Geschichte und Geschichten: Zu Hans Magnus Enzensbergers »Der kurze Sommer der Anarchie«


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG

2 DIE EXEKUTION DES ERZÄHLERS
2.1 Zum Begriff des Individuums
2.2 Abschied vom individuellen Autor

3 DER ROMAN UND SEIN ERZÄHLER
3.1 Roman oder nicht Roman
3.2 Auftreten und Funktion des Erzählers
3.3 Beispielanalyse anhand des zwölften Kapitels

4 FIKTION UND GESCHICHTE
4.1 Zum Geschichtsbild des Romans
4.2 Der Leser als Erzähler

5 SCHLUSSWORT

6 LITERATUR
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur

1 Einleitung

Weil es also ein anderer ist, immer ein anderer,

der da redet,

und weil der,

von dem die Rede ist, schweigt.1

Die Hegemonie des Autors ist zu brechen; nicht weit genug kann der Fanatismus der Selbstverleugnung getrieben werden. Oder der Fanatismus der Entäußerung: ich bin nicht ich, sondern die Straße, die Laternen, dies und dies Ereignis, weiter nichts.2

Nein, Hans Magnus Enzensberger hat nicht seinen „ersten Roman“ geschrieben, wie er oder sein Verlag oder beide uns jetzt weismachen wollen. Er hat aus dem Stimmengewirr der Augenzeugen und Zeitgenossen das Leben des spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti zusammengestzt […]3

Wenn man wollte, könnte man durchaus in der gleichen Form über Enzens- bergers Der kurze Sommer der Anarchie schreiben, wie Enzensberger den Roman geschrieben hat. Das liegt besonders an der Tatsache, dass sein er- ster Roman für Unsicherheit in der literarischen Fachwelt sorgte und über ei- nen langen Zeitraum Fragen offen ließ - so liegt heute Material über das Buch vor, das ähnlich kontrovers und widersprüchlich ist wie die Dokumen- te über den Protagonisten des Werkes. Die Fragen, die dabei gestellt wur- den, waren allerdings fast immer die gleichen: Warum montiert Enzeneber- ger eine Collage von Aussagen über einen spanischen Anarchisten, der scheinbar keine politische Relevanz mehr hat, und warum nennt er diese dann auch noch einen Roman?

Hier scheint ein Konflikt zwischen zwei Ansichten vorzuliegen, was ein Ro- man sein sollte und wie er auszusehen hat. Ein weiterer Grund für die Tatsa- che, dass der Roman oft als Dokumentation aufgefasst wurde, ist auch in der Entstehungsgeschichte zu finden: Enzensberger sammelte die Berichte, Inter- views, Zeugenaussagen etc. tatsächlich für eine Dokumentation, nämlich füreinen Dokumentarfilm im Auftrag des WDR4. Dennoch versteht sich das Buch ausdrücklich nicht als Dokumentation - vielmehr wird damit die Fu- nktionsweise von Dokumentationen und geschichtlichen Abhandlungen an sich in Frage gestellt, indem bewusst auf eine scheinbar objektive Sichtweise verzichtet wird und diese durch eine radikale Subjektivität ersetzt wird, die durch die vielen unterschiedlichen Stimme zu Stande kommt. So entfernt sich der Roman von einer historiographischen Darstellung und folgt keinem wissenschaftlichen, sondern einem literarischen Leitprinzip.

Worum es sich bei diesem Prinzip handelt und wie es umgesetzt wird, ist zunächst alles andere als offensichtlich und verdient eine genauere Betrach- tung - daher wird die Frage nach dem literarischen Programm, das Enzens- berger mit Der kurze Sommer der Anarchie verfolgt, auch den Kern dieser Arbeit bilden. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu stellen, wor- auf die vorliegende Vorstellung von einem Roman basiert - um dies beant- worten zu können, ist es notwendig, sich mit Auffassungen von Autor und Individuum zu beschäftigen. Von dieser Betrachtung lässt sich auch ein wei- terer Aspekt nicht abspalten - die Geschichtsauffassung, die dem Werk zu Grunde liegt und die das Wesen des Romans stark beeinflusst.

2 Die Exekution des Erzählers

2.1 Zum Begriff des Individuums

Möchte man sich der Auffassung des Individuums in Der kurze Sommer der Anarchie nähern, ist es sinnvoll, zunächst den Protagonisten des Romans und dessen Umfeld zu betrachten. Allerdings stellt sich, auch im Hinblick auf Enzensbergers biographischen Hintergrund, zunächst die Frage, warum er gerade Buenaventura Durruti als Hauptfigur gewählt hat, und nicht etwa Ché Guevara5, der einen ähnlichen Mythos verkörpert und über den Enzens- berger gerade während seiner Zeit auf Kuba sicherlich einfacher Informatio- nen hätte sammeln können als über Durruti, wofür er im faschistischen Spa- nien unter dem Vorwand recherchieren musste, er interessiere sich für die spanische Architektur6.

