Die Poetik der Buddenbrooks. Die Bedeutung von Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption


Bachelorarbeit, 2019

39 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Problemstellung

2. Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“
2.1 Die Welt als Vorstellung
2.2 DieWeltalsWUle
2.3 Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich
2.4. Die Vernernungdes Willens

3. Thomas Manns Schopenhauer-Einflüsse

4. Thomas Buddenbrooks Schopenhauer-Leseerlebnis
4.1 Charakterisierung des Thomas Buddenbrook
4.2 Der Einfluss der Welt als Wille und Vorstellung auf Thomas Buddenbrook

5. Konklusion

Begrifflichkeiten

Abkürzungsverzeichnis

Quellen
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1. Problemstellung

„Hier aber war es, in diesem Pavillon, in dem kleinen Schaukelstuhl aus gelbem Rohr, wo er eines Tages vier volle Stunden lang mit wachsender Ergriffenheit in einem Buch las, das halb gesucht, halb zufällig in seine Hände geraten war... Nach dem zweiten Frühstück, die Cigarette im Munde, hatte er es im Raucherzimmer, in einem tiefen Winkel des Bücherschrankes, hinter stattlichen Bänden versteckt, gefunden und sich erinnert, daß er einst vor Jahr und Tag beim Buchhändler zu einem Gelegenheitspreise achtlos erstanden hatte: ein ziemlich umfangreiches, auf dünnem und gelblichen Papier schlecht gedrucktes und schlecht geheftetes Werk, der zweite Teil nur eines metaphysischen Systems... Er hatte es mit in den Garten genommen und wandte nun, in tiefer Versunkenheit, Blatt um Blatt.. ''1

Bei diesem metaphysischen System, welches der Romanfigur Thomas Buddenbrook zu Zeiten tiefster Lebenskrise in die Hände fällt, handelt es sich um Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung. Einer zutiefst pessimistischen Metaphysik, die auf den Autor Thomas Mann, während des Verfassens seines Romans Buddenbrooks, eine unvergleichliche Anziehungskraft ausübte und von ihm in diesem verarbeitet wurde. Mit Manns Worten: „Es war ein großes Glück, und in meinen Erinnerungen habe ich gelegentlich davon erzählt, daß ich ein Erlebnis, wie dieses, nicht in mich verschließen brauchte, daß eine schöne Möglichkeit davon zu zeugen, dafür zu danken, sofort sich darbot, dichterische Unterkunft unmittelbar dafür bereit war.“2 Der Einfluss Arthur Schopenhauers auf die Poesie des Buddenbrooks-Romans äußert sich nicht nur in jener Textstelle mit expliziter Erwähnung der WWV, er äußert sich in der Sinngebung des Leidens, des Verfalls und des Todes als praktische Seite der Philosophie im gesamten Roman. Dies erweitert die literarische Rezeption des Textes um eine philosophische Komponente, die es nachzuweisen gilt.3 Eben das ist Inhalt dieser Arbeit. Anhand von Textstellen aus der Buddenbrooks weise ich den Einfluss der Schopenhauer-Rezeption Manns auf die Poesie seines populärsten Romans nach. Bei der Realisierung der Buddenbrooks bediente sich der Eklektiker Mann nicht nur der Eindrücke seiner Schopenhauer-Rezeption. Auch Der Einfluss Nietzsches und Wagners ist erkennbar und verschwimmt mit der schopenhauerschen Philosophie. In dieser Arbeit liegt der Fokusjedoch ausschließlich darauf, den Text auf den schopenhauerschen Einfluss zu untersuchen, anhand von Textstellen dazustellen und zu beweisen. Zu Beginn gewähre ich einen Überblick über die relevantesten Inhalte der WWV, um danach anhand derer den Einfluss auf die buddenbrookssche Poesie zu belegen und zu erläutern.

2. Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“

„Dann aber stieß er auf ein umfängliches Kapitel, das er vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchlas, mit festgeschlossenen Lippen und zusammengezogenen Brauen, ernst, mit einem vollkommenen, beinahe erstorbenen, von keiner Regung des Lebens beeinflussbaren Ernst in der Miene. Es trug aber dieses Kapitel den Titel: »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich«.“4

Die Nennung dieser Kapitelüberschrift in Thomas Manns Buddenbrooks lässt zweifellos die Wichtigkeit von Manns Schopenhauer-Leseerlebnis für die Poetik der Buddenbrooks erkennen, insbesondere aber für die Figur des Thomas Buddenbrook. Dieses Leseerlebnis ist die Grundlage für diese Arbeit, da es den intertextuellen Bezug zur WWV durch Mann ermöglichte. Somit ist ein Verständnis der schopenhauerschen Philosophie grundlegend für diese Arbeit und daher Gegenstand dieses Kapitels.

