Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2 Ibn Sīnā über Gott und die Welt
3. Abhandlungen über das Übel
4 Aspekte des Übels
4.1 Ibn Sīnās Theodizee
4.1.1 Philosophische Diskussion der Theodizee
4.1.2 Islamische Diskussion der Theodizee
4.2 Handlungstheoretisches Übel
4.2.1 Philosophische Diskussion der Handlungstheorie
4.2.2 Islamische Diskussion der Handlungstheorie
5 Fazit
Endnotenverzeichnis
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Mein Gott... […] Ich bleibe ausweglos und allein zurück. Ich hatte vier Kinder und einen Ehemann. Hilflos und ohne einen Menschen an meiner Seite stehe ich da. […] Mein Schoß bleibt leer. Nachdem meine Mutter verstorben ist war meine Psyche sowieso beschädigt. […] Meine Wiege wurde am Boden zerstört. Mein Schoß bleibt leer. Meine Brust und mein Körper sind leer. Die Wiege meines Babys bleibt leer. Oh, liebe Mama...1 klagt Nebahat Furat, deren vier Kinder und Ehemann Anfang des Jahres durch ein Erdbeben in der türkisch-iranischen Grenzregion ums Leben kamen, und bricht in Tränen aus. Während sie draußen die Wäsche aufhing, stürzte ihr Haus über den drei Kindern und dem mit ihrem Säugling auf dem Schoß schlafenden Ehemann zusammen. Weitere vier Kinder leben in Istanbul. Der gläubigen Muslima fehlen jedoch die Mittel sie zu besuchen. Ihre Mutter ist kürzlich verstorben und die Familie leidet unter der Erbkrankheit Chorea-Huntington. Zahlreiche türkische Nachrichtensender strahlten das Interview aus und in kurzer Zeit ging das Video im Internet viral.2 Weshalb verbreitete sich die Geschichte so rasant und berührte so viele Menschen? Eine Erklärung dessen mag die Frage nach der Ursache für das Leid der Betroffenen sein. In erster Linie handelt es sich um eine Naturkatastrophe. Während heutzutage die Ursachen für Übel meist rein naturwissenschaftlich zu erklären versucht werden, ist das jedoch kaum der Auslöser dafür, dass so viele Menschen von der Geschichte von Nebahat Furat schockiert waren. Das Unverständnis vor allem gläubiger Menschen bezieht sich auf eine allgemeinere Ebene: Wie kann es überhaupt sein, dass es Übel auf der Welt gibt? Die Frage, wie das Übel auf der Welt mit dem Gott der monotheistischen Weltreligionen vereinbar ist, die Theodizee, ist in Anbetracht derartig grausamer Ereignisse, die immer wieder die Medienlandschaft prägen, nach wie vor aktuell und keineswegs unumstritten. Mindestens seit der Antike wird das Problem in den unterschiedlichsten Kulturräumen thematisiert und seither wurden zahlreiche Erklärungsansätze formuliert.2
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Perspektive des Abū ‘Ali al-Ḥusayn Ibn Sīnā, der 370/980 im heutigen Usbekistan geboren wurde und im Westen vorwiegend unter dem latinisierten Namen Avicenna bekannt ist.3 Im Gegensatz zu den Ansätzen von Augustinus, Thomas von Aquin oder Leibniz hat Ibn Sīnās Konzeption des Übels im europäisch-amerikanischen Diskurs bisher wenig Beachtung gefunden.a Dabei wurden eben jene Denker maßgeblich von Ibn Sīnā beeinflusst.4 Ibn Sīnā kommt in der Wissenschaftsgeschichte des3 Mittelalters und noch heute im muslimisch geprägten Kulturraum eine herausragende Stellung zu.5 Sein philosophisch relevantester Beitrag bezieht sich auf die Metaphysik, welche er als rationale Wissenschaft, die die innere Struktur der Welt erforscht, definiert.6 Zahlreiche Arbeiten des Ibn Sīnā zeichnen sich neben dem logisch-argumentativen Vorgehen durch ihre Einbettung in den arabisch-islamischen Kontext aus.7 Ibn Sīnā versteht sich an erster Stelle als Philosoph und wurde vor allem von Aristoteles stark beeinflusst.8 Sein Denken weist jedoch ebenso Züge des Neoplatonismus auf.9 Gleichzeitig behauptet er die Vereinbarkeit seiner Thesen mit dem Islam. Laut Ibn Sīnā bietet die Philosophie einen rationalen Zugriff auf den muslimischen Glauben.10 Vor diesem Hintergrund soll die Frage beantwortet werden, inwiefern seine Sicht des Übels haltbar ist. Doch haltbar in Bezug auf was? Was aus dem einen Blickwinkel sinnvoll erscheint, mag aus dem anderen keineswegs überzeugend wirken. Schließlich sollte Ibn Sīnās Theorie an jenen Maßstäben gemessen werden, die er selbst dafür beansprucht. Aus diesem Grund widmet sich die