Das Milgram Experiment. Eine sozialpsychologische und ethische Betrachtungsweise des Gehorsams gegenüber Autoritäten


Hausarbeit, 2020

31 Seiten, Note: 1,3

Nina H. (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Genderhinweis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1. Begriffserklärungen
2.1.1. Gehorsam
2.1.2. Autorität
2.1.3. Neue Autorität
2.2. Das Milgram-Experiment
2.2.1. Darstellung des Versuchs
2.2.2. Darstellung der Versuchsvariationen
2.2.3. Darstellung der Ergebnisse und Bedeutung
2.2.4. Moderatoren des Milgram-Effekts und Faktoren für Gehorsam

3. Ethische Betrachtungsweise des Milgram-Experiments

4. Negative Auswirkungen von Gehorsam in der Unternehmenspraxis

5. Maßnahmen gegen Fehlentwicklungen
5.1. Ebene der Erziehung
5.2. Ebene der Gesellschaft
5.3. Organisationsebene
5.4. Allgemeine Maßnahme

6. Diskussion

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Versuchsaufbau Milgram-Experiment

Abbildung 2: Bestrafungsapparat des Milgram-Experimentes

Genderhinweis

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Hausarbeit eine einheitliche Sprachform verwendet. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung eines Geschlechts, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen sein.

1. Einleitung

Wer mit Autoritätspersonen wie Eltern, Lehrer oder Polizisten aufgewachsen ist, für den ist es ganz normal sich gehorsam zu zeigen. Der Einfluss von Gehorsam gegenüber Autoritäten kann in diesem Zusammenhang als positiv und förderlich für das Zusammenleben von Individuen gedeutet werden. So wurden Richtlinien und Gesetze, wie bspw. die Menschenrechtskonvention, verfasst, an die sich alle Menschen gleichermaßen und ohne Widerrede halten müssen. Neben der positiven Sicht auf die Thematik des Gehorsams gegenüber Autoritäten zeigen sich jedoch auch problematische Mechanismen,1 die durch die erschreckenden Ergebnisse des Milgram-Experiments offenbart wurden. Die Durchführung dieses Experimentes lieferte die Erkenntnis, dass jeder normale Mensch aufgrund autoritärer Anweisungen in der Lage ist, unschuldigen Menschen Schmerzen zuzufügen und sogar dazu bereit ist, ihren Tod in Kauf zu nehmen.2

Die vorliegende Hausarbeit soll den Lesenden einen Überblick über die Thematik des Gehorsams und der damit verbundenen ethischen Problematik bzgl. der empirischen Erforschung des Gebiets des Gehorsams gegenüber Autoritäten geben. Dabei wird insbesondere auf das äußerst bekannte Milgram-Experiment eingegangen, bevor konkrete Lösungsansätze für die Einhaltung ethischer Richtlinien in der Forschung aufgezeigt werden. Zudem sollen Beispiele negativer Mechanismen zu Autorität und Gehorsam in der Unternehmenspraxis beleuchtet und Maßnahmen, die negativen Fehlentwicklungen entgegenwirken, erörtert werden.

Im ersten Teil werden die theoretischen Grundlagen dargestellt. Dabei werden mit dem Thema Gehorsam gegenüber Autoritäten zusammenhängende theoretische Begriffe erläutert und anschließend wird das Milgram Experiment detailliert beschrieben. Der Versuchsaufbau, -ablauf sowie -variationen als auch die daraus entsprungenen Ergebnisse und die vier Faktoren des Gehorsam, die aus diesen abgeleitet werden konnten, stehen hierbei im Mittelpunkt. Das zweite Kapitel dieser Hausarbeit widmet sich der ethischen Problematik zu diesem Thema. Dabei werden für die Thematik relevante ethische Richtlinien beschrieben, um das Milgram-Experiment mit diesen in Einklang zu bringen. Im Anschluss werden negative Wirkmechanismen des Autoritätsgehorsams durch praxisnahe Beispiele beleuchtet, aus welchen im dritten Teil der vorliegenden Hausarbeit konkrete Maßnahmen schlussgefolgert werden, die dabei helfen können, möglichen negativen Fehlentwicklungen in Organisationen entgegen zu wirken. Eine Diskussion rundet die Hausarbeit ab.

