Organisationales Wissen um strategischen Wandel in einer Welt elektronischer Netzwerkmedien

Ein Prozessmodell strategischer Anpassungsfähigkeit aus konstruktivistisch-systemtheoretischer Perspektive


Doktorarbeit / Dissertation, 2006

278 Seiten, Note: cum laude


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einführung

2 Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundüberlegungen
2.1 Wissenschaftsziel
2.2 Epistemologische Basis dieser Arbeit
2.2.1 Grenzen einer abbildtheoretischen Perspektive
2.2.2 Radikaler Konstruktivismus
2.2.3 Erkenntnistheoretische Einordnung des Radikalen Konstruktivismus
2.2.4 Die Erweiterung des Radikalen Konstruktivismus zu einer allgemeinen Theorie beobachtender Systeme
2.3 Resultierende Implikationen für ein konstruktivistisch- systemtheoretisches Wissenschaftsverständnis
2.3.1 Allgemeine wissenschaftstheoretische Konsequenzen
2.3.2 Methodologische Konsequenzen
2.4 Eine pluralistische Forschungsstrategie als geeignete Methodik für Anwendungsorientierung

3 Beschreibung des ‚Forschungsobjekts Organisation’ mit Hilfe systemtheoretischer Ansätze
3.1 Systemtheoretische Ansätze zur Modellbildung
3.1.1 Allgemeine Systemtheorie und Kybernetik
3.1.2 Anwendung der Systemtheorie als Modelltheorie
3.2 Die Theorie sozialer Systeme zur Begriffs- und Problembildung
3.2.1 Grundzüge der Theorie sozialer Systeme
3.2.2 Verschiedene Typen sozialer Systeme
3.2.3 Die Organisation im eigentlichen Sinne (i.e.S.) als autopoietisches soziales System
3.3 Das ‚Forschungsobjekt Organisation’: Eine Organisation im weiteren Sinne (i.w.S.) als Einheit verschiedener Systeme

4 Die Festlegung relevanter Systeme einer Organisation i.w.S.
4.1 Die äußere Umwelt: Das Gesellschaftssystem unter besonderer Berücksichtigung elektronischer Netzwerkmedien
4.2 Die normative bzw. formale Sozialstruktur: Das Organisationssystem als Organisation i.e.S.
4.3 Die Systeme der inneren Umwelt der Organisation i.e.S.
4.3.1 Die Verhaltensstrukturen bzw. die informellen Sozialstrukturen: Interaktionssysteme
4.3.2 Die Beteiligten bzw. Mitglieder: Bewusstseinssysteme
4.3.3 Die Technik: Informations-Technische Systeme (IT)
4.4 Zwischenfazit

5 Das Problem: Strategische Anpassung von Organisationen i.e.S.
5.1 Evolutionärer Wandel von Organisationen
5.1.1 Evolution von Organisationspopulationen (Population-Ecology- Ansatz)
5.1.2 Kognition und Evolution bei Weick
5.1.3 Evolution von Organisationen als soziale Systeme
5.1.4 Einseitigkeit organisationaler Beobachtung als Problem evolutionärer Bewährung
5.2 Organisationen zwischen Zweck- und Systemrationalität
5.2.1 Zweckrationalität und Rationalitätsmythos
5.2.2 Relative Zweckrationalität und Systemrationalität
5.2.3 Systemrationalität durch einen Rationalitätsmythos 2. Ordnung
5.3 Notwendigkeit strategischer Anpassungsfähigkeit von Organisationen
5.3.1 Der Strategiebegriff und die Notwendigkeit strategischer Anpassungsfähigkeit
5.3.2 Der Begriff organisationaler Wandel/Anpassung
5.3.3 Strategische Anpassung von Organisationen i.e.S.

6 Der Lösungsansatz: Strategische Anpassungsfähigkeit als ‚organisationales Wissen um strategischen Wandel’
6.1 Konzept eines organisationalen Wissens in einer Welt elektronischer Netzwerkmedien
6.2 ‚Organisationales Wissen um strategischen Wandel’: Ein dualistisches Verständnis
6.2.1 Generierung eines Zweifels durch strategische Information
6.2.2 Das Know-how der Generierung strategischer Information
6.3 Ein formales Entscheidungsprogramm 2. Ordnung als Voraussetzung für Gestaltungshinweise
6.3.1 Ermöglichung von ‚Organisationalem Wissen um strategischen Wandel’ als Zweck des Programms
6.3.2 Eine strategische Agenda als Mittel zur Umsetzung des Programms
6.4 Resultierende prinzipielle Anforderungen der Organisation i.e.S. an ihre innere Umwelt
6.4.1 Das Prinzip polykonte-tueller Beobachtung
6.4.2 Das Prinzip des begrenzten Zufalls
6.4.3 Das Prinzip einer begrenzten Subversivität
6.5 Zwischenfazit

7 Prozess der Realisierung eines ‚Organisationalen Wissens um strategischen Wandel’ in einer Welt elektronischer Netzwerkmedien
7.1 Bestimmung einzelner Prozessschritte
7.1.1 Individuelle Zweifel als potenzielle Themen
7.1.2 Aufbau eines elektronischen Themen-Netzwerks als Gedächtnis
7.1.3 Refle-ion verteilter Interaktionen aufgrund der Verknüpfung von Themen
7.1.4 Refle-ion als Thema strategischer Entscheidungen durch Technisierung verteilter Refle-ions-Interaktionen
7.2 Gestaltungshinweise innerhalb der Prozessschritte
7.2.1 Individuelle Zweifel durch E-ploration in elektronischen Netzwerkmedien
7.2.2 Aufbau eines elektronischen Themen-Netzwerks aufgrund gemeinsamer individueller Interessen
7.2.3 Verteilte Refle-ion mit Hilfe der Bildung von Communities of Refle-ion
7.2.4 Technisierung verteilter Refle-ions-Interaktionen durch Freiheit innerhalb eines festen Rahmens
7.3 Das umfassende Prozessmodell als die relevante Welt der Problemdefinition für Software-Design

8 Schlussfolgerungen und beispielhafte Anforderungsdefinition für das Software-Design zur Unterstützung des Prozessmodells
8.1 Schlussfolgerungen für grundsätzliche Möglichkeiten der IT
8.2 Anforderungsdefinition: Beschreibung erforderlicher Unterstützungsdienste
8.2.1 Hyperlink unterstützte Suche in einem quasi unendlichen Suchraum
8.2.2 Emergente Netzwerkbildung durch Verknüpfung individueller Suchpfade
8.2.3 Partnervermittlung und Veränderungsassistent

9 Zusammenfassung

10 Literaturverzeichnis

VI Abbildungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1-1: Graphische Übersicht des Aufbaus der Arbeit

Abbildung 2-1: Ein Bezugsrahmen pluralistischer Forschung in Anlehnung an Frankl (1979: 51ff.)

Abbildung 4-1: Zusammenhang zwischen normativer bzw. formaler Sozialstruktur und informellen Sozialstrukturen

Abbildung 4-2: Schematische Gesamtdarstellung des ‚Forschungsobjekts Organisation’, der Organisation i.w.S.

Abbildung 5-1: ‚Kugel in Potenziallandschaft’ in Anlehnung an Haken (1995: 49f.) als angenommene Wirklichkeitsordnung eines bestimmten

Kausalitätsmodells bzw. Programms einer Organisation

Abbildung 5-2: Ein Modell organisationaler strategischer Anpassung

Abbildung 6-1: Prinzipielle Wege loser Kopplungen zwischen verschiedenen Systemen der Organisation i.w.S.

Abbildung 6-2: Begrenzung als Voraussetzung für Freiheit in Anlehnung an Gebert (2000: 7)

Abbildung 6-3: Die Begrenzung der Varietät von Beobachtungen 2. Ordnung

Abbildung 6-4: ‚Organisationales Wissen um strategischen Wandel’

Abbildung 7-1: Prozessschritte (1) bis (4) der Verwirklichung einer strategischen Agenda innerhalb des Forschungsobjekts, der Organisation i.w.S.

Abbildung 7-2: Konzeptionelle Gesamtdarstellung der Generierung von ‚Organisationalem Wissen um strategischen Wandel‘

Abbildung 8-1: Keine Vorabausgrenzung vielfältiger Quellen aus dem Multikonte-t verschiedener Funktionssysteme

Abbildung 8-2: Generierung neuer Suchbegriffe bzw. Hyperlinks

Abbildung 8-3: Prinzipieller Verlauf des Suchmechanismus

Abbildung 8-4: Ergebnisvorschlagsliste der gekoppelten internen/e-ternen Suche

Abbildung 8-5: Sichtfenster für geöffnete Dokumente

Abbildung 8-6: Suchbegriffvorschläge in Bezug auf geöffnete Dokumente

Abbildung 8-7: Prinzipdarstellung eines individuellen dynamischen Suchpfads

Abbildung 8-8: Regeln der Verknüpfung individueller Suchpfade verschiedener Nutzer

Abbildung 8-9: Darstellung des emergenten Netzwerks von Suchpfaden respektive von potenziellen Agenda-Themen verschiedener Interessenprofile der Mitglieder

Abbildung 8-10: Standardsicht auf einen individuellen Suchpfad und das zugehörige Interessenprofil

Abbildung 8-11: Darstellung ähnlicher Suchprofile

Abbildung 8-12: Einstiegs- und Benachrichtigungsmaske des Organization Wide Web (OWW)

Abbildung 8-13: Darstellung der Suchaufträge und Suchaufträge einrichten

1 Einführung

Die heutige Weltgesellschaft (vgl. Luhmann 1975: 51ff.; 1984: 585f.) ist gekennzeichnet durch funktionale Differenzierung. So kommt es zu Funktionssystemen, wie z.B. das Rechtssystem, das Wirtschaftssystem oder das Wissenschaftssystem (vgl. Martens 1997: 300ff.). Innerhalb dieser Funktionssysteme haben sich Organisationen, wie Gerichte, Unternehmen und Universitäten, ausgebildet, die den jeweiligen Funktionssystemen zugeordnet sind (vgl. Luhmann 1994: 190). Darüber hinaus wird die Gesellschaft durch neue Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologie (IuK) geprägt (vgl. Wimmer 1999: 3; Romhardt 2001: 25; Primus 2003: 2). Dadurch ist, vor allem auf Grund der Etablierung des Internets,1 der technologisch weitgehend unbegrenzte, interaktive Austausch von Daten auf intra- und interorganisationaler Ebene in „Echtzeit“ möglich (vgl. A.P. Schmidt 1999: 11; Castells 2001: 466ff.; AL-Laham 2003: 2).2 Für die resultierende interaktive Mediennutzung der Computernetze ist kennzeichnend, dass festgeschriebene Rollen und damit verbundene Verhaltenserwartungen fehlen. Jeder kann zum Anbieter von Informationen werden (vgl. Wehner 2000: 112). Durch diese Unbegrenztheit treten im „Cyberspace“ viele Welten auf (vgl. A.P. Schmidt 1999: 11; Bühl 2000; Lessig 2001), die sich darüber hinaus auch noch ständig ändern.3 Das heißt, organisationale Entscheidungssituationen stellen unter diesen Bedingungen komple-e4 Handlungsfelder dar, die durch Informationsüberfluss, der Suche nach relevanten Informationen, Diskontinuität, Turbulenz und durch die andauernde Verkürzung der Gültigkeit (Aktualität) von Informationen geprägt sind (vgl. Häcki 1997: 4; Böckelmann/Mahle 2000: 27; Brunner 2002: 9).

Damit kann das Bestehende nicht als dauerhaftes Kapital angesehen werden (vgl. Primus 2003: 1f.) und der Erfolg einer Organisation hängt nicht mehr nur von einmal gesetzten Impulsen ab. Stattdessen zählt „die Fähigkeit, Geschäftsmodelle und Strategien ständig den veränderten Rahmenbedingen anzupassen“ (Hamel/Välikangas 2003: 26).5 Mit anderen Worten, die Fragen des angemessenen Organisiertseins und der raschen Veränderbarkeit sind zu E-istenzfragen von Organisationen geworden. (vgl. Wimmer 1999: 2). Aber gerade in Phasen strategischen Wandels zeigt sich, dass die ‚klassischen’ Instrumente des Managements „zunehmend an unüberwindbare Grenzen der Machbarkeit stoßen“ (Rüegg- Stürm 2001: 4).

Bei näherer Betrachtung lassen sich Probleme des Managements mit organisationalen Eingriffen vielfach auf ein Unterschätzen der Eigendynamik des Organisationsgeschehens zurückführen (vgl. Wimmer 1999: 14ff.). Die Folge ist die Suche nach Erfolgsrezepten mit teilweise mangelhaften theoretischem Fundament und einer Negierung vorfindbarer Komple-ität (vgl. Kieser 1996; Naujoks 1998).6 Die Probleme resultieren vor allem daraus, dass die organisationstheoretischen Ansätze stark dem kartesianischen Weltbild verpflichtet sind (vgl. Niemeier 2000: 1f.; Rüegg-Stürm 2001: 5). Das bedeutet, die Organisation wird als triviale Maschine gesehen (vgl. Reinhardt 1995: 99). Aus dieser Sicht bestehen eindeutige Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung (vgl. v. Foerster 1993: 244ff.). Die Führungskraft begreift sich selbst als Außenstehender und gibt als Subjekt bestimmte Inputs und erwartet von der Organisation als Objekt den geplanten Output bzw. die geplante Wirkung. Das daraus resultierende Organisationsverständnis geht somit von Kontrollierbarkeit und Vorhersagbarkeit des Verhaltens von und in Organisationen aus (vgl. Mintzberg/McHugh 1985: 160; Kühl 1994: 26ff.; Reinhardt 1995: 99). Mit der unvermeidlichen Eigendynamik, die Veränderungsmaßnahmen bzw. Reformen in Organisationen auslösen, ist aber davon auszugehen, dass weder das Ergebnis von Umgestaltungsmaßnahmen noch der Weg dorthin e-akt planbar sind (vgl. Wimmer 1999: 14ff.). Dementsprechend wird klar, dass sich die beschriebenen Vereinfachungen „als nicht mehr ausreichend erweisen und aus diesem Grund nach neuen Formen zur Gestaltung und Lenkung der Organisation gesucht wird“ (Stünzner 1996: 160f.).