Arbeit der Untersuchung, ob das vorgestellte Konzept vom Übel in der Welt a) unter philosophisch-rationalen und b) unter muslimischen Gesichtspunkten haltbar ist – oder genauer der Kohärenz der Argumentationsstruktur sowie der Vereinbarkeit mit dem Koran und der islamischen Tradition hadīth. Betrachtet werden vor allem das Buch der Heilung Kitāb al-šifā’, das den größten Einfluss auf die christlich-europäische Philosophie hatte, sowie das Buch der Hinweise und Mahnungen Kitāb al-išārāt wa'l-tanbīhāt, welches insbesondere im östlichen Kulturraum rezipiert wurde.11 Die Analyse beschränkt sich dabei in beiden Werken jeweils auf die Kapitel über die Metaphysik Ilāhiyyāt.a 4
Um das nötige Hintergrundwissen zu gewährleisten, wird zunächst in die Metaphysik des Ibn Sīnā, das heißt seine Ontologie und seinen Gottesbegriff, eingeführt. Im darauffolgenden Kapitel werden die Erläuterungen über das Übel im Buch der Heilung (kurz al-Šifā’) sowie im Buch der Hinweise und Mahnungen (kurz al-Išārāt) deskriptiv zusammengefasst. Voraussetzung der Beantwortung der Theodizee ist schließlich die Klärung dessen, was das Übel ist. Darauf aufbauend werden zwei Aspekte des Übels und damit einhergehende Problematiken näher betrachtet, nämlich das metaphysische Übel und damit verbunden die Theodizee sowie das moralische Übel und damit verknüpft Ibn Sīnās Handlungstheorie. Weshalb stellt das Übel ein Problem dar? Die Arbeit schließt mit einer kurzen Zusammenfassung der Kernthesen und der Beantwortung der Untersuchungsfragen, inwiefern Ibn Sīnās Lösungsansatz einerseits aus philosophischer, andererseits aus muslimischer Perspektive haltbar ist.5 6 7 8 9 10 11
2. Ibn Sīnā über Gott und die Welt
Neben Axiomen wie dem Satz des ausgeschlossenen Dritten erachtet Ibn Sīnā sogenannte „erste Begriffe“ als Grundkategorien, die intuitiv zugänglich (allgemein ‘āmm und vertraut ma‘rūf) und nicht weiter definierbar sind (ohne dabei in einem infiniten Regress zu enden). Darunter fallen „existent“, „sein“ und „Ding“ sowie die modalen Begriffe „notwendig“, „möglich“ und „unmöglich“.b12 Ibn Sīnā unterscheidet in drei Modi, die den Dingen zukommen: Sie sind an sich in ihrer Existenz (1) unmöglich, (2) möglich/kontingent mumkin (al-wuğūd), (3) notwendig wāğib (al-wuğūd).13 Eine weitere zentrale Unterscheidung ist die zwischen der Essenz (auch: dem Selbst ḏāt oder Wesen, der Natur tabī’a, Quiddität oder wörtlich Was-heit māhiyya, dem konstitutiven Charakter eines Dings, der „Ding-heit“ šay’iyya) einerseits und der Existenz wuğūd dessen, also der Tatsache, dass es konkret existiert, andererseits.14 Diese Trennung geht auf die Annahme zurück, dass man „aus dem, was ein Ding ist […], nicht darauf schließen kann, dass es tatsächlich existiert“15. Existenz ist eine Eigenschaft, die der Essenz zunächst verliehen werden muss (die zur Essenz hinzukommt ‘araḍa).16 Alle Dinge, die wir um uns herum wahrnehmen, sind folglich an sich in ihrer Existenz bloß möglich. Da die Summe all dieser kontingenten Dinge selbst ebenfalls kontingent ist, ist die Tatsache, dass überhaupt etwas existiertc, begründungsnotwendig.17 Des Weiteren trennt Ibn Sīnā Existenzursachen (vertikale Ursachen) von Bewegungsursachen (horizontalen Ursachen).d18 Laut Aristoteles, der ihm den Titel „der erste Lehrer“ al-mu‘allim al-awwal zu verdanken hat, ist die Welt nicht geschaffen. Sie hängt nicht in ihrer Existenz an einer ersten Ursache, sondern geht nur in ihrer Bewegung auf eine solche zurück. Die Kausalkette wurde also nur einmalig angestoßen, was laut Ibn Sīnā zwar klärt, warum das Universum in Bewegung ist, aber nicht warum es überhaupt da ist.19 An sich mögliche Dinge können sich nicht aus sich selbst heraus verwirklichen, woraus Ibn Sīnā schließt, dass die Kausalkette nicht ad infinitum gehen kann. Damit überhaupt etwas existiert, muss es als erste Ursache al-‘illa al-āwwal ein Notwendig-Existierendes geben, welches selbst unverursacht ist. Dieses Notwendig-Existierende al-wāğib al-wuğūd setzt er mit dem Gott des Islam, Allah, gleich. Er ist als einziges Ding in seiner Existenz nicht kontingent, sondern aus sich selbst heraus, also durch sein Wesen, notwendig. Denn es handelt sich um den einzigen Fall, bei