In seinem Werk entwirft Arthur Schopenhauer eine spezielle Metaphysik, in der er die grundsätzlichen Zusammenhänge und Strukturen von allem, was ist, erläutert.5 Die Well als Wille und Vorstellung (WWV) basiert auf der erkenntnistheoretischen Einsicht, dass alles was wir über die Welt wahrnehmen und über uns in der Welt zu wissen glauben, durch apriorische Kategorien unserer Wahrnehmung gefiltert wird. Der Begriff der apriorischen Erkenntnisbedingungen ist auf Emanuel Kant zurückzuführen und stammt aus seinem Hauptwerk die Kritik der reinen Vernunft. Diese apriorischen Erkenntnisbedingungen beinhalten insbesondere räumliche und zeitliche Ordnung der Wahrnehmung, den Kausalsatz (jede Veränderung hat eine Ursache) und den Substanzbegriff. Diese Erkenntnisbedingungen sind beijedem unabhängig von Erfahrungen vorhanden und sie sind grundlegend für das Erlangen von a-posteriori Wissen, bzw. Erkenntnissen, basierend auf Erfahrungen.6 Dieser Begrifflichkeiten bedient sich Schopenhauer in seiner Dissertation Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, welche ihm als erkenntnistheoretischer Unterbau seines Hauptwerks dient:

„Die zweite Forderung ist diese, daß man vor dem Buche die Einleitung zu demselben lese, obgleich sie nicht in dem Buche steht, sondern fünf Jahre früher erschienen ist, unter dem Titel: ,Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde: eine philosophische Abhandlung/- Ohne Bekanntschaft mit dieser Einleitung und Propädeutik ist das eigentliche Verständniß gegenwärtiger Schrift ganz und gar nicht möglich, [,..]“7 Dieser für das Verständnis der WWV essentielle Satz vom Grunde, beschreibt die allgemeingültige und notwendige Verbundenheit aller Vorstellungen untereinander, das heißt die Verbundenheit aller Objekte des Subjekts durch Kausalität. Alles was ist, muss eine Ursache haben, anhand derer erkennbar ist, warum es so ist. Jede Vorstellung, alsojedes Objekt des Subjekts, steht zu einem anderen Objekt, einer Vorstellung, in einem Verhältnis einer kausalen Abhängigkeit. Kein Objekt könnte so sein wie es ist, wenn nicht ein anderes Objekt existieren würde wie es ist. Das zuletzt genannte Objekt ist der Grund für die Folge des Seins des zuerst genannten Objekts. Das bedeutet, dass kein Objekt etwas für sich isoliertes, alleinstehendes sein kann. Das Wissen über die Allgemeingültigkeit dieser Erkenntnis ist nach Schopenhauer a-priori in uns vorhanden. Es ist uns nicht möglich ein Geschehnis, uns eine Folge vorzustellen, ohne nach dem Grund dafür zu fragen.8

2.1 Die Welt als Vorstellung

„Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen anderen unabhängiger als diese, daß Alles, was für die Erkenntnis da ist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort, Vorstellung.“9

Dieser Satz zu Beginn der WWV I beinhaltet das grundlegend relevante Moment dieses ersten Bandes. Schopenhauer erläutert, dass alles was ist, die ganze Welt, nicht einfach da ist, wie es den Anschein macht. Das Sein der Dinge wird ausschließlich durch das vorstellende Subjekt existent. Die Welt ist in ihrer ganzen Gegenständlichkeit nur für dieses erkennende Subjekt da, sie ist seine Vorstellung. Das Objekt wie es vorgestellt wird, existiert nicht außerhalb dieser Vorstellung noch einmal, denn das vorgestellte Objekt ist identisch mit der Vorstellung des Objekts. Letzten Endes gibt keine Gegenstände die unabhängig oder außerhalb der Vorstellung des Subjekts existieren. Ohne ein erkennendes Subjekt existiert kein Objekt.10 Im weiteren Verlauf der WWV grenzt Schopenhauer die Begriffe des Subjekts und des Objekts weiter voneinander ab. Die Welt als Vorstellung besteht aus den zwei untrennbaren Hälfen, dem Objekt und dem Subjekt. Das Objekt ist es, welches in Zeit und Raum liegt und daher in Vielheit erkannt wird. Dies erklärt sich mit Blick auf den Satz vom Grunde, denn er besagt, dass die Erkenntnisstrukturen Raum und Zeit und Kausalität a-priori im Bewusstsein liegen und somit die Erkenntnis des Objekts ermöglichen. Das erkennende, was von keinem erkannt wird, ist das Subjekt. Es befindet sich nicht in Zeit und Raum und existiert daher in Einheit in jedem vorstellenden Wesen. Also ist Voraussetzung für das erkannte Objekt das erkennende Subjekt. Sie bedingen sich gegenseitig und sind nur füreinander existent.11

„Das subjektive Korrelat der Materie oder der Kausalität, denn beide sind Eines, ist der Verstand, und er ist nichts außerdem. Kausalität erkennen ist seine einzige Funktion, seine alleinige Kraft, und es ist eine große, Vieles umfassende, von mannichfaltiger Anwendung, doch unverkennbarer Identität aller ihrer Äußerungen. Umgekehrt ist alle Kausalität, also alle Materie, mithin die ganze Wirklichkeit, nur für den Verstand, durch den Verstand, im Verstände.“12

Im weiteren Verlauf der WWV erläutert Schopenhauer die Funktion des Verstandes. Er ist es, der die Kausalität, welche zwischen den Objekten herrscht, erkennt. denn er vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung Materie, d.i. Wirksamkeit“13. Diese Erkenntnis von der Wirkung und ihrer Ursache wird nicht erst durch Erfahrung ermöglicht. Dieses Verständnis für kausale Zusammenhänge die in Zeit und Raum verortet sind, liegt bereits in der Anschauung, ist Voraussetzung für Erfahrung, eben a-priori vorhanden. Dies ist die einzige Funktion des vom Gehirn erbrachten Verstandes, er begreift oder beurteilt die Anschauung nicht, er nimmt ausschließlich wahr. Der Ausgangspunkt der Anschauung aller Objekte