2. Theoretische Grundlagen

Das nachfolgende Kapitel beschäftigt sich mit den wesentlichen theoretischen Begriffen, die in Verbindung mit dem Milgram Experiment stehen. Nachdem diese dargestellt wurden, folgt die Beschreibung des Versuchs selbst mit seinen zentralen Bestandteilen sowie div. Versuchsvariationen. Abschließend werden die daraus resultierenden Ergebnisse gesichtet und schließlich die vier ursächlichen Faktoren für Gehorsam beleuchtet, die aus gezogenen Rückschlüssen anhand der Ergebnisse gezogen wurden.

2.1. Begriffserklärungen

2.1.1. Gehorsam

In der Sozialpsychologie wird unter Gehorsam das „Befolgen der Befehle einer Person von höheren sozialen Status in einer definierten Hierarchie oder einer Kommandokette“3 verstanden. Dabei werden zwei Formen des Gehorsams unterschieden: der kooperierende Gehorsam und Gehorsam aus Furcht. In Situationen, bei denen eine Person keinem Zwang ausgesetzt ist und bei denen für die untergeordnete Person keine Strafe bei unkooperativem Verhalten droht, spricht man von kooperierendem Gehorsam. Gehorsam aus Furcht hingegen beschreibt die Art von Gehorsam, wenn eine mögliche Bestrafung bei Nichtbefolgen von Anweisungen durch die Autorität droht.4

2.1.2. Autorität

„Autorität ist (…) eine Befugnis, auf andere Menschen positiv oder negativ einzuwirken, d.h., Autorität ermöglicht Menschen sozialen Einfluss auf Personen oder Gruppen zu nehmen, indem sie eine amtliche oder innere Überlegenheit und Anerkennung besitzen.“5 Autoritäten können sowohl an einzelne Personen als auch an Institutionen vergeben werden. Zudem können auch Symbole als Repräsentanten anerkannter Werte Autorität innehalten.6

2.1.3. Neue Autorität

Begründet vom klinischen Psychologen Prof. Haim Omer (geb. 1949 in Tel Aviv) stellt die Neue Autorität ein systemisches Konzept für Personen mit Führungsverantwortung (bspw. Eltern, Lehrer, Führungskräfte) dar, das vergangene Autoritätsverständnisse aufnimmt und sie den aktuellen Bedingungen anpasst. Die Aspekte Distanz, Kontrolle, unmittelbares Handeln und Strafe werden bspw. durch Präsenz, Transparenz, Beziehung und Selbstkontrolle ersetzt.7 Die Herangehensweise dieses Erziehungsstils hat eine respektvolle Beziehungskultur als Ursprung und soll positive Entwicklungsprozesse antreiben.8 Weiterführende Informationen werden an diesem Punkt nicht beschrieben, um den Rahmen dieser Hausarbeit nicht zu überschreiten.9

2.2. Das Milgram-Experiment

Das Milgram-Experiment wurde erstmals 1961 von Stanley Milgram, einem amerikanischen Psychologen, in New Haven durchgeführt. Untersucht wurde dabei der Zusammenhang zw. Gehorsam und Autoritäten. Schon in den 40er Jahren forschte der amerikanische Psychologie Jerome Frank nach den Fragen der Gehorsamsbereitschaft und von welchen Faktoren diese abhängt. In einem seiner Experimente gab er Testpersonen 12 geschmacklose Kekse, die sie essen sollten. Der Psychologe behauptete, dass der Verzehr für die Wissenschaft notwendig sei und dass die Testpersonen diese unbedingt aufessen müssten. Als Ergebnis konnte festgestellt werden, dass sich lediglich zehn Prozent der Probanden weigerten die Kekse zu essen. Dies stellte die Grundlage für das nachfolgende Milgram-Experiment dar.10 Der Versuchsaufbau sowie -ablauf wird im nachfolgenden Kapitel beschrieben. Milgram selbst, wollte mit seinem Versuch die Verbrechen des Nationalsozialismus aus sozialpsychologischer Sicht erklären. Dabei wiederholte Milgram sein Experiment 25 Mal in verschiedenen Ländern mit insgesamt ca. 1000 Probanden. Die Versuchsanordnungen variierten und der Einfluss unterschiedlicher Variablen wurden getestet.11 Auf die unterschiedlichen Variationen der Milgram-Experimente wird in Kapitel 2.2.2. näher eingegangen.

