Mittelalterliche Gedächtniskultur. Gedächtniskunst und frühe Mehrstimmigkeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Gedächtniskunst und frühe Mehrstimmigkeit

3. Die Rolle der Reimform in der Mnemotechnik

4. Die Memorierung und ihre Bedeutung im Umgang mit Musik

5. Quellenverzeichnis

1. Einführung

In der folgenden Hausarbeit soll es um mittelalterliche Gedächtniskunst und -kultur gehen. Dazu werden verschiedene Quellen herangezogen, um eine Zusammenstellung an Fakten zu ermöglichen, die dem Leser dieser Arbeit einen Eindruck darüber verschaffen sollen, welche Rolle die Mündlichkeit im Gegensatz zur damals langsam aufkommenden Schriftlichkeit im Umfeld des choralen Gesang hatte. Das, was heute geschieht, woran geglaubt wird und an welche Regeln man sich zu halten hat, wird umfassend aufgezeichnet: Bild, Text und Film sind allgegenwärtig und stehen annähernd jedem und jeder zur Verfügung. Im Mittelalter hingegen, als sich erst die Verschriftlichung verbreitete, war es für die Kulturen eine große Herausforderung, (religiöse) Geschichten sowie ethische und rechtliche Inhalte – individuell und kollektiv – zu bewahren und zu vermitteln. Diesem Zweck diente die so genannte „ars memorativa“, die Gedächtniskunst, die im 14. und 15. Jahrhundert zu einer der bemerkenswertesten Erscheinungen der spätmittelalterlichen Zivilisation wurde. Obwohl innerhalb der mnemonischen Tradition der Ursprung derselben schon lange feststand, versuchte die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts diesen bei Pythagoras oder in den ägyptischen Hieroglyphen zu suchen. Für die antike Geisteswelt hingegen galt seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. der Dichter Simonides (557-467 v. Chr.) weitgehend als der Erfinder der Mnemotechnik. Dieser jedoch erwähnt in keiner seiner Schriften jene Erfindung, die ihm zugeschrieben wird. Wie es zu dieser Erfindung kam erzählen Cicero und Quintilian, die jedoch interessanterweise der Urheberschaft des Simonides kritisch gegenüberstehen, in nur wenigen Details voneinander abweichend.1

Eine große Hilfestellung waren mir bei dieser Arbeit die Texte von Anna-Maria Busse Berger. Sie hinterfragt alteingesessene Argumente und Theorien und stellt ihnen neu gewonnene Erkenntnisse gegenüber. So entsteht ein reflektiertes, wenn auch mit noch mehr Fragen als vorher gespicktes Bild, eines Alltags im Leben der klösterlichen Chorknaben zwischen Wort und Schrift.

2. Gedächtniskunst und frühe Mehrstimmigkeit

Während der letzten Jahrzehnte haben die Ergebnisse von Forschung der klassischen und mittelalterlichen Philologie wie auch der vergleichenden Literaturwissenschaft das Verständnis dafür, wie linguistische Texte aller Art komponiert und überliefert wurden, grundsätzlich verändert. Aus der Arbeit dieser Wissenschaftler geht ein komplexes und sehr differenziertes Bild von der jeweiligen Rolle des Gedächtnisses und der Schriftlichkeit in der Komposition und Überlieferung der Texte hervor. Das Bemerkenswerteste an diesem neuen Bild ist, dass es Uns erlaubt, die mündliche und schriftliche Überlieferung nicht als zwei sich gegenseitig ausschließende Möglichkeiten zu betrachten, sondern als zwei verschiedene Methoden, die gleichzeitig und in vielen verschiedenen Kombinationen benutzt werden konnten. Wir können nicht mehr von der Annahme ausgehen, dass die Einführung der Schrift, die bis dahin mentale und mündliche Komposition und Überlieferung ersetzt hat. Wir wissen nun nicht nur um die zentrale Bedeutung der «Mündlichkeit» in der klassischen und mittelalterlichen Kultur. Es wird uns auch zunehmend klar, dass diese Kulturen lange «mündlich» blieben, selbst nach der Einführung der Schrift, dass schriftliche Texte als Gedächtnishilfe benutzt wurden statt das Gedächtnis zu ersetzen, dass Mündlichkeit und Schriftlichkeit einander keineswegs ausschlossen, weder im Kompositionsprozeß noch in der Überlieferung der Texte. Die Tatsache, dass etwas niedergeschrieben war, heißt nicht unbedingt, dass es nicht auch mündlich überliefert wurde.2

In der Zeit in der Musikwissenschafler wichtige Arbeit über die mündliche Überlieferung des gregorianischen Chorals geleistet haben, ist man bisher zurückhaltend gewesen mit der Annahme, dass Mündlichkeit eine bedeutende Rolle in der Komposition und Überlieferung der schriftlich festgehaltenen frühen mehrstimmigen Musik gehabt haben könnte, besonders wenn diese rhythmisch fixiert ist. Und dennoch zeigen die musikalischen Texte der Notre-Dame-Polyphonie so viele Eigenschaften, die den zeitgenössischen linguistischen Texten ähnlich sind, dass die Hypothese in Betracht gezogen werden sollte, die Mündlichkeit könnte in ihrer Konzeption und Übertragung eine Rolle gespielt haben. Folgende Gründe sprechen dafür: Erstens sind die drei Hauptquellen des Magnus Uber organi so unterschiedlich, dass wir keine Stemma konstruieren können. Die Unterschiede sind besonders auffallend in den «organum purum»-Partien, während die Überlieferung der Diskantpartien, Conductus und Motetten wesentlich stabiler ist. Es ist unmöglich, eine einzige kritische Ausgabe des Liber anzufertigen, da alle drei Quellen gleich authentisch erscheinen. Die Unterschiede zeigen sich auf drei verschiedene Weisen: 1. Neukompositionen ganzer Teile, 2. kleinere melodische und rhythmische Veränderungen und 3. das Erscheinen der gleichen Melodie in verschiedenen Ligaturverbindungen oder unterschiedlicher Gegenüberstellung der Stimmen. Die Unterschiede zwischen den Notre-Dame-Quellen übertreffen bei weitem die des späteren polyphonen Repertoires, selbst wenn diese aus Quellen von weit entfernten Zentren stammten.3

Einigen ist der immer wiederkehrende Gebrauch von melodisch-rhythmischen Formeln in der Notre-Dame-Polyphonie aufgefallen. Ebenfalls auffallend ist der Gebrauch der Kontrafaktur, besonders in den Responsorien der OfEzien, aber auch in Teilen von Messkompositionen. All diese Eigenschaften werden im Allgemeinen sowohl in der Literatur als auch im gregorianischen Choral mit Mündlichkeit in Verbindung gebracht.

Die Anwendung der melodischen Regelungen und Kontrafakta wie auch die großen Unterschiede zwischen den Texten lassen sich jedoch viel leichter verstehen und erklären, wenn wir annehmen, dass die musikalische Kultur der Periode, genau wie die linguistische, zu einem sehr großen Teil noch mündlich geprägt war. Bisher hat man in den musikwissenschaftlichen Diskussionen das Konzept der Mündlichkeit eng mit dem der Improvisation verbunden, bei der der Vorgang der Komposition und der Aufführung zusammenfallen. Wir haben bisher selbstverständlich angenommen, dass wenn es keine Notation gab, Komposition mit Improvisation gleichzustellen sei. Es ist genau diese Annahme, die ich hier in Frage stellen möchte. In einer Kultur, in der die mündliche Übertragung noch eine so große Rolle spielte, konnte der Prozess, der Komposition selbst bei fehlender Notation durchaus von dem der Aufführung getrennt werden, weil die Komposition genauso gut im Kopf wie auf dem Papier konzipiert werden und mündlich überliefert werden konnte. Die Technik, die dieses möglich machte war die gleiche, die die Mündlichkeit ermöglichte: die Gedächtniskunst.4

Es soll nun versucht werden, eine Beziehung herzustellen zwischen der Gedächtniskunst und der Theorie und Praxis der Notre-Dame-Polyphonie, so wie sie in den Quellen erhalten ist. Ich werde mich hier in erster Linie auf den Einfluss der Mnemotechnik und der Schrift auf die Übertragung des Repertoires konzentrieren.

Davor soll allerdings noch unter die Lupe genommen werden, wie bestimmte Aspekte der mittelalterlichen Gedächtniskunst einen Kontext bilden können, der es uns erlaubt, den Ursprung der Modalnotation in einem neuen Licht zu sehen.

Es folgt vorerst aber eine kurze Zusammenfassung der Haupteigenschaften des Modalrhythmus: Das System der rhythmischen Modi wurde von einer Reihe Musiktheoretikem beschrieben, als die Komposition in ihrer ursprünglichen Form bereits etwa 50 Jahre zurücklag. Wir wissen also nicht, ob die Theoretiker versucht haben, ein rhythmisches System zu beschreiben, das sich unabhängig von der Musiktheorie aus der Musik selbst entwickelt hat, oder ob das System zu irgendeinem Zeitpunkt von jemandem entwickelt wurde und mündlich überliefert wurde.5 Aber es scheint mir wichtig zu betonen, dass die musikalischen Manuskripte etwa gleichzeitig mit den theoretischen Schriften niedergeschrieben wurden. Das Hauptkonzept hinter dem System der rhythmischen Modi ist die Wiederholung eines rhythmischen Schemas, das atlS einer Oder mehreren Longae und einer oder mehreren Breves besteht, die Longa (L) ist doppelt so lang wie die Brevis (B). Ein Fuß (pes) ist das Schema, das wiederholt wird: Im 1. Modus ist es LB; im 2. BL; im 3. LBB; im 4. BBL; im 5. LL; und im 6. BBB. Der Ordo oder die modale Phrase setzen sich zusammen aus den Füßen, die wiederholt werden. Beispiel 1, Nr. 1, 2 und 6 werden von Johannes de Garlandia «Modi recti» genannt. Die anderen drei Modi (siehe Beispiel 1, Nr. 3, 4, und 5) werden «non mensurabiles» oder «ultra mensuram» genannt, weil die Longa nun eine Einheit länger als die zweischlägige Longa ist und die Brevis entweder einen (und zwar den 1. der beiden Breves) oder zwei Einheiten lang ist (und zwar die 2. der beiden Breves). Das Verständnis des modalen Fußes und des einzelnen Notenwertes ist grundsätzlich verschieden bei Joh. de Garlandia, St. Emmeram und Anon. IV einerseits und Lambertus und Franco andererseits. Bei Johannes wird die Länge der einzelnen Noten nur durch den Modus selbst erfasst, während bei Franco die einzelnen Noten einen Wert unabhängig vom Modus haben. Aus Francos Denkweise ergibt sich ein System mit größerer rhythmischer Flexibilität: die Betonung der einzelnen Notenwerte macht es möglich, Rhythmen zu notieren, die von den modalen Schemata abweichen. Und das ging Hand in Hand mit der Entstehung der neuen Gattung der Motette. Folglich konnten die Motettenmelodien in Rhythmen geschrieben werden, die nicht mehr einem strengen modalen Schema folgten.6

Trotzdem zeigen alle Notre-Dame-Theoretiker nicht nur Ligaturen auf, sondern auch einzelne Notenwerte. Sogar frühe, oder anders ausgedrückt, konservative Theoretiker wie Johannes de Garlandia unterscheiden zwischen drei verschiedenen longae und breves.

Man muss sich also fragen, warum Johannes kein System entwickelt hat, das auf diesen Notenwerten basiert, welches größere rhythmische Flexibilität erlaubt hätte und längst nicht so viele Einzelheiten der rhythmischen Interpretation offengelassen hätte. Warum hat er sich stattdessen so sehr auf die durch die Ligaturgruppen gezeigten modalen Schemata, die dem Sänger so viele Einzelheiten überließen, konzentriert?

Ebenfalls fällt ins Auge, dass sowohl Modal- als auch frankonische Theoretiker betonen, wie wichtig es sei, ein einziges modales Schema in einer Diskantuspartie zu erhalten. In ähnlicher Weise reden die meisten Theoretiker von den rhythmischen Modi, die auf einer bereits existierenden Melodie, wie z.B. einem Tenor, aufgesetzt werden.7

Man sollte sich also fragen, warum Notre-Dame-Theoretiker darauf bestanden haben, unflexible modale Schemata zu benutzen statt flexibler Rhythmen. Offensichtlich wurde das System der rhythmischen Modi nicht nur benutzt, weil Theoretiker, Komponisten und Schreiber noch nicht die Technik entwickelt hatten, die Musik in einzelnen Noten zu notieren: Die Tatsache, dass alle Musiktheoretiker wissen, dass einzelne Werte durch einzelne Notenzeichen beschrieben werden können, lässt die Vermutung zu, dass sie flexiblere Rhythmen hätten notieren können, wenn sie gewollt hätten. Der Modalrhythmus muss eine andere Funktion erfüllt haben, die die flexiblen Rhythmen nicht erfüllen konnten. Ich meine, dass dies eine Mnemo-Funktion war. Meine These ist, dass die rhythmischen Modi aus der gleichen Tradition herausgewachsen sind wie die im 12. und 13. Jahrhundert äußerst beliebte didaktische Poesie. Genau wie ein Lehrer im Mittelalter den Lernprozess seiner Schüler beschleunigt, indem er das neue und schwierige Material in Versform setzt, so hilft der Komponist seinen Sängern beim Auswendiglernen neuer Stücke, indem er rhythmische Modi benutzt.8

3. Die Rolle der Reimform in der Mnemotechnik

Keine Gedächtnishilfe wurde so oft und für jedes Gebiet angewandt wie die, schwieriges Material in Verse zu setzen. Besonders im 12. und 13. Jahrhundert findet man eine ständig wachsende Benutzung der Versform für didaktische Zwecke in Gebieten wie Grammatik (Alexandre de Villedieu’s Doctrinale besteht aus 4000 sich reimenden Hexametern), Medizin, Jura, Theologie, Arithmetik, Computus, Metereologie, Geographie, Botanik, Zoologie, Pharmazie, Literaturgeschichte, Musik und Predigten. Viele dieser Gedichte wurden nicht nur aus didaktischen Gründen geschrieben, sondern auch, um die Kleriker zu unterhalten. Fabeln, philosophische Traktate und sogar Passagen aus der Bibel wurden in Versform übertragen. Wie Craig Wright kürzlich gezeigt hat, passt der Komponist Leonin genau in diese Tradition: In seinem Hystorie sacre gestas ab origine mundi setzt er die ersten acht Bücher des alten Testamentes in Hexameter. Der Wunsch, eindrucksvolle Texte zu schaffen, die leicht vom Gedächtnis absorbiert werden können, resultiert oft in Veränderungen der Form und des Inhaltes des wissenschaftlichen und poetischen Materials. Der Philologe de Ghellinck sagt, dass im 12. Jahrhundert die Kenntnis der lateinischen Sprache in einem solchen Maße gewachsen war, dass diese Verse oft nicht mehr nur didaktischen, sondern auch literarischen Wert hatten.9 Es ist zu betonen, dass das sich regelmäßig wiederholende Schema von langen und kurzen Silben das wichtigste Merkmal der Gedächtnishilfe ist.

Wie konnten diese Gedächtnishilfen der didaktischen Poesie auf die Musik angewendet werden? Poesie kann entweder quantitativ (metrisch) oder qualitativ (rhythmisch) sein. Quantitative Poesie hängt von der Länge oder Quantität der Silbe ab, oder, um genauer zu sein, von der Unterscheidung zwischen einer langen und einer kurzen Silbe, wobei die lange Silbe doppelt so lang wie ist die kurze, und auf einem regelmäßigen Schema von langen und kurzen Silben, dem Fuß, beruht. Qualitative Poesie hängt vom Akzent oder der Qualität der Silbe ab, oder, um genauer zu sein, von der Unterscheidung zwischen akzentuierten und nicht-akzentuierten Silben, und beruht auf einer regelmäßig sich wiederholenden Kombination von betonten und unbetonten Silben. Die Terminologie kann sich verwirren, wenn Musik und Poesie verglichen werden, da wir in der Musik unterscheiden zwischen «Takt», das heißt einer regelmäßigen Abfolge von starken und schwachen Schlägen gleicher Dauer, und Rhythmus, einem Schema ungleicher Werte, dem die quantitative Poesie entsprechen würde.

Ein durchaus denkbarer Einfluss der quantitativen Poesie auf den Modalrhythmus ist viel diskutiert worden. Die Meinungen gehen weit auseinander: einige behaupten, dass die gesamte Modalrhythmik von der quantitativen Metrik abgeleitet werden kann, während andere meinen, dass das Vokabular der quantitativen Poesie zufällig zur Hand war, um eine mehr akzentuierte als quantitative Musik zu beschreiben. Rudolf Flotzinger hat eine Stelle in Alexander de Villedieu’s Doctrinale gefunden, wo die sechs rhythmischen Modi in einer anderen Reihenfolge besprochen werden. Ich meine aber, dass Musikwissenschaftlern bisher nicht genügend klar war, dass die Gelehrten im 12. und 13. Jahrhundert ein enormes Interesse an der quantitativen Poesie hatten und dass Alexanders Beschreibung absolut kein Einzelfall ist. Die Carmina von Horaz, in denen er viele quantitative Metren benutzt, sind in mindestens 132 in Frankreich abgeschriebenen Manuskripten aus dem 11. bis 13. Jahrhundert erhalten. Viele dieser Kopien haben Glossen. Gleichzeitig versuchten viele, neue Poesie in quantitativen Metren zu schreiben. Eine der Hauptquellen der quantitativen Poesie, wo andere Metren außer Hexametern benutzt werden, ist das Prosimetrum, in dem Abschnitte in Prosa mit Abschnitten in größtenteils metrischer Poesie miteinander abwechseln.10 Dichter des Prosimetrums, die etwa gleichzeitig mit Perotin in Frankreich tätig waren, sind, z.B. Bemardus de Silvestris und Alain von Lille. Obwohl der Dichter Leonin nur Hexameter hinterlassen hat, können wir also nicht annehmen, dass er andere quantitative Metren nicht schreiben konnte oder sie nicht verstanden hat. Ganz im Gegenteil, die Tatsache, dass er ein Dichter von didaktischer Poesie in daktylischen Hexametern war, lässt darauf schließen, dass er die anderen Metren auch gekannt haben muss, dass er — wie die anderen französischen Dichter seiner Zeit — ein lebhaftes Interesse an den antiken quantitativen Metren gehabt haben muss. Mit anderen Worten, die quantitative Poesie kann also keineswegs als eine Quelle des Modalrhythmus abgetan werden. Nach meiner Überzeugung ist der Modalrhythmus eine Kombination der beiden. Er ist akzentual, weil er zwischen einem starken (oder perfekten) und einem schwachen (oder imperfekten) Schlag unterscheidet, je nachdem, wo Konsonanzen und Dissonanzen platziert werden. Aber er ist auch quantitativ, da er zwischen Longa und Brevis unterscheidet.11 Der Modalrhythmus zwang den melodischen Linien ein sich regelmäßig wiederholendes Schema von Longae und Breves auf. Wenn wir nun annehmen, dass die Sänger die Organa auswendig vorgetragen haben, mussten sie in den Diskantteilen ein Paar Silben Text (denn die meisten Diskantteile sind melismatisch) und die Melodien der beiden Stimmen auswendig lernen. Da es so wenig Silben gab, konnten sie kaum helfen, den Text auswendig zu lernen. Ich möchte nun behaupten, dass die Hauptfunktion der sich regelmäßig wiederholenden modalrhythmischen Schemata eine Gedächtnisstütze für den Sänger beim Erlernen der Melodien darstellte, das heißt also, dass der Modalrhythmus aus den gleichen Gründen eingeführt wurde wie die mnemonische Versifikation. In der Motette half der Text dem Sänger, die Melodie auswendig zu lernen. Es ist daher nicht überraschend, dass in der Tat in der Motette der Modalrhythmus allmählich verschwindet. Die Tatsache, dass Franco größeres Interesse an einzelnen Notenwerten als an rhythmischen Modi hatte, sollte nicht als ein evolutionärer Prozess betrachtet werden, sondern als ein Resultat der Entstehung der Motette, die keine langen melismatischen Passagen hat, die auswendig gelernt werden mussten.12

[...]


1 Yates, Frances A.: „Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare“ , Berlin 1994

2 Berns, Jörg Jochen: „Documenta Mnemonica. Text- und Bildzeugnisse zu Gedächtnislehren und Gedächtniskünsten von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit“ Band II: Das enzyklopädische Gedächtnis der Frühen Neuzeit. Enzyklopädie und Lexikonartikel zur Mnemonik. (Frühe Neuzeit 43) , Tübingen 1998

3 Berger, Anna Maria Busse: „Memory and invention: Medieval and Renaissance literature, art and music: acts of an international conference Florence, Villa I Tatti, May 11, 2006“ , Olschki, 2009

4 Berger, Anna Maria Busse: „Medieval music and the art of memory„ , Berkeley, Calif. [u.a.] : Univ. of California Press, 2005

5 Lord , Albert B.: „The Singer of Tales“ , Cambridge/Mass. 1960

6 Berger, Anna Maria Busse: „Mensuration and proportion signs : origins and evolution“, Oxford : Clarendon Press 1993

7 Vgl. ebd.

8 Vgl. ebd.

9 Hucke, Helmut: “Towards a New Historical View of Gregorian Chant” , in: JAMS 33 (1980), S. 437 - 467

10 Knapp, Janet: “Polyphony at Notre Dame of Paris“, in: The New Oxford History of Music, hrsg. von Richard Crocker und David Hiley, Oxford 1990, S. 567

11 de Garlandia, Johannes: „De mensurabili musica“ [ca. 1250], kritische Edition mit Kommentar und Interpretation der Notationlehre (BzAJMw 10-11), hrsg. von Erich Reimer, Wiesbaden 1972

12 Berger, Anna Maria Busse: „Memory and invention: Medieval and Renaissance literature, art and music: acts of an international conference Florence, Villa I Tatti, May 11, 2006“ , Olschki, 2009

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Mittelalterliche Gedächtniskultur. Gedächtniskunst und frühe Mehrstimmigkeit
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Musikwissenschaft)
Veranstaltung
Lateinische Theorielektüre
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
25
Katalognummer
V936691
ISBN (eBook)
9783346265067
ISBN (Buch)
9783346265074
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mittelalter, Gedächtniskultur, Gedächtniskunst, Mehrstimmigkeit
Arbeit zitieren
Mag. Art. Julian Simmer (Autor:in), 2012, Mittelalterliche Gedächtniskultur. Gedächtniskunst und frühe Mehrstimmigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/936691

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