dem Existenz und Essenz zusammenfallen. Anders ausgedrückt ist seine Essenz nur kompatibel mit Existenz. Die Essenz Gottes garantiert seine Existenz, wohingegen die Essenz der kontingenten Dinge sowohl mit Existenz als auch Nichtexistenz kompatibel ist. Existenz ist nicht Bestandteil der Definition von kontingenten Dingen – im Gegensatz zum Notwendig-Existierenden. Gott ist nichts als pure Existenz. Das heißt er ist nichtb 12 13 14 15 16 etwas, sondern er ist nur.e20 Semantisch kommen ihm laut Ibn Sīnā durchaus unterschiedliche Eigenschaften ṣifāt zu, entsprechend der 99 Namen Allahs asmāʾ Allāh al-ḥusnā. Beispielsweise versucht Ibn Sīnā zu zeigen, dass sein Notwendig-Existierender wahr und allwissend ist und den islamischen Namen für Gott „der Wahre“ al-ḥaqq und „der Allwissende“ al-ʿalīm somit nicht zuwiderläuft. Ontologisch handelt es sich hingegen bei „allwissend“ und „wahr“ nicht um zwei verschiedene Eigenschaften, die Gott zukommen, sondern lediglich um eine. Alle Eigenschaften Gottes fallen zusammen. Unterschiedlich bezeichnet werden sie nur, da sie Gott aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.f21 Wichtig ist das, da der Gott der monotheistischen Religionen eins ist. Zum einen bedeutet das, dass es keine anderen Götter gibt – keine Entitäten, die in dieselbe Kategorie fallen. Gott hat keinen Gleichgestellten nidd. Es gibt nichts, das ihm ebenbürtig ist.g Zum anderen ist der Gott des Islam auch nicht zusammengesetzt. Er ist also zusätzlich eins in dem Sinne, dass er nicht aus mehreren Teilen besteht.h Die Einheit Gottes tawḥīd spielt sowohl in Ibn Sīnās Philosophie als auch im Islam eine zentrale Rolle. Allah ist „der Eine“ al-wāḥid und „der Einzige“ al-aḥad.22 Durch seine innere Notwendigkeit ist er zugleich die Abwesenheit nicht-realisierter Möglichkeiten.23 Er ist ohne jede Einschränkung mutlaqan, kein bisschen defizitär. Daher ist er nicht handelnd, denn Handlungen setzen eine Absicht voraus und diese impliziert wiederum ein Streben. Streben aber ist die Folge eines Mangels – Gott jedoch ist vollkommen.24 Folglich ist Ibn Sīnās Gott kein Akteur. Er ist nicht personal. Indem Ibn Sīnā die neoplatonische Idee der Emanation fayd aufgreift, steigert er die Vollkommenheit Gottes zusätzlich. Tatsächlich übersteigt Gott sogar die Perfektion fawqa al-tamām, denn die Welt strömt aus ihm aus, indem seine Existenz überquillt.25 Gott ist nicht Teil einer Oberkategorie der existierenden Dinge, sondern Allgemeinbegriff des Existierenden, weil alles aus ihm heraus emaniert. Er tut nichts als sich selbst Denken. „His intellectual apprehension of His essence is identical with His essence.“26 Eben dieser essenzielle Vorgang der ewigen Selbsterkenntnis Gottes ist die Quelle der Emanation des Universums. 27 Dieser Gott ist rein intellektuell und somit immateriell.28 Er ist verantwortlich für die Schöpfung, jedoch nicht in einem temporalen Sinne, denn Gott befindet sich außerhalb der Zeit. Der Notwendig-Existierende hat eine essenzielle und kausale Priorität, da alle anderenc d 18 19 20 21 22 Dinge modal in ihrer Existenz von ihm abhängig sind. Wie die Drehbewegung der Hand beim Öffnen einer Tür der Drehung des Schlüssels nicht zeitlich, sondern inhaltlich vorausgeht, geht Gott dem Universum voraus – denn wahre Ursachen koexistieren mit ihren Effekten.29 Gott ist die erste Ursache für alles – jedoch nicht die direkte, sondern über Zwischenschritte. Er ist folglich nicht die einzige Ursache, aber die einzige „vollständige“ oder „essenzielle Ursache“ ‘illa ḏātiyya, das heißt alleinige hinreichende Bedingung für die Existenz des Effekts. Gott ist der „Verursacher der Ursachen“ musabbib al-asbāb. Zunächst entstehen aus ihm in absteigender Reihenfolge zehn himmlische Intellekte, welche Ibn Sīnā aus der Beobachtung von Planeten, Sternen und dem Mond, die er mit den Intellekten identifiziert, schloss.i30 Verbindungsglied zwischen der himmlischen und der irdischen Welt ist der niedrigste Intellekt, der „Aktive Intellekt“ al-‘aql al-fa‘‘al. Als „Geber der Formen“ wāhib al-ṣuwar gibt er der Materie, wenn diese bestimmte Bedingungen erfüllt, als Reaktion darauf eine spezifische Form ein, wodurch eine neue ontologische Einheit entsteht.j31 Außerdem ist der Aktive Intellekt in den menschlichen Erkenntnisgewinn involviert und gibt nicht nur auf materieller Ebene Formen, sondern auch auf intellektueller Ebene Wissen ein.23 24 25 26 27