2.2.1. Darstellung des Versuchs

In der ersten Ausführung des Milgram-Experiments wurden Teilnehmer aus New Haven mittels einer Zeitungsannonce gesucht. Als Vergütung für eine Teilnahme wurden vier Dollar und die Fahrtkosten in Höhe von 50Cent ausbezahlt. Das Alter der Versuchspersonen lag zw. 20 und 50 Jahren und die Professionen waren sehr unterschiedlich, sodass Ingenieure, Postbeamte, Vertrete, Arbeiter u.A. vertreten waren. Insgesamt wurden 40 Personen geladen.12

Bei dem Experiment wird der Versuchsperson vorgegeben, dass die Lern- und Gedächtnisfähigkeit eines Schülers getestet wird. Tatsächlich wird jedoch nicht der Schüler, sondern die Versuchsperson getestet. Die Versuchsperson übernimmt im Experiment die Rolle der Lehrperson. Die Rollenverteilung Lehrperson – Schüler wird ausgelost, sodass jede Versuchsperson den Eindruck erhält, nur durch Zufall die Lehrerrolle erhalten zu haben. In Wahrheit ist der Vorgang aber manipuliert: Schüler ist immer derselbe, ein 21-jähirger Student, der mit allen Einzelheiten des Experiments vertraut ist und einen freundlichen und liebenswürdigen Eindruck vermittelt und Lehrperson ist immer die Testperson.13 Die Manipulation erfolgt durch zwei mit „Lehrer“ beschriftete Lose. Dadurch, dass immer die Testperson als erstes ein Los ziehen muss, bekommt folglich auch immer die Testperson die Rolle des Lehrers und hinterfragt die Aufteilung nicht.14 Lehrer und Schüler sitzen in verschiedenen Räumen und das für die gesamte Dauer des Versuchsvorganges. Die Verbindung zwischen den beiden besteht lediglich aus einer Wechselsprechanlage und einem Bestrafungsapparat, mit dem der Schüler Elektroschocks vom Lehrer erhalten würde. Die Elektroschocks sind zw. 15 und 450 Volt stark.15 Neben dem Schüler und dem Lehrer gibt es noch die Rolle des Versuchsleiters. Der Versuchsleiter wird gespielt von einem 31-jährigen Highschool Lehrer, der einen strengen und leidenschaftslosen Eindruck vermittelt, einen grauen Technikerkittel trägt, um als Forscher identifiziert zu werden und ebenfalls in alle Einzelheiten des Versuchs eingeweiht wurde.16 Abb. 1 zeigt eine Darstellung des Versuchsaufbaus.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung1: Versuchsaufbau Milgram-Experiment17 ; bearbeitet durch das Lektorat

Das Experiment findet in zwei voneinander abgetrennten Räumen statt, wobei der Schüler sich im selben Raum mit den Elektroden befindet und der Lehrer im selben Raum wie der Versuchsleiter sitzt und den Bestrafungsapparat (siehe Abb. 1) sichtbar bei sich hat.18 Außerdem sind die einzelnen Bereiche des Apparates gekennzeichnet, von „sehr leichter Schock“ bei 15 Volt bis zu „unmittelbare Lebensgefahr“ bei 450 Volt.19

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung2: Bestrafungsapparat des Milgram-Experimentes20