Richtungsweisend für ein neues Verständnis ist die Annahme, „daß Organisationen komple-e Systeme in einer komple-en Umwelt sind“ (Bardmann 1994: 291; kursiv. i. Orig.). Eine zusammenhängende Theorie dazu e-istiert zur Zeit nicht (vgl. A. Bühl 1990: 14; Niemeier 2000: 2), aber die Beschreibung komple-er Systeme wurde grundsätzlich durch verschiedene Theorien der Selbstorganisation möglich (vgl. Heinl 1996 330f; Baecker 1999: 30f.; Niemeier 2000: 137).7 Die neuere Systemtheorie, insbesondere die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann gilt als einer der bedeutensten Ansätze dieses Forschungsprogramms (vgl. z. Knyphausen 1991: 48; Stünzner 1996: 13; Jochum: 1998: Kap. 2.2) und steht hier im Mittelpunkt des Interesses. Im Rahmen dieser Theorie sind formale Organisationen als soziale Systeme vorstellbar (vgl. Luhmann 2000), die sich an einer Struktur von Kreisläufen, Rückkopplungen und Konditionierungen orientieren. Die Organisation wird so zu einer nicht trivialen Maschine, die nicht nur über eine Produktionsfunktion (Input/Output) verfügt, sondern auch über eine Zustandsfunktion. Das heißt, die Produktionsfunktion ist abhängig von der jeweiligen Situation bzw. dem jeweiligen Zustand einer Organisation (vgl. Baecker 2000: 19). Durch die kreislaufförmigen Beziehungen in einer solchen Organisation, resultiert eine Selbstbezüglichkeit, die die Trennung von gestaltendem Subjekt (z.B. Management) und gestaltbarem Objekt (z.B. Organisation) aufhebt (vgl. Rüegg-Stürm 2001: 7). Damit lässt sich im Hinblick auf die Organisationsprozesse sagen, dass die Ordnung einer Organisation als soziales System zwar abhängig ist von menschlichem Handeln und Planen, aber sie kann niemals genau das bezweckte Ergebnis dieser Handlungen und Planungen sein (vgl. Bardmann 1994: 370).

Aus der Sicht der neueren Systemtheorie wird klar, dass für soziale Systeme, wie Organisationen, Wandel konstitutiv ist. Der Verlauf eines solchen alltäglichen Wandels ist aber ungesteuert, unreflektiert und kann als evolutionär beschrieben werden. Charakteristisch für solche evolutionären Entwicklungen ist, dass sich aufgrund erfolgreicher Anpassungen der Organisation an ihre Umwelt bestimmtes organisationales Wissen, d.h. Identitäten, als „dynamische robuste Konstrukte relativer zeitlicher Stabilität“ (Heideloff 1998: 43; kursiv. i. Orig.), wie Wahrheiten, Rationalitäten, Normen, bestimmte Strategien und Vorgehensweisen usw. als soziales Wissen innerhalb der Organisation institutionalisiert. Wesentlich ist auch, dass unter der Annahme dynamischer Verhältnisse sich die Umwelt selbst, d.h. das umfassende Gesellschaftssystem ebenfalls evolutionär entwickelt. Allerdings in einem Eigentempo und mit einem dynamischen Eigenverhalten, das ebenfalls unberechenbar verläuft. Insofern wird weiterhin deutlich, dass organisationales Wissen, welches z.B. durch gerade aktuelle Management-Methoden zum Ausdruck kommt, das unter heutigen Umweltbedingungen Gültigkeit besitzt, morgen durch Umweltveränderungen schon hinfällig sein kann. Da aber vorhandene organisationale Wissensstrukturen die notwendige Sicherheit und Orientierung einer Organisation liefern, können sie normalerweise nicht einfach in Frage gestellt werden. Resultierend daraus zeigt sich bei Organisationen mit zunehmenden Alter, wachsender Größe und struktureller Komple-ität eine Beharrungstendenz,8 die darauf abzielt, etablierte Strategien effizient zu handhaben und Erreichtes abzusichern. Daraus resultiert ein reaktiv-defensiver Verhaltensmodus, mit dem sich Organisationen von der viel dynamischeren Umwelt abkoppeln und somit Handlungsspielräume verlieren. Erst wenn die Organisation in eine Krise gerät, wird ein tiefgreifender Wandel, d.h. die mit den erwähnten Unzulänglichkeiten behafteten Reformen oder Reorganisationsmaßnahmen, in Erwägung gezogen (vgl. Niemeier 2000: 1). Gerade ehemals sehr erfolgreiche Organisationen kommen so mit der zunehmenden Dynamik nicht zurecht. Anstatt sich frühzeitig anzupassen, werden frühere erfolgreiche Strategien solange weiterverfolgt, d.h. innerhalb gültiger Strukturvorgaben weiteroptimiert, bis diese Strukturvorgaben selbst völlig untauglich sind und das Bestehen der Organisation gefährden.9 In diesem Zusammenhang wird auch von einem Erfolgs- oder Ikarus-Parado- gesprochen, bei dem das Festhalten an alten Erfolgsrezepten, vor allem bei sehr erfolgreichen Organisationen, als die sicherere Methode erscheint (vgl. z.B. Elsass 1993; O’Neill 1993; Audia et al. 2000; Kappelhoff 2002). Das Risiko, die bewährten Wissens-Strukturen beizubehalten, wird oft nicht gesehen oder unterschätzt (vgl. Luhmann 2000: 333). Wenn es zu Turbulenzen kommt, die die geltenden Regeln durcheinander bringen, kann das zu einem Schock mit lang anhaltenden Folgen führen (vgl. Hamel/Välikangas 2003: 27).

„Ein Beispiel dafür ist der Technologiekonzern IBM. 1990 hatte das Unternehmen noch sechs Milliarden Dollar Gewinn gemacht, 1993 waren es fast acht Milliarden Dollar Verlust. Erst 1997 fand IBM wieder zur alten Ertragsstärke zurück. Ein derart lang währender Einbruch ist in der Regel mit dem Wechsel an der Unternehmensspitze verbunden, und oft schafft der neue Chef - sei es Lou Gerstner bei IBM, Carlos Ghosn beim Automobilhersteller Nissan oder Rose Marie Bravo beim Modeunternehmen Burberry - einen erfolgreichen, manchmal ruckartigen Turnaround. Aber wird ein solcher Turnaround auch noch so sehr bejubelt, er ist doch immer nur ein Zeichen für die fehlende Anpassungsfähigkeit eines Unternehmens. Er deutet darauf hin, dass eine Veränderung viel zu spät kommt“ (Hamel/Välikangas 2003: 27).

Daher scheint für strategische Anpassungsfähigkeit ein Wissen notwendig, dass das Hinterfragen bisherigen Wissens, wie z.B. bestimmter Strategien und Methoden, frühzeitig erlaubt, ohne gleichzeitig eine lähmende Unsicherheit und Orientierungslosigkeit entstehen zu lassen. Ein solches ‚organisationales Wissen um strategischen Wandel’ kann daher nur ein Wissen höherer Ordnung sein. Man könnte auch sagen, es ist von strategischer Anpassungsfähigkeit einer formalen Organisation dann zu sprechen, wenn ein „sicheres“ ,organisationales Wissen um strategischen Wandel’ vorliegt. Ein solches Wissen bezieht sich zum einen auf den notwendigen Zweifel am bisherigen Wahren und Richtigen und zum zweiten auf ein Know-how höher Ordnung, um immer wieder solche Zweifel an bisherigen Wahrheiten zu generieren und mit ihnen umzugehen, ohne als Gesamtorganisation zu verzweifeln. Daher ist das Ziel der weiteren Kapitel zu klären, was unter ‚organisationalem Wissen um strategischen Wandel’ im Einzelnen vorstellbar ist und wie ein solches Wissen in einer Welt elektronischer Netzwerkmedien zustande kommen könnte.

Es wurde bereits angedeutet, dass Organisationen als soziale Systeme aufgrund ihrer prinzipiellen Zirkularität nicht in einem teleologischen Sinne gestaltbar sind und auch keine partielle Fremdsteuerung zulassen (vgl. Koop 1999: 50). Auch ist es nicht möglich, einer Organisation vorzuschreiben, was sie wissen sollte, sondern eine Organisation kann nur selbstorganisiert zu unvorhersehbarem Wissen gelangen. Theorien der Selbstorganisation, wie z.B. die neuere Systemtheorie sind daher kaum auf die anwendungsorientierte Organisationsforschung übertragen worden. Angesichts der grundsätzlichen Design-, Kontroll- und Planungsprobleme wird in Bezug auf Organisationsforschung auch von einer gravierenden Theorielücke gesprochen (vgl. Martens/Ortmann 2004: 35).

Diese Arbeit erhebt nicht den Anspruch, eine eventuelle Theorielücke der neueren Systemtheorie zu schließen. Es ist das Ziel, trotz der prinzipiellen Nichtgestaltbarkeit sozialer Systeme, durch indirektes und systemübergreifendes Vorgehen dennoch Gestaltungsvorschläge zu generieren. Das scheint deshalb möglich, weil soziale Systeme immer Umwelt voraussetzen, um überhaupt e-istieren zu können. Die These ist, wenn beides, Organisationen als soziale Systeme und ihre relevante Umwelt aus einer dritten übergreifenden Sicht innerhalb eines gemeinsamen Bezugsrahmens von außen partiell betrachtet wird, ergibt sich eine neue Chance für eine deduktiv-analytische Ableitung von Gestaltungshinweisen: Bei näherer Betrachtung scheint innerhalb eines solchen Bezugsrahmens die Festlegung eines mehrdimensionalen Objektbereichs (=Modell eines Forschungsobjekts) zweckmäßig. Dieser Objektbereich ist als eine Organisation im weiteren Sinne (i.w.S.) vorstellbar. Dabei ist die Organisation i.w.S. kein System, sondern eine aus Forschersicht sinnvolle Einheit verschiedener Systeme. Innerhalb dieses Konstrukts werden durch eine analytische Vorgehensweise verschiedene Untersuchungsperspektiven, z.B. in Form psychischer, technischer und sozialer Systeme, festgelegt. Diese sind als jeweils bestimmter Querschnitt aufzufassen, der durch das Forschungsobjekt hindurch geführt wird. Innerhalb eines solchen Forschungsobjekts werden auf diese Weise separate Untersuchungen einer Organisation als soziales System (das in Abgrenzung zum Objektbereich als Organisation im eigentlichen Sinne (i.e.S.) bezeichnet wird) und ihrer relevanten Umweltsysteme, wie z.B. technischer Systeme, denkbar. Damit ist mit Hilfe eines zunächst deskriptiven Vorgehens eine Klärung der charakteristischen Merkmale dieser Systeme innerhalb des umfassenden mehrdimensionalen Objektbereichs möglich. Auf dieser Basis können folgend aus der Perspektive der Organisation als soziales System (Organisation i.e.S.), auf die sich das Ausgangsproblem der fehlenden Anpassungsfähigkeit bezieht, bestimmte anpassungsförderliche Umweltbedingungen ergründet werden. Zusammenfassend geht es darum, innerhalb der Organisation i.w.S. Umweltbedingungen der Organisation i.e.S. (= soziales System) zu bestimmen, die in einer Weise auf diese zurückwirken, dass die Wahrscheinlichkeit einer strategischen Anpassungsfähigkeit der Organisation i.e.S. steigt. Nachfolgend ist es mit Hilfe eines Perspektivenwechsels innerhalb des Forschungsobjekts schließlich möglich, Überlegungen anzustellen, um normative Anforderungen einer Organisation als soziales System an ihre Umwelt abzuleiten, die mit Hilfe bestimmter Gestaltungsmöglichkeiten auch erfüllt werden könnten. Aus dem selbstorganisationstheoretischen Zugang und dem relativ abstrakten Anwendungsfall, der Erzielung einer strategischen Anpassungsfähigkeit, ergeben sich drei prinzipielle Anforderungen. Erstens, die polykonte-tuelle Beobachtung ist zu fördern, d.h. verschiedene Sichtweisen aus allen Bereichen der Organisation sind zu berücksichtigen. Zweitens, im begrenzten Rahmen Zufälle zu ermöglichen, d.h. zufällige Informationen und Ereignisse sind systematisch zu nutzen und vorab nicht zu stark einzuschränken. Drittens, sind innerhalb fester Regeln subversive Räume zu schaffen, d.h. die Organisation als soziales System muss unbeobachtete Zweifel zulassen, um ein Hinterfragen organisationaler Wirklichkeiten überhaupt zu ermöglichen.