3. Abhandlungen über das Übel
Obwohl Ibn Sīnā auf das Übel auch in anderen Schriften wie Risālat al-Qadar und Ḥayy Ibn Yaqẓān eingeht,29 30 31 32 liegt der Fokus dieser Arbeit auf den zwei einflussreichsten Werken: dem Hauptwerk al-Šifā’ aus der mittleren Periode seines Schaffens sowie dem Spätwerk al-Išārāt.k Zum Teil werden in den beiden Werken andere Aspekte ins Zentrum gerückt und es gibt leichte Abweichungen. Darauf kann im vorliegenden Rahmen aus Platzgründen und da eine Ausdifferenzierung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten für die Beantwortung der Fragestellung nicht primär relevant ist, leider nicht eingegangen werden.e Nichtsdestotrotz sind beide Werke in ein Konzept vom Übel zusammenführbar. Sicherlich spielt Ibn Sīnā schließlich auch in al- Išārāt an einigen Stellen auf al-Šifā’ an. Daher sollen im Folgenden die Hauptaspekte seiner Position zusammengefasst werden.f 33
Ibn Sīnā bemerkt zurecht sowohl in al-Šifā’ als auch in al-Išārāt dass mit dem Wort „Übel“ unterschiedliche Phänomene bezeichnet werden. Es folgen jeweils verschiedenen Auflistungen von Übeln, denen gemein ist, dass jegliche Art von Übel in Verbindung zu einem Mangel steht.g Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass Übel nur dadurch Übel ist, dass es in der ein oder anderen Weise mit einem Defizit zusammenhängt.h Bei einem Phänomen handelt es sich um ein Übel, wenn es entweder34
- selbst ein Mangel ist (an „primary“ oder „secondary perfections“ – Ersteres sind unbedingt- notwendige Eigenschaften, damit die in der Essenz angelegte Vervollkommnung möglich ist.i Als Beispiel nennt Ibn Sīnā Blindheit in Bezug auf das menschliche Auge: Zur Essenz des Auges gehört es zu sehen.j Blindheit beeinträchtigt nicht bloß die Vervollkommnung des Auges, sondern verhindert sie auf jeden Fall und ist daher ein essenzielles Übel für das Auge.k Bezogen auf den Menschen (statt dem isoliert betrachteten Auge) ist Blindheit hingegen kein essenzielles Übel. Das liegt daran, dass die Sehfähigkeit keine primary perfection ist, weil sie für die Vervollkommnung der rationalen Seele, welche Ibn Sīnā als die Essenz des Menschen charakterisiert, nicht unabdingbar ist.l „Secondary perfections“, sind zur in der Essenz angelegten Vervollkommnung zwar hilfreiche, aber nicht zwangsläufig notwendige Eigenschaften. Als Beispiel führt Ibn Sīnā die Fähigkeiten Philosophie oder Geometrie zu betreiben an. Sie sind für den Menschen hilfreich, aber die Vervollkommnung kann ihm auch beispielsweise mittels des Studiums der Theologie gelingen.36 Ibn Sīnā gesteht ein, dass Defizite in den secondary perfections sogar unter den Menschen vorherrschen. Allerdings betreffen sie die primary perfections nicht und schränken die Vervollkommnung des Menschen daher nicht notwendigerweise ein.37 Je nachdem ist die Rede von essenziellem (bezogen auf primary perfections) oder akzidentiellem Übel (bezogen auf secondary perfections). Dieses kann entweder im Diesseits oder im Jenseits auftreten.)35 36 37 38
- einen Mangel verursacht (entweder in dem Handelnden selbst zum Beispiel im Jenseits oder in etwas anderem zum Beispiel durch moralisch verwerfliche Handlungen, die wiederum von Lasterhaftigkeit verursacht werden)39
- oder die Folge von einem Mangel und dem Bewusstwerden des Defizits und seiner Ursache ist (entweder im Diesseits oder Jenseits, zum Beispiel Leid, Schmerz und Trauer).40 41 42 43 44 45 46
Des Weiteren betrachtet Ibn Sīnā das Verhältnis von Gut al-khayr und Übel šarr in als existierend vorstellbaren Dingen. Denkbar sind:47 48
(1) absolutes Übel (also 0% Gut, 100% Übel)
(2) absolutes Gut, bei dem Übel unmöglich ist (100% Gut, 0% Übel)
(3) Dinge, in denen das Gute überwiegt (mehr als 50% - aber nicht 100% - Gut, weniger als 50% - aber nicht 0% - Übel)
(4) Dinge, in denen das Übel überwiegt (mehr als 50% - aber nicht 100% - Übel, weniger als 50% - aber nicht 0% - Gut)
(5) Dinge, in denen exakt der gleiche Anteil an Gut und Übel vorliegt (50% Gut, 50% Übel).
In al-Išārāt benennt er diese Liste als Status an sich in ihrer Existenz möglicher Dinge.40 Das ist als Titel ungünstig gewählt, da es sich vielmehr um denkbare Verhältnisse von Gut und Übel, nicht um tatsächlich auftretende Arten, handelt. Die Fälle (1) und (4), absolut schlecht und überwiegend schlecht, treten de facto nicht auf. Sie sind unmöglich, denn absolutes Übel (1) ist per Definition kontradiktorisch. Sowohl in al-Išārāt als auch in al-Šifā’ wird das (höchste) Gut mit Existenz wuğūd gleichgesetzt und dem Übel, der Nichtexistenz oder dem Fehlen, dem Mangel ‘adam, gegenübergestellt.41 Jede Privation benötigt ein Subjekt, das heißt etwas, das existiert. Es ist die Nichtexistenz von etwas (das fehlt) an etwas. Jegliches Übel in der Welt ist relativ. Es ist ein Übel in Relation zu etwas. Es kann keine reine Privation geben. Absolutes Übel – Fall (1) – ist ein Paradoxon. Es existiert per Definition nicht.m Außerdem wird das Gut neben der Existenz auch mit Natur bzw. Natürlichkeit identifiziert, da Existenz die Realisierung der Essenz ist. Übel hingegen ist unnatürlich, da es die Verwirklichung des natürlicherweise im Ding selbst Angelegten, verhindert oder erschwert.43 Dieser Vervollkommnungsgedanke ist Ausdruck des teleologischen Weltbilds Ibn Sīnās: Perfektion ist die Vervollständigung des im Wesen Angelegten.m Alles was hilfreich ist für die Perfektion ist gut.n Ibn Sīnā liefert keine explizit geäußerte Begründung dafür, dass (4) – überwiegendes Übel – nicht in der Welt vorkommt. Da ihre Essenz sowohl mit Existenz als auch mit Nichtexistenz kompatibel ist (siehe Kapitel 2), benötigen kontingente Dinge in Ibn Sīnās System eine Ursache, die entscheidet, ob sie existieren oder nicht – je nachdem welche Seite gleich einer Waage überwiegt. Daher ist es naheliegend, dass sobald mehr Übel als Gut in einem Ding vorliegt (das heißt mehr Unnatürlichkeit als Natur, mehr Nichtexistenz als Existenz), dadurch dass die Nichtexistenz die Existenz überwiegt, das Ding nicht existiert.o45 Die Grundaussage der Aufzählungen Ibn Sīnās von möglichen Verhältnissen von Gut und Übel ist, dass in jedem einzelnen Ding das Gute das Übel überwiegt. (Das Verhältnis also mindestens 50,01% Gut zu 49,9% Übel beträgt.)49 50
Als Beispiele für die einzigen zwei tatsächlich auftretenden Verhältnisse von Gut und Übelp führt Ibn Sīnā bei (2) (100% Gut) in al-Šifā die Essenzen der Dinge, in al-Išārāt die himmlischen Intellekte und bei (3) (mehr Gut als Übel) Hitze und Feuer an.47 Lediglich (3) (mehr Gut als Übel) beschreibt einen Fall, bei dem Übel in der Welt auftritt. Jegliches Übel fällt also unter die Kategorie (3). Was unterscheidet nun die Beispiele von (3) (in der Welt vorkommendes Übel) zu denen von (2) (kein Übel)? Sowohl die himmlischen Intellekte als auch die Essenzen der Dinge sind im Gegensatz zu Feuer immateriell. Laut Ibn Sīnā liegt in rein intellektuellen Dingen kein Übel vor, da Immaterielles perfekt in dem Sinne ist, dass es keinen Mangel erleidet. Ibn Sīnā erläutert in al-Šifā und al-Išārāt, dass in Dingen, die keine Potenzialität, sondern Perfektion aufweisen, kein Übel vorliegt. Übel kann nur bestehen, wenn Potenzialität und die Möglichkeit der Veränderung gegeben ist. Das bedeutet, alle Dinge, die mit den Sinnen wahrgenommen werden, alle materiellen Dinge, sind von Übel betroffen – schon aus dem Grund, dass sie entstehen und vergehen. Im Verfall sind bereits eine zeitliche Begrenzung und Veränderung angelegt. Alles, dessen Essenz die Potenzialität von Nichtexistenz aufweist (das heißt nicht vollkommen ist), ist nicht in allen Aspekten frei von Übel und Mangelhaftigkeit. Daher birgt es zwangsläufig in gewisser Weise Übel in sich.o
Übel beschränkt sich also auf materielle Dinge, das heißt auf die irdische Welt. Zudem ist es innerhalb der irdischen Welt immer zeitlich begrenzt – und von kürzerer Dauer als gute Zustände. Außerdem betrifft Übel nur Individuen. Die Spezies hingegen bleiben laut Ibn Sīnā erhalten. Individuen, die Leid erfahren, sind wiederum der Anzahl nach weniger als diejenigen, die kein Leid erfahren. Den meisten Menschen kommt sowohl im Diesseits als auch im Jenseits ausreichend Glück zu.49 Die primary perfections sind nur in den seltensten Fällen betroffen. Alles in allem lässt sich festhalten, dass Übel im Vergleich zum Gut – nicht nur in den einzelnen Dingen, wie zu Beginn des Kapitels gezeigt, sondern auch in der Welt als Ganze – selten ist. Das Verhältnis des gesamtem im Universum vorkommenden Guts zu dem gesamten Übel muss also ebenfalls mindestens 50,01% zu 49,9% betragen. Vermutlich überwiegt das Gut Ibn Sīnās Ansicht zufolge sogar in einem weitaus höheren Grad.
Abschließend lässt sich Ibn Sīnās Charakterisierung vom Übel in drei Kernaussagen zusammenfassen: Übel ist quantitativ selten – sowohl auf individueller als auch auf ganzheitlicher Ebene. Jedes Übel ist nur ein Übel in Bezug auf etwas, das heißt ein relatives Übel, niemals ein Übel an sich. Außerdem geht jedes Übel auf einen Mangel an Perfektion, ein Defizit, zurück.
