auch geprägt durch Machtstrukturen, durch herrschen und beherrscht werden, durch Selbstdarstellung und Rücksichtslosigkeit, durch Unterdrückung, Scham, Resignation und aufbegehrende Wut. Anders ausgedrückt: Alltägliche Lebenswelten ,der Alltag' ist geprägt durch Konflikte und Alltäglichkeit als Modus, in diesem Alltag zu bestehen, ist auch durch den Umgang mit und die Arbeit an Konflik­ten gekennzeichnet“ (Grunwald/Thiersch, 2016, S. 306).

In der Bewältigung von Konflikten der alltäglichen Lebenswelten haben die Menschen ein Verlangen nach Besserem. Sie werten ihre Erfahrungen, sie haben Erwartungen und Träume, sie leiden, sie hoffen auf ein Leben in Freund­lichkeit und Selbstzuständigkeit für sich und andere. Die Hoffnung liegt auf dem Weg zu einem gelingenderen Alltag und die Bewegung darauf hin (vgl. Grunwald/Thiersch, 2016, S. 306).

„Alltäglichkeit kann also auch verstanden werden als Arbeit an und Anstrengungen um einen gelingenderen Alltag, als permanente Auseinandersetzung mit den Widersprüchen des Alltags, die bestimmt ist durch Pragmatik und Routinen. Pragmatik ist zum einen borniert in einer achtlosen Lässigkeit - ,das funktioniert schon ...‘ - und zum anderen erledigungsorientiert und unaufwändig großzügig. Ähnlich widersprüchlich stehen in Routinen bornierte Selbstzufrie­denheit, Abgrenzung und Ausschluss gegen Entlastung, Verlässlich­keit und die Sicherung von Vertrauen“ (Grunwald/Thiersch, 2016, S. 306).

Die Mühen um einen gelingenderen Alltag beziehen sich ebenso im Kampf um Raum, Zeit und die Verhältnisse, in denen Menschen sich erfahren und auf die Arbeit an der Veränderung von Lebenslagen (vgl. Grunwald/Thiersch, 2016, S. 306).

Das befreiende und glückliche Leben ist nur da lebendig, wo es sich seinen Alltag schafft, im Grunde sich die Wirklichkeit bewährt. Nicht der gelungene, sondern der gelingendere Alltag ist das Ziel. Bezogen auf den konkreten histori­schen und gesellschaftlichen Kontext sind keine absoluten sondern nur relative Aussagen über die Praxis und den Vorschein konkreter Vorstellungen von gelingenderen Alltag zu treffen. Was nämlich unter gelingenderer Alltag verstan­den wird, hat seine Wirklichkeit im gegenseitigen Austausch von Erfüllung und Perspektive (vgl. Wahl, 2002, S. 9).

3.2 Gelingendes Leben in der aktuellen Theoriediskussion Sozialer Arbeit

Auf die Begrifflichkeit „gelingendes Leben“ wurde in bisherigen Debatten, in Hinblick auf Gegenstand, Inhalte und Ziele sozialarbeiterischer Praxis und sozialarbeitswissenschaftlicher Theoriebildung, Bezug genommen. Die Theorie und Praxis „gelingendes Leben“ ist in der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit (DGS) zum Gegenstand der Sozialarbeitswissen­schaft erklärt worden. Auch die alltägliche Lebensgestaltung einzelner Menschen, sozialer Gruppen und Familien sowie ihr Zusammenleben in der Gesellschaft unter den vorherrschenden und flexiblen ökonomischen, politi­schen, kulturellen und kommunikativen Bedingungen gehören der Wissenschaft mit an (vgl. Steinert/Thiele, 2008, S. 20).

In den Überlegungen zur Gegenstandbestimmung Sozialer Arbeit wird erläutert, dass Soziale Arbeit mit ihren Fähigkeiten grundlegend für alle Menschen da ist, nicht nur für gesellschaftlich benachteiligte Gruppe. Der Fokus Sozialer Arbeit soll sich auf die Fälle und Bedingungen erfolgreicher Lebensbewältigung richten, ohne dabei das scheiternde Leben aus dem Blickwinkel zu verlieren (vgl. Wahl, 2002, S. 8).

Auch in den Debatten zum Gegenstand von Sozialarbeitsforschung wird festge­halten, dass die Untersuchungen sich nicht nur auf den Lebens- und Problem­bereich der Klientel sozialer Dienste und Einrichtungen beschränken. Die Frage, wie der Alltag der Menschen gelingt, in ihm Probleme gelöst und Krisen bewältigt werden, gewinnt in der Sozialen Arbeit immer mehr an Bedeutung. Für die Sozialarbeitswissenschaft gilt daher: „Zu erforschen ist gelingendes Leben, um von ihm her Rat zu gewinnen, wie in problematischen Verhältnissen gehandelt werden kann“ (Wahl, 2002, S. 9).

Des Weiteren verortet Thiersch sein Konzept vom „gelingenderen Alltag“ (vgl. Kapitel 3.1.3) in einem geschichtlichen Rahmen. Er deutet auf einen Perspekti­venwechsel Sozialer Arbeit hin. Die sozialen Probleme verschieben und erweitern sich mit der Herausbildung des modernen Sozialstaates auch zu sozialpädagogischen Problemen. Gleichzeitig findet eine Erweiterung der sozialpädagogischen Aufgaben zu lebensweltorientierten Hilfen zur Lebens­bewältigung statt (vgl. Thiersch, 1992, S. 239).

[...]


1 Im Deutschen wird Soziale Arbeit auch als handlungsorientierte Profession definiert.

2 Der Begriff der Vielfalt umfasst auch die Heterogenität.

3 Die Theorien der Sozialen Arbeit beinhalten zusätzlich empirisches Wissen.

4 Indigene Völker in jeder Region, in jedem Land und in jedem Gebiet haben mit ihren eigenen Werten, ihrer eigenen Art des Verständnisses und ihrer eigene Art der Weiter­gabe ihres Wissens einen unschätzbaren Beitrag zur Wissenschaft geleistet.

5 Soziale Arbeit greift dort ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Interaktion treten.

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Psychologische Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend und ihre Bedeutung für ein gelingendes Leben. Was sind Maßnahmen Sozialer Arbeit?
Hochschule
DIPLOMA Fachhochschule Nordhessen; Zentrale
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
90
Katalognummer
V936437
ISBN (eBook)
9783346291967
ISBN (Buch)
9783346291974
Sprache
Deutsch
Schlagworte
psychologische, grundbedürfnisse, kindheit, jugend, bedeutung, leben, maßnahmen, sozialer, arbeit
Arbeit zitieren
Stephan Gatzke (Autor:in), 2020, Psychologische Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend und ihre Bedeutung für ein gelingendes Leben. Was sind Maßnahmen Sozialer Arbeit?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/936437

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