Nelly Däs - Das Leben und Werk der russlanddeutschen Schriftstellerin


Magisterarbeit, 2007

70 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Ein kurzer Überblick über die Geschichte und die Kultur der Deutschen aus Russland

3 Zur Geschichte der russlanddeutschen Literatur
3.1 Überblick über die deutschsprachige Presse im russischen Zarenreich, der Sowjetunion und der GUS
3.2 Überblick über das russlanddeutsche Verlags- und Bibliothekswesen
3.3 Überblick über die russlanddeutschen Schriftsteller und ihre Werke von den Anfängen bis zur Gegenwart
3.4 Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und das Schicksal
der russlanddeutschen Literatur in Deutschland

4 Nelly Däs – Chronistin der Russlanddeutschen
4.1 Porträt der Schriftstellerin Nelly Däs
4.2 Stationen im Werk der Schriftstellerin Nelly Däs
4.2.1 „Wölfe und Sonnenblumen“
4.2.2 „Der Zug in die Freiheit“
4.2.3 „Mit Timofej durch die Taiga“
4.2.4 „Schicksalsjahre in Sibirien“
4.2.5 „Das Mädchen vom Fährhaus“
4.2.6 „Aljoscha – ein Junge aus Krivoj Rog“
4.2.7 „Russlanddeutsche Pioniere im Urwald. Fazenda hinter der Serra“
4.2.8 „Lasst die Jugend sprechen. Russlanddeutsche Jugendliche berichten“
4.2.9 „Kochbuch der Deutschen aus Russland“
4.2.10 „Alle Spuren sind verweht. Russlanddeutsche Frauen in der Verbannung“
4.2.11 „Der Schlittschuhclown“
4.2.12 „Emilie, Herrin auf Christiansfeld“

5 Die Bedeutung der Schriftstellerin Nelly Däs für die russlanddeutsche Literatur

6 Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Als Thema für meine Magisterarbeit habe ich mir das Leben und Werk der russlanddeutschen Schriftstellerin Nelly Däs ausgesucht. Das Gebiet der russlanddeutschen Literatur ist leider nur sehr wenig erforscht. Größtenteils liegt es an dem schweren Schicksal der Russlanddeutschen.

In dem ersten Kapitel meiner Arbeit gebe ich einen kurzen Überblick über die Geschichte und die Kultur der Russlanddeutschen. Zuerst erläutere ich eine Definition des Begriffs „Russlanddeutsche“. Es werden folgende Fragen gestellt und beantwortet. Wer waren die ersten Deutschen in Russland? Was hat sie dazu bewogen, ihre deutsche Heimat zu verlassen und in ein unbekanntes Land auszuwandern? Wie ist es ihren Nachkommen in den Jahren 1764 bis einschließlich 2004 im russischen Zarenreich, in der Sowjetunion und in der GUS ergangen? Politische und historische Ereignisse werden dabei erörtert. Ich gehe auch auf die Kultur der Deutschen aus Russland kurz ein. Was für Normen, Werte und Traditionen haben die deutschen Kolonisten aus ihrer alten Heimat in ihre neue Heimat mitgebracht? Was ist davon erhalten geblieben und wurde auch an die Nachkommen weitergegeben?

In dem zweiten Kapitel der Arbeit beschäftige ich mich mit der Geschichte der russlanddeutschen Literatur. Zuerst gebe ich einen Überblick über die deutschsprachige Presse im russischen Zarenreich, der Sowjetunion und der GUS. Welche Zeitungen und Zeitschriften wurden von den deutschen Kolonisten herausgegeben? Welche Auswirkung hatte die Politik des Zarenreiches und später der Sowjetunion auf das russlanddeutsche Publikationswesen? In dem zweiten Unterkapitel gebe ich einen Überblick über das russlanddeutsche Verlags- und Bibliothekswesen. Dabei war es mir wichtig zu zeigen, welche russlanddeutsche Verlage es im zaristischen Russland, der Sowjetunion und der GUS gab und was für Bücher und in welchen Auflagen gedruckt wurden. Ich gehe auch auf das Bibliothekswesen ein und gebe einen kurzen Überblick darüber, welche deutschsprachigen Bücher den deutschen Kolonisten zugänglich waren. In dem dritten Unterkapitel beschäftige ich mich mit den russlanddeutschen Schriftstellern und ihren Werken von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zuerst stelle ich die Frage, ob es eine „russlanddeutsche Literatur“ überhaupt gibt und erläutere dann zwei Definitionen, die von den russlanddeutschen Schriftstellern und Literaturkritikern Johann Warkentin und Herold Belger vertreten werden. Abschließend stelle ich meine eigene Definition der russlandedeutschen Literatur vor, mit der ich auch in den nachfolgenden Kapiteln der Arbeit arbeiten werde. Außerdem nenne ich die wichtigsten Vertreter der russlanddeutschen Literatur und komme auch auf ihre Hauptwerke zu sprechen. Dabei sind folgende Fragen zu beantworten. Wo liegen die Anfänge der russlanddeutschen Literatur? Welche Auswirkung hatten die geschichtlichen und politischen Ereignisse auf die Themenwahl der russlanddeutschen Schriftsteller? Außerdem zeigte ich die beiden Zweige der russlanddeutschen Literatur, die sich etwa ab 1956 gebildet hatten. Ich erläutere kurz, mit welchen Schwierigkeiten die sowjetdeutschen Autoren zu kämpfen hatten und komme auf das Schicksal der russlanddeutschen Schriftstellern in Deutschland zu sprechen. Wie sind diese beiden Zweige entstanden, wie entwickeln sie sich und welche Zukunftsaussichten haben sie? Vor allem für die russlanddeutschen Autoren in der Bundesrepublik Deutschland spielt die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland eine entscheidende Rolle, weil sie Künstler aus eigenen Reihen immer unterstützt hat. Zu diesen gehört auch die Russlanddeutsche Nelly Däs. 1945 als Kind nach Deutschland gekommen gehört sie heute zu den bekanntesten und erfolgreichsten russlanddeutschen Schriftstellern Deutschlands. In ihren zwölf Büchern verarbeitet sie ausschließlich russlanddeutsche Thematik in literarischer Form und in deutscher Sprache. Frau Däs hat mehrere Preise und Auszeichnungen erhalten und ein Roman von ihr wurde sogar verfilmt. In dem dritten Kapitel meiner Arbeit stelle ich zuerst die Biographie dieser Schriftstellerin vor und erläutere auch, wie sie selbst zu ihren Werken steht. Wieso hat sie mit dem Schreiben angefangen? Welche Themen bewegen sie am meisten? Mit welchen Problemen wurde sie als russlanddeutsche Schriftstellerin in Deutschland konfrontiert? In den folgenden Unterkapiteln werden alle zwölf Bücher von Nelly Däs vorgestellt mit kurzer Inhaltsangabe, Entstehungs- und Editionsgeschichte, Rezensionen und meiner eigenen Interpretation der Werke. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Themenwahl. Frau Däs wird als die „Chronistin der Russlanddeutschen“ bezeichnet. Wie verändert sich ihre Rolle als Chronistin in den Jahren 1969, wo sie ihren ersten autobiographischen Roman veröffentlicht hat, und 2002, wo ihr letztes Buch erschienen ist? Welche Auswirkungen hatte dabei die Politik der Aussiedlung der Russlanddeutschen auf die Themenwahl der Schriftstellerin?