4. Aspekte des Übels
Weshalb bedarf das Übel einer weiteren Erklärung? Grund dafür ist, dass sowohl allgemeine als auch individuelle Aspekte auf den ersten Blick mit dem Islam kollidieren. Das vorliegende Kapitel widmet sich zunächst der allgemeinen Betrachtung des Übels – das heißt dem metaphysischen Übel und der sich daraus ergebenden Theodizee-Problematik im ersten Unterkapitel. Danach in Kapitel 4.2 wird der Fokus auf das individuelle Übel gerichtet – das handlungstheoretische Übel oder konkret auf die Problematik, die sich aus der göttlichen Vorsehung einerseits und dem Glauben an Belohnung bzw. Bestrafung im Jenseits andererseits ergibt. In beiden Unterkapiteln wird jeweils zuerst in die allgemeine Problemstellung eingeführt, im Anschluss Ibn Sīnās Lösungsansatz erläutert und schließlich erst auf mögliche Kritikpunkte aus philosophisch-rationaler Perspektive, dann auf Kritikpunkte aus muslimischer Perspektive eingegangen.
4.1 Ibn Sīnās Theodizee
Wie das vorausgegangene Kapitel zeigte, wird die allgemeine Tatsache, dass es Übel in der Welt gibt, von Ibn Sīnā angenommen.51 Das führt zu dem Problem der Theodizee. Der Begriff „Theodizee“ geht auf Leibniz zurück und lässt sich aus den griechischen Worten theos „Gott“ und dike „Recht“ ableiten. „Theodizee“ meint demnach die „Rechtfertigung Gottes“.52 Gott muss sich rechtfertigen, weshalb er das Leid in der Welt zulässt. Weshalb lässt er das zu Beginn der Arbeit aufgegriffene Unglück zu, das Nebahat Furat ihre Familie raubt? Die Eigenschaften, welche die monotheistischen Weltreligionen – und in diesem Kontext vor allem der Islam – Gott zuschreiben, nämlich allwissend, allmächtig und allgütig zu sein, kollidieren mit der Feststellung, dass es Übel in der Welt gibt. Das logische Problem ist wie folgt aufgebaut:51 52
(P1) Gott ist allwissend, allmächtig und allgütig.
(P2) Wenn Gott allwissend ist, muss er vom Übel in der Welt Kenntnis haben.
(P3) Wenn Gott allmächtig ist, muss er in der Lage sein, das Übel auf der Welt zu verhindern.
(P4) Wenn Gott allgütig ist, muss er gewillt sein, das Übel in der Welt zu verhindern.
(P5) Wenn Gott vom Übel weiß, gewillt ist es zu verhindern und es verhindern kann, verhindert er es.
(P6) Gott verhindert das Übel in der Welt offensichtlich nicht.53
Die daraus folgende Konklusion wäre, dass Gott mindestens eine der ihm zugeschriebenen Eigenschaften nicht aufweist, was Anlass geben kann und vielen Menschen Anlass gegeben hat, sich vom Glauben an diesen Gott der monotheistischen Weltreligionen abzuwenden. Die Herausforderung, die diese Problemstellung an Ibn Sīnā stellt, ist einerseits das logische Problem als Philosoph nicht einfach zu ignorieren und andererseits gleichzeitig den Gott des Islam nicht zu verleumden, sondern ihn zu verteidigen, indem eine rationale Erklärung für die Tatsache, dass Gott Übel in der Welt zulässt, geliefert wird.
Ibn Sīnā nimmt zwar, wie einleitend festgestellt wurde, Übel in der Welt an, beschränkt diese jedoch.p Zum einen betont er, dass essenzielles Übel äußerst selten ist. Zum anderen definiert er jedes Übel als relativ – was relativierend wirkt. Darüber hinaus setzt Ibn Sīnā Übel mit Nichtexistenz gleich. Diese geht auf keine Ursache, also nicht auf Gott als erste Ursache von allem, zurück, sondern auf die Abwesenheit einer Ursache. Übel wird also als Abwesenheit Gottes beschrieben, denn Gott verursacht nur Existenz, nicht Nichtexistenz. Privation existiert nur an einer Substanz, ist jedoch nicht selbst substanziell, keine eigene ontologische Einheit. Sie ist nicht real. Wie Peter Adamson anschaulich ausdrückt, sind Übel bei Ibn Sīnā „die Löcher im Schweizer Käse des Universums“55.q Durch die negative Definition von Übel gelingt es Ibn Sīnā zu folgern, dass das Übel in der Welt nicht Gott zuzurechnen ist.r Wenn Ibn Sīnā zugestimmt und folglich akzeptiert wird, dass Gott nicht die direkte Ursache des Übels ist, drängt sich dennoch die Frage auf, weshalb er es nicht verhindert. Grund dafür sieht Ibn Sīnā in der Kopplung von Übel an Materie (siehe Kapitel 3). Dieser Ansatz findet sich bereits im Neoplatonismus. Plotin schränkt Gottes Allmacht insofern ein, dass er keine Wahl hat als das Leiden zuzulassen, da es an Materie gebunden ist. Denn Materie existiert unabhängig von Gott. Ohne Gott würde es Materie geben, welche jedoch dem Chaos verfallen wäre. Gott hingegen bringt Ordnung in dieses Chaos. Er ist die Ursache für die bestmögliche Ordnung. Die54 55 Materie hat er jedoch nicht erschaffen.57 Ibn Sīnā hingegen weicht von dieser Darstellung ab. Ihm zufolge geht alles auf Gott als erste Ursache zurück – auch die Materie. Es gibt keinen Zustand vor Gott, sondern Gott ist ewig bzw. außerhalb der Zeit. Ohne Gott gäbe es nicht ungeordnete Materie, sondern absolute Nichtexistenz. Dann stellt sich jedoch die Frage, weshalb Gott diese mit Übel behaftete Materie erschaffen hat und nicht etwa eine Welt ohne Materie. Ibn Sīnās Antwort darauf ist, dass die Dinge ohne Materie nicht mehr sie selbst wären. Man erinnere sich an das Beispiel, welches er in al-Šifā und al-Išārāt anführt: Würde nicht die Möglichkeit bestehen, dass eine Person unter Feuer leidet, indem sie sich daran verbrennt, wäre Feuer kein Feuer mit all den an anderer Stelle vorteilhaften Eigenschaften.58 Die Konsequenz aus der Forderung, eine Welt ohne Materie zu erschaffen, wäre eine Welt mit weniger Existenz. Da Existenz jedoch das höchste Gut ist, nachdem alles strebt, und jegliches Übel bloß Nichtexistenz ist (siehe Kapitel 3), ist eine Welt ohne Materie keine erstrebenswerte Alternative. Übel, das an Materie gekoppelt ist, richtet weniger Schaden an als eine Welt ohne Materie, denn das Gute überwiegt das Übel. Würde die Existenz von Materie ausgelöscht werden, um das geringere Übel als Folge der Existenz der Materie zu verhindern, wäre das alles zusammengenommen ein größerer Schaden. Es würde durch die Nichtexistenz der Materie mehr Übel entstehen als das Übel als Nebeneffekt der Existenz der Materie. Ibn Sīnā führt eine utilitaristische Kalkulation an: An Materie gebundene Mangelhaftigkeit entspricht 1 x Mangel, also 1 x Übel. Die Nichtexistenz der Materie beinhaltet die bereits bestehende (in der materiellen Welt enthaltene) Mangelhaftigkeit plus die Nichtexistenz der Materie (die Privation der restlichen irdischen Welt), was 2 x Mangel, also 2 x Übel ergibt. Da Übel die notwendige Folge von Gutem ist, ginge die Beseitigung des Übels mit der Beseitigung des Guten einher.s Um seine These zu untermauern, fordert Ibn Sīnā seine Leser*innen auf, sich vorzustellen, man hätte die Wahl zwischen leben (das heißt existieren) und sich (nicht-tödlich, aber schmerzhaft) an Feuer verbrennen (das heißt Leid erfahren) einerseits und schmerzfrei (also ohne Leiderfahrung) sterben (also nicht existieren) andererseits. Laut Ibn Sīnā entscheidet sich jeder rationale Mensch in dieser Situation für die erste Option – sich verbrennen, aber dafür leben. Dieses intuitiv nachvollziehbare Beispiel soll zeigen, dass Existenz mit Leiderfahrung einer schmerzfreien Nichtexistenz vorzuziehen ist.59 Kurz gesagt, wird alles Übel zum Zwecke des höheren Guts in Kauf genommen.s Jeder Aspekt des Universums, das heißt jedes existierende Ding sowie die vorherrschenden Verhältnisse und Relationen zwischen den Einzeldingen (alle Eigenschaften, das zeitliche Auftreten, jede Handlung), dient dem Zweck des56 Ganzen – selbst das Übel. Alles wirkt sich positiv auf die Gesamtheit des Universums aus.60 Um diesen Aspekt von Ibn Sīnās Weltsicht zu verstehen, sollte näher auf seine Ansicht über die Allwissenheit Gottes eingegangen werden: Wissen wird auf zwei Wegen definiert:57 58 59
(a) wer Wissen über X hat, hat auch Wissen über die notwendigen Folgen von X und (wie auch Aristoteles festhält)
(b) wer Wissen über X hat, hat auch Wissen über die Ursache von X.t 61
[...]
a Neben wenigen kurzen Essays, die das Thema als eines unter mehreren behandeln, gibt es auf Englisch lediglich ein Hauptwerk von Shams Inati, das sich ausführlicher und spezifisch mit Ibn Sīnās Auffassung vom Übel auseinandersetzt (vgl. Inati, The Problem of Evil).
b Beispielsweise ist das Wort „notwendig“ nicht definierbar ohne Rückgriff auf „möglich“ usw.
c Das ist als Gegenzustand zu völliger Nichtexistenz verstanden und impliziert nicht, dass eine solche absolute Nichtexistenz der Existent zeitlich vorausgegangen ist (vgl. De Cillis, Free Will and Predestination in Islamic Thought, 33; Ibn Sīnā, al-Šifā’, 272).
d Unter Letztere fallen nicht nur Ursachen für Ortsbewegungen, sondern auch für Qualitätsveränderungen.
e Eine informative Darstellung der Debatte, ob Gott eine Essenz besitzt (die aus Existenz besteht) oder lediglich Existenz, jedoch keine Essenz besitzt, findet sich in den Kapiteln 47 und 52 von Peter Adamsons „Philosophy in the Islamic World“.
f Ein Kritikpunkt dessen, der häufig von muslimischen Theologen geäußert wurde, ist, dass die im Koran vielfach ausgeführten Namen Allahs zu ein und derselben Eigenschaft reduziert werden, womit der Heiligen Schrift unrecht getan würde (vgl. Wisnovsky, Avicenna and the Avicennian Tradition, 131).
g Ibn Sīnā begründet das unter anderem damit, dass bei zwei Göttern ein Unterschied zwischen beiden bestehen müsste, damit von zweien die Rede sein kann. Gleichzeitig müsste dieser Unterschied jedoch verursacht sein, wodurch die Ursache für den Unterschied die eigentliche erste Ursache wäre.
h In demselben Schema argumentiert Ibn Sīnā, dass es ansonsten eine Ursache für die Zusammensetzung sowie für den Unterschied zwischen den einzelnen Teilen geben würde, welche Gott wiederum kausal vorausgehen würde.
i In religiösem Vokabular bezeichnet er die himmlischen Intellekte an einigen Stellen als „Engel“.
j Der Geber der Formen ist sozusagen ein „Schöpfungsautomat”.
k Zum Teil wird al-Išārāt ebenfalls in die mittlere Periode eingeordnet, häufig jedoch auch als letztes Werk Ibn Sīnās klassifiziert. Klar ist, dass al-Šifā’ ihm zeitlich vorausgegangen ist (vgl. Adamson, Philosophy in the Islamic World, 116; Gutas, Ibn Sina, 3-6; Inati, Ibn Sina’s ‘Remarks and Admonitions: Physics and Metaphysics‘. An Analysis and Annotated Translation, xxi; Wisnovsky, Avicenna and the Avicennian Tradition, 104, 127). Die Kapitel in al-Išārāt sind vergleichsweise kurzgehalten. Es handelt sich nicht um ausformulierte Argumente, sondern nur um Anstöße, gedacht als Training für Ibn Sīnās Studierende. In den mit Išārāt (Hinweis) betitelten Kapiteln gibt Ibn Sīnā seine eigenen Überzeugungen wieder, unter Tanbīhāt (Mahnungen) kritisiert er die Positionen anderer (vgl. Adamson, Philosophy in the Islamic World, 117 f., 134; Gutas, Ibn Sina, 5 f.; Ibn Sīnā, al-Išārāt; Inati, Ibn Sina’s ‘Remarks and Admonitions: Physics and Metaphysics‘. An Analysis and Annotated Translation, xxii).
l Ggf. fallen unter die primary perfections des Menschen nur Fähigkeiten der rationalen Seele, d.h. intellektuelle Fähigkeiten (vgl. Inati, The Problem of Evil, 75).
m Deswegen ist Gott absolut gut (vgl. De Cillis, Free Will and Predestination in Islamic Thought, 36).
n Diese Sicht erinnert stark an Aristoteles ergon-Argument: Jedes Mitglied einer Art hat von Natur aus eine artspezifische Funktion ergon. Wer diese Funktion/sein Potenzial gut erfüllt, ist ein gutes Ding seiner Art bzw. erfüllt die Gutheit aretē (vgl. NE VIII, 8, 1158b10-20; IX, 4, 1166a15-20).
o Wie bereits erwähnt ist der Titel der Auflistung ungünstig formuliert. Die Liste der Dinge, die in ihrer Existenz „möglich“ sind in al-Išārāt, enthält Dinge, die sich als nicht existierend herausstellen und auch nicht existieren können. Die Benennung in al-Šifā’, wenn auch vorsichtiger ausgedrückt, mag ebenfalls zu Verwirrung führen. Die Liste der Dinge, welche als existierend „vorstellbar/ denkbar“ definiert werden, enthält Dinge, die per Definition unmöglich sind, da sie widersprüchlich sind. Ein Paradoxon wie die absolute Nichtexistenz ist auch nicht „denkbar“ oder „vorstellbar“ (vgl. Inati, Ibn Sina’s ‘Remarks and Admonitions: Physics and Metaphysics‘. An Analysis and Annotated Translation, 50). Dieser Kritik kann man entgegenhalten, dass die Auflistungen in al-Išārāt und al-Šifā’ als Reductio ad absurdum funktionieren. Die Status sind Annahmen, wovon sich nach Ibn Sīnā alle außer 1b und 2c als widersprüchlich erweisen, wodurch bewiesen ist, dass nur (1)/(b) (absolut gut) und (2)/(c) (überwiegend gut) existieren.
p Für die Status (3)/(a), (4)/(d) und (e) sind keine Beispiele nennbar, da sie nicht existieren.
q Wobei Gott vermutlich die Milch ist.
r Die Charakterisierung von Übel als Mangel bzw. als Nichtexistenz geht zurück auf Plotin (vgl. Adamson, Philosophy in the Hellenistic and Roman Worlds, 225 ff.; ebd. Philosophy in the Islamic World, 227). Ibn Sīnā wendet bei der Beschreibung von Übel dieselbe Strategie an wie bei der Beschreibung von Gott. Wenige Seiten bevor er sich in al-Šifā dem Thema Übel widmet, versucht er mittels einer relativen und negativen Beschreibung der Eigenschaften Gottes ṣifāt (negative und relative Theologie), diese mit der Einheit Gottes tawḥīd zu vereinbaren (vgl. Adamson, Philosophy in the Islamic World, 129; Ibn Sīnā, al-Šifā’, 296 f.).
s Das entspricht der Auffassung Platons und Aristoteles (vgl. Inati, Ibn Sina’s ‘Remarks and Admonitions: Physics and Metaphysics‘. An Analysis and Annotated Translation, 50 f.).
t Diese Auffassung ähnelt Platons Definition von Wissen mittels der zwei Funktionen zerlegen und zusammenfassen. Wer Wissen über das Ganze hat, hat Wissen über die Einzelteile und wer Wissen über die einzelnen Bestandteile hat, hat Wissen über das Ganze.