Der Grund hierfür liegt wohl darin, dass es sich bei der spanischen Revoluti- on um eine verlorene handelt, wodurch sich der Anarchismus im Gegensatz zum kubanischen Sozialismus nie in die Tiefen der Realpolitik begeben musste. Dadurch blieb es dem spanischen Anarchismus, ebenso wie seinem Helden, erspart, sich mit Machtdurst und alltäglichen politischen Querelen zu beschmutzen, wodurch eine gewisse Unschuld bewahrt werden konnte. Einen Hinweis auf diese These gibt Enzensberger selbst in seinem Essay Poli- tik und Verbrechen:

Das Mana des getöteten Herrschers geht auf seine Mörder über. Alle bisherigen Revolutionen haben sich am alten, vorrevolutionären Zustand infiziert und die Grundstruktur der Herrschaft geerbt, gegen welche sie angetreten sind.7

Zudem wurde Durruti dadurch nicht als Nationalheld vereinnahmt; viel- mehr bleiben er und der ihm anhängende Schweif an Legenden Teil der „Gegengeschichte“, Durruti selbst ein „proletarischer Held“ (KS 260). Auch der von Enzensberger verwendete Begriff des proletarischen Helden trägt eine Aussage über das Identitätsverständnis des Romans in sich, indem er Durruti implizit als Gegenpol des bürgerlichen Helden konstruiert. Hierbei spielt Enzensberger mit dem seit der Antike auftretenden Topos des Helden, der von Verrätern hinterrücks ermordet wird, lässt die These, Durruti sei von einem Feind in den Rücken geschossen worden, aber nur als eine von vie- len Theorien über dessen Tod stehen. Wo der bürgerliche Held durch sei- nen Tod an Eindeutigkeit gewinnt, indem die feige Ermordung durch den Feind als Bestätigung für die richtige Gesinnung des Helden dient, bricht das Bild Durrutis gerade an dieser Stelle in Stücke und löst sich im Wirrwarr der Theorien auf, die allesamt den Sinngehalt des kompletten Romanes verän- dern würden8, würde man eine von ihnen als die einzig und allein wahre ansehen.

Ein weiterer Aspekt, der Enzensbergers Protagonisten von einem bürgerli- chen Helden unterscheidet, ist die Art, wie er dargestellt wird. Hierbei fällt zunächst auf, dass er nicht durch einen mehr oder weniger klaren Satz von Charaktereigenschaften definiert wird, wie es im bürgerlichen Roman der Fall ist. Vielmehr wird Durruti fast ausschließlich ex negativo charakterisiert:

„Er war kein Redner.“ - „Er dachte nicht an sich selber.“ - „Ein Theoretiker war er nicht.“ - „Als General konnte man ihn sich nicht vorstellen.“ - „Er war nicht eitel.“ - „Er trat nicht wie ein Parteiführer auf.“ - „Von einem Feldherren hatte er nichts.“- „Die organisatorische Arbeit war nicht seine Stärke.“ - „In unserer Bewegung gab es viele Durrutis.“ - „Er war kein Funktionär, kein Intellektueller, kein Stratege.“ Wie und was er eigentlich war, das erfahren wir nicht. (KS 259)

Von Durruti wird kein einheitliches, realistisches Bild gezeichnet; vielmehr wird er durch die negative Abgrenzung als abstraktes Gegenbild zu dem konstruiert, was Enzensberger in den Politikern seiner Gegenwart sah9. So- mit wird der Protagonist seiner eigenen historischen Realität entrückt und bekommt eine überzeitliche Qualität. Zudem beweist die Art der Darstellung, dass „das Spezifische an Durruti […] als individuelle Besonderheit nicht zu fassen [ist]“ (KS 259). Dies zeigt nur, dass der Protagonist eben nicht durch Abgrenzung, sondern eben durch Gemeinsamkeiten mit den ihn umgebenden Menschen zu definieren ist - eben den Menschen, von denen er im Roman auch charakterisiert wird.

Wie bereits angedeutet ist die Fremdcharakterisierung das wichtigste Mittel, durch das der Leser Informationen über den Protagonisten bekommt, wobei sogar die seltenen Selbstaussagen Durrutis, der im kompletten Roman nur fünf Mal selbst zu Wort kommt, sehr zweideutig sind10. Der Held erscheint hier nicht als von der Außenwelt abgegrenzte Einheit, wie es im bürgerli- chen Roman häufig der Fall ist, sondern wird im Gegenteil gerade im Bezug zur Gesellschaft definiert. Enzensberger macht dies in der siebten Glosse deutlich, in der der Legenden-Charakter Durrutis herausgestellt wird. Das Bild von Durruti, das wir durch den Roman erhalten, ist vom Kollektiv er- schaffen, er selbst als psychologische Person ist dabei nicht zu fassen. Dies liegt vor allem daran, dass sich seine Organisation ständig in der Illegalität bewegte, wovon selbstverständlich keine vollständigen Aufzeichnungen vor- liegen - seine Geschichte kann also nur die Geschichte der öffentlichen Wirkung seiner Taten sein. Daher kann der Protagonist nicht isoliert, son- dern nur in Relation zu seiner sozialen und historischen Umgebung gesehen werden:

Sein Erzählfeld reicht über das Gesicht einer Person hinaus. Es bezieht die Umgebung ein, den Austausch mit konkreten Situationen ohne den diese Person unvorstellbar ist. Sie definiert sich durch ihren Kampf. [...] Sein Leben ist in seinen Handlungen aufgegangen. (KS 13f)

Im Zuge dieser Darstellung, die sich Puzzleartig über den kompletten Ro- man zieht, fallen vor allem die Teile auf, die eben nicht aufeinander passen und aus denen sich kein einheitliches Bild ergibt. Einer dieser Aspekte ist der bereits erwähnte psychologische Faktor, ein weiterer ist in der Widersprüchlichkeit der Quellenaussagen zu finden. Hierbei ist vor allem der Aussage von Ingrid Eggers11 zu widersprechen, die eine gleichförmige Dar- stellung andeutet und behauptet, es kämen nur Anhänger und Freunde Dur- rutis zu Wort. Dies ist zwar in Teilen der Fall, allerdings finden sich neben der Encyclopaedica Britannica auch weitere unvoreingenommene Quellen, ganz abgesehen von den der anarchistischen Bewegung sehr kritisch gegen- überstehenden kommunistischen Stimmen oder gar des Artikels aus dem Völkischen Beobachter, der von Zustimmung wohl kaum weiter entfernt sein könnte. Auch Enzensberger selbst spricht in der ersten Glosse von Rissen, „die sich durch das Material selber ziehen“ (KS 14) und betont dabei, dass gerade auf den hierdurch entstehenden Fugen zu beharren sei, da sie viel- leicht, ohne dass es dem Erzähler bewusst sei, die Wahrheit enthalten könnten.

Insgesamt kann man anhand der bisher gemachten Beobachtungen sagen, dass Der kurze Sommer der Anarchie das klassische Bild einer einheitlichen Identität zugunsten einer widersprüchlichen und gebrochenen Darstellung aufgibt, die man als postmodern bezeichnen könnte. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass Durruti uns seine Mitstreiter sich nicht durch eine einzige Rolle definieren lassen - in diesem Falle wäre das wohl die des asketischen Idealisten - sondern je nach Bedarf und Zweckdienlichkeit auch mal in ei- nem Club Tennis spielen oder sich luxuriöse Limousinen anschaffen (KS 66). Dies kann, wenn es im Roman auch nicht weiter ausgeführt wird, mit den Erkenntnissen der Systemtheorie in Verbindung gebracht werden, die eben- falls zeigt, dass sich der Mensch in einer postmodernen Gesellschaft nicht nur durch eine einheitliche Rolle definieren lässt.

[...]


1 Enzensberger (1989), S. 321.

2 Döblin (1963), S. 18.

3 Baumgart (1972), S. 194.

4 Lau (1999), S. 289f.

5 Die Analogie zwischen Durruti und Ché Guevara wird im Epilog des Romans von einer Anarchistin hergestellt: „In unseren Tagen hat Ché Guevara eine ganz ähnliche Rolle gespielt.“ Vgl. Enzensberger (1972), S. 290. Nachfolgende Zitate aus diesem Buch sind mit (KS Seitenzahl) angegeben.

6 [anonym], 1972, S. 192.

7 Enzensberger, 1964, S. 13.

8 Vgl. Pasolini (1984), S. 78.

9 Vgl. Weidauer (1995), S. 159.

10 Dies wird besonders im achten Kapitel deutlich, wo Durrutis Rede gleich in zwei Fassungen vorliegt, die sich nicht nur von in Sachen Umfang, sondern auch im Fokus deutlich unterscheiden (KS 192ff). Gleiches gilt auch für den Brief an die russischen Arbeiter, der ebenfalls in zwei unterschiedlichen Versionen vorliegt (KS 219ff).

11 Eggers (1981), S. 110.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Geschichte und Geschichten: Zu Hans Magnus Enzensbergers »Der kurze Sommer der Anarchie«
Hochschule
Universität des Saarlandes  (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Hans Magnus Enzensberger
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
25
Katalognummer
V93974
ISBN (eBook)
9783640139026
ISBN (Buch)
9783640644407
Dateigröße
517 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschichte, Geschichten, Hans, Magnus, Enzensbergers, Sommer, Anarchie«, Hans, Magnus, Enzensberger
Arbeit zitieren
Thomas Müller (Autor:in), 2005, Geschichte und Geschichten: Zu Hans Magnus Enzensbergers »Der kurze Sommer der Anarchie«, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93974

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