Die Lehrperson bekommt vor Beginn des Versuchs einen Probeschock von 45 Volt, damit sie sich eine konkrete Vorstellung von der Wirkung der Bestrafung machen kann und um die Glaubhaftigkeit des Apparates zu bestätigen. Der Lehrer erhält die Anweisung, den Schüler, entsprechend einer genauen Anweisung, abzufragen. Dies erfolgt über die Einprägung von Wortpaaren die erst vorgelesen und anschließend abgefragt werden. Bei einer richtigen Antwort muss der Lehrer bestätigen, bei einer falschen Antwort muss der erste Hebel (15 Volt) betätigt und dem Schüler die Volthöhe, mit der er bestraft würde, bekannt gegeben werden. Zudem muss die richtige Antwort vorgelesen und zur nächsten Frage übergegangen werden. Bei der nächsten falschen Antwort wird der zweite Hebel (30 Volt) gedrückt usw. bis zur Höchststrafe von 450 Volt.21 Die Antworten des Schülers werden manipuliert, sodass diese von einem vorbereiteten Band kommen, das auch Reaktionen auf die Bestrafungen wiedergibt. Von einem leichten Stöhnen bei den ersten Bestrafungen bis hin zu apathischem Röcheln und schließlich Stille in der Endphase:22

1) Leichtes Stöhnen (von 75 – 105 Volt)
2) Schmerzensrufe (ab 120 Volt)
3) Schmerzensschreie und Bitte um Abbruch
4) Keine Reaktion mehr (ab ca. 350 Volt)

Des Weiteren gibt der Versuchsleiter in vier Abstufungen die folgenden Befehle an den Lehrer, wenn dieser zögerte weiterzumachen:23

1) „Bitte machen Sie weiter!“
2) „Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!“
3) „Es ist sehr wichtig, dass Sie weitermachen!“
4) „Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen weitermachen!“

Beim Zögern durch die Lehrperson, dem Schüler einen Elektroschock zu verabreichen, reagiert der Versuchsleiter mit der ersten Instruktion. Will der Lehrer das Experiment abbrechen und ist noch immer nicht davon überzeugt weiterzumachen, so reagiert der Versuchsleiter mit der zweiten Instruktion. Verweigert die Lehrperson weiterhin mit dem Experiment fortzufahren, entgegnet der Versuchsleiter mit Instruktion drei und vier.24 Als beendet gilt das Experiment entweder durch fortlaufende Verweigerung der Lehrperson weiter zu machen25 oder wenn die Lehrperson zwei Mal die Maximalspannung des Bestrafungsapparates an den Schüler verabreicht.26

Nach Beendigung des Testes wird mit jeder Versuchsperson ein aufklärendes Gespräch geführt, bei dem erklärt wird, dass der Schüler keine echten Elektroschocks erhalten hat. Den Testpersonen wird die Möglichkeit eingeräumt, ein versöhnendes Gespräch mit dem Schüler und ein Klärendes mit dem Versuchsleiter zu führen. Den Versuchspersonen, die sich im Experiment ungehorsam zeigten, wird erklärt, dass der Ungehorsam in diesem Fall sehr positiv wahrzunehmen sei. Den gehorsamen Probanden hingegen wird erläutert, dass ihr Verhalten und ihre Reaktion normal war. Schließlich unterziehen sich die Teilnehmer psychologischen Tests, erhalten einen ausführlichen Bericht über das Experiment selbst und füllen div. Fragebögen aus.27

2.2.2. Darstellung der Versuchsvariationen

Das Milgram-Experiment wurde nicht nur wiederholt, sondern in unterschiedlichen Variationen umgesetzt, von denen eine Auswahl nachstehend beschrieben wird.

Eine Reihe an Experimenten umfasste insgesamt 20 Experimente, die in vier Hauptvarianten aufgeschlüsselt wurden und das Ziel hatten, zu überprüfen, ob das räumliche Einander näher bringen die Gehorsamkeitsrate der Probanden maßgeblich verringern würde d.h., ob der Lehrer auf die Nähe des Schülers in seinen Handlungen anders reagiert. Dazu wurden vier verschiedene Variationen von Nähe-Distanz zw. Lehrer und Schüler mit unterschiedlichen Rückmeldungsoptionen installiert.

Nähe-Distanz-Variante 1: Lehrer und Schüler konnten sich weder hören noch sehen. Die Reaktionen des Schülers waren lediglich durch Schläge an die Wand wahrnehmbar. Ca. 65 Prozent der Lehrer lösten die Maximalvoltstärke aus.