In dem vierten und letzten Kapitel meiner Arbeit erläutere ich die Bedeutung der Schriftstellerin Nelly Däs für die russlanddeutsche Literatur. Was macht sie wertvoller als andere russlanddeutsche Autoren? Welche Bedeutung hat sie für die nachfolgende Schriftstellergeneration?

2 Ein kurzer Überblick über die Geschichte und die Kultur der Deutschen aus Russland

Die ersten Deutschen gelangten bereits im 11. Jahrhundert in die Gebiete des späteren russischen Zarenreiches. Es waren vorwiegend Kaufleute und Baumeister. 1229 wurde in Nowgorod die älteste deutsche Kolonie auf russischem Boden gegründet. Um 1500 wurde eine Nemezkaja Sloboda (Deutsche Vorstadt) in Moskau gegründet.[1] Im 16. Jahrhundert kamen vorwiegend Experten auf dem Gebiet Militär, doch auch Verwaltungsbeamte, Ärzte, Handwerker und Techniker ins russische Reich. Diese Deutschen bildeten eine Elite, die auf Wunsch des russischen Zaren Peter I zur Modernisierung der Wirtschaft, der Verwaltung und des Militärwesens beitragen sollte.[2] Diese Deutschen sind jedoch von den deutschen Siedlern (Kolonisten), die meist bäuerlicher Herkunft waren und etwas später nach Russland gelangten und über deren Nachkommen, die heute als Sowjetdeutsche, Russlanddeutsche oder Deutsche aus Russland bezeichnet werden, es in meiner Arbeit gehen soll, zu unterscheiden. Den Manifesten der russischen Kaiserin Katharina II von 1763 und 1765 folgend, erschienen 1764 die ersten deutschen Kolonisten auf dem russischen Boden. Die politische Lage in den deutschen Fürstentümern war durch den Siebenjährigen Krieg sehr unsicher und Katharina II versprach allen deutschen Bauern ein Leben in wirtschaftlicher Sicherheit und Freiheit vor religiöser Verfolgung. Zwischen 1764 und 1767 kamen etwa 27 000 Siedler vor allem aus Hessen, der Pfalz, Nordbayern, Nordbaden und dem Rheingebiet in die Wolgagebiete. Zur gleichen Zeit wurden auch nahe von St. Petersburg und im Schwarzmeergebiet deutsche Siedlungen gegründet. Doch viele deutsche Kolonisten sahen sich von den Versprechungen der russischen Regierung getäuscht. Es gab keine funktionierende Infrastruktur, sondern nur Brachland, das erst kultiviert gemacht werden musste. So mussten die deutschen Siedler unter schwersten Lebensbedingungen praktisch „von vorne“ anfangen.[3] Die nächste Gruppe deutscher Einwanderer kam unter Alexander I etwa ab 1804 nach Russland. Zu dieser Zeit wurden in Gebieten der heutigen Ukraine, der Krim, des Transkaukasus und Bessarabiens Siedler angeworben. Zwischen 1763 und 1862 hatten die deutschen Siedler in Russland mehr als 3000 Kolonien im europäischen Teil des Russischen Reiches, im Kaukasus und in Sibirien gegründet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden auch in Kasachstan und Mittelasien Tochterkolonien errichtet.[4] Der Volkszählung von 1897 zufolge lebten 390000 Deutsche an der Wolga, 342000 im Süden und 237000 im Westen Russlands, 17717 in Moskau. 1914 lebten rund 1,7 Millionen Deutsche im russischen Reich.[5] Einer anderen Quelle zufolge betrug die deutsche Bevölkerung in Russland im Jahr 1914 2,4 Millionen.[6]

Die deutschen Kolonisten waren von Anfang an auf sich allein gestellt. Nach den Startschwierigkeiten waren sie wirtschaftlich sehr erfolgreich. Doch die einzelnen Kolonien hatten kaum Kontakt zueinander. Die Gründe dafür waren die großen geographischen Entfernungen, aber auch die sozialen und religiösen Differenzen. Bei den jeweiligen Einwanderungswellen blieben konfessionelle und familiäre Gemeinschaften, die aus den gleichen Herkunftsgebieten kamen, unter sich. Die Kolonisten pflegten ihre Dialekte, Konfessionen, Traditionen und Bräuche, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht hatten, weiter und bauten auf eigene Kosten Kirchen und Schulen.[7]

Doch bereits 1871 wurden den Deutschen alle Vorrechte und Privilegien gestrichen und sie zu „russischen Bürgern“ erklärt. Sie mussten ab jetzt Steuern zahlen und Militärdienst leisten, was dazu führte, dass viele ins Ausland, vor allem nach Amerika, auswanderten.