An diesen Prinzipien orientiert sich ein resultierendes normatives Prozessmodell der Generierung ‚organisationalen Wissens um strategischen Wandel’ in einer Welt elektronischer Netzwerkmedien. Das Prozessmodell, das alle Systeme innerhalb des Rahmens Organisation i.w.S. berücksichtigt, ist kein Management-Modell oder eine Methode, weil keine Intention vorliegt, gemäß der ein vorbestimmtes Verhalten vorgeschrieben ist, sondern innerhalb eines bestimmten Rahmens selbstorganisierte Entwicklungen gefördert werden sollen. Es handelt sich um ein Modell eines logischen Ablaufs, der durch Techniken wie Management-Ansätze und andere Instrumente, wie z.B. Informations-Technologie (IT), unterstützt werden kann. Ein solcher Prozess besteht aus einzelnen Prozessschritten: Er beginnt mit individuellen Zweifeln an bisherigem organisationalen Wissen, unterstützt durch E-ploration in internen und e-ternen elektronischen Netzwerkmedien. Im zweiten Schritt können aufgrund gemeinsamer individueller Interessen und dem Aufbau eines elektronischen Themen-Netzwerks, potenzielle strategische Themen systematisch durch die gewollte zufällige Kombination von Informationen verschiedenster Art generiert werden. Im dritten Schritt bilden sich mit Hilfe von Verknüpfungen einzelner Themen des elektronischen Themen-Netzwerks selbstorganisierte ‚Communities of Refle-ion’. In diesen informellen Interaktionen werden die Themen interdisziplinär durchdrungen und zu Reformvorschlägen weiterentwickelt. In einem vierten Schritt besteht die Zielsetzung darin, dass diese Vorschläge auf die strategische Agenda der Organisation gesetzt werden und so zu reflektierten und zukunftsträchtigen Entscheidungen beitragen. Wesentlich ist, dass immer offen bleibt, welche Themen die Organisation als soziales System konkret aufgreifen bzw. beobachten wird. In einer Gesamtbetrachtung ergibt sich ein Prozess loser Kopplungen mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen. Einzig die Wahrscheinlichkeit einer „immanenten Anpassungsfähigkeit“ (Hamel/Välikangas 2003: 27) der Organisation i.e.S. sollte sich erhöhen. Eine solche immanente Anpassungsfähigkeit ist von tatsächlicher Anpassung zu unterscheiden. Es geht hier um die Voraussetzung für sinnvolle Anpassung, d.h. um die Fähigkeit einer Organisation als soziales System, aus selbstorganisierten Abläufen heraus zu erkennen, wann Anpassungsentscheidungen notwendig erscheinen und wann nicht. Es soll unter Zuhilfenahme elektronischer Netzwerkmedien eine erhöhte Sensibilität der Kommunikationsprozesse der Organisation für strategischen Anpassungsbedarf bei gleichzeitiger Orientierung unter hoher Dynamik wahrscheinlicher werden.

Die Arbeit folgt einem dreiteiligen Aufbau, der in Abbildung 1-1 in Form einer graphischen Übersicht dargestellt ist. In dem ersten Teil (Kapitel 2) werden die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundüberlegungen in den Blick genommen. Nach Hinweisen auf Grenzen einer abbildtheoretischen Perspektive der klassischen anwendungsorientierten Organisationslehre, wird die epistemologische Basis der im Mittelpunkt stehenden soziologischen Systemtheorie Luhmanns skizziert. Sie resultiert vor allem aus Erkenntnissen des Radikalen Konstruktivismus, insbesondere der Kybernetik 2. Ordnung von v. Foerster und des Konzeptes der Autopoiese von Maturana/Varela. Schließlich führt die Erweiterung dieser Konzepte mit Hilfe der als ‚Kalkül der Form’ bezeichneten Logik von Spencer Brown zu einer allgemeinen Theorie beobachtender Systeme durch Luhmann. Aus der Diskussion der Konsequenzen dieser erkenntnistheoretischen Positionen wird deutlich, dass im Unterschied zu einer abbildtheoretischen Perspektive eine priviligierte Position eines bestimmten wissenschaftlichen Ansatzes nicht möglich ist. Daraus resultiert die Forderung nach einer pluralistischen Vorgehensweise der konkreten anwendungs- orientierten Forschungsstrategie. Die aus pluralistischem Vorgehen grundsätzlich erwachsende Kommensurabilitätsproblematik (vgl. Kapitel 2.4) verschiedener Konte-te soll hier durch die Klammer eines gemeinsamen Bezugsrahmens entschärft werden. Auf diese Weise wird die Betrachtung verschiedener Perspektiven nebeneinander im Hinblick auf ein gemeinsames Forschungsziel ermöglicht.

Im zweiten Teil der Untersuchung wird dieser theoretische Bezugsrahmen in seiner konkreten Form ausgearbeitet. Da sich dieser Bezugsrahmen aus einem Forschungsobjekt (Organisation) und einem speziellen Anwendungsfall (strategische Anpassungsfähigkeit) zusammensetzt, lässt sich der zweite Teil noch in die zwei Blöcke ‚Forschungsobjekt’ und ‚Anwendungsfall’ splitten. Im ersten Block wird ein ‚Forschungsobjekt Organisation’ mit Hilfe systemtheoretischer Ansätze modelliert. Dafür werden zunächst in Kapitel 3 systemtheoretische Ansätze, wie die Allgemeine Systemtheorie, die Kybernetik und die neuere Systemtheorie (Luhmann), vorgestellt und deren Möglichkeiten zur Modellbildung und Problemerklärung im Hinblick auf die Organisationsforschung beleuchtet. Das ‚Forschungsobjekt Organisation’ lässt sich, wie bereits erwähnt, als analytische Einheit verschiedener Systeme bzw. Untersuchungsperspektiven beschreiben und wird als Organisation im weiteren Sinne (i.w.S.) bezeichnet.

Die hier betrachteten Systeme innerhalb der Organisation i.w.S. werden in Kapitel 4 festgelegt und näher beschrieben. Dafür erfolgt zuerst die Ableitung relevanter Perspektiven des ‚Forschungsobjekts Organisation’ in Anlehnung an die zentralen Elemente (Merkmale) moderner Organisationen nach Scott (1986). Diese Perspektiven werden als verschiedene eigenständige Systeme der Organisation i.w.S. definiert und in drei Bereiche unterteilt. Es kann unterschieden werden zwischen der erwähnten Organisation i.e.S. (soziales System) und Systemen in ihrer äußeren und inneren Umwelt, die allerdings alle der Einheit der Organisation i.w.S. zugeordnet werden. Zunächst wird auf die äußere Umwelt der Organisation i.e.S. eingegangen, die hier gleichzeitig das umfassende Gesellschaftssystem darstellt. Es folgt die nähere Erklärung der Organisation i.e.S. als soziales System, das hier als eine normative bzw. formale organisationale Sozialstruktur angesehen wird, und der restlichen Untersuchungsperspektiven in der inneren Umwelt der Organisation i.e.S. Da jeder e-terne Eingriff die notwendige Autonomie der Organisation i.e.S. verletzen würde, und die äußere Umwelt, d.h. die Gesellschaft als Gestaltungsbereich, ausgeschlossen werden kann, beziehen sich spätere Gestaltungsvorschläge ausschließlich auf die innere Umwelt der Organisation i.e.S. Diese setzt sich aus Verhaltensstrukturen bzw. informellen Sozialstrukturen (soziale Systeme), Beteiligten bzw. Mitgliedern (psychische Systeme) und Technologien (technische Systeme) zusammen. Welche Anforderungen eine Organisation i.e.S. an Systeme in ihrer inneren Umwelt konkret stellen könnte, wird im folgenden zweiten Block der Ableitung eines Bezugsrahmens ergründet.

In diesem zweiten Block wird zunächst in Kapitel 5 beschrieben, vor welchem Hintergrund ein noch abzuleitender Lösungsansatz, der gleichzeitig der Anwendungsfall für etwaige Gestaltungshinweise darstellt, zum Tragen kommt. Dafür wird das aufgegriffene Ausgangsproblem der Pra-is, das Phänomen der Beharrungstendenz als Zeichen fehlender strategischer Anpassungsfähigkeit, aus systemtheoretischer Sicht analysiert. Daran anschließend wird die Frage aufgeworfen, inwieweit zweckrationale Kriterien, an denen sich Organisationen auch heute orientieren, grundsätzlich dazu beitragen können, einer Beharrungstendenz entgegenzuwirken. Dabei stellt sich heraus, dass es sinnvoll ist, zwischen System- und Zweckrationalität zu unterscheiden. Dauerhafter Erfolg, der zu einer organisationalen Selbsterhaltung führt, kann dann mit systemrationalem Verhalten gleichgesetzt werden. Darüber hinaus wird klar, dass Systemrationalität nur durch eine laufende Anpassung grundlegender Zweckrationalitätsvorstellungen der Organisation zustande kommen kann. Damit ist strategische Anpassungsfähigkeit notwendig, um wechselnde Bedingungen zur Entwicklung neuer Zweckrationalitäten adaptieren zu können. In der Folge wird geklärt, wie aus systemtheoretischer Sicht organisationale Anpassung auf strategischer Ebene denkbar wäre. Es zeigt sich, dass strategische Anpassungsfähigkeit vorstellbar ist als ein Abtasten der Umwelt auf Veränderung gepaart mit Entscheidungsfreiheit, die immer die Möglichkeit der Veränderung oder des Gleichbleibens beinhaltet. Damit entspricht strategische Anpassungsfähigkeit, so die These, einem bestimmten organisationalen Wissen, oder um es mit dem hier gewählten Terminus auszudrücken: strategische Anpassungsfähigkeit von Organisationen i.e.S. entspricht einem ‚organisationalen Wissen um strategischen Wandel’.

Um diese These zu fundieren, wird im folgenden Kapitel 6 näher untersucht, was unter ‚organisationalem Wissen um strategischen Wandel’ bzw. strategischer Anpassungsfähigkeit im Einzelnen zu verstehen ist und wie ein solches Wissen in einer Welt elektronischer Netzwerkmedien wahrscheinlicher werden könnte. Zunächst wird dafür ein allgemeines Konzept organisationalen Wissens unter besonderer Berücksichtigung elektronischer Netzwerkmedien erstellt. Daran anschließend wird deutlich, dass das spezielle ‚organisationale Wissen um strategischen Wandel’ als dualistisch charakterisiert werden kann. Das heißt, zum einen geht es darum, bestimmte Information zu produzieren, die auf Veränderungsbedarf aufmerksam macht und Reformimpulse setzen könnte. Zum anderen stellt sich heraus, dass dafür auch eine bestimmte organisationale Kompetenz oder ein Know-how notwendig ist, um nicht zu hohe Effizienzverluste oder einen Orientierungsverlust zu erleiden. Um beides bei der Wissensgenerierung zu vermeiden, bieten sich für Organisationen i.e.S. formale Regeln an. Im Folgekapitel wird daher untersucht, was bei konkreten Zwecksetzungen für ein solches Regelwerk, das zum Hinterfragen von als richtig angenommenen Regeln, wie z.B. Methoden, Verfahren usw., genutzt wird, und damit zu einem Regelwerk höherer Ordnung wird, zu beachten wäre. Schließlich werden prinzipielle Anforderungen, die an die Zweck/Mittel-Beziehungen innerhalb eines solchen Regelwerks grundsätzlich gestellt werden sollten, abgeleitet. Damit ergibt sich aus dem Lösungsansatz des ‚organisationalen Wissens um strategischen Wandel’ als Anwendungsfall im Verbund mit dem Forschungsobjekt, der Organisation i.w.S., der Bezugsrahmen für noch folgende Gestaltungshinweise.

Daran anknüpfend beginnt der dritte Teil der Untersuchung, in dem auf Grundlage des jetzt vorliegenden Bezugsrahmens in Kapitel 7 zunächst ein Prozess der Realisierung eines ‚Organisationalen Wissens um strategischen Wandel’ in einer Welt elektronischer Netzwerkmedien modelliert wird. Dieser Prozess dient dann als Problemdefinition für konkrete Gestaltungshinweise bzw. Unterstützungsinstrumente, wie z.B. Software-Design. Dafür werden zunächst auf Grundlage des Konzeptes eines allgemeinen organisationalen Wissens und den zuvor festgelegten Mitteln, zur Realisierung eines ‚Organisationalen Wissens um strategischen Wandel’, bestimmte Prozessschritte abgeleitet. Das Ziel des weiteren Vorgehens ist es, im Hinblick auf die Umsetzung dieser allgemeinen Prozessschritte, bestimmte Anforderungen an die innere Umwelt der Organisation i.e.S. zu bestimmen. Dafür werden zu jedem Prozessschritt, jeweils unter Berücksichtigung relevanter Forschungsergebnisse, Gestaltungsempfehlungen erarbeitet, die Anhaltspunkte geben, wie die Systeme der inneren Umwelt einer Organisation i.e.S. ausgerichtet sein sollten. Das Ziel des Prozesses ist es, dass die Organisation i.e.S. die Systeme ihrer inneren Umwelt so auf sich zurückwirken lässt, dass die Erhaltung der Entscheidungsfähigkeit der Organisation i.e.S. innerhalb einer dynamischen Gesellschaft wahrscheinlich bleibt. Abschließend wird auf Grundlage der definierten Prozessschritte ein resultierender Gesamtprozess dargestellt, der durch unscharfe Input/Output Beziehungen bzw. durch Kombinationen von losen und festen Kopplungen geprägt ist.

Zur Unterstützung bzw. Ermöglichung dieses Prozesses wird in Kapitel 8 eine beispielhafte Anforderungsdefinition für ein angemessenes Software-Design eines IT-Tools abgeleitet, welches darüber hinaus auch im Rahmen eines Forschungsprojekts als Prototyp verwirklicht wurde. Die Anforderungsdefinition legt bestimmte Funktionalitäten eines Software-Tools fest und kann als beispielhafte Überprüfung aufgefasst werden, dass die neuere Systemtheorie auf Grundlage des abgeleiteten Prozessmodells über rein theoretische Erkenntnisse hinaus auch für pragmatische Ziele anwendbar sein kann. Wesentlich für diese Anforderungsdefinition ist, dass soziale und psychische Systeme ein unberechenbares Eigenverhalten zeigen, und als die maßgebliche Umwelt für IT-Installationen zu betrachten sind. Deswegen sind die Anforderungen an IT-Systeme zum einen, dass sie im besten Fall berechenbar funktionieren analog zu einer anderen Technik oder Maschine. Zum anderen ist die Funktionalität, d.h. die Frage was diese Technik machen soll, auf die prinzipielle Unberechenbarkeit der relevanten Umwelt auszurichten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1-1: Graphische Übersicht des Aufbaus der Arbeit

2 Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundüberlegungen

Wissenschaftliche Methoden und Theorien setzen immer bestimmte Annahmen voraus (vgl. Rüegg-Stürm 2001: 16). Eine bestimmte erkenntnistheoretische Perspektive oder Grundhaltung bildet damit die entscheidende Grundlage für Theoriebildung, Schlussfolgerungen und Aussagen, die im Rahmen einer theoretischen Untersuchung getroffen werden (vgl. Stünzner 1996: 53).

Weiterhin sind die Fragen der Aneignung von Wissen und Kompetenz auch im Konte-t der Aufgabenstellung grundlegend. Wie schon angedeutet basiert der Lösungsvorschlag (vgl. Kapitel 6) auf der Herleitung eines speziellen organisationalen Wissens, dem ‚organisationalen Wissen um strategischen Wandel’. Dementsprechend wird im folgenden Teil über die Frage, wie wissenschaftliche Erkenntnis und Wissen zustande kommen kann hinaus, auch auf das allgemeine Problem, wie es zu Wissen und Wirklichkeitsverständnis kommt, eingegangen (vgl. Rüegg-Stürm 2001: 15).

Solche allgemeinen Prämissen werden in ihrer Gesamtheit durch ein Paradigma repräsentiert. Der Begriff ‚Paradigma’ stammt von Thomas S. Kuhn, der ihn in seinem wissenschaftshistorischen Werk ‚The Structure of Scientific Revolution’ einführte und innerhalb kurzer Zeit eine weite Verbreitung erlangte (vgl. Franken 1980: 40). In Anlehnung an Kuhn (1962) kann unter Paradigma folgendes verstanden werden:

„Als Paradigma wird das grundlegend, allgemeine und integrationsfähige Denkmuster bezeichnet, das einen tragfähigen ‚Ansatz’ einer wissenschaftlichen Disziplin ausmacht; es liefert der Disziplin nicht nur systematische Problemlösungswege, sondern auch schon fruchtbare Problemstellungen und Sinnzusammenhänge, von denen eine Forschungsgemeinschaft in weitgehender konzeptioneller Übereinstimmung ausgehen kann, ohne den Ansatz selbst immer wieder von neuem in Frage zu stellen“ (P. Ulrich 1986: 13).

Jeder Forschende nimmt eine Prämissenwahl vor, die in ihrer Anwendung und Konkretisierung an irgendeinem Punkt nicht mehr weiter begründbar ist (vgl. Kuhn 1962: 210f.). Auch in der Organisationsforschung herrschen verschiedene Denkrichtungen vor, die nicht nach einem Wahr-oder-Falsch-Schema zu beurteilen sind.

„Die Evidenz der Wahl eines bestimmten Ansatzes ergibt sich vielmehr aufgrund der Angemessenheit und Sinnhaftigkeit, d.h. aufgrund der Möglichkeiten und Grenzen, die sich bei dessen Anwendung im konkreten Forschungskonte-t manifestieren“ (Rüegg-Stürm 2001: 17, kursiv i. Orig.).

Im Folgenden werden daher wichtige Prämissen erläutert, um Klarheit darüber zu schaffen, welche theoretischen Grundlagen diese Arbeit maßgeblich prägen und damit auch die methodischen Leitlinien des Forschungsprozesses festlegen. Zu diesem Zweck wird ausgehend von der Beschreibung des übergeordneten Wissenschaftsziels (2.1) die epistemologische Basis dieser Arbeit vorgestellt (2.2). Das kann als fundamentaler Bestandteil angesehen werden, weil die hier angenommene konstruktivistische Epistemologie einen im Vergleich zu herkömmlichen Positionen wesentlich anderen Zugang zu Wissenschaft erfordert (vgl. Rüegg-Stürm 2001: 15). Aus der Diskussion erkenntnistheoretischer Konsequenzen resultiert die Forderung nach einer pluralistischen Vorgehensweise der konkreten Forschungsstrategie (2.3).

2.1 Wissenschaftsziel

Häufig wird zwischen einem theoretischen und einem pragmatischen Wissenschaftsziel differenziert (vgl. Wild 1966: 22ff.; Chmielewics 1979: 17f.). Auch im Hinblick auf die Organisationstheorie kann z.B. nach Grochla (1975) ein theoretisches von einem pragmatischen oder technologischen Wissenschaftsziel unterschieden werden.

„Das theoretische Wissenschaftsziel manifestiert sich in empirisch-kognitiven Aussagen zur Beschreibung und Erklärung beobachtbarer Phänomene. Im Rahmen pragmatischer oder technologischer Wissenschaftsziele geht es dagegen darum, Gestaltungsmöglichkeiten zu generieren und zu begründen“ (Obring 1992: 20 Fn. 34).

Ausgangspunkt dieser Forschungsarbeit ist der Pra-iszusammenhang, d.h. Heraus- forderungen und Probleme des Alltags. Daraus resultiert ein pragmatisches Wissenschaftsziel (vgl. Kubicek 1977: 7). Damit versteht sich diese Arbeit als Beitrag zu einer anwendungsorientierten Sozialwissenschaft. Bei einer Anwendungsorientierung treten vielfach Probleme auf.

„Praktiker verweisen dabei auf die angebliche „Realitätsferne“ wissenschaftlicher Empfehlungen und fordern größere Pra-isnähe der Wissenschaft. Wissenschaftler verweisen ihrerseits darauf, dass nur durch den Umweg über Theoriebildung und empirische Forschung wissenschaftlich fundierte Anwendungsempfehlungen gegeben werden können, die mehr darstellen als allgemeine Heuristiken“ (Dondl 1992: 2; vgl. auch Kirsch 1990: 544).

Anwendungsorientierte Sozialwissenschaft soll somit hier bedeuten, abstrakte Wirklichkeitserkenntnisse für die Wirklichkeitsgestaltung nutzbar zu machen (vgl. Wild 1966: 25). Es geht darum, dass verständnisfördernde Perspektiven zur Erklärung komple-er Probleme, sowie Fragen und Interpretationsmuster zu ihrer Lösung entwickelt werden, die einen allgemeingültigen Charakter haben, ohne konkrete Anwendungen auszuschließen. Hier sollen die getroffenen Aussagen sowohl pragmatischen als auch theoretischen Wissenschaftsstandards genügen. „Daher ist ein gewisser Widerspruch zwischen Theorie und Pra-is zu handhaben“ (Heinl 1996: 29). Dabei geht es nicht darum, dem Praktiker Rezeptwissen darzulegen oder einen ‚one-best-way’ vorzuschlagen (vgl. Osterloh/Grand 1998: 7), sondern vielmehr um die Funktion der Aufklärung, Beratung und Kritik (vgl. Kubicek 1977: 29; Burla et al. 1994: 26).

Für die Vorgehensweise bzw. Strategie dieser Art der Forschung wird auf einen Vorschlag von Rüegg-Stürm (2001: 18f.) zurückgegriffen. Danach können drei verständnisfördernde Ebenen zur Definition von Problemen sowie Fragen und Interpretationsmuster zu ihrer Lösung unterschieden werden:

- Die erste und grundlegende Ebene bildet die epistemologische Annahme, d.h., wie menschliche Erkenntnis und der Prozess, durch den Menschen Erkenntnis und Wissen erlangen, sich begreifen lassen (vgl. Krogh/Roos 1995: 7ff.), (vgl. Kapitel 2.2).
- Auf Ebene zwei geht es um Konzepte, Modelle und anwendungsorientierte Theorien. Das Ziel ist, einen angemessenen Umgang mit komple-en Phänomenen zu ermöglichen und zu erleichtern (vgl. Kapitel 2.3 - Kapitel 6).
- Die dritte Ebene stellt Instrumente, d.h. Heuristiken, für die Intervention in komple-e soziale Systeme dar (vgl. Kapitel 7 und 8).

2.2 Epistemologische Basis dieser Arbeit

Die epistemologische Position stellt für den Prozess der Forschung, d.h. der systematischen Erkenntnisgewinnung, die Grundlage für die Frage nach der Geltungsreichweite wissenschaftlicher Erkenntnis dar (vgl. Popper 1979). Dabei ist ein grundsätzliches Problem der erkenntnistheoretische Zweifel, ob von einer möglichen Übereinstimmung von Erkenntnis und Realität ausgegangen werden kann und wenn, wovon diese abhängt (vgl. Stünzner 1996: 55). Eine wesentliche Frage ist daher, ob wissenschaftliche Erkenntnis zu wahren und objektiven Erkenntnissen führen kann und damit von einer Korrespondenz zwischen Erkenntnis und Sein auszugehen ist (vgl. Oeser 1976: 25; Vollmer 1975: 3).

Um sich hier einer epistemologischen Position zu nähern, bietet sich an, auf die Grenzen einer in der anwendensorientierten Wissenschaft üblichen abbildtheoretischen Perspektive hinzuweisen (2.2.1). Dieses traditionelle abendländische Denken geht von der Möglichkeit der konte-tunabhängigen objektiven Abbildbarkeit der Realität aus. Aus einer wissen- schaftlichen Betrachtung komple-er Systeme, wie z.B. die hier relevante Organisation als soziales System, besteht Einigkeit darüber, dass es keine rein objektiven Maßstäbe gibt und geben kann. Das erfordert die Anerkennung der eigenen Begrenztheit der Wissenschaft. Diese Begrenztheit wird durch das konstruktivistische Paradigma thematisiert. Innerhalb des konstruktivistischen Paradigmas erscheint insbesondere der Radikale Konstruktivismus als Basis für das hier verwendete Selbstorganisationsparadigma geeignet, weil er selbst e-plizit auf selbstorganisationstheoretischem Gedankengut aufbaut. Der Radikale Konstruktivismus vertritt die Position, dass Realität nicht als Realität erkannt werden kann und fragt nach der Art und Weise des Erkenntnisvorganges selbst. Realität wird danach intern durch einen jeweiligen Beobachter erzeugt und interpretiert. Damit fällt die Möglichkeit objektiver Erkenntnis weg. Im Kapitel 2.2.2 wird versucht, eine Verständnisbasis des Radikalen Konstruktivismus zu schaffen, indem dafür notwendige Merkmale radikal konstruktivistischer Ansätze, wie der Kybernetik 2. Ordnung (v. Foerster) und der autopoietischer Systeme (Maturana/Varela), dargestellt werden. Anschließend werden in Kapitel 2.2.3 erkenntnistheoretische Fragen und Probleme dieser Ansätze diskutiert, die Kognitionen und Erkenntnis gleichsetzen und erkenntnistheoretische Schlussfolgerungen aus der Wahrnehmungsforschung ableiten. Damit scheint ein allgemeiner Vorwurf eines Psychologismus des Radikalen Konstruktivismus nicht vollständig ausgeräumt. Es scheint keine hinreichende Erklärung zu geben, wie es zu sozial geteiltem Wissen kommt. Luhmann hat mit der Formulierung einer allgemeinen Theorie der Beobachtung dieses Problem aufgegriffen. Dieser auch als Operativer Konstruktivismus bezeichnete Ansatz kann als konsequenteste soziale Erweiterung des subjektorientierten Radikalen Konstruktivismus gesehen werden (2.2.4). Nach diesem Ansatz werden soziale Systeme als beobachtungsfähig charakterisiert, deren Beobachtungsoperationen autopoietisch erfolgen. Damit handelt es sich bei sozialen Systemen um autopoietische Systeme aus

Mit dieser in der Literatur umstrittenen Verallgemeinerung des Autopoiesis-Konzepts, das sich strikt von der Autopoiesis des Lebens und der Autopoiesis des menschlichen Bewusstseins unterscheidet, wird erreicht, dass sich das Soziale nicht auf die Kategorie des Subjekts reduzieren lässt. Soziale Systeme werden somit als Kommunikations- zusammenhänge betrachtet, die nur höchst selektiv auf das Bewusstsein des Menschen zurückgreifen. Erst durch diese Erweiterung des Radikalen Konstruktivismus wird ein eigenständiges komple-es Verhalten und eigenständige Erkenntnis bzw. Wissen auf sozialer Ebene und damit - hier besonders relevant- für Organisationen als soziale Systeme denkbar.

2.2.1 Grenzen einer abbildtheoretischen Perspektive

Es entwickelten sich verschiedene wissenschaftliche Lösungsansätze (vgl. Klüver 1971; Vollmer 1975; Popper 1979). Dabei kann nach Rüegg-Stürm (2001: 21) grob vereinfachend von zwei grundlegend unterschiedlichen wissenschaftlichen Denkrichtungen ausgegangen werden: Entdecken und Erfinden.

„Entdecken impliziert die Vorstellung einer res e-tensa, d.h. von etwas, was beobachtungstunabhängig ist, und präzise, objektiv abgebildet und repräsentiert werden kann. Erfinden impliziert dagegen die Vorstellung von etwas, was erst im Prozess des Beobachtens kreativ erschaffen oder konstruiert wird, woran also die beobachtenden Personen aktiv teilhaben“ (Rüegg-Stürm 2001: 21f.; kursiv. i. Orig.).

Das Forschungsverständnis des Entdeckens kann auch als abbildtheoretisches Paradigma und das Erfinden als konstruktivistisches Paradigma bezeichnet werden.10

Die Basis für das abbildtheoretische Paradigma stellt eine ‚Ontologie des Seins’ dar. Das bedeutet, dass ein Beobachter mit der Unterscheidung Sein / Nichtsein operiert. Somit kann der Beobachter bezeichnen was er für relevant, für anschlussfähig kurz für „seiend“ hält. Daraus resultiert eine zweiwertige Logik, indem erstens der logische Wert die Erkenntnis darstellt und zweitens die Refle-ion zur Kontrolle Fehler oder Irrtümer der Beobachtung aufdeckt. In einer späteren Phase dieses ontologischen Denkens wurde die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt eingeführt. Objektiv ist danach die Erkenntnis, in der alle Beobachter übereinstimmen (vgl. Luhmann 1990: 228f.). Mit der Subjekt-Objekt-Relation ist Erkenntnis immer an einen Erkennenden gebunden, der in Distanz zum Erkannten steht. Erkenntnis setzt somit ein Objekt bzw. ein Außen, eine Distanz voraus (vgl. Stünzner 1996: 58). Die Unterschiede der Beobachter spielen keine Rolle, denn es genügt, die Realität zu beobachten, die Beobachter müssen nicht beobachtet werden. Das bedeutet, es gibt eine vom Subjekt bzw. den Erkennenden unabhängige Realität bzw. Erkenntnis (vgl. Luhmann 1990: 229).

Das traditionelle abendländische Denken, das auch als naiver Realismus bezeichnet werden kann, geht von der Möglichkeit aus, jedes subjektive Moment im Forschungsprozess zu kontrollieren oder auszuschließen (vgl. Osterloh 1993: 94). Damit geht eine Überwindung von Subjekt und Objekt einher, die auf einer Vorstellung von Machbarkeit und Kontrollierbarkeit beruht (vgl. Müller 1995). Je besser die im Erkenntnisprozess erzeugte Abbildung von Realität zur Realität passt, desto höher ist die Qualität des Wissens zur Anpassung an die Realität und damit der Überlebenschance im Darwin’schen Sinne (vgl. Rüegg-Stürm 2001: 24). Ausbildung und Lehre sollen die als (einzig) richtig erkannten Theorien darüber, was die Welt wirklich ist, an die nächste Generation vermitteln (vgl. Gergen 1994b: 36). Hinter alldem steht ein rationalistisches Weltbild11 mit der „Idee eines vollständig im Kalkül abbildbaren Universums. Wissen gilt als teilbar, positiv gegeben und weder körper- noch konte-tgebunden. Grundsätze der Weitergabe und Nutzung haben nach dieser Sichtweise keinerlei Einfluss auf das Wissen. Es ist als Fakten- und Verfügungswissen definiert, welches Auskunft über eine gegebene Realität vermittelt“ (Schneider 1996: 18).

Aus diesen Annahmen resultiert eine mögliche Unabhängigkeit von Forschungsgegenstand und Forschenden. Wahres Erkennen wird dann durch rational erkennende Subjekte ermöglicht, die eine vorgegebene Realität quasi abbilden (vgl. Rüegg-Stürm 2001: 24).

Eine solch wahre oder objektive Erkenntnis wird von vielen Autoren skeptisch betrachtet. Richards und von Glasersfeld weisen beispielsweise darauf hin, dass das heutige Wissenschafts- und Erkenntniskonzept auf empirischen Annahmen der „Unfehlbarkeit von Aussagen über Sinnesdaten oder annehmbare Äquivalente“ (Richards/v. Glasersfeld 1987: 193) basiert, dass aber „keine grundsätzliche Beziehung zwischen Empirizismus und Sicherheitsstreben bestehen“ (Richards/v. Glasersfeld 1987: 193) muss. Schon die Erkenntnistheoretiker in der idealistischen Tradition Kants hatten Einwände gegen eine objektiv erkennbare Realität. Schon nach Kant ist Erkenntnis nicht bloß das Entdecken einer vorgeformten Realität. Denn, “[e]s ist nun nichts befremdlicher, wie die Gesetze der Erscheinungen in der Natur mit dem Verstande und seiner Form a priori, d.i. seinem Vermögen, das Mannigfaltige überhaupt zu verbinden, als wie die Erscheinungen selbst mit der Form der sinnlichen Anschauung a priori übereinstimmen müssen. Denn Gesetze e-istieren eben so wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhärieren, so fern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich e-istieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, so fern es Sinne hat” (Kant 1977: 156).

Für Kant ist dementsprechend das Bilden von Objekten wie auch die Vorstellung räumlicher Anordnungen, zeitlicher Folgen oder kausaler Beziehungen nur durch Tätigkeit des Verstandes möglich (vgl. v. Glasersfeld: 1991: 18ff.). Wahrnehmung ist damit immer ein aktiver subjektiver Vorgang.

Auch durch die Naturwissenschaften wurde beispielsweise durch die Quantenphysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich, dass die Subjekt-Objekt-Differenz nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Es wurde aufgezeigt, dass mikrophysikalische Vorgänge und Zustände nicht objektivierbar sind. Elementarteilchen können quantentheoretisch nicht mehr als ‚an sich seiend’ aufgefasst werden.

„Die Vorstellung von der objektiven Realität der Elementarteilchen hat sich also in einer merkwürdigen Weise verflüchtigt, nicht in den Nebel irgendeiner neuen, unklaren oder noch unverstandenen Wirklichkeitsvorstellung, sondern in die durchsichtige Klarheit einer Mathematik, die nicht mehr das Verhalten des Elementarteilchens, sondern unsere Kenntnis dieses Verhaltens darstellt“ (Heisenberg 1957: 12).

Auch durch Relativitätstheorie, Chaosforschung und die Selbstorganisationsforschung wurde die kartesianisch-mechanische Naturauffassung nachhaltig in Frage gestellt (vgl. Davis 1993: 22ff.; Gierer 1991: 34f.; Lazlo 1994: 10ff.). Es wurde klar, dass bezogen auf komple-e Systeme bzw. nichtlineare Dynamik keine rein objektiven Maßstäbe auf logischer oder e-perimenteller Basis zur Beurteilung wissenschaftlicher Aussagen möglich sind (vgl. Kuhn 1974: 251ff.). Nach Meier sind zur Ableitung neuer Erkenntnismuster immer der gesamte Forschungskonte-t in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. Meier 1991: 252). Das erfordert die Anerkennung der eigenen Begrenztheit der Wissenschaft (vgl. Stünzner 1996: 56f.). Diese Begrenztheit wird durch das konstruktivistische Paradigma zum Thema, indem das Verhältnis der menschlichen Erkenntnis zur Welt (Realität) zum Gegenstand theoretischer Auseinandersetzung gemacht wird. Innerhalb des konstruktivistischen Paradigmas herrscht eine große Vielfalt an Theorien vor.12 Als epistemologische Grundlage für ein soeben beschriebenes relatives Wissenschaftsverständnis (Weltbild) scheint insbesondere der Radikale Konstruktivismus interessant. Er erfüllt die erkenntnis- theoretischen Konsequenzen bzw. baut sogar e-plizit auf dem hier gefolgten selbstorganisationstheoretischen Gedankengut auf (vgl. Niemeier 2000: 137). Im Folgenden wird daher auf den Radikalen Konstruktivismus näher eingegangen.

2.2.2 Radikaler Konstruktivismus

Der Radikale Konstruktivismus vertritt die Position, dass Realität nicht als Realität erkannt werden kann, sondern intern durch einen jeweiligen Beobachter erzeugt und interpretiert wird. Damit entfällt die Möglichkeit objektiver Erkenntnis (vgl. Maturana 1982: 304, 308ff.; Schmidt 1987. 31). Nach Nassehi (1992: 62) konstituieren so nur noch von jeweiligen Beobachterperspektiven systemspezifische ‚Points of view’ je für sich einmalig die Welt unabhängig von der Systemreferenz des Gesamtsystems der Gesellschaft. Die klassische zweiwertige Logik, d.h. die Ontologie des Seins, hat keinen Platz für einen solchen innerweltlichen Beobachter (vgl. Günther 1979: 288; Sammer 2000: 38). Das erkennende Subjekt wäre parado-, weil das Denken gleichzeitig dem Sein zugehörig und von ihm getrennt sein müsste. Darüber hinaus entsteht das Problem, eine Korrelation zwischen Erkenntnis und Realität herzustellen, wenn Realität prinzipiell nicht erkannt werden kann (vgl. Stünzner 1996: 60). Im Mittelpunkt des Radikalen Konstruktivismus stehen daher die Fragen, „wie Erkenntnisvorgänge zustande kommen, wie sie sich auswirken und zu welchen Ergebnissen sie führen. Es wird weniger nach den Inhalten und Gegenständen der Wahrnehmung gefragt, vielmehr wird die Art und Weise des Erkenntnisvorganges selbst fokussiert“ (vgl. Kasper 1990: 76).

Dabei stellt der Radikale Konstruktivismus streng genommen keine einheitliche Doktrin dar (vgl. Schmidt 1987: 75). Er kann als eine Kombination zwischen Neurobiologie und Systemtheorie gesehen werden (vgl. Knorr-Cetina 1989: 86). Die Basis bilden e-perimentelle Ergebnisse der Neurobiologie. Diese wurden mit Vorstellungen der Philosophen Kant und späten Wittgenstein, mit Erkenntnissen der kognitiven Psychologie (Piaget), den Modellen der Kybernetik 2. Ordnung (v. Foerster) und autopoietischer Systeme (Maturana/Varela) verschmolzen (vgl. Schmidt 1987: 12f.). Als eine Erweiterung dieser Zugangsweisen kann der philosophisch-soziologische Ansatz Luhmanns13 gesehen werden (vgl. Schmidt 1994: 15). Die e-plizite Formulierung des philosophisch- wissenschaftstheoretischen Konzeptes des Radikalen Konstruktivismus ist von v. Glasersfeld (1981: 37) vorgenommen worden, auf den auch die Bezeichnung „Radikaler Konstruktivismus“14 zurückzuführen ist (vgl. Frieß 2000: 27.).

Im Folgenden wird versucht, eine Verständnisbasis des Radikalen Konstruktivismus zu schaffen, indem dafür notwendige Merkmale dargestellt werden. Dabei werden zunächst die Hauptmerkmale der subjekt- oder kognitionsorientierten Ansätze skizziert. Anschließend werden Fragen und Probleme dieser frühen Ansätze diskutiert, um folgend die Übertragung einiger ihrer grundsätzlichen Prinzipien bzw. eine Erweiterung auf soziale Systeme durch Luhmann darzustellen.

Wie bereits beschrieben, wurde schon vor Auftreten des Radikalen Konstruktivismus das Dilemma erkannt, dass „unser Wissen wohl nicht das sein kann, wofür wir es halten“ (Schmidt 1987: 40) doch eine empirische Erklärung gelang bis dahin nicht. Die biologische Eigenart der Phänomene Kognition und Realität nachzuweisen, blieb dem Radikalen Konstruktivismus überlassen (vgl. v. Glasersfeld 1991: 18f.). Erst der Kybernetiker Heinz von Foerster15 erbrachte im Anschluss an das vom Neurophysiologen Johannes Müller formulierte Prinzip der undifferenzierten Codierung die empirische Bestätigung der Grundannahme des Radikalen Konstruktivismus, dass Realität nicht zugänglich ist, sondern ein Bild davon konstruiert wird (vgl. Schmidt 1987: 14; v. Foerster 1993: 56). Danach besteht jegliche Sinneswahrnehmung ausschließlich aus unterschiedlich starken Nervenimpulsen. Die physikalischen Eigenschaften der Ursachen für den Reiz bleiben unbekannt (vgl. v. Foerster 1987: 138f., 1993: 56). Die Sinnesorgane übersetzen die Signale aus der Umwelt in eine umweltunspezifische neuronale Einheitssprache des Gehirns. Daraus folgt, dass in den Sinnesorganen keine Wahrnehmung stattfindet. Die Sinnesorgane können eine äußere Welt nicht abbilden, sondern der Sinneseindruck eines Organismus entsteht im Gehirn (vgl. Tuppinger 2003: 21). Das Gehirn selbst funktioniert damit auf eine besondere Weise.

„Es ist kein offenes System, dass auf Umweltimpulse refle-artig reagiert. Es ist ein funktional geschlossenes System, das nur seine eigene ‚Sprache’ versteht und nur mit seinen ‚eigenen Zuständen’ umgehen kann“ (Schmidt 1987: 14).

Das heißt, dass das Gehirn neuronale Signale nur nach seinen eigenen Kriterien deutet und bewertet (vgl. Tuppinger 2003: 21). Damit ordnet das Gehirn alle Vorgänge der eigenen Struktur unter. Wahrnehmung bedeutet dann, dass das Gehirn von außen kommende Signale durch Zuweisung von Bedeutung verarbeitet. Dabei operiert das Gehirn immer auf der Grundlage früherer interner Erfahrung bzw. des Gedächtnisses. Wahrnehmung ist somit niemals objektives Erkennen.

„Es gibt keine Trennung von Wahrnehmung und Interpretation. Der Akt des Wahrnehmens ist der Akt der Interpretierung. Die Aktivität des Wahrnehmens besteht darin, Invarianzen zu konstruieren. Isolieren, Auswählen, Scharfstellen und Aufpassen sind Teile dieses Prozesses“ (Richard/v. Glasersfeld 1987: 214).

Damit wendet sich der Radikale Konstruktivismus gegen die geläufige Vorstellung, die sich auf eine vorgegebene Ordnung beruft, um die Gesetzlichkeit der Wahrnehmung und des Denkens zu erklären (vgl. v. Foerster 1985: 45). Es wird demgegenüber geltend gemacht, dass erst Wahrnehmung Ordnung hervorbringt. Die wahrnehmende Tätigkeit des erkennenden Subjekts ist eine konstitutive Aktivität, die selbst dafür verantwortlich ist, welchen Typ oder welche Art Struktur ein Organismus ‚erkennt’ (vgl. v. Glasersfeld 1987: 104). Wesentlich ist:

„Wir nehmen stets durch die ‚Brille’ unseres Gedächtnisses wahr; denn das, was wir wahrnehmen, ist durch frühere Wahrnehmungen entscheidend mitbestimmt“ (Roth 1991a: 147).

Damit hängen Wahrnehmen und Gedächtnis voneinander ab. Erkennen ist somit an die Leistung eines Gedächtnisses gebunden (vgl. Florey 1991: 170f.). Allerdings bildet das Gedächtnis schematisierte16 Gedächtnisleistungen aus, die zum großen Teil auch kulturellen Einflüssen unterliegen (vgl. Frieß 2000: 41f.).17

Ein solches System, das sich bei jedem seiner Prozesse auf andere eigene Prozesse bezieht, kann als selbstreferenziell bezeichnet werden. Diese Prozesse können über die Sinnesorgane durch Signale aus der Umwelt ausgelöst werden, doch niemals ist die Welt direkt zugänglich. Selbstreferenziell geschlossene Systeme haben keinen informationellen Input und Output, d.h. die Informationen, die sie verarbeiten, können sie nur selbst erzeugen. Nach einem solchen Verständnis kann Information nicht ausgetauscht werden (vgl. Shannon /Weaver 1976). Wenn hier von Informationen gesprochen wird, geht es lediglich um Signale, die wahrgenommen werden (vgl. v. Foerster 1993: 269ff.). „Die Welt enthält keine Information, die Welt ist, wie sie ist“ (v. Foerster/Pösken 1998: 98). Selbstreferenzielle Systeme operieren demnach zirkulär und interagieren in unendlicher rekursiver Weise (vgl. Kneer 1996: 311f.). Die Operationsweise, d.h. die Art der Relation der Bestandteile des Systems, ist invariant und intransparent, d.h. sie kann im Sinne einer analytischen Undeterminiertheit nicht nach einer endlichen Anzahl von Versuchen erschlossen werden (vgl. Tuppinger 2003: 18). Dementsprechend sind selbstreferenzielle Systeme nicht zu determinieren, nur zu irritieren. Beeinflussungen von außen sind möglich, aber die Art der Beeinflussung wird vom System selbst bestimmt (vgl. Kneer 1996: 311f.). Weil eine solche operative Geschlossenheit energetische Offenheit nicht ausschließt, sind selbstreferenzielle Systeme keine autarken Systeme. (vgl. Kneer 1996: 310; Schmidt 1987: 14ff.). Offenheit bei Geschlossenheit ist zentraler Gegenstand des Radikalen Konstruktivismus (vgl. Stünzner 1996: 47).

Dieser Widerspruch lässt sich auflösen durch die Einführung des Beobachters. Damit setzt jede Beschreibung von etwas einen Beobachter voraus, der diese aktiv tätigt und nicht unabhängig von sich selbst erkennen kann (vgl. Maturana 1982: 34, 308ff.; Schmidt1987. 19). Ein System kann als Beobachter klassifiziert werden, wenn

„[j]ede Erklärung der Kognition eine Erklärung des Beobachters und seiner Rolle enthält. Erst für den Beobachter wird etwas, das er beschreiben kann, zu einem Gegenstand, den er von anderen unterscheiden kann. Jede Beschreibung schließt also notwendig den Beobachter ein: Er ist die letztmögliche Bezugsgröße für jede Beschreibung“ (Schmidt 1987: 19).

Wirklichkeit ist dann im Gegensatz zur Realität das jeweils sehr individuelle, beobachterabhängige Resultat aus Wahrnehmung und Verhalten. „Diese Wirklichkeit wird ‚induktiv’ aufgebaut und ist schlechthin die Welt, in der wir leben oder, kurzgesagt, unsere Erfahrungswelt“ (v. Glasersfeld 1997a: 51).18 Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfahrung (vgl. v. Foerster 1985). Damit wird Wirklichkeit zu einem „Bild im Bild“ (Rötzer 1992a: 23) analog zu den von Roth thematisierten Konstruktionen in Konstruktionsbereichen (vgl. Rötzer 1992a: 23ff.). Somit sind Erkenntnis und Wissen immer beobachtungsrelativ (vgl. Frieß 2000: 54f.). Viabilität ist dabei das Maß für den Erfolg einer Anpassung, den ein Organismus unter Einsatz seines Wissens an seine Umwelt, d.h. an die Realität, vollbringt. Der Schlüssel oder die Wirklichkeitskonstruktion muss in das Schloss bzw. die Realität passen, damit er/sie funktioniert (vgl. v. Glasersfeld 1987: 200). Es kann unzählige Konstrukte geben, die viabel sind (vgl. v. Glasersfeld 1997: 330f). Anders etwa als in der klassischen Evolutionstheorie, wo schlechtere oder bessere Lösungen angenommen werden, sagt Viabilität nichts darüber aus, wie gut oder schlecht die Wirklichkeitskonstruktion ist. Da die Realität nicht erkennbar ist, kann auch nichts über eine gut oder schlecht passende Wirklichkeitskonstruktion gesagt werden, weil keine Differenz zu etwas gebildet werden kann (vgl. Thömmes 1996: 76).

„Der Begriff der Viabilität verkörpert in diesem Zusammenhang das Gegenteil der Unzulänglichkeit, schließt aber niemals das Ziel der Überlegenheit ein“ (v. Glasersfeld: 1981: 24f.).

Eng verbunden mit dem Radikalen Konstruktivismus werden die Forschungen der Biologen Humberto Maturana und Fransico Varela und deren Autopoiesis-Konzept (vgl. Maturana/Varela 1975). Der Autopoiesisbegriff wurde im Rahmen des Versuchs formuliert, eine Definition der Organisation von Lebewesen zu entwickeln. Als autopoietisch (autos=selbst, poiein=machen) werden bei Maturana lebende Systeme bezeichnet, die die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren.19 Alles was solche Systeme als Einheit verwenden: ihre Elemente, ihre Prozesse, ihre Strukturen und sich selbst, wird durch eben solche Einheiten im System erst bestimmt (vgl. Maturana 1987: 94). Kein autopoietisches System kann außerhalb seiner Grenzen operieren,20 d.h. es kann keine Produktion von Zellen außerhalb eines lebenden Organismusses geben. Vielmehr ist die operative Schließung als Begrenztheit die Voraussetzung der Autonomie bzw. Unabhängigkeit des betreffenden Systems und ermöglicht die Selbstproduktion erst aufgrund der Unterscheidung von seiner Umwelt. Mit dieser Behauptung ist der Gegensatz von geschlossenen und offenen Systemen aufgehoben, weil unter der Autonomieprämisse Schließung die Bedingung für Öffnung darstellt. Erst wenn eine Grenze zur Umwelt des Systems gezogen ist, kann es sich von der Umwelt unterscheiden und auch e-terne Materialien verarbeiten, um eigene Elemente aufzubauen. Auch wenn ein autopoietisches System e-ternes Material zur Reproduktion seiner Elemente benutzt, kann es nur e-istieren, wenn die eigene Autonomie gewahrt bleibt und keine e-terne Instanz in die Reproduktion eingreift. Der wesentliche Fortschritt des Autopoiesiskonzepts gegenüber Konzepten der Selbstorganisation ist daher, dass sich Selbstreferenz nicht nur zum Aufbau und der Modifikation von Struktur eignet, sondern auch alles was System ist, d.h. das System als Ganzes, intern und autonom generiert wird (vgl. Kneer 1996: 312ff.). Aus dieser operativen Geschlossenheit resultiert auch eine Verlagerung der Betonung von Kontrolle auf Anerkennung der Autonomie von Systemen.

Die Möglichkeit zur Interaktion mit der Umwelt (Offenheit) trotz Autonomie und Strukturdeterminiertheit lebender Systeme ist durch die sogenannte strukturelle Kopplung (vgl. auch Kapitel 2.2.4 und 3.2.1) möglich. Dabei bestimmt die gegenwärtige Struktur des Systems, welche zukünftigen Strukturen möglich und welche ausgeschlossen sind. Durch strukturelle Kopplung mit der Umwelt erfolgt eine Selektion des Systems innerhalb des Möglichkeitsspielraums eigener Veränderungen (vgl. Maturana 1982: 139ff.). Maturana beschreibt den Begriff der strukturellen Kopplung wie folgt:

„Zwei plastische Systeme werden aufgrund ihrer sequentiellen Interaktion dann strukturell gekoppelt, wenn ihre jeweiligen Strukturen sequentielle Änderungen erfahren, ohne dass die Identität des Systems zerstört wird. Die strukturelle Kopplung zweier unabhängiger strukturell plastischer Einheiten ist daher notwendige Folge ihrer Interaktionen und umso stärker, je mehr Interaktionen stattfinden“ (Maturana 1982: 150).

Ein plastisches System ist dabei eine zusammengesetzte Einheit, deren Struktur sich verändert, ohne seine Klassenidentität, d.h. ohne seine Organisationsform, im Laufe der Veränderung zu verlieren (vgl. Maturana 1987: 101) bzw. die operative Schließung erhalten bleibt und es sich trotz Veränderung immer wieder erkennt.

2.2.3 Erkenntnistheoretische Einordnung des Radikalen Konstruktivismus

Nach Frieß (2000: 43) ist die übliche erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen Idealismus und Realismus in Bezug auf den Radikalen Konstruktivismus irreführend, weil der Radikale Konstruktivismus idealistische und realistische Teile aufweist. Hilfreich für eine erkenntnistheoretische Betrachtung erscheint die Systematik von Franz von Kutschera, der zwischen ontologischem und erkenntnistheoretischem Realismus einerseits und ontologischem und erkenntnistheoretischem Idealismus andererseits unterscheidet (vgl. v. Kutschera 1982):

- Der ontologische Realismus entspricht dem alltagsweltlichen Verständnis einer Realität, „die in ihrer E-istenz wie Beschaffenheit unabhängig davon ist, ob und wie sie von uns Menschen erfahren, gedeutet oder erkannt wird“ (v. Kutschera 1982: 179). Realismus: Es gibt eine vom Subjekt/Erkennenden unabhängige Realität (vgl. Stünzner 1996: 59).
- Der erkenntnistheoretische Realismus geht davon aus, dass eine Erkenntnis von objektiven Sachverhalten möglich ist (Rationalismus). Damit wird ontologischer Realismus vorausgesetzt.
- Andererseits schließt das einen erkenntnistheoretischen Idealismus (Relativismus) nicht aus. Nur die realistische bzw. korrespondenztheoretische Auffassung, d.h. die Übereinstimmung von Wahrheit und Realität, wird vom erkenntnistheoretischen Idealismus bestritten. Die Welt kann in idealistischer Sicht nur beschreibungs- und beobachtungsabhängig erkannt werden. „Eine direkte erkenntnistheoretische Zugriffs- möglichkeit auf die Realität an sich wird damit bestritten“ (Frieß 2000: 44). Das Wahrheitskriterium einer Aussage ist dann nicht die Realität, sondern die allgemeine Akzeptanz innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft bzw. Kohärenz (auch Kohärenztheorie) mit anderen Aussagen und Aussagesystemen (vgl. Frieß 2000: 45). Die Welt kann nur innerhalb von Bezugsrahmen beschrieben werden (vgl. Goodman 1990: 15). Sie kann nicht e-tern überprüft werden.
- Der ontologische Idealismus zieht daraus die Konsequenz, dass nur innerpsychische Zustände e-istieren (vgl. Frieß 2000: 45). Diese Auffassung, dass keine vom Erkennenden unabhängige Realität e-istiert, wird auch als Solipsismus21 bezeichnet (vgl. Stünzner 1996: 59).

Mit den empirischen Ergebnissen des Radikalen Konstruktivismus, dass menschliches Erkennen keine passive Repräsentation der Realität ist, sondern das Gehirn rekursiv die eigene Wirklichkeit konstruiert, wird der erkenntnistheoretische Idealismus gestützt. Eine e-terne Validierbarkeit unseres Wissens ist nicht möglich, da ein objektives Sein bestritten wird (vgl. Stünzner 1996: 60f.; Frieß 2000: 55). Der Radikale Konstruktivismus grenzt sich gegenüber dem erkenntnistheoretischen Realismus dementsprechend dadurch ab, dass die Menschen ihre eigene Wirklichkeit nicht objektiv abbilden, sondern selbst konstruieren.

Die Abkehr von der Objektivität wurde durch die Einführung des Beobachters in die Erkenntnistheorie möglich (vgl. Frieß 2000: 55). Erkenntnis und Wissen ist damit immer abhängig vom (subjektiven) Beobachter. Beobachter bzw. Beobachtung ist die zentrale Kategorie konstruktivistischen Denkens z.B. bei Maturana, von Glasersfeld und von Foerster (vgl. Thömmes 1996: 71). Trotz Umweltbeobachtung bleibt die Realität unbekannt, da jede Beobachtungsoperation an die Operationsbedingungen des erkennenden Systems gebunden bleibt (vgl. Luhmann 1990). Erkenntnis ist dementsprechend relativ und untrennbar an eine System-Umwelt-Unterscheidung des Beobachters gekoppelt (vgl. Stünzner 1996: 61) was zu einer pluralistischen bzw. polykonte-tuellen Theorielage führt. Damit sind die Geltungsansprüche nicht mehr metaphysisch bzw. e-tern abzusichern und damit nicht mehr zu universalisieren (vgl. Frieß 2000: 55, 45). Es liegt ein „echter“ erkenntnistheoretischer Zweifel vor, weil Umweltereignisse nicht zur objektiven Welt gehören (vgl. Stünzner 1996: 64). Ein erkenntnistheoretischer Idealismus, wie z.B. bei Kant, schließt ontologischen Realismus nicht aus (vgl. Frieß 2000: 45). Auch der Radikale Konstruktivismus ist nach eigener Auskunft, z.B. durch v. Foerster, kein Solipsismus, weil auch in diesem Zusammenhang das Relativitätsprinzip Gültigkeit hat und nicht jeder Mittelpunkt der Welt sein kann. Deshalb wird auf eine gemeinsame Umwelt Bezug genommen (vgl. Segal 1988: 208ff.). Damit wird Realität nicht geleugnet, allerdings ist diese Realität nur der Bezugspunkt und bleibt ansonsten außerhalb menschlicher Erfahrung (vgl. v. Glasersfeld 1987: 102f., 1995: 42). Die Realität ist danach nicht nichte-istent, sondern nicht erfassbar (vgl. Luhmann 1990: 33, 37). Die Umwelt ist immer eine Erfindung des wahrnehmenden Beobachters (vgl. v. Foerster 1985: 40). Es wird nicht die Realität bestritten, sondern eine beobachtungsunabhängige objektive Erkenntnis dieser Realität (vgl. Schmidt 1994a: 14). Damit versucht der Radikale Konstruktivismus, eine Antwort auf bekannte Vorwürfe der Selbstwiderlegung und Zirkularität zu geben. „Er basiert schließlich auf empirischen Forschungen, die einen Realismus voraussetzen müssen und gelangt damit zu idealistischen Schlussfolgerungen“ (Frieß 2000: 55). Der Radikale Konstruktivismus ist schon wegen seiner empirischen Fundierung an einen ontologischen Realismus gebunden (vgl. Frieß 2000: 45). Dabei ist empirisches Wissen nicht an objektive Wahrheiten gebunden, sondern nur an intersubjektivierbare Erfahrungen, die nur auf den hohen Grad kognitiver Parallelitäten hindeuten (vgl. Schmidt 1987: 37f.), was aber nicht weiter ergründet wird (vgl. Frieß 2000: 55).

Wesentlich für den Radikalen Konstruktivismus ist, dass die konkreten Bedingungen des Erkennens analysiert werden und deshalb nicht im Focus steht was erkannt wird, sondern wie überhaupt Erkenntnis möglich ist (vgl. Schmidt 1994: 15). Im Ergebnis geht der Radikale Konstruktivismus davon aus, dass jegliches Wissen im Gebrauch passen muss. Es geht darum, Vorstellungen zu entwickeln, die nicht an den Widerständen und Hindernissen der erlebten Umwelt scheitern. Erkenntnis und Wissen unterliegen damit der evolutionären Bewährung und einem pragmatischen Erfolgskriterium (vgl. v. Glasersfeld 1981: 19ff.; Schmidt 1987: 41). Von Glasersfeld nennt das in Anschluss an Piaget „gangbare oder viable Handlungs- und Denkweisen“ (1995: 39). Damit wird ‚Wahrheit’ ersetzt durch ‚Adäquatheit’ mit Blick auf die Lösung lebenspraktischer Probleme (vgl. v. Glasersfeld 1981: 19ff.). So gesehen argumentiert der frühe Radikale Konstruktivismus erkenntnistheoretisch idealistisch, setzt aber eine ontologische Realität voraus. „Die Realität schränkt ein, was als Erkenntnis akzeptiert werden kann“ (Frieß 2000: 46).

In der Kontroverse um den radikalen Konstruktivismus kommt es immer wieder zu dem Vorwurf eines Psychologismus bzw. Solipsismus. Nach Frieß kann dieser nicht vollständig ausgeräumt werden. Kognitionen und Erkenntnis werden zumindest in der frühen Form gleichgesetzt und erkenntnistheoretische Schlussfolgerungen aus der Wahrnehmungs- forschung abgeleitet. Es hat den Anschein, als könnte der Radikale Konstruktivismus bei aller Anerkennung der Wichtigkeit des Sozialen (vgl. Schmidt 1987: 17), keine hinreichende Erklärung dafür bieten, wie es zu sozial geteiltem Wissen kommt (vgl. Frieß 2000: 55).

„Diese Kognitionswissenschaften entwickeln eine Art Konstruktivismus, der sein Realitätsproblem ‚pluralistisch‘ auflöst. Er schließt mit Lorenz und anderen von Lebensdienlichkeit auf Außenweltbezug. Aber damit ist das Problem der Erkenntnis nicht befriedigend gelöst [...], sondern nur pluralistisch abgelegt” (Luhmann 1990a: 8).

Da Wissen, z.B. nach von Glasersfeld (1998a: 503), „unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts“ zu verstehen ist, stellt sich die Frage:

„[w]ie ist also unter dieser kognitiven Autonomie eine sozial geteilte Wirklichkeit möglich, die ja allen Anschein nach auf kognitive Autonomie rückwirkt und diese limitiert? Wie können wir uns überhaupt verständigen und zu gesicherter Erkenntnis gelangen“ (Frieß 2000: 55)?

In diesem Sinne stellt Luhmann fest, dass Bewusstsein nicht das einzige erkennende System ist und der hauptsächlich kognitionswissenschaftlich inspirierte Konstruktivismus in erster Linie in einer subjektbezogenen Begrifflichkeit ausgearbeitet wird. Das hat dazu geführt, dass „die Unterstellung tradiert (wird), als ob Weltanschauungen, weil relativ und subjektiv, gewählt werden könnten” (Luhmann 1990a: 15). Die Konstruktion von Wirklichkeit wird als frei wählbar durch individuelle Entscheidungen eines Subjekts gesehen (vgl. Esch 2002: 61).

„Das ist jedoch nicht der Fall. Geht man vom Einzelmenschen als Subjekt aus, sind seine Vorstellungen durch die Teilnahme an gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen dermaßen sozialisiert, daß nur die Entscheidungsfreiheiten bestehen, die gesellschaftlich verständlich gemacht werden können. Im zu akzeptierenden Relativismus steckt keinerlei Beliebigkeit, sondern nur die Nachfrage nach Konditionierungen, die das ‚wie’ der Unterscheidungen bestimmen“ (Luhmann 1990a: 15; vgl. für eine psychologische Sicht auch Frankl 1979: 217).

Nach Frieß hat erst Luhmann mit der Formulierung einer allgemeinen Theorie der Beobachtung dieses Problem hinreichend erkannt (vgl. Frieß 2000: 47). Es muss etwas über den Einzelnen hinaus an Gemeinsamkeiten geben, weil sonst keine Verständigung möglich ist (vgl. Wittgenstein 1984). Nach Dievernich stellt der Luhmann’sche Operative Konstruktivismus oder wie er schreibt der Systemtheoretische Konstruktivismus eine Variante des Radikalen Konstruktivismus dar und sieht sie gleichzeitig als die ausgereifteste Form eines Sozialen Konstruktivismus22 an (vgl. Dievernich 2001: 40ff.). Auch in dieser Arbeit wird der Operative Konstruktivismus als konsequenteste soziale Erweiterung des subjektorientierten Radikalen Konstruktivismus gesehen.23 Im Folgenden wird daher näher erklärt, auf welchen weiteren erkenntnistheoretischen Grundannahmen das Luhmann’sche Ideengebäude beruht.24

2.2.4 Die Erweiterung des Radikalen Konstruktivismus zu einer allgemeinen Theorie beobachtender Systeme

Der Operative Konstruktivismus und der Radikale Konstruktivismus gleichen sich dahingehend, dass sie Erkennen als einen konstruktiven Akt beschreiben. Im Unterschied zum Radikalen Konstruktivismus, der Erkennen einem Subjekt zurechnet, resultiert Erkenntnis bei Luhmann aus einer Beobachtungsoperation (vgl. Frieß 2000: 192). Darüber hinaus ist nicht nur Wahrnehmung oder Denken Beobachtung, sondern auch Kommunikation (vgl. Thömmes 1996: 73). Gerade an diesem Punkt steht die Luhmann’sche Konzeption des Operativen Konstruktivismus in starkem Kontrast zu anderen kognitionswissenschaftlich inspirierten konstruktivistischen Ansätzen (vgl. Esch 2002: 60f.). So können auch Kommunikationen als Systemoperationen in den Blick geraten und soziale Systeme als beobachtungsfähig charakterisiert werden (vgl. Frieß 2000: 192). Deshalb kann auch von einer erkenntnistheoretischen Erweiterung durch Luhmann zu einer allgemeinen Theorie der Beobachtung gesprochen werden (vgl. Frieß 2000: 57ff.). Konsequenterweise wendet Luhmann auch den Gedanken der Autopoiesis auf soziale Systeme an. Dies geschieht durch die Annahme, dass es sich bei sozialen Systemen um autopoietische Systeme aus eigenem Recht handelt, die aus Kommunikation und nur aus Kommunikation bestehen. Mit der hier von Luhmann vorgeschlagenen Verallgemeinerung des Autopoiesis-Konzepts (vgl. Esch 2002: 61f.) grenzt er seinen Begriff von Autopoiesis gegenüber jenem der Biologie deutlich ab: Autopoiesis wird danach anders als etwa von Maturana nicht als neues Wort für E-istenz oder Leben gesehen (vgl. Roth 1987: 256ff.).

Soziale Systeme sind erkennende bzw. beobachtende Systeme, die selbstreferenziell agieren (vgl. Kasper 1990: 143) und sich dabei selbst produzieren, deren Autopoiesis sich dabei aber strikt von der Autopoiesis des Lebens und der Autopoiesis des Bewusstseins25 unterscheidet (vgl. Krüll et al. 1987: 5 u 7). Luhmann geht dementsprechend von der Grundannahme aus, dass sich das Soziale nicht auf die Kategorie des Subjekts reduzieren lässt, was eine Trennung des Sozialen und des Psychischen zur Folge hat (vgl. Kasper 1990: 143). Der Operative Konstruktivismus begreift soziale Systeme somit als emergente26 Kommunikationszusammenhänge, die nur höchst selektiv auf das Bewusstsein von Menschen zurückgreifen. Dagegen geht der Radikale Konstruktivismus von Intersubjektivität aus (vgl. Bardmann/Lamprecht 1999: Intersubjektivität: 1f.), d.h. soziale Systeme werden als Netzwerke interagierender Individuen betrachtet. Da ‚Inter- Subjektivität’ als höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar als unmöglich gedacht werden muss (Luhmann 1986), gelingt es mit dieser Erweiterung des Autopoiesis-Konzepts, die Vorstellung der Eigenständigkeit oder Emergenz einer sozialen Ordnung neu zu formulieren (vgl. Esch 2002: 61f.). Damit knüpft Luhmann auch an die bereits von Durkheim formulierte Forderung an, soziale Tatsachen aus sozialen Tatsachen heraus zu erklären (vgl. 1965: 105ff.). Dabei ist dieses Erklären dann allerdings selbst ein sozialer bzw. ein gesellschaftlicher Vorgang (vgl. Luhmann 1992: 139).

Die Übertragung des Beobachtungsbegriffs, der sich im Radikalen Konstruktivismus nur auf lebende Systeme bezieht, auf soziale und psychische Systeme erfordert eine Abstraktion des Beobachtungsbegriffs hin zu einem allgemeinen Begriff der Beobachtung. Dabei wird die gewohnte Identitätslogik, wie auch im Radikalen Konstruktivismus, auf den Kopf gestellt, denn man geht nicht von Identitätsbezeichnungen aus, sondern von Differenzen, die keine Objekte, sondern in vorherige und weitere Differenzen eingebundene Relationen sind (vgl. Clam 2002: 15). Damit ist der Differenzbegriff das Basismuster der Erkenntnismöglichkeit (vgl. Stünzner 1996: 67). Nur im Vollzug einer Differenz kann ein Phänomen als solches überhaupt entstehen. Grundlagen zum Differenzbegriff sind von Derrida im Anschluss an Saussure entwickelt worden. Derrida (vgl. 1983: 272ff., 1988: 37ff.) zeigt, dass die Bedeutung eines Zeichens sich erst im Unterschied, in Differenz zu anderen Zeichen, d.h. in einer komple-en Verweisungsstruktur ergibt. Das Zeichen als positives Einzelglied ist bedeutungslos. Erst durch die Differenz kann Bedeutung bzw. Sinn entstehen. Die Referenz ist immer die Verweisungsstruktur von Te-ten auf Te-te und nicht Realität an sich. Das Problem bei Derrida ist, dass immer schon eine Verweisungsstruktur vorhanden sein muss, damit überhaupt auf etwas verwiesen werden kann. Nach Frieß (2000: 58f., 61) ist diese Parado-ie (Autologie) bei Derrida nicht hinreichend gelöst, d.h. die Möglichkeit der Selbstreflektion, die die aufgezeigte parado-e Fundierung der eigenen Position angemessen bearbeitet, kommt in der Theorie nicht vor. Eine Möglichkeit zur Selbstrefle-ion ist durch die Beobachtungstheorie Luhmanns gegeben. Beobachtung ist danach eine spezifische Operationsweise eines Systems, die eine Unterscheidung benutzt, um die eine oder andere Seite der Unterscheidung zu bezeichnen. Es kommt immer dann zu Beobachtungen, wenn ein System aufgrund von Unterscheidungen operiert und damit Information gewinnen und verarbeiten kann (vgl. Baraldi et al. 1997: 124). Die Definition eines abstrakten Begriffs Beobachtung bezieht sich auf die als Kalkül der Form27 bezeichnete Logik von George Spencer Brown (1997) (vgl. Bardmann 1994: 129-147). Danach liegt jeder Konstruktion zunächst einmal eine Unterscheidung und eine anschließende Bezeichnung der markierten Seite der Unterscheidung zu Grunde. Die Gesamtheit der Unterscheidung besteht aus einer Innenseite (‚marked space’) und einer Außenseite (‚unmarked space’) und der Unterscheidung an sich, d.h. der Trennungslinie zwischen beiden Seiten und wird als Form bezeichnet. Durch eine Unterscheidung, die die eine Seite bezeichnet und die andere nicht, kann überhaupt erst beobachtet werden. Sichtbar ist jeweils jedoch nur die bezeichnete Seite (vgl. Spencer-Brown 1997: 3ff.). Die Unterscheidung ist somit das Markieren einer Grenze (vgl. Luhmann 1990: 231). Ein Beispiel für die Form der Unterscheidung stammt von Nassehi (1995: 49f.): Die Form einer Unterscheidung ist davon abhängig was und wie unterschieden wird.

[...]


1 Das Internet kann als das Netz der Netze verstanden werden, das aus der Gesamtheit der einzelnen Internetdienste resultiert. Unter den standardisierten Internet-Diensten sind vor allem das ,World Wide Web’ (WWW), Electronic Mail (E-Mail), ,File Transfer Protocol’ (FTP), USENET, ,Internet Relay Chat’ (IRC), Telnet und nicht zuletzt für die Nutzung der meisten anderen Dienste notwendige ,Domain Name Service’ (DNS) zu nennen (vgl. Huber 2004: Kap. 7.2).

2 In diesem Zusammenhang wird oft auch von einer globalen Informationsgesellschaft gesprochen (vgl. Spinner 2003: 141).

3 Es resultiert ein (gesellschaftlicher) Multikonte-t, der eine Orientierung, durch eine Auflösung eindeutiger Erwartungsstrukturen, erschwert (vgl. Horacek 1995: 145; Hasse/Krücken 1999: 56f.).

4 Im Folgenden wird der Begriff Komple-ität in einer qualitativen Weise gebraucht. Komple-ität hat in diesem Sinne immer etwas mit Verwobenheit, Verschlungenheit, Verflochtenheit und einem prinzipiellen Informationsmangel zu tun (vgl. Kornwachs et al. 1984). Die Konsequenz ist immer eine begrenzte Vorhersehbarkeit eines bestimmten Sachverhaltes (vgl. Jochum: 1998: Kap. 2.2), (vgl. für nähere Definitionen Kapitel 3.2.1).

5 Wie schon der Organisationsbegriff sind auch andere wichtige Begriffe, wie z.B. der Strategiebegriff, hier nicht ausschließlich in einem betriebswirtschaftlichen Sinne zu verstehen. Eine betriebswirtschaftliche Sicht ist nur eine Option unter anderen (vgl. zum Strategiebegriff auch Kapitel 5.3.1).

6 Ein interessantes Beispiel für solche „Erfolgsrezepte“ ist eine viel beachtete Arbeit von Peters und Waterman. Aus einer Untersuchung der bestgeführten US-Unternehmen leiteten sie die Geheimnisse des lang anhaltenden Erfolgs eines Unternehmens ab. Eine der Grundtugenden erfolgreicher Unternehmungen ist laut der Studie beispielsweise die Bindung an das angestammte Geschäft (vgl. Peters/Waterman 1984). Nur fünf Jahre nach der Veröffentlichung ihres Bestsellers ‚In Search of E-cellence’ waren von den vermeintlich 43 e-zellenten Unternehmen lediglich 14 an der Spitze ihrer Branche und knapp die Hälfte, wie z.B. Atari, in e-istenzbedrohenden Situationen oder in einer geschwächten Wettbewerbsposition (vgl. Pascale 1991: 18f.).

7 Für die Beschreibung komple-er Phänomene sind grundsätzlich zwei unterschiedliche Modelle zu unterscheiden. Zum einen die formalanalytischen Theorien aufgrund ihrer mathematisch-quantitativen Fundierung (Katastrophen, Fluktuation, Chaos und Bifurkationen) und zum anderen gegenstandsbezogene qualitative Theorien, d.h. Theorien aufgrund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Erforschung des Verhaltens natürlicher Systeme (vgl. Krohn/Küppers 1990; Heinl 1996: 316 ff., 330; Baecker 1999: 30f.).

Dem zweiten Modell, das unter dem Oberbegriff Selbstorganisation firmiert, wird hier gefolgt. „‘Selbstorganisation’ steht heute als umfassender Begriff für eine Reihe von Konzepten, die unter verschiedenen Namen wie Synergetik, Autopoiesis, dissipative Strukturen, selbstreferente Systeme eines gemeinsam haben: die Bemühung um die Beschreibung und das Verständnis des Verhaltens komple-er dynamischer Systeme. [...] In den sechziger und siebziger Jahren wurden in verschiedenen Disziplinen unabhängig voneinander die Grundlagen hierfür entwickelt. Man versuchte, die Entstehung von Ordnung und deren Ausdifferenzierung in immer komple-ere Strukturen ansatzweise zu beschreiben. Erst Mitte der siebziger Jahre wurde die enge Verwandtschaft der Konzepte nicht nur bezüglich der gemeinsamen Fragestellung, sondern auch im Hinblick auf wichtige Grundbegriffe und Formalismen entdeckt und es kam zu ihrer transdisziplinären Vernetzung, zu einem heute fast alles umfassenden Forschungsprogramm der ‚Selbstorganisation‘ ” (Krohn/Küppers 1990: 1; vgl. dazu auch Heinl 1996: 317; Koop 1999: 32; A.P. Schmidt: 1999: 4; Niemeier 2000: 137).

8 Das Phänomen einer Beharrungstendenz ist seit langem in der Organisationsforschung bekannt. Ein vielbeachtetes und grundlegendes Konzept (Structural Inertia bzw. Organizational Inertia) stammt von Hannan/Freemann (1977, 1984); zusammenfassend Kieser (1992: Sp. 1763).

9 Schon früh wurde deutlich: „In großen Organisationen sind so hohe Werte investiert, dass es unsinnig wird, auf Krisen mit Zusammenbruch zu reagieren. [...] Die Anpassung muss organisationsintern geleistet werden. [...] Das setzt Elastizität der Verhaltenserwartungen und Änderungsbereitschaften voraus, wie sie nur von hochabstrakten und wechselnden Bezugsgesichtspunkten aus gewonnen werden können. Die Systemsstruktur muss so angelegt und institutionalisiert werden, dass sie die Selbstvariation unter dem Gesichtspunkt einer laufenden Anpassung an die Umwelt in notwendigem Umfange zulässt. Dazu gehört vor allem, dass auch die Systemzwecke selbst als änderbar, also nicht mehr als letztrechtfertigendes Prinzip angesehen werden“ (Luhmann 1964: 152).

10 Zu den Unterschieden zwischen konstruktivistischem und abbildtheoretischem Paradigma im Einzelnen ist eine gute tabellarische Übersicht bei Rüegg-Stürm (2001: 23) zu finden.

11 Der klassische Rationalismus dient hier als Hintergrundverständnis. Dieser wird auch oft als kartesianisches Weltbild (von Descartes: latinisiert Cartesius) oder Leibniz-Welt bezeichnet und geht auf Descartes (1596- 1650), Spinoza (1632-1677), Leibniz (1646-1716) und Wolff (1679-1754) zurück (vgl. Anzenbacher 2002: 137).

Vgl. zu verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen innerhalb diese Weltbildes auch Stünzner (1996: 55f.) und Rüegg-Stürm (2001: 24f.).

12 Einen Überblick über verschiedene konstruktivistische Denkrichtungen gibt z.B. Frieß (2000: 27). Er unterscheidet zwischen:

- Kognitionspsychologischem Konstruktivismus
- Sozialkonstruktivismus (Berger/Luckmannn)
- Methodischem Konstruktivismus der Erlanger Schule
- Radikalem Konstruktivismus

Ein verbindender Grundgedanke resultiert daraus, „daß die Gewissheit einer ‚natürlich’ bzw. ‚objektiv’ gegebenen, vom handelnden und erkennenden Subjekt unabhängigen Wirklichkeit aufgegeben werden muss. Demgegenüber ist davon auszugehen, dass Wirklichkeit ‚gemacht’ bzw. ‚erfunden’ wird“ (Bardmann 1984: 45).

13 Luhmann bevorzugt den Begriff „operativer Konstruktivismus“ in Anlehnung an v. Foerster (vgl. Luhmann 1991: 73).

14 Vgl. zu den Begriffen „Konstruktion“ und „Radikal“ auch Frieß (2000: 28).

15 Heinz von Foerster gilt als Begründer der Kybernetik 2.Ordnung oder cybernetics of cybernetics, d.h. der Erforschung beobachtender Systeme. Dabei wird im Unterschied zur Kybernetik 1. Ordnung (Kapitel 3.1) davon ausgegangen, dass die eigene Beobachterrolle immer in die Beobachtung des Gegenstandes mit einbezogen ist und damit immer zirkulär zu verstehen ist. Zu den Konsequenzen im Folgenden mehr (vgl. v. Foerster 1985: 95ff.; 1993: 77ff.).

16 „Ein Schema ist aus der Sicht der Psychologie eine kognitive Struktur, die ein organisiertes, abstrahiertes und vereinfachtes Wissen über Dinge und Sachverhalte, Situationen etc. darstellt“ (Frieß 2000: 41).

17 Einen Überblick über entsprechende Untersuchungen gibt DiMaggio (1997).

18 Induktiv heißt in diesem Zusammenhang, dass die eigene Realität rekursiv nach dem Trial and Error Prinzip „errechnet“ bzw. konstruiert wird (vgl. Frieß 2000: 54f.).

19 In Bezug auf die Anwendung des Autopoiesis-Konzepts bestehen Divergenzen innerhalb des Radikalen Konstruktivismus. Für Maturana (1987) ist Leben gleich Autopoiesis und auch Kognition ist autopoietisch. Nach Roth (1987) ist Kognition (Gehirn) nur selbstreferenziell. Für Luhmann gilt Autopoiesis auch für soziale Systeme (vgl. Kapitel 2.2.4).

20 „Unter einer Operation versteht man die Reproduktion eines Elements eines autopoietischen Systems mit Hilfe der Elemente des selben Systems, also die Voraussetzung für die E-istenz des Systems selbst. Es gibt kein System ohne eine für das System spezifische Operationsweise, aber andererseits gibt es keine Operation ohne ein System, dem sie zugehört. [...] Jedes mögliche Objekt e-istiert nur, weil ein System es als Einheit konstituiert. [...] Die Operationen verlaufen immer blind“ (Baraldi et al. 1997: 123). Der Verlauf von Operationen, (die sich im Grunde unkontrolliert reproduzieren) kann von einem Beobachter beobachtet werden.

21 Solipsismus bedeutet demnach, die E-istenz anderer Subjekte erscheint für ein Bewusstsein als eigene Bewusstseinsleistung.

22 Der klassische Sozialkonstruktivismus nach Berger/Luckmann (1967) „hatte noch einen ontologischen Kern, d.h. man machte Aussagen über den Seinszustand von Phänomenen, insbesondere jene, die man als Tatsache, Realität bezeichnete. Man ging davon aus, dass die Sozialordnung von Menschen selbst - und zwar gemeinsam., als Kollektiv - geschaffen wird. Man beschäftigte sich mit der Frage, wie soziale Ordnung als kollektiv produzierender Zustand entsteht und den Menschen als objektiv erfahrbare Ordnung gegenübertritt“ (Kasper 1990: 73). Berger/Luckmann halten damit am Postulat der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Welt fest.

23 Vgl. zur Diskussion über die Frage, ob das Konzept der Autopoiesis innerhalb einer Theorie sozialer Systeme Verwendung finden kann, u.a. Bühl (1987); Hejl (1987), Maturana (1987), Haverkamp/Schmidt (1987), Fischer (1991) und Krawietz/Welker (1992).

Andere Ansätze, die ausgehend vom Selbstreferenz-Paradigma versuchen, eine Sozialtheorie auszuarbeiten, wie die von Maturana, Varela und Heijl, wirken nach der Ansicht von Kneer oder Nassehi wenig plausibel (vgl. Kneer 1996: 314f., Fn. 8; Nassehi 1993a: 149ff.). Auch von daher scheint es gerechtfertigt im Weiteren den Arbeiten Luhmanns zu folgen.

24 Im Kapitel 3.2 erfolgt eine weitere Beschäftigung mit Grundannahmen des Operativen Konstruktivismus bzw. der Theorie sozialer Systeme nach Luhmann unter organisationstheoretischen Gesichtspunkten.

25 Für Luhmann ist auch das Bewusstsein emergent und autopoietisch und vom menschlichen Organismus getrennt zu betrachten. Diese Annahme resultiert daraus, dass es der Forschung bislang nicht gelungen ist, einen direkten Zusammenhang zwischen Hirntätigkeit und Bewusstsein wissenschaftlich zu klären (vgl. Frieß 2000: 119), (vgl. Kapitel 4.1.4).

26 Der Begriff Emergenz sagt allgemein aus, dass eine sich bildende Systemordnung nicht hinreichend mit der voraussetzenden Systemebene erklärt werden kann (z.B. Soziale Systeme nicht mit Bewusstseinssystemen) (vgl. Krohn/Küppers 1992).

27 Vgl. allgemein zur konstruktivistischen Logik des Kalküls Baecker (1993, 1993a), Esposito (1993) und Krohn/Küppers (1989).

Ende der Leseprobe aus 278 Seiten

Details

Titel
Organisationales Wissen um strategischen Wandel in einer Welt elektronischer Netzwerkmedien
Untertitel
Ein Prozessmodell strategischer Anpassungsfähigkeit aus konstruktivistisch-systemtheoretischer Perspektive
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Note
cum laude
Autor
Jahr
2006
Seiten
278
Katalognummer
V93902
ISBN (eBook)
9783638064828
ISBN (Buch)
9783638951999
Dateigröße
2485 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bei dieser Dissertation handelt es sich um eine transdisziplinäre Forschungsarbeit, die Aspekte der Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie und der Informatik aufgreift und miteinander verknüpft.
Schlagworte
Organisationales, Wissen, Wandel, Welt, Netzwerkmedien
Arbeit zitieren
Andreas Bruns (Autor:in), 2006, Organisationales Wissen um strategischen Wandel in einer Welt elektronischer Netzwerkmedien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93902

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