Nähe-Distanz-Variante 2: Lehrer und Schüler konnten sich wieder weder hören noch sehen, jedoch war es möglich, dass der Lehrer die Reaktionen des Schülers über einen Lautsprecher hörte. Hier betätigten ca. 62 Prozent der Lehrpersonen den Knopf mit der höchsten Stufe von 450 Volt.

Nähe-Distanz-Variante 3: Lehrer und Schüler befanden sich im selben Raum und konnten sich demnach hören sowie sehen. Bei dieser Variation des Experiments lösten ca. 40 Prozent der Lehrpersonen die höchste Voltstärke aus.

Nähe-Distanz-Variante 4: Lehrer und Schüler befanden sich im selben Raum, konnten sich hören sowie sehen und die Lehrperson musste die Hand des Schülers auf den Stromkontakt pressen. Hier bestraften 30 Prozent der Lehrer den Schüler mit der höchsten Stufe.28

Weitere Experimente mit anderen Variationen wurden anhand des Versuchsaufbaus nach der Näher-Distanz-Variante 2 getestet. Neben des räumlichen Versuchsaufbaus wurde auch die Person des Versuchsleiters unterschiedlich dargestellt. So wurde der Versuchsleiter bei einem Mal als Forscher der Yale Universität beim Anderen als Angestellter eines kommerziellen Forschungsinstituts ausgegeben. In einer Variante wurden zwei statt nur einem Versuchsleiter eingesetzt. Die beiden Versuchsleiter gaben widersprechende Anweisungen, was zu einer Verringerung des Gehorsams der Lehrperson führte.29

Bei einer Versuchsvariante verließ der Versuchsleiter den Raum, in dem sich der Lehrer befand und gab anschließend telefonische Anweisungen. Hier zeigten nur noch 9 von 40 Personen weiterführende Ausführungen, der Rest brach ab. Die Gehorsamkeit war also höher, wenn der Versuchsleiter anwesend war und sank, wenn dieser nicht sichtbar war.30

Bei der Durchführung des Experiments in einem heruntergekommenen Bürogebäude verringerte sich der Prozentsatz mit maximal ausgeführter Elektroschockstärke auf 48 Prozent.31

In einer anderen Variante gab der Schüler zu Beginn Herzprobleme an. Trotzdem führten 26 von 40 Probanden den höchsten Elektroschock aus, was die Schlussfolgerung zulässt, dass die Versuchspersonen kaum auf das Opfer oder seine Aussagen eingingen.32

Bei geschlechtsspezifischen Durchführungen konnte der Art des Geschlechts keinen relevanten Einfluss zugeschrieben werden.33

2.2.3. Darstellung der Ergebnisse und Bedeutung

Vor Beginn der Durchführung der Milgram-Experimente befragte Milgram div. Psychologen sowie Studenten und Erwachsene der Mittelschicht hinsichtlich der zu erwartenden Ergebnisse. Alle Befragten gaben dabei eine Fehlprognose ab, da sie glaubten, dass die Testpersonen vor dem Erreichen der höchsten Elektroschockstufe das Experiment abbrechen würden. Sie meinten, dass die Testpersonen dem Versuchsleiter den Gehorsam verweigern würden, wenn das Leben des Schülers in Gefahr wäre, um in keinen Gewissenskonflikt zu kommen. Zudem äußerten sie jedoch auch, dass sich zuvor kaum jemand weigern würde, die Elektroschocks zu verteilen.34

Tatsächlich gingen von den 40 Versuchspersonen mehr als die Hälfte, nämlich 26 Probanden (65 Prozent), bis zur maximalen Voltstärke von 450 Volt (= unmittelbare Lebensgefahr). Lediglich 14 „Lehrer“ verweigerten sich, im Laufe des Versuchs weiterzumachen, wobei keiner der Testpersonen, die frühzeitig abbrachen, unter 300 Volt aufhörte. Je ein Proband stoppte bei 375, 360 und 345 Volt, zwei bei 330 Volt, vier bei 315 und fünf bei 300 Volt.35 Wie bereits erwähnt, wurde das Experiment nach dem ersten Versuch in unterschiedlichen Ländern wiederholt. Zusammengefasst zeigten sich noch erschreckendere Ergebnisse. Dabei drückten ca. 80 Prozent aller Probanden den Auslöser für die 450 Volt.36

Aus den nachträglich ausgefüllten Fragebögen kam hervor, dass sich 74 Prozent der Testpersonen für das, was sie taten nicht verantwortlich fühlten. 70 Prozent meinten, der Schüler sei mindestens bewusstlos, 15 Prozent glaubten, er könne bereits tot sein. 40 Prozent der Versuchspersonen war nicht nervös.37 Der generelle Gemütszustand wurde als gestresst und aufgewühlt beschrieben.38 Herausstechende Originalzitate der Probanden aus ihrem Abschlussgespräch waren bspw. folgende: „(…) dann wäre er eben tot gewesen. Ich habe nur meine Pflicht getan“39, „(…) im Interesse der Wissenschaft machte ich weiter bis zum Ende“40, „der Versuchsleiter trug den größten Teil der Verantwortung. Ich machte ja nur weiter man befahl mir weiterzumachen und ich bekam keinen Hinweis, dass ich aufhören sollte.“41

Um auf die grundlegende Fragestellung Milgrams, die sich mit der Erklärung des Nationalsozialismus aus sozialpsychologischer Sicht beschäftigte, einzugehen: das Milgram-Experiment hat „wie kein anderes Forschungsprogramm dazu beigetragen, zu verstehen was im nationalsozialistischen Deutschland während des Holocausts passiert ist.“42 Die Ergebnisse des Experiments zeigen, dass es für eine Autoritätsperson ein leichtes ist, Personen zu grausamen, rechtswidrigen und menschlich fragwürdigen Taten zu bewegen, gibt Aufschluss über die dunklen Taten, die in der Vergangenheit begangen wurden und macht sichtbar, dass solche Gräueltaten, unter bestimmten Voraussetzungen, auch noch in Zukunft möglich sind.43

2.2.4. Moderatoren des Milgram-Effekts und Faktoren für Gehorsam

Folgende Bedingungen für die Moderation der Gehorsamkeitsbereitschaft konnten identifiziert werden:44

Physische Nähe zw. Lehrer und Schüler: der Prozentsatz der Testpersonen, die die Maximalvoltstärke auslösten, verringerte sich signifikant, wenn der Lehrer den Schüler nicht nur hören, sondern auch sehen konnte oder sogar eine körperliche Berührung erfolgte.

Physische Nähe zw. Lehrer und Autoritätsperson: war der Versuchsleiter physisch nicht mehr im selben Raum anwesend, wie der Lehrer und gab die Anweisungen nur noch telefonisch durch, so reduzierte sich der Prozentanteil der Probanden, die die Maximalstärke des Elektroschockapparates auslösten.

Legitimität der Autoritätsperson: der Versuchsleiter spielt eine entscheidende Rolle. So verringert sich der Prozentsatz der maximal ausgeführten Schockrate bspw. durch die Durchführung des Experiments in einem heruntergekommenen Bürogebäude.

Verhalten weiterer anwesender Personen: in Versuchsvarianten, in denen ein weiterer Lehrer anwesend war, der konsistent gehorchte, stieg die Maximalschockrate sogar bis auf 92 Prozent an. Gehorchte ein anderer Lehrer nicht mehr, sank diese Rate auf 10 Prozent.

Nach der Durchführung der Experimentenreihe und der Durchsicht der Fragebögen, die die Testpersonen nach Beendigung des Experiments ausfüllten, postulierte Milgram vier Faktoren für Gehorsam, die als eine Grundlage für Gehorsam gegenüber Autoritäten betrachtet werden können: soziokulturelle, verpflichtende, situationelle Faktoren und Verantwortlichkeiten.45 Soziokulturelle Faktoren umfassen das Aufwachsen in einer Gesellschaft, in der es Kindern beigebracht wird, Autoritäten zu folgen und in denen dies ein natürlicher Vorgang ist. Autoritäten können bspw. Eltern oder Lehrer, die sich gesetzestreu verhalten und vertrauenswürdig erscheinen, darstellen. Verpflichtende Faktoren stellen die schrittweise Steigerung der Bestrafung dar, die aufgrund falscher Antworten des Schülers getätigt werden müssen. Damit sind wenn-dann-Faktoren gemeint, bei dem das „dann“ verpflichtend auf das „wenn“ folgen muss. Verantwortlichkeiten nicht selbst zu verspüren, stellt ein ebenfalls wichtiger Faktor dar. Da die Probanden eine hierarchisch untergeordnete Position einnehmen, entsteht bei ihnen das Gefühl selbst nicht für ihre Taten verantwortlich zu sein, was die Ausführung der Elektroschocks wahrscheinlicher und einfacher macht. Die Verantwortung konnte von den Probanden an den Versuchsleiter abgeschoben werden und ihr persönliches Gewissen wurde somit nicht (oder kaum) belastet. Situationelle Faktoren beschreiben alle Bedingungen, die die Situation formen. Das können bspw. Regeln, Umweltbedingungen oder Glaubhaftigkeit sein.46

3. Ethische Betrachtungsweise des Milgram-Experiments

Nachdem die theoretischen Grundlagen im Zusammenhang mit dem Milgram-Experiment erörtert wurden, folgt die Darstellung der ethischen Aspekte des Experiments. Nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die Kontroverse bzgl. der ethischen Vertretbarkeit haben dazu geführt, dass das Milgram-Experiment sich großem Interessens erfreute.47

In der psychologischen Forschung gilt es ethische Verantwortung zu übernehmen. Da hierbei mit Menschen gearbeitet wird zeigen sich ethische Richtlinien von hoher Relevanz. So gilt es folgende Aspekte zu beachten:48

- Menschen sind keine Versuchskaninchen und dürfen nicht als solche betrachtet werden. Daher muss es in der wissenschaftlichen Forschung, bei der Menschen Untersuchungsobjekte darstellen, klare Grenzen geben.
- Es muss beachtet werden, dass der Mensch als Untersuchungsobjekt den Versuchsleitern Vertrauen schenkt und oft (unwillkürlich) intime Informationen über sich preisgibt.
- Ein Psychologe oder wissenschaftlicher Forscher muss sich der Folgen seines Handelns bewusst sein und sich bereits vorab mit möglichen Risiken befassen und diese eliminieren.

Um das Milgram-Experiment durchzuführen ohne ethische Richtlinien zu verletzen, müssen schon vorab rechtliche und ethische Grundsätze berücksichtigt werden. Werden diese Grundsätze eingehalten, hat dies einen positiven Effekt für das Image der Psychologie in der Öffentlichkeit zur Folge. Außerdem erhöht es die Bereitschaft von Probanden erneut an anderen psychologischen Experimenten teilzunehmen.49 Anzumerken ist, dass sich 84 Prozent der Probanden über das Experiment selbst, nachdem der Versuch beendet war und sie eine ehrliche Stellungnahme sowie detaillierte Informationen erhielten, positiv äußerten. Lediglich 1 Prozent äußerte sich negativ.50 Rechtliche sowie ethische Richtlinien sollen nachfolgend näher erläutert werden.

Rechtliche Grundsätze, die es bei psychologischen Experimenten zu beachten gilt, sind in Österreich nicht besonders leicht aufzufinden. Neben dem Psychologengesetz, das sich u.A. mit den Voraussetzungen für die Berufsbezeichnung „Psychologe“ und den Berufspflichten wie bspw. Melde- oder Fortbildungspflicht auseinandersetzt51, lassen sich österreichische Grundgesetze in Verbindung mit den Menschenrechten nur schwer finden. 2014 äußerte die Caritas Österreich (= setzt sich aus neun voneinander unabhängigen Organisationen österreichweit zusammen, die bei den Diözesen der neun Bundesländer verankert sind und sich in den Bereichen der Pflege- und Sozialberatung sowie -betreuung für Menschen in Notlagen einsetzen)52 den Wunsch nach einer expliziten Erwähnung der Menschenwürde und deren Achtung sowie Schutz in der österreichischen Bundesverfassung, was bis dato noch keine Umsetzung fand und schlug dabei folgende Zeilen zur Achtung der Menschenwürde und zum Grundrecht auf Leben vor:53 „die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen“54 und „die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte sind Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Sie sind zu wahren und zu sichern.“55 Der Schutz der Grundrechte und Menschenrechte ist durch die österreichische Bundesverfassung dahingehend garantiert, dass es internationale Abkommen gibt, die dies regeln. Beispiele dafür bilden die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta der Europäischen Union. Zudem stand bereits 1811 im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch folgender Text, der jedoch recht breite Aussagen trifft56 „Jeder Mensch hat angeborene Rechte. Jeder Mensch ist als Person zu betrachten. Die Sklaverei ist verboten.“57

[...]


1 Vgl. Ragettli (2020)

2 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 144

3 Jonas/Brodbeck (2014), S. 305

4 Vgl. Wirth (2016), S. 120

5 Stangl (2018a)

6 Vgl. Springer (2018)

7 Vgl. Omer/Schlippe (2016)

8 Vgl. INA (2020)

9 Weiterführende Informationen Neue Autorität: https://www.neueautoritaet.at/über-uns/saeulen-der-neuen-autoritaet.html

10 Vgl. Gawlick (2013)

11 Vgl. Neubacher (2002), S. 45-46

12 Vgl. Milgram (1982), S. 31-33

13 Vgl. Milgram (2001)

14 Vgl. Milgram (1982), S. 33-34

15 Vgl. Milgram (2001)

16 Vgl. Milgram (1982), S. 33-35

17 Milgram (2001)

18 Vgl. Salzborn (2016), S. 297

19 Vgl. Milgram (2001)

20 Milgram (2001)

21 Vgl. Ebd.

22 Milgram (1982), S. 38

23 Ebd.

24 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 145

25 Vgl. Ebd.

26 Vgl. Milgram (1982), S. 37

27 Vgl. Stangl (2018)

28 Vgl. Salzborn (2016), S. 298

29 Vgl. Ebd.

30 Vgl. Milgram (1982)

31 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 171

32 Vgl. Milgram (1982)

33 Vgl. Ebd.

34 Vgl. Klier (1978), S. 98

35 Vgl. Gawlick (2013)

36 Vgl. Milgram (2001)

37 Vgl. Ebd.

38 Vgl. Felnhofer et al. (2011), S. 38

39 Milgram (1982)

40 Ebd.

41 Ebd.

42 Fischer et al. (2014), S. 147

43 Vgl. Ebd.

44 Vgl. Fischer et al. (2014) S. 171

45 Vgl. Gawlick (2013)

46 Vgl. Jonas/Brodbeck (2014), S. 308, Vgl. Fischer et al. (2014), S. 146-147

47 Vgl. Meyers et al. (2008), S. 649-650

48 Vgl. Reinhardt (2020)

49 Vgl. Renner et al. (2012), S. 131-133

50 Vgl. Meyers et al. (2008), S. 650

51 Weiterführende Informationen Psychologengesetz: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20008552

52 Weiterführende Informationen Caritas: https://www.caritas.at/ueber-uns/was-wir-tun/

53 Vgl. Caritas (2014)

54 Caritas (2014)

55 Ebd.

56 Vgl. BMI (2020)

57 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Das Milgram Experiment. Eine sozialpsychologische und ethische Betrachtungsweise des Gehorsams gegenüber Autoritäten
Hochschule
SRH Fernhochschule
Veranstaltung
Sozialpsychologie
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
31
Katalognummer
V936557
ISBN (eBook)
9783346266392
ISBN (Buch)
9783346266408
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es wurden 91 von 100 möglichen Punkten erreicht.
Schlagworte
Milgram, Experiment, Sozialpsychologie, Ethik, Autorität, Autoritäten, Neue Autorität, ethisch, gehorsam, Unternehmenspraxis, Fehlentwicklung, Fehlentwicklungen, Maßnahmen
Arbeit zitieren
Nina H. (Autor:in), 2020, Das Milgram Experiment. Eine sozialpsychologische und ethische Betrachtungsweise des Gehorsams gegenüber Autoritäten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/936557

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