Die Russifizierungspolitik, der Erste Weltkrieg (1914–1918), die Februarrevolution von 1917, der Bürgerkrieg (1918-1921) und die schwere Hungersnot in den Jahren 1921/22 verschlechterten die Lebensbedingungen der Deutschen in Russland erheblich. Rund 120000 deutsche Kolonisten wurden zur Auswanderung gezwungen. Die in Russland verbliebenen Deutschen wurden zu „Feinden des Reiches“ erklärt. Die Wolhyniendeutsche wurden aus dem europäischen Teil Russlands nach Sibirien und Zentralasien deportiert, ihr Eigentum von der Regierung beschlagnahmt. Selbst der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit wurde unter Strafe verboten.[8]

Erst mit der Gründung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen 1924 verbesserte sich die Lage der Deutschen in der Sowjetunion. Die Autonome Wolgarepublik diente der deutschen Bevölkerung als politisches und ökonomisches Zentrum und viele auch außerhalb der Wolgarepublik lebende Deutsche identifizierten sich mit ihrem Zentrum. Die während des Ersten Weltkrieges verbotene deutsche Sprache wurde dort Amtssprache, es gab wieder deutsche Schulen, Hochschulen und Fachschulen, deutsche Theater und Bibliotheken sowie einige deutsche Zeitungen und Zeitschriften. Einer Volkszählung von 1926 zufolge lebten in der Sowjetunion 1.238.486 Deutsche.[9]

Die Zwangskollektivierung ab 1928, die Entkulakisierung (Enteignung von Land, Haus und Vieh), die Hungersnot in den Jahren 1932/33 sowie die Stalinistischen Säuberungen in den Jahren 1933 bis 1939 sorgten erneut für eine Verschlechterung der Lage der Deutschen in Russland. 1928 wurden alle deutschen Kirchen geschlossen und entweiht, 1937 gab es keinen einzigen deutschen Priester im Amt. 1939 wurden alle deutschen Schulen geschlossen und die deutsche Sprache verboten. Die Sowjets betrieben eine systematische Ausrottung der deutschen Intelligenz. Vor allem Priester, Lehrer, Schriftsteller, Militär und reiche Industrielle und Bauern fielen den Stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Die Anzahl der Deutschen sank 1937 auf 1.151.000 Personen.[10]

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde die Lage für die Deutschen in Russland unerträglich. Die Autonome Wolgarepublik sowie alle deutschen Kolonien wurden aufgelöst und alle Deutschen zu „Feinden der Sowjetunion“ erklärt und nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Viele kamen noch während der Deportation ums Leben. Bereits 1941 wurden alle deutschen Männer, ab 1942 auch Frauen, die keine Säuglinge hatten, in die sogenannte Arbeitsarmee meist nach Sibirien gebracht. Die meisten kamen nicht mehr zurück. Die Deutschen lebten unter Aufsicht des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) in so genannten Sondersiedlungen und standen unter Kommandantur, das heißt, sie mussten sich regelmäßig bei den Behörden melden und durften die Sondersiedlungen ohne eine Erlaubnis nicht verlassen.[11] Auch die Deutschen im westlichen Teil der Sowjetunion, die wegen des raschen Einmarsches der deutschen Truppen nicht mehr rechtzeitig deportiert werden konnten, wurden nach der Kapitulation Deutschlands 1945 aus allen Besatzungszonen nach Sibirien verschleppt. Von 1941 bis 1956 standen Deutsche unter der Kommandantur und mussten in Sondersiedlungen leben. Die deutsche Sprache war nach wie vor verboten, deutsche Schulen oder Kirchen gab es nicht. Nur innerhalb der Familie wurden die deutschen Dialekte weiter gesprochen und die deutschen Bräuche, Sitten und Feste gepflegt und gefeiert, aber es musste geheim geschehen, denn darauf standen immer noch harte Strafen. Man weiß bis heute keine genauen Zahlen, wie viele Deutsche an den Folgen der Deportation und der Arbeitsarmee umgekommen sind, aber im Jahr 1948 betrug die Anzahl der Deutschen in Sondersiedlungen knapp eine Million.[12]

Erst 1956 wurden die Deutschen aus den Sondersiedlungen entlassen, aber sie durften sich nur innerhalb des asiatischen Teils der Sowjetunion bewegen. Es war ihnen aber nicht gestattet, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren, und sie mussten auf ihr dort zurückgelassenes Vermögen verzichten. Doch es wurde ihnen erlaubt, Briefe zu schreiben und nach vermissten Familienangehörigen zu suchen, denn 1941 wurden viele Familien auseinander gerissen. 1964 erfolgte eine Teil-Rehabilitierung der Deutschen, das heißt, die Anschuldigung der Kollaboration mit dem faschistischen Deutschland wurde zurückgenommen. Doch erst 1990, 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, entschuldigte sich der Oberste Sowjet „bei allen Deutschen in der Sowjetunion für das ihnen zugefügte Leid“.[13]

Die letzte Volkszählung im Jahr 1989 ermittelte über 2 Millionen Deutsche in der Sowjetunion.[14]

Nach den enttäuschten Hoffnungen auf die Wiederherstellung der Wolgarepublik und dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzte eine Massenauswanderung der Deutschen aus den ehemaligen sowjetischen Republiken ein. Im Jahr 2004 lebten in Deutschland 2,4 Millionen so genannter russlanddeutscher Spätaussiedler aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion, die mittlerweile die größte Zuwanderungsgruppe in Deutschland bilden.[15]

3 Zur Geschichte der russlanddeutschen Literatur

3.1 Überblick über die deutschsprachige Presse im russischen Zarenreich, der Sowjetunion und der GUS

Die erste deutschsprachige Zeitung auf russischem Boden wurde 1782 gegründet. Es war die „St. Petersburger Zeitung“, die aber nur der deutschsprachigen Petersburger Oberschicht vorbehalten war.[16]

Die deutschen Kolonisten waren in den ersten hundert Jahren so mit dem Überleben beschäftigt, dass sie nicht im Stande waren, eine eigene Presse zu gründen. An Büchern hatten sie nur Bibeln, Andachts- und Gesangsbücher, die sie aus Deutschland mitgebracht hatten. Der Versuch der Wolgadeutschen, für die 1864 gegründete „Saratower Deutsche Zeitung“ einen weiten Leserkreis zu finden, scheiterte bereits nach zwei Jahren.[17] Es dauerte bis 1873, ehe die Herausgabe einer Zeitschrift gelang, die sich auch über längere Zeit halten konnte. 1873 wurde die Zeitschrift „Wolga-Kalender“ herausgegeben, etwa zur gleichen Zeit erschien in Saratow der Kalender „Wolgabote“. Von 1874 bis 1915 erschien in Saratow die kirchliche Zeitschrift „Volksbote“, die später in „Friedensbote“ unbenannt wurde. Die Schwesternzeitung dazu war der „Jugendfreund“. Diese Zeitschriften und Zeitungen waren christlichen Charakters und „hauptsächlich auf religiöse Erziehung der Kinder und eine christliche Lebensweise in der Familie“ hin ausgerichtet und blieben über Jahre die einzigen Nachrichtenblätter der deutschen Kolonisten an der Wolga.[18] Im Laufe der Zeit kamen noch die evangelische Wochenzeitschrift „Heimatglocken“ und das katholische Wochenblatt „Klemens“ dazu.[19] 1901 erschien in Odessa die „Odessaer Zeitung“ und 1906 die „Saratower Deutsche Zeitung“.[20] Doch diese Zeitungen und Zeitschriften waren nur regional, die größten von ihnen hatten knapp über 5000 Leser gehabt, und sie wurden alle 1914 verboten.[21]

Alle Zeitungen und Zeitschriften, die während des Ersten Weltkrieges erschienen waren, so z.B. die kirchlichen Zeitungen „Der Evangelische Gemeindebote“ und „Morgenstern“ und die katholische Zeitschrift „Deutsche Stimmen“ waren nur kurzlebig und wurden bereits 1918 verboten.[22]

Nach der Februarrevolution gab das deutsche Kommissariat in Saratow 1918 eine bolschewistische Zeitung unter dem Namen „Vorwärts“ heraus, die ein Jahr später mit dem seit 1916 in Katharinenstadt erscheinenden proletarischen Blatt „Kommunist“ vereinigt und in „Nachrichten“ umbenannt wurde. Einige weitere Zeitungen und Zeitschriften, die nach 1918 erschienen, waren marxistischen Inhalts und gingen im Jahr 1921 infolge der Hungersnot ein. Schon allein ihre Namen sprachen für sich wie z.B. „Die Wacht“, „Kampf und Arbeit“, „Die Rote Jugend“, „Zum Kommunismus“, „Die Fackel“ oder „Sei bereit“. Von den deutschen Kolonisten wurden diese bolschewistischen Blätter kaum gelesen.[23]

Neben Zeitungen und Zeitschriften gab es noch eine Reihe von Fachzeitschriften, meist pädagogischen Inhalts, sowie ein paar Zeitschriften für die Landwirte.[24]

Nur die Zeitung „Nachrichten“ und die 1926 in Moskau gegründete „Deutsche Zentralzeitung“ waren von überregionaler Bedeutung und wurden erst 1941 verboten. Von 1941 bis 1956 wurde kein einziges deutsches Wort in der Sowjetunion gedruckt.[25]

Erst 1956, nach der Aufhebung der Kommandantur und der Sondersiedlungen, wurde zum ersten Mal wieder eine deutsche Zeitung auf sowjetischem Boden gedruckt, die Wochenschrift „Neues Leben“, die vom Prawda-Verlag in Moskau herausgegeben wurde. 1966 erschien die Tageszeitung „Die Freundschaft“ in Zelinograd, die später nach Alma-Ata verlegt und 1991 in die „Deutsche Allgemeine“ umbenannt wurde.[26] Etwa ein Jahr später erschien in Barnaul/Altai-Gebiet die deutschsprachige Zeitung „Rote Fahne“, die 1991 in „Zeitung für Dich“ umbenannt wurde. Die Hauptaufgabe dieser Zeitungen bestand bis in die neunziger Jahre hinein darin, die Inhalte der russischsprachigen Zentralzeitungen in Moskau in deutscher Sprache wiederzugeben. Für spezifisch deutsche Themen blieb kaum Platz.[27] Lediglich eine und höchstens zwei Seiten waren der russlanddeutschen Literatur vorbehalten. Dabei handelte es sich um zensierte Gedichte und Erzählungen russlanddeutscher Autoren sowie Übersetzungen und Nachdichtungen von sowjetischen Autoren durch die russlanddeutschen. Moderne deutsche Literatur war kaum vertreten. Zu den Ausnahmen gehörten Friedrich Dürrenmatt und Bertold Brecht.[28]

1990 veränderte sich die Lage. Zu diesen drei Zeitungen gesellten sich einige Regionalzeitungen im Gebiet Uljanowsk, im Wolgagebiet und in St. Petersburg und es wurden auch aktuelle und politische Themen behandelt. Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kämpfen diese Zeitungen mit technischen und finanziellen Problemen, außerdem gibt es erhebliche Vertriebsprobleme. Die Deutschkompetenz der Journalisten ist unbefriedigend und die Zeitungen finden kaum Resonanz bei den Lesern, was aber mit dem sinkenden Lebensstandard und der steigenden Massenauswanderung der Russlanddeutschen zu erklären ist.[29]

3.2 Überblick über das russlanddeutsche Verlags- und Bibliothekswesen

Vor dem Ersten Weltkrieg gab es allein in Saratow vier deutsche Verlage: Brendel, Schellhorn, Kimmel und Sojus. Daneben gab es Verlagsanstalten in Beideck, Mariental, Pokrowsk, Charkow und anderen Ortschaften. Allein der Deutsche Staatsverlag in Pokrowsk hatte Hunderte von Buchtiteln mit einer Gesamtauflage von über 3 Millionen Bänden herausgegeben.[30] Einer Quelle zufolge wurden im Zaristischen Russland allein im Jahr 1913 ca. 717 deutsche Buchtitel veröffentlicht. 1927 waren es nur 197 Buchtitel. In den Jahren 1937-1939 wurden auf dem Gebiet der Ukraine durchschnittlich 31 deutsche Bücher pro Jahr publiziert. In der Wolgarepublik wurden in den Jahren 1933-1935 etwa 184 Buchtitel pro Jahr veröffentlicht.[31] Die Zahl der deutschen Buchpublikationen in der Sowjetunion war rapide geschrumpft, bis 1941 alle deutschen Verlage geschlossen wurden und von 1941 bis 1960 kein einziges Buch in deutscher Sprache gedruckt werden durfte.

Nach 1957 waren es vor allem die sowjetischen Verlage „Progress“, „Prosweschtschenije“ und „Kasachstan“, die wieder deutschsprachige Bücher drucken durften. Doch die Produktion aller Verlage deutschsprachiger Literatur in der Sowjetunion von 1957 bis 1986 betrug kaum 0,1 % der Publikationsmenge eines einzigen deutschen Verlages in Pokrowsk vor 1941. Während bei den deutschen Verlagen vor dem Zweiten Weltkrieg alle Inhaber und Verlagsredakteure ausschließlich Deutsche waren und die sprachliche Qualität der Bücher dementsprechend auch hoch war, lag das Verlagswesen der fünfziger und sechziger Jahre fest in sowjetischer bzw. russischer Hand und wurde zudem noch von KPDSU kontrolliert, was sich nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die sprachliche Qualität der Bücher auswirkte.[32]

Vor 1941 verfügte fast jede deutsche Kolonie über eine oder mehrere Büchereien. Nach 1941 gab es auf dem gesamten sowjetischen Gebiet keine einzige Bücherei mit Titeln in deutscher Sprache. Einigen Berichten von Russlanddeutschen, die bereits 1941 befragt worden waren, kann man entnehmen, was für Bücher den Lesern zur Verfügung standen.

Ein Bericht aus Fischerdorf lautet:

„Es gab eine Bücherei mit deutschen und russischen Büchern, und zwar vorwiegend propagandistischen Inhalts. Ab 38 wurden die deutschen Bücher herausgezogen, und es verblieben nur noch russische Bücher. Jedoch wurden nach und nach auch russische Bücher derjenigen Schriftsteller herausgezogen, die inzwischen beim Staat in Ungnade gefallen waren. Heute ist die Bücherei geschlossen.“[33]

Ein Bericht aus Gnadental lautet:

„Es bestand eine Bibliothek, deutsche Bücher waren fast nur kommunistischen Inhalts, es gab aber auch russische Bücher, und zwar die Werke von: Tolstoj, Puschkin, Lermontow, darunter einige auch in deutschen Übersetzungen.“[34]

Die Situation nach 1956 sah auch nicht viel besser aus. Die in der Sowjetunion erschienenen deutschsprachigen Bücher deckten bei weitem nicht den Bedarf der Leser. Der größte Teil der Bücher musste aus der Sowjetzone importiert werden, darunter schöngeistige Literatur, Literatur zur deutschen Sprache, Sachliteratur und Kinder- und Jugendliteratur. Der Import der Bücher aus der DDR und die Weiterverteilung erfolgten von Moskau aus. Doch meistens gelangten diese Bücher nicht an ihren Käufer. In vielen Buchhandlungen waren die Angestellten keine Deutsche, beherrschten die deutsche Sprache nicht und konnten die Bücherlisten ohne fremde Hilfe nicht auswerten. So stapelten die Bücher im Lager und die Käufer selbst hatten keinen Zugang zu den Bücherregalen. Nur die Buchhandlungen in Großstädten wie z.B. die Buchhandlung „Drushba“ in Moskau verfügten über ein umfangreiches Angebot an deutschen Büchern aus der DDR.

Bei Bibliotheken sah die Lage ähnlich wie im Buchhandel aus. Seit 1956

gab es zwar wieder deutschsprachige Bücher in den sowjetischen Bibliotheken, aber die meisten standen ungelesen in den Regalen, denn die meisten Leser wussten nichts von diesen Büchern. An dieser Stelle wäre zu erwähnen, dass einige Deutsche, vor allem Lehrer, sich umfangreiche Privatbibliotheken angelegt hatten, und auch Bücher an Landsleute verliehen.[35]

3.3 Überblick über die russlanddeutschen Schriftsteller und ihre Werke von den Anfängen bis zur Gegenwart

Die russlanddeutschen Gelehrten streiten sich bis heute über die Anfänge der russlanddeutschen Literatur. Doch das hängt zum größten Teil damit zusammen, wie unterschiedlich der Begriff „russlanddeutsche Literatur“ definiert wird. Es gibt zwei bedeutende Werke zu diesem Thema. Zum einen ist es das Buch „Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht“ von Johann Warkentin, das 1999 in Stuttgart erschienen ist. Zum anderen gibt es ein umfassendes Werk von Herold Belger „Russlanddeutsche Schriftsteller. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Biographien und Werkübersichten“, das 1995 in russischer Sprache in Almaty/Kasachstan und 1999 in deutscher Übersetzung in Berlin erschienen war. Beide Männer vertreten unterschiedliche Ansichten.

Johann Warkentin, Jahrgang 1920, hat als Russlanddeutscher alle Schrecken der Verschleppung und der Verbannung mit- und durchgemacht. Er veröffentlichte Nachdichtungen, Reportagen, kulturgeschichtliche Skizzen und Literaturkritisches und war elf Jahre lang in der Moskauer Wochenzeitschrift „Neues Leben“ für die Sparte „sowjetdeutsche Literatur“ zuständig, bevor er 1981 nach Deutschland emigrierte.[36] Herold Belger, Jahrgang 1934, ist Prosaschriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer, war Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR (seit 1971) und lebt heute noch in Kasachstan.[37]

Etwa 200 Namen erwähnt Belger in seinem Lexikon. Den Begriff „russlanddeutsche Literatur“ definiert er wie folgt:

„Es geht (…) um die Literatur der Russlanddeutschen, um die Vertreter jener Literatur, die das Leben, die Kultur und Geschichte, das Schicksal und die Mentalität dieses Ethnos widerspiegelt. Es geht um jene Schriftsteller, die in deutscher Sprache schrieben und damit die Entwicklung des nationalen Selbstbewusstseins gefördert hatten. Es geht um die Literatur, die dank eines Zufalls, sagen wir, in russischer Sprache abgefasst wurde, die aber nach ihrem Inhalt und ihrer Thematik, mit ihrer Seele und ihrem Schmerz ganz und gar den dornigen Weg und das Schicksal dieses vielgeprüften Ethnos geteilt hat.“[38]

Für Belger spielen also keine sprachlichen, literarischen oder stilistischen Kriterien eine Rolle, sondern nur der Inhalt und die Thematik der Bücher. Deswegen setzt er auch die Anfänge der russlanddeutschen Literatur sehr früh an. Bereits das sogenannte Einwanderungspoem „Reise-Beschreibung der Kolonisten wie auch der Lebensart der Russen“ von 1764 des Bernhard Ludwigs von Platen, eines Offiziers aus dem Braunschweigschen, ist für Belger ein russlanddeutsches Werk. Warkentin spricht dagegen, seiner Meinung nach habe es bis ins späte 19. Jahrhundert hinein keine eigentliche russlanddeutsche Literatur gegeben.[39] Über das Poem selbst schreibt Warkentin, es sei „polternd, grobschlächtig im Ton, holprig-hinkend in Vers und Strophe, in seiner Stimmungslage pendelnd zwischen Selbstmitleid und Selbstgefälligkeit“ und dank seiner „Detailkleckserei“ von einem unschätzbaren kulturhistorischen Erkenntniswert, mehr aber auch nicht.[40]

Auch die mit Abstand beste Kennerin der russlanddeutschen Literatur Annelore Engel-Braunschmidt vertritt Warkentins Meinung. Sie verweist darauf, dass Bernhard von Platen ein adliger Offizier und kein Bauer war, er war kein Russlanddeutscher und hat mit diesem einzigen Poem auch nicht die Schule gemacht, also können seine Reisebeschreibungen nicht am Anfang russlanddeutscher Literaturgeschichte stehen.[41] Man muss auch beachten, dass in den ersten Jahren der Ansiedlung eine ganze Reihe von Kolonisten ihre Erlebnisse und Eindrucke niederschrieben, die aber nie veröffentlicht wurden, sondern nur in den Archiven vorhanden waren.[42] Eine kontinuierliche Geschichte der russlanddeutschen Literatur gibt es also nicht. Warkentin grenzt den Begriff „russlanddeutsche Literatur“ sehr stark ein. Baltendeutsche Literatur, deren einige Vertreter Belger in sein Lexikon aufgenommen hat, ist für Warkentin kein Zweig der russlanddeutschen Literatur, weil Baltendeutsche ein anderes Schicksal hatten als Russlanddeutsche.[43]

Seine Definition lautet also:

“In unserem Verständnis ist Russlanddeutsche Literatur jenes schöngeistige Schrifttum, das die über das Riesenreich verstreuten Sprachinseln, vor allem die an der Wolga und in der Ukraine, und später die im Winde Verwehten hervorgebracht haben.“[44]

Für Warkentin gehören zum Begriff “russlanddeutsche Literatur” solche Kriterien wie die deutsche Sprache, Zielsetzung, Themenkreis, Gestaltungsweise und die Sprachform.

Allgemein und unumstritten setzt man die Erzählung „Schöne Ammie aus Marienthal und der Kirgisenmichel“ von 1893 und David Kufelds „Das Lied vom Küster Deis“, Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, an den Anfang der russlanddeutschen Literatur, vor allem deswegen, weil es die ersten Werke von Russlanddeutschen waren, die auch gedruckt wurden.[45] Neben diesen tauchen noch ein paar vereinzelte Namen auf, die jedoch bei Warkentin schlecht abschneiden. Sein Resümee über die ersten russlanddeutschen Schriftsteller lautet:

„Sie haben keine Menschheitsprobleme gewälzt. Ob es nun an den wachsenden Gefährdungen ihrer Inselwelt lag oder am gestalterischen Können, ihr Anliegen war es, diesen deutschsprachigen Landstrich möglichst als heile Welt darzustellen, geborgen in der Gemeinsamkeit völkischer Sitten und Bräuche und fest geeint im Glauben. So fanden die düsteren Zeichen der Zeit kaum Eingang in ihre Werke.“[46]

Die sowjetdeutsche Literatur zwischen 1917 und 1941 war durch eine harte Zensur gekennzeichnet. Es gab ein paar revolutionsbegeisterte Lyriker, die kommunistische Parolen von sich gaben und den Begriff „Hie roter Held, hie weißer Mörder“ prägten. Warkentin bemerkt dazu: „Das ist (…) das grundlegende Gestaltungsprinzip der sowjetdeutschen Literatur geblieben (…).“[47] Die sowjetdeutsche Literatur war durch Pathos und die Schwarzweiß-Malerei gekennzeichnet und behandelte ausschließlich solche Themen wie Revolution, Bürgerkrieg, Klassenkampf im alten deutschen Dorf, der revolutionäre Umbruch auf dem Lande, Kampf gegen alles Alte, Überholte, vor allem gegen den Glauben und die alten Sitten und Bräuche, die Völkerfreundschaft sowie Loblieder auf die kommunistische Partei und Lenin.[48] Ausnahmen gab es keine. Doch man muss auch bedenken, dass sowjetdeutsche Lyriker und Schriftsteller zu dieser Zeit in eine Zwickmühle geraten waren. Denn einerseits waren sie Deutsche und schrieben in deutscher Sprache für Deutsche, weil sie hofften, die eigene Kultur und Identität in der Fremde zu erhalten. Doch andererseits fühlten sie sich in ihrer Haut auch unwohl, weil sie die eigene deutsche Identität verleugnen und sich anpassen mussten. Die deutschen Kolonisten waren in Russland von Deutschland abgeschnitten und gänzlich auf sich allein gestellt und sie haben an den Folgen der Kriege, der Revolution und des Bürgerkrieges mehr leiden müssen als irgendein anderes Volk in der Sowjetunion. Zweimal wurden sie zu „Feinden des Staates und der Nation“ erklärt. Sowjetdeutsche Schriftsteller schrieben so, weil sie nicht nur als Schriftsteller, sondern vor allem als Menschen überleben wollten. Der bekannteste sowjetdeutsche Schriftsteller dieser Zeit war wohl Gerhard Sawatzky, der Stalinistischen Säuberungen zum Opfer fiel. 1938 kam das literarische Schreiben der Deutschen in der Sowjetunion völlig zum Erliegen.[49]

Warkentin bezeichnet den Sommer des Jahres 1941 als den „Anfang vom Ende des Deutschtums in Russland“.[50] Die Zerstreuung über das Riesenreich Sowjetunion und vor allem der Sprachverlust bedeuteten für die russlanddeutsche Literatur ihren Untergang. Bis in die sechziger Jahre hinein gab es keine Möglichkeiten, größere Erzählungen oder gar Romane zu drucken. Erst 1960 erschien der erste Band der Sammlungen „Hand in Hand“, der zweite Band folgte fünf Jahre später. Doch bei der Auswahl wurden unpolitische Gedichte und Erzählungen, die als Ergebnisse des so genannten „Sozialistischen Realismus“ galten, bevorzugt. 1965 erschien in Barnaul der Sammelband „Freundschaft“ und zwei Jahre später wurden drei Bücher von Johann Warkentin, Sepp Österreicher und Joachim Kunz publiziert.[51] In den siebziger Jahren erschienen zwei weitere Sammelbände „Ein Hoffen in mir lebt“ (1972) und „Lichter in den Fenstern“ (1979).[52] Das sind aber auch bis in die späten achtziger Jahre hinein die einzigen Publikationen. Als Resümee möchte ich Warkentin zitieren:

„Umlagert von Tabus und Restriktionen, jubilierten wir drauflos! Welche Tabus? Je nun, das Wort Wolga war in der ersten Zeit tabu, die Wolgarepublik sowieso; Vertreibung, Trudarmee, Kommandantur durften überhaupt nicht erwähnt werden. Und worüber wir tirilierten? Na klar doch: über die Weisheit der Partei und die Großherzigkeit der Sowjetmacht, über die Völkerfreundschaft allemal und zuvörderst – über den gemeinsam errungenen Sieg.“[53]

Doch die Alternative wäre Schweigen gewesen, aber die sowjetdeutschen Schriftsteller wollten wenigstens die deutsche Sprache erhalten. Von den russischen Schriftstellern – mit einigen wenigen Ausnahmen - wurde die sowjetdeutsche Literatur kaum beachtet, ihnen waren nicht einmal die Namen von sowjetdeutschen Autoren bekannt. Die sowjetdeutsche Literatur der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre weist eine sehr geringe Qualität auf vor allem wegen des Unvermögens, das eigene Schicksal und das Schicksal des eigenen Volkes zum Gegenstand der Literatur zu machen, wie es Waldemar Weber in seinem Referat „Sowjetdeutsche Literatur – eine eigenständige Literatur?“ 1989 bemerkte. Er erinnerte sich auch an einen Auftritt des russischen Schriftstellers Juri Trifonow, der sich auch zu der sowjetdeutschen Literatur äußerte:

„Seine Kritik war einfach vernichtend. Nein, er ging nicht auf das Künstlerische in den Werken ein, er sprach einfach von ihrem Inhalt. Für ihn war es völlig unverständlich, wie die Literaten eines Volkes mit einem so schweren Schicksal (und das nicht nur in der Vergangenheit) mit solcher Gemütsruhe und Leidenschaftslosigkeit schreiben konnten, warum in keinem ihrer Werke der angestaute Schmerz Ausdruck fand, warum darin überhaupt nichts von den Konflikten des derzeitigen Lebens, nicht den Konflikten des Alltags, sondern den Konflikten der Seele, zu verspüren ist, wo er doch wusste, dass das sowjetdeutsche Volk immer noch im Zustand eines seelischen Unwohlseins lebte. Ihm wurde entgegengehalten, den russischen Schriftstellern sei mehr erlaubt, während die sowjetdeutsche Presse nichts Derartiges veröffentlichen würde. Darauf sagte Trifonow, erst müsse etwas geschrieben werden und erst danach dürfe man sich über die Unmöglichkeit der Veröffentlichung des Geschriebenen beklagen.“[54]

Dieser Abschnitt bringt die Tragödie der russlanddeutschen Literatur auf den Punkt. Es hat an russlanddeutschen Schriftstellern mit Mut und Willen gefehlt. Fast alle einigermaßen begabten Schriftsteller kamen in den Stalinistischen Vernichtungslagern ums Leben. 1956 hat die russlanddeutsche Literatur praktisch beim Nullpunkt begonnen und zwar mit Autoren, die seit über achtzehn Jahren kein einziges deutsches Buch in der Hand gehabt hatten, manche von denen waren keine echten Sprachträger oder beherrschten nicht einmal die deutsche Sprache. Dazu kam noch die Tatsache, dass viele von ihnen eine ungenügende Schul- oder Hochschulbildung hatten und die jüngeren im Geiste des Sozialismus erzogen worden waren. Es konnte also nicht die Rede von einem hohen künstlerischen Niveau sein. Was die gewählten Themen betrifft, so saß der älteren Schriftstellergeneration die Angst noch tief in den Knochen, und die jüngere Generation wusste von nichts, denn über die Vergangenheit wurde selbst in den Familien kaum gesprochen.

Auch das Jahr 1985 brachte keine nennenswerten Veränderungen. Endlich vom Maulkorb befreit, trauten sich die meisten sowjetdeutschen Schriftsteller immer noch nicht, über heikle Themen zu schreiben. Viele ließen sich in die alten Schemata zurückfallen oder flüchteten in die Science-Fiction. Doch zumindest mehrten sich ab 1987 Erlebnisberichte, die die tabuisierten Themen der Vertreibung und der Verbannung behandelten.[55]

[...]


[1] Vgl. Längin, Bernd G.. Die Russlanddeutschen unter Doppeladler und Sowjetstern. Städte, Landschaften und Menschen auf alten Fotos. Augsburg: Weltbild Verlag, 1992. S. 9.

[2] Vgl. Dietz, Barbara, und Hilkes, Peter. Russlanddeutsche: Unbekannte im Osten. Geschichte, Situation, Perspektiven. München: Olzog Verlag, 1992. S. 13.

[3] Ebd. S. 14 f.

[4] Ebd. S. 15.

[5] Vgl. Längin, Bernd G.. Die Russlanddeutschen unter Doppeladler und Sowjetstern. Städte, Landschaften und Menschen auf alten Fotos. Augsburg: Weltbild Verlag, 1992. S. 12 f.

[6] Vgl. Dietz, Barbara, und Hilkes, Peter. Russlanddeutsche: Unbekannte im Osten. Geschichte, Situation, Perspektiven. München: Olzog Verlag, 1992. S. 17.

[7] Ebd. S. 16 f.

[8] Ebd. S. 17 f.

[9] Ebd. S. 18 ff.

[10] Ebd. S. 18 ff.

[11] Ebd. S. 23 ff.

[12] Ebd. S. 26 f.

[13] Längin, Bernd G.. Die Russlanddeutschen unter Doppeladler und Sowjetstern. Städte, Landschaften und Menschen auf alten Fotos. Augsburg: Weltbild Verlag, 1992. S. 14.

[14] Vgl. Dietz, Barbara, und Hilkes, Peter. Russlanddeutsche: Unbekannte im Osten. Geschichte, Situation, Perspektiven. München: Olzog Verlag, 1992. S. 34.

[15] Vgl. Wierling, Dorothee (Hg.). Heimat finden. Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen. Hamburg: edition Körber-Stiftung, 2004. S. 9.

[16] Vgl. Längin, Bernd G.. Die Russlanddeutschen unter Doppeladler und Sowjetstern. Städte, Landschaften und Menschen auf alten Fotos. Augsburg: Weltbild Verlag, 1992. S. 9.

[17] Vgl. Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. (Hg.). Geschichte und Kultur der Deutschen in Russland/UdSSR. Auf den Spuren einer Minderheit. Ausstellungskatalog. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1989. S. 141 f.

[18] Vgl. Hagin, M.. Beitrag zur wirtschaftlichen und kulturellen Leistung der Wolgadeutschen. In: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Hg.). Heimatbuch 1967/68. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1993. S. 101 f.

[19] Vgl. Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. (Hg.). Geschichte und Kultur der Deutschen in Russland/UdSSR. Auf den Spuren einer Minderheit. Ausstellungskatalog. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1989. S. 142.

[20] Vgl. Längin, Bernd G.. Die Russlanddeutschen unter Doppeladler und Sowjetstern. Städte, Landschaften und Menschen auf alten Fotos. Augsburg: Weltbild Verlag, 1992. S. 13.

[21] Vgl. Hagin, M.. Beitrag zur wirtschaftlichen und kulturellen Leistung der Wolgadeutschen. In: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Hg.). Heimatbuch 1967/68. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1993. S. 102.

[22] Ebd. S. 102 f.

[23] Ebd. S. 102.

[24] Vgl. Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. (Hg.). Geschichte und Kultur der Deutschen in Russland/UdSSR. Auf den Spuren einer Minderheit. Ausstellungskatalog. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1989. S. 142 f.

[25] Ebd. S. 143.

[26] Vgl. Längin, Bernd G.. Die Russlanddeutschen unter Doppeladler und Sowjetstern. Städte, Landschaften und Menschen auf alten Fotos. Augsburg: Weltbild Verlag, 1992. S. 14.

[27] Vgl. Dietz, Barbara, und Hilkes, Peter. Russlanddeutsche: Unbekannte im Osten. Geschichte, Situation, Perspektiven. München: Olzog Verlag, 1992. S. 95.

[28] Vgl. Weinheim, E.. Die Versorgung der Deutschen in der Sowjetunion mit Schrifttum in ihrer Muttersprache. In: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Hg.). Heimatbuch 1967/68. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1993. S. 141 f.

[29] Vgl. Dietz, Barbara, und Hilkes, Peter. Russlanddeutsche: Unbekannte im Osten. Geschichte, Situation, Perspektiven. München: Olzog Verlag, 1992. S. 95 f.

[30] Vgl. Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. (Hg.). Geschichte und Kultur der Deutschen in Russland/UdSSR. Auf den Spuren einer Minderheit. Ausstellungskatalog. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1989. S. 143.

[31] Vgl. Walth, Richard H.. Strandgut der Weltgeschichte. Die Russlanddeutschen zwischen Hitler und Stalin. Essen: Klartext Verlag, 1994. S. 203.

[32] Vgl. Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. (Hg.). Geschichte und Kultur der Deutschen in Russland/UdSSR. Auf den Spuren einer Minderheit. Ausstellungskatalog. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag, 1989. S. 143.

[33] Walth, Richard H.. Strandgut der Weltgeschichte. Die Russlanddeutschen zwischen Hitler und Stalin. Essen: Klartext Verlag, 1994. S. 198.

[34] Ebd. S. 198 ff.

[35] Vgl. Weinheim, E.. Die Versorgung der Deutschen in der Sowjetunion mit Schrifttum in ihrer Muttersprache. In: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Hg.). Heimatbuch 1967/68. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1993. S. 142 ff.

[36] Vgl. Warkentin, Johann (Hg.). Russlanddeutsche – Woher? Wohin?. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1992. S. 2.

[37] Vgl. Belger, Herold. Russlanddeutsche Schriftsteller. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Biographien und Werkübersichten. Berlin: edition ost, 1999. S. 25.

[38] Ebd. S. 10.

[39] Vgl. Johann Warkentin, Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht. Stuttgart 1999, S. 24.

[40] Ebd. S. 21 f.

[41] Vgl. Engel-Braunschmidt, Annelore. Russlanddeutsche Literatur: Konsolidierung und Auflösung. In: Hans Rothe (Hg.). Deutsche in Russland. Studien zum Deutschtum im Osten. Köln: Böhlau Verlag, 1996. S. 52 f.

[42] Vgl. Hagin, M.. Beitrag zur wirtschaftlichen und kulturellen Leistung der Wolgadeutschen. In: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Hg.). Heimatbuch 1967/68. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1993. S. 100 f.

[43] Vgl. Warkentin, Johann. Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1999. S. 26.

[44] Ebd. S. 27.

[45] Vgl. Hagin, M.. Beitrag zur wirtschaftlichen und kulturellen Leistung der Wolgadeutschen. In: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Hg.). Heimatbuch 1967/68. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1993. S. 101.

[46] Warkentin, Johann. Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1999. S. 71.

[47] Warkentin, Johann (Hg.). Russlanddeutsche – Woher? Wohin?. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1992. S. 197.

[48] Vgl. Warkentin, Johann. Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1999. S. 91 f.

[49] Ebd. S. 116 f.

[50] Ebd. S. 122.

[51] Vgl. Weinheim, E.. Die Versorgung der Deutschen in der Sowjetunion mit Schrifttum in ihrer Muttersprache. In: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Hg.). Heimatbuch 1967/68. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1993. S. 142.

[52] Vgl. Warkentin, Johann. Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht. Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1999. S. 184.

[53] Warkentin, Johann (Hg.). Russlanddeutsche – Woher? Wohin?. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1992. S. 198.

[54] Weber, Waldemar. Sowjetdeutsche Literatur – eine eigenständige Literatur? (Auszüge aus einem Referat. Mai 1989). In: Johann Warkentin (Hg.), Russlanddeutsche – Woher? Wohin?. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1992. S. 215 f.

[55] Ebd. S. 203 ff.

Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Nelly Däs - Das Leben und Werk der russlanddeutschen Schriftstellerin
Hochschule
Universität Potsdam
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
70
Katalognummer
V93650
ISBN (eBook)
9783640151288
ISBN (Buch)
9783640176526
Dateigröße
634 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit ist die erste ÜBERHAUPT zu diesem Thema!
Schlagworte
Nelly, Leben, Werk, Schriftstellerin
Arbeit zitieren
Julia-Maria Warkentin (Autor:in), 2007, Nelly Däs - Das Leben und Werk der russlanddeutschen Schriftstellerin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93650

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Nelly Däs - Das Leben und Werk der russlanddeutschen Schriftstellerin



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden