Supervision - Theoretische Hintergründe und der Blick in die Praxis


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

46 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der metatheoretische Bezugsrahmen: Zum Begriff der Beratung

3. Theorie
3.1. Zur Geschichte der Supervision
3.2. Supervision - eine Definition
3.3. Ziele und Grenzen von Supervision
3.4. Formen von Supervision
3.5. Ablauf einer Supervision
3.6. Supervision vs. Coaching

4. Praxis
4.1. Supervision - eine Marktbeschreibung
4.2. Regelung von Supervision im Ländervergleich

5. Abschließende Bemerkungen

Literaturverzeichnis Anhang

1. Einleitung

Beratung ist keine Erfindung moderner Gesellschaften, aber im Zuge umwälzender sozialer und technischer Veränderungen kommt es seit einigen Jahren zu einer kontinuierlichen Ausweitung von Beratung.2 Bereits in den 70iger Jahren konnte man von einem regelrechten „Beratungsboom“ sprechen. Zu diesem Zeitpunk stellte Beratung eine Professionalisierungschance dar, die mit der Absicht verbunden war, zur Aufhebung von Benachteiligungen beizutragen.3 Heute - nach zunehmender Ausdifferenzierung des Arbeitsfeldes - ist Beratung aus vielen Bereichen des menschlichen Lebens nicht mehr wegzudenken. Wortzusammensetzungen wie Rechts-, Steuer-, Verbraucher-, Schuldner- und Vermögensberatung weisen darauf hin, dass unsere Lebensumwelt sehr viel komplexer geworden ist4 und sich Beratungsanlässe bereits aus alltäglichen Zusammenhängen ergeben, ohne dass eine Krisensituation vorliegen muss. Längst kann man nicht mehr von einer Randständigkeit der Beratung sprechen, sondern von einer Etablierung der Beratung als zentrale „Kommunikations- und Interaktionsform“5, die sämtliche Bereiche des Alltags durchdringt. Sickendieck, Nestmann und Engel unterstreichen mit ihrer Definition von Beratung deren Bedeutung und bezeichnen Beratung als eine [...] weitverbreitete und vielfältige Hilfeform, eine der zentralen professionellen Handlungsorientierungen und eine der wichtigsten Methoden sozialer, sozialpädagogischer und psychosozialer Arbeit.6

Im Bereich der berufsbezogenen Beratung finden sich Ansätze wie Coaching, Supervision, Kollegiale Beratung und Organisationsentwicklung. Supervision als Thema dieser Arbeit ist seit vielen Jahrzehnten im Bereich der Sozialarbeit etabliert und wird in den letzten Jahren verstärkt auch in anderen Arbeitsbereichen als Beratungsmethode geschätzt und angewendet.7 Veränderte Marktbedingungen, New Public Management, Lernende Organisationen, Qualitätsmanagement sind nur einige Gründe, die umgehende Strukturanpassungen in Institutionen und Organisationen erforderlich machen. Supervision begleitet solche Veränderungsprozesse mit einer Vielzahl von Konzepten, Methoden und Arbeitsformen.8 Mitarbeitermotivation, Konfliktmanagement und Vorbeugung von Burn-out-Syndromen können ebenfalls supervisorischer Arbeit zugeschrieben werden. Das Angebotsspektrum von Supervision reicht mittlerweile also von Einzelfallarbeit über Teamsupervision bis hin zu Weiterentwicklung ganzer Organisationen.9

Die vorliegende Arbeit erhebt keinesfalls den Anspruch einer umfassenden Darstellung supervisorischer Konzepte und deren Wirksamkeit in der Praxis. Vielmehr widmen sich die folgenden Ausführungen zunächst grundlegenden theoretischen Hintergründen: Was ist Supervision und woher kommt sie? Welche Ziele werden mit dieser Beratungsmethode verfolgt? Wie kann man sich das Setting einer Supervisionssitzung vorstellen? Was unterscheidet Supervision von anderen Beratungsformen? Wie läuft ein Supervisionsprozess ab und welche Grenzen sind zu beachten?

In einem zweiten Teil soll zunächst eine Untersuchung von Busse (2001) über die Situation des Supervisionsmarktes in den neuen Bundesländern vorgestellt werden. Eine Vielzahl von Publikationen und Erfahrungsberichten zum Thema Supervision legt zwar den Schluss nahe, dass Supervision mittlerweile auch in vielen anderen Bereichen Fuß gefasst hat, aber wie stark die Verbreitung tatsächlich ist, lässt sich mangels empirischer Untersuchungen kaum nachweisen.10 Busse ist mit seiner Analyse also Vorreiter und geht unter anderem der Frage nach, „[…] inwiefern Supervision in den NBL inzwischen eine gut implementierte und genutzte Beratungsform ist“11. Einen weiteren Beleg aktueller Supervisionspraxis liefert die Auswertung einer Befragung der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) aus dem Jahre 2004. Die Ergebnisse dieser Recherche lassen vermuten, wie unterschiedlich die jeweiligen Bundesländer das Unterstützungsangebot Supervision kennen und nutzen.

2. Der metatheoretische Bezugsrahmen: Zum Begriff der Beratung

Eine Verankerung im Theoriefeld der Beratung bietet für ein spezifisches Beratungshandeln (beispielsweise Supervision) wichtige Erklärungen, Prognosen, Handlungsanweisungen und vermittelt Werte und Überzeugungen.12 Aus diesem Grund stellen Beratungstheorien einen unverzichtbaren konzeptuellen Rahmen für die supervisorische Arbeit dar und sind zugleich Ausgangspunkt für die Entwicklung von Supervisionskonzepten. Die Vorstellung von ein oder zwei Beratungstheorien wäre deshalb sicher sinnvoll, sprengt aber den Rahmen dieser Arbeit. Um eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, wird zumindest der Begriff der Beratung im Hinblick auf die Spezialdisziplin Supervision nachfolgend konkretisiert. Sowohl die Psychologie, die Psychotherapie als auch die Pädagogik und die Sozialarbeit betrachten Beratung als einen wichtigen Bestandteil ihres Arbeitsfeldes. Diese vielfältigen Beziehungen zwischen Beratung einerseits und den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen andererseits führen in der Literatur zu zahlreichen Variationen, wenn es darum geht, den Prozess der Beratung zu definieren. Vor diesem Hintergrund haben Brunner und Schönig den Versuch unternommen, einen metatheoretischen Bezugsrahmen zu entwickeln, bei dem sie von folgender Definition des Begriffes „Beratung“ ausgehen:

Beratung ist zielgerichtetes, kontext-spezifisches und temporäres Handeln in der pädagogischen oder psychologischen Arbeit mit Personen, die Unterstützung bei der Lösung eines Problems suchen.13

Manfred Beck hält diese Begriffsbestimmung für zu weit gefasst und weist darauf hin, dass dieser Versuch, Beratung zu definieren, mit vielen psychologischen Zugängen nicht zu vereinbaren ist.14 In ihrer „Theorie of counselling” (1979) schreiben Burks und Stefflre:

Beratung bezeichnet eine professionelle Beziehung zwischen einem ausgebildeten Berater und einem Klienten. Dabei handelt es sich für gewöhnlich um eine direktive Beziehung von Mensch zu Mensch, auch wenn manchmal mehr als zwei Personen daran beteiligt sein können. Eine Beratung soll dazu beitragen, dass Klienten ihre Einstellungen bezüglich ihres Lebensraumes verstehen und klären und ihre selbst bestimmten Ziele durch sinnvolle und gut informierte Wahlprozesse und durch das Lösen von Problemen emotionaler oder interpersonaler Art erreichen können.15

Während hier das Konzept einer professionellen Beziehung und das Erreichen selbstbestimmter Ziele im Vordergrund stehen, beschreiben Gordon und Ronald Lippitt Beratung als einen Prozess, „[...] in dem Hilfe gesucht und gegeben wird“16. Ziel einer Beratung ist es aus ihrer Sicht [...] einer Person, Gruppe, Organisation oder einem größeren System zu helfen, die für die Auseinandersetzung mit Problemen und Veränderungsbemühungen erforderlichen inneren und äußeren Kräfte zu mobilisieren.17

Zusammenfassend betrachtet existiert kein einheitlicher Beratungsbegriff. Die zahlreichen Versuche, Beratung einzugrenzen oder zu definieren, unterscheiden sich vor allem darin, welche Schwerpunkte gesetzt werden. So liegt die Gewichtung zum einen auf dem Beratungsprozess, andererseits auf der Rolle des Beraters oder auf der Beziehung zwischen Berater und Ratsuchendem. Wie die vorausgegangen Beispiele gezeigt haben, wird der Begriff der Beratung in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet und verweist im Allgemeinen auf die steigende Hilfsbedürftigkeit eines (oder mehrerer) Menschen, die es zu beseitigen oder zumindest zu reduzieren gilt.

Relevant für diese Arbeit ist die Interpretation des interdisziplinären Beratungsbegriffes von Böckelmann. Sie formuliert die psychosoziale Beratung18 als Oberbegriff für die verschiedenen Unterstützungsformen Berufsberatung, Erziehungsberatung, Jugendberatung und berufsbezogene Beratung. Zum letzten Tätigkeitsfeld zählt neben Coaching und Organisationsentwicklung unter anderem auch Supervision. In ihrer Arbeit „Beratung, Supervision, Supervision im Schulfeld“ ordnet Böckelmann die konstitutiven Elemente bekannter Beratungsdefinitionen den Bereichen Ziele von Beratung, Beratungsprozess, Beziehung zwischen Berater und Klienten, Voraussetzungen auf Seiten der Klienten und Berater, Setting der Beratung zu und entwickelt daraus eine Definition, ein Grundverständnis von Beratung in psychosozialen Tätigkeitsfeldern. Demzufolge kann Beratung beschrieben werden als:

[…] ein zielgerichteter, situations- und lösungsorientierter Prozess, der sich an den Ressourcen der Klientinnen und Klienten ausrichtet und darauf abzielt, eine Situation zu ändern, eine Problemlage zu beseitigen, ein Neuorientierung zu ermöglichen und die Selbsthilfebereitschaft, Selbststeuerung und Problemlösungsfähigkeit zu verbessern. Weitere Ziele der Beratung sind, die Kompetenzen der Klienten zu erweitern bzw. sie zu einem Lernprozess anzuregen, die Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf die eigene Problemlage und Situation zu verbessern sowie mit der Intervention auch präventiv zu wirken. Beratung findet in einer kooperativen, vertrauensvollen und stützenden Beziehung statt und wird von einem fachlich und methodisch geschulten und kompetenten Berater durchgeführt, welcher sich durch hohe soziale Kompetenz und Kooperationsbereitschaft auszeichnet. Beratung kann stattfinden, wenn die Klientin oder der Klient ebenfalls kooperationsbereit ist und die Beratung freiwillig und motiviert in Anspruch nimmt. Beratung erstreckt sich über einen vergleichsweise kurzen Zeitraum, und die Kommunikation findet hauptsächlich sprachlich statt.19

Diese Auffassung von Beratung beinhaltet nach Ansicht des Verfassers wesentliche Komponenten von Supervision und ist damit Grundlage für die weiteren Ausführungen. Das Spezifische von Supervision - als Spezialform von Beratung - soll anhand der theoretischen Hintergründe im folgenden Kapitel herausgearbeitet werden.

3. Theorie

3.1. Zur Geschichte der Supervision

Die historische Entwicklung von Supervision wird zur besseren Übersicht in Anlehnung an Wieringa (1979) und Pallasch (1991) entlang einer Zeitschiene skizziert, die sich in vier Phasen aufteilt. Weitere Informationen zur Rezeptionsgeschichte von Supervision finden sich u. a. bei Jugert (1998), Pühl (1999), Belardi (2002) und Rappe-Giesecke (2002) und ergänzen punktuell die folgenden Ausführungen.

Mit der Entwicklung bzw. Professionalisierung des Sozialarbeiters beginnt die Geschichte der Supervision. Im Vordergrund seiner Tätigkeit steht die

„Beziehungsarbeit“ oder anders: Der Sozialarbeiter erbringt in erster Linie eine direkte personenbezogene kommunikative Dienstleistung.20

1. Phase: Die Anfangsphase der Supervision von ca. 1870-1900

„Ausgehend von dem in den USA betonten ‚Recht des Klienten auf die bestmögliche Dienstleistung’“21 wächst Ende des 19. Jahrhunderts im amerikanischen Wohlfahrtswesen das „Bedürfnis nach einer Fremd- und Selbstkontrolle im Berufsvollzug“22. Die Industrialisierung Nordamerikas und eine zunehmende Komplexität des Gesellschaftssystems stellen die Wohlfahrtsverbände und ihr soziales Engagement vor eine große Herausforderung. Sozialarbeit kann nun nicht mehr nur nebenbei betrieben werden, sondern muss angesichts der knappen finanziellen Mittel effizienter und effektiver organisiert werden. Zu diesem Zweck werden den vielen ehrenamtlichen Helfern so genannte „Paid Agents“23 oder auch „Agent Supervisors“24 an die Seite gestellt, um anzuleiten, zu motivieren und eine administrative Kontrolle auszuüben, so z. B. die Vergabe von Mitteln. Belardi spricht in diesem Zusammenhang von einer „Vorgesetzten-Supervision“, die […] eher für Zwecke der hierarchischen Organisation im Sinne der Kontrolle von Arbeitsvollzügen und Zielerreichung gedacht ist. Beispielsweise mussten die Sozialarbeiter nach einem vorgegebenen Raster Berichte anfertigen. Ihre Vorgesetzten, also die Supervisoren, kontrollierten die Arbeit durch Berichte, Stichproben und regelmäßige Gespräche. Allerdings ging es bei diesen Gesprächen auch um Probleme des Verstehens der fremden Lebenswelt der Klienten.25

Der letzte von Belardi benannte Punkt findet sich auch in der „EhrenamtlichenSupervision“ in England. Hier wurden Studenten und Jungakademikern kurze „VierAugen-Gespräche“ angeboten, um die in den Armenvierteln gesammelten ersten praktischen Erfahrungen zu verarbeiten.26

Sowohl die „Vorgesetzten-Supervision“ aus Amerika als auch die in England praktizierte „Ehrenamtlichen-Supervision“ waren aus der sozialarbeiterischen Alltagspraxis entstanden und ihnen fehlte wissenschaftlich fundiertes Wissen und Können zu einem Beratungsgespräch, um die tägliche Beziehungsarbeit genauer zu verstehen und zu verbessern. Dies änderte sich mit den Einflüssen der Psychoanalyse und der Professionalisierung eines zweiten Berufes - der des Psychotherapeuten.27

2. Phase: Die Phase der Psychologisierung von ca. 1900-1960

Die zweite Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass Supervisionsprozesse wissenschaftliche Erkenntnisse der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie einbeziehen und durch diese geprägt werden. Aber auch die Lerntheorie, Kommunikationsforschung und Gruppendynamik finden Eingang in Supervisionskonzepte - die Supervision orientiert sich von der Sozialarbeit zur Psychotherapie hin - Psychologen und Psychiater werden zu professionellen Supervisoren ausgebildet und eingesetzt.

Um die Einführung in Berufe wie die des Arztes zu optimieren, verbindet Balint (ungarischer Arzt und Psychoanalytiker) in den 50iger Jahren die traditionellen Lern- und Supervisionsformen der beruflichen Selbstreflexion (Fortbildungssupervision28 ) und der Instruktion (Ausbildungssupervision29 ) miteinander - der erste Schritt zur Supervision in der heutigen Form ist vollzogen!30 Mit der Lehr- und Kontrollsupervision31 wird gleichzeitig die Trennung zwischen eigenen und fremden Problemen bzw. zwischen selbst lernen und anderen helfen vollzogen.

3. Phase: Die soziologisierende Phase von ca. 1960-1970

In der dritten Phase, der so genannten soziologisierenden Phase, werden Arbeits- und Projektteams zum bevorzugten Objekt der Supervision: die Teamsupervision wird entdeckt. Die bis dahin übliche Form der Supervision im Zweiergespräch wird durch Varianten der Gruppensupervision zum Teil verdrängt. Mit dem Einbezug von Organisations- und Systemtheorien wird nach dem Individuum und der Gruppe nun vermehrt auch das Augenmerk auf die institutionellen Rahmenbedingungen gelegt.32 Der Schwerpunkt der Supervision lag in dieser Phase noch auf der Ausbildungssupervision, also der professionellen Praxiseinführung von Sozialarbeitern, Beratern und Psychotherapeuten. Fortbildungssupervision gewinnt durch seine starke Anbindung an das berufliche Handeln seither aber an großem Interesse und befindet sich nach wie vor in einer Phase der rasanten Weiterentwicklung und Differenzierung.33 Pühl sieht im Bereich der Ausbildungssupervision „einen nicht unbeträchtlichen Professionalisierungsbedarf“34. Diesem Bedarf wird wissenschaftlich kaum Beachtung geschenkt, der Diskussionsstand bleibt seit Jahren unverändert. Fortbildungssupervision, also nicht die reine Instruktion von Berufsanfängern, wird aufgrund des inhaltlichen Ansatzes für Arbeitgeber in der nächsten Phase zu einem attraktiven Unterstützungsangebot im Kontext beruflicher Praxis.

4. Phase: Die Phase der Diversifizierung und Spezialisierung seit 1970

In dieser vierten Phase wird Supervision zur berufsbezogenen Beratung und Weiterbildung für tendenziell alle Berufe. Neben der „Helfer-Klient-Beziehung“ stehen nun auch zahlreiche Binnenprobleme der Institution im Fokus: Beziehung der Teammitglieder untereinander sowie zum Träger und Vorgesetzten. Supervision begreift sich mehr und mehr als Instrument institutioneller Veränderung.35 Die stärkere Hinwendung der Supervision zu institutionellen Alltagsproblemen muss vor dem Hintergrund der pädagogischen Ansprüche der frühen 70iger Jahre bewertet werden.36 Huppertz beispielsweise sieht im Emanzipationsmodell eine zentrale Bedeutung für die Neuorientierung der Supervision, weil so die herkömmlichen Lernprozesse, nach dem Lehrer-Schüler-Verhältnis, angemessen reformiert werden könnten. Er fordert die Aufnahme des emanzipatorischen Grundgedankens in die supervisorische Arbeit, damit „gesellschaftliche Dimensionen individueller Konflikterlebnisse“37 reflektiert werden und ein Abbau des Autoritätsgefälles erfolgt.38

Supervisor und Supervisand sollen auf Augenhöhe miteinander agieren - dies war zu diesem Zeitpunkt eher nicht der Fall, wie Huppertz eindrucksvoll nachweist.

Entwicklungsstand heute

Die vorgenannten Aspekte, „die für die verschiedenen Phasen der Supervision kennzeichnend waren - wie die fachliche und administrative Kontrolle, die Entwicklung professioneller Identität, die berufsbezogene Selbsterfahrung, die Nutzung der Gruppendynamik und die Arbeit mit den institutionellen Rahmenbedingungen - sind in den heute vorherrschenden Supervisionskonzepten in verschiedener Ausprägung vorhanden“39.

Supervision hat sich zu einer allgemeinen Beratungsform für berufliche Zusammenhänge entwickelt und existiert längst außerhalb sozialarbeiterischer Praxis (u. a. Psychotherapie, Schulpädagogik, Erwachsenenbildung, Dienstleistungs- bereich, öffentliche Verwaltung, Wirtschaft40 ). Der in diesem Kapitel in knapper Form nachgezeichnete Entwicklungsbogen reicht von den Anfängen der Supervision als Methode der Kontrolle, Ausbildung und (Praxis-)Anleitung bis zum heutigen Stand von Supervision als Beitrag der Organisations- und Personalentwicklung. Die hier angedeutete expansive Ausdehnung supervisorischer Arbeit und der damit verbundene Aufgabenbereich wird von einigen Autoren kritisch betrachtet. Der Vorteil des berufsfeldübergreifenden Charakters und die damit gegebene Möglichkeit, auf „die Vielschichtigkeit und Vielfalt verschiedener Bezugsquellen zurückgreifen zu können“41, bürgt für Pallasch die Gefahr „einer gewissen Beliebigkeit und Verwässerung“42. Pühl spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sprach- und Begriffsverwirrung“43 im Supervisionsbereich mit der Folge, dass selbst bei begrifflicher Übereinstimmung inhaltlich sehr Unterschiedliches gemeint und unterschiedlich gewichtet sein kann.

Rappe-Giesecke ist ebenfalls für eine klare Begrenzung supervisorischer Tätigkeit:

Ich verstehe Supervision heute als eine Form beruflicher Beratung, deren Aufgabe es ist, Einzelne, Gruppen und Teams oder andere Subsysteme in Organisationen zu sozialer Selbstreflexion zu befähigen. Mit dieser Definition grenze ich mich auf der einen Seite gegen individuelle Selbstreflexion, wie sie schon immer in Beratungen, Therapien, Selbsterfahrungen u. ä. betrieben wurde, zum anderen gegen Organisationsentwicklung, deren Aufgabe nicht die Reflexion, sondern die Veränderung von Strukturen ist, ab.44

Sie wendet sich damit gegen eine Überschätzung der Leistungsfähigkeit von Supervision und geht davon aus, „dass Supervision nur einen sehr begrenzten Einfluss auf die institutionellen Gegebenheiten nehmen kann.“45 - zumindest in dem Sinne, dass Supervision strukturelle Veränderungen herbeiführen kann. Wie bereits erwähnt, ist Supervision eine Beratungsform, die solche Prozesse eher begleitet als sie zu initiieren.

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Entwicklung kann abschließend konstatiert werden, dass sich Supervision in der heutigen Form neben der Integration von Selbstreflexion und Instruktion auch die Analyse der emotionalen46 und der institutionellen Komponente beruflicher Interaktion zu ihrer Aufgabe gemacht hat.47 (Im Folgenden wird auf eine Unterscheidung von Ausbildungs- und Fortbildungssupervision verzichtet. Der Begriff Supervision meint in der vorliegenden Arbeit die Fortbildungssupervision im Sinne von Pühl, also eine Form der Beratung, bei der Supervisanden ihre Ausbildung abgeschlossen haben und bereits berufstätig sind.)

3.2. Supervision - eine Definition

Der Begriff Supervision ist abgeleitet von den lateinischen Worten „super“ (deutsch: „über“, „von oben“ oder „darüber“) und „videre“ (deutsch: „beobachten, sehen“).48 Die möglichen Übersetzungen mit „Aufsicht, Leitung, Überblick und Kontrolle“ entsprechen nicht dem, was unter Supervision heute verstanden wird, sondern spiegeln die ursprüngliche Verwendung des Begriffes in der amerikanischen Administration wieder (siehe Kapitel 3.1.). Was gegenwärtig im deutschen Sprachraum unter Supervision verstanden wird, soll der folgende Abschnitt klären.

Definitionen legen in der Regel etwas fest, stecken etwas ab oder grenzen etwas ein. Im Fall von Supervision entsprechende Festlegungen zu treffen, ist nicht einfach.49 Die zahlreichen mit Supervision verbundenen Praxisfelder üben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss aus und führen zu einer Vielzahl von Definitionsversuchen. Pallasch beispielsweise führt in seiner Arbeit über zehn Definitionen anderer Autoren an, um sich im Anschluss an einer eigenen zu probieren - sozusagen die Essenz der Vorarbeiten:

Die Supervision ist in erster Linie eine fachliche Beratung und Begleitung eines Supervisanden durch einen Supervisor und zwar - und das ist in diesem Zusammenhang wichtig - ohne eine formale Bewertung oder Beurteilung. In zweiter Linie ist Supervision auch eine psychologische - oder besser: psychohygienische - Instanz für persönliche Sorgen und Probleme des Supervisanden. Supervision versteht sich auch als eine Entlastungsinstanz für berufliche Beschwerden.50

Pallasch stellt explizit die Verbindung von Beratung und Supervision her51 und benennt zugleich die sich daraus ergebenen Prinzipien (keine Bewertung oder Beurteilung!). Ergänzend dazu lässt sich noch bemerken, dass Supervision wie jede andere Beratungsform nicht direktiv vorgeht, das heißt, es werden keine Anweisungen gegeben oder gezielt Lösungen vermittelt. Supervision will Hilfe zur Selbsthilfe geben und dabei weder bevormunden noch dirigieren. Supervision ist also eher eine Prozessberatung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass „(...) der Klient oder die Klientin dabei unterstützt werden, selbst eine Problemlösung zu entwickeln“52. Der spezifische Aspekt von Supervision, nämlich der berufliche Kontext, tritt nach Ansicht des Verfassers in dieser Definition zu sehr in den Hintergrund. Das allgemeine Verständnis und damit das Spezifische von Supervision sind, dass persönliche und familiäre Probleme nicht vorwiegend behandelt werden, sondern Supervision als Beratungsverfahren für berufliche Zusammenhänge verstanden wird.

[...]


2 Vgl. Sickendieck, U./Engel, F./Nestmann, F. (1999): Beratung. Eine Einführung in sozialpädagogische und psychosoziale Beratungsansätze. Juventa Verlag, Weinheim und München, S. 30f.

3 Vgl. ebd., S. 36.

4 Vgl. Hofmann, C. (1990): Jugendberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Situations-analysen - Alternative Konzepte - Modellvorstellungen. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn / Obb, S. 95.

5 Vgl. Sickendieck/Engel/Nestmann, S. 31.

6 Ebd., S. 13.

7 Vgl. Pühl, H. (Hrsg.) (22000): Handbuch der Supervision 2. Ed. Marhold im Wiss.-Verlag Spiess, Berlin, S. 203 oder 284.

8 Vgl. Fatzer, G./Rappe-Giesecke, K./ Looss, W. (22002): Qualität und Leistung von Beratung. Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung. EHP, Bergisch-Gladbach, S. 7.

9 Vgl. Belardi, N. (2000): Zur geschichtlichen Entwicklung: Von der Supervision zur Organisationsberatung. In: Pühl, H. (Hrsg.): Handbuch der Supervision 2, S. 284.

10 Vgl. Brünker, J. (2005): Beratung und Supervision. Fragen, Themen und Effekte. Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main, S. 9.

11 Busse, S. (2000): Zur Situation der Supervision in den Neuen Bundesländern. Eine Befragung der SupervisorInnen. Forschungsbericht, S. 4.

12 Vgl. Böckelmann, C. (2002): Beratung - Supervision - Supervision im Schulfeld. Eine theoretische Verankerung des Beratungshandelns. Studienverlag, Innsbruck, S. 12.

13 Brunner, E. J./Schönig, W. (Hrsg.) (1990): Theorie und Praxis von Beratung: pädagogische und psychologische Konzepte. Lambertus, Freiburg im Breisgau, S. 153.

14 Vgl. Beck, M./Brückner, G./Thiel, H.-U. (Hrsg.) (1991): Psychosoziale Beratung. Klient/inn/en- Helfer/innen-Institutionen. dgvt-Verlag, Tübingen, S. 38.

15 McLeod, J. (2004): Counselling - Eine Einführung in Beratung. dgvt-Verlag, Tübingen, S. 25.

16 Lippitt, G. u. R. (21995): Beratung als Prozess. Was Berater und ihre Kunden wissen sollten. Rosenberger Fachverlag, Leonberg, S. 13.

17 Ebd.

18 Neben dem klassischen Dienstleistungsbereich ist der psychosoziale Bereich der zweite große Kontext, in der Beratung im Sinne einer professionellen Tätigkeit zu finden ist. Vgl. hierzu auch Böckelmann, S. 17.

19 Schulz-Wallenwein, U./Beilmann, M. (2002): Beratung: Eine Schlüsselqualifikation in der Sozialen Arbeit - ein Diskussionsbeitrag. VWB - Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin, S. 28.

20 Vgl. Belardi, N. (2002): Supervision. Grundlagen, Techniken, Perspektiven. Verlag C. H. Beck, München, S. 18.

21 Jugert, G. (1998): Zur Effektivität pädagogischer Supervision: eine Evaluationsstudi schulinterner Gruppen-Supervision mit Lehrern. Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main, S. 13.

22 Belardi (2000), S. 275.

23 Fatzer/Rappe-Giesecke/Looss, S. 27.

24 Belardi (2000), S. 275.

25 Belardi (2002), S. 19.

26 Vgl. ebd.

27 Vgl. ebd., S. 20.

28 Bei der Fortbildungssupervision geht es „[…] um die Integration des Erlernten in das Spezifische des konkreten Berufsalltags unter besonderer Berücksichtigung der institutionellen Dynamik zur optimalen Umsetzung des institutionellen Arbeitsauftrages […]; des weiteren spielt die Modifikation und Anpassung der Institutions-/Organisationsstruktur eine wesentliche Rolle.“ (Pühl, S. 11.)

29 Bei der Ausbildungssupervision ist das Erlernen einer speziellen (therapeutischen oder pädagogischen) Methode das Ziel.“ (Ebd.)

30 Vgl. Jugert, S. 14.

31 Vgl. ebd., S. 22: Lehrsupervision: Ausbildungskanditat reflektiert eigene Lebensprobleme, lässt sich von erfahrenem Kollegen analysieren / Kontrollsupervision: eigene Supervisionsfälle werden vorgestellt und in einem „Meister-Lehrlings-Verhältnis“ besprochen.

32 Vgl. Pallasch, W. (21993): Supervision. Neue Formen beruflicher Praxisbegleitung in pädagogischen Arbeitsfeldern. Juventa Verlag, Weinheim und München, S. 20.

33 Vgl. Jugert, S. 14 und Pühl, S. 10.

34 Pühl (2000), S. 10.

35 Vgl. Pühl (2000), S. 12.

36 Vgl. auch Sickendieck/Engel/Nestmann, S. 102.

37 Huppertz, N. (1975): Supervision. Analyse eines problematischen Kapitels der Sozialarbeit. Luchterhand Verlag, Neuwied und Darmstadt, S. 51.

38 Vgl. ebd.

39 Fatzer/Rappe-Giesecke/Looss, S. 30.

40 Vgl. Belardi (2002), S. 284.

41 Pallasch, S. 23.

42 Ebd.

43 Pühl, H. (Hrsg.) (1990): Handbuch der Supervision. Ed. Marhold im Wiss.-Verlag Spiess, Berlin,S. 2.

44 Fatzer/Rappe-Giesecke/Looss, S. 29.

45 Ebd.

46 Zur Bedeutung der emotiven Faktoren in der Supervision findet sich bei Huppertz (1975) ein interessante Betrachtung. Er kommt zu dem Schluss, dass „[…]der emotionale Bereich in de Supervision eine sehr bedeutende Rolle spielt […]“, es „[…] in der Hauptsache aber darauf ankommt, die Emotionen des Supervisanden zu erkennen und richtig zu kanalisieren, während der Supervisor eher als jemand gesehen wird, der sich mehr oder weniger emotionsfrei verhält.“ (Ebd., S. 56.)

47 Vgl. Rappe-Giesecke, K. (21994): Supervision. Gruppen- und Teamsupervision in Theorie und Praxis. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, S. 4.

48 Vgl. u. a. Belardi (2002), S. 14 und Huppertz, S. 7.

49 Vgl. Pallasch, W./Mutzeck, W./Reimers, H. (Hrsg.) (21996): Beratung - Training - Supervision. Eine Bestandsaufnahme über Konzepte zum Erwerb von Handlungskompetenz in pädagogischen Arbeitsfeldern. Juventa Verlag, Weinheim und München, S. 20: Jeder Versuch, eine allgemein akzeptierte Definition zu formulieren, muss scheitern.

50 Pallasch, S. 31.

51 Supervision als eine Beratungsform zu betrachten, wird als selbstverständlich erachtet, aber oft nicht explizit erwähnt. Vgl. hierzu Böckelmann, S. 85.

52 König, E./Vollmer, G. (21994): Systemische Organisationsberatung: Grundlagen und Methoden.Deutscher Studienverlag, Weinheim, S. 44ff.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Supervision - Theoretische Hintergründe und der Blick in die Praxis
Hochschule
Universität Erfurt
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
46
Katalognummer
V93822
ISBN (eBook)
9783640105717
ISBN (Buch)
9783640111862
Dateigröße
814 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Supervision, Theoretische, Hintergründe, Blick, Praxis
Arbeit zitieren
Andreas Kirchner (Autor:in), 2007, Supervision - Theoretische Hintergründe und der Blick in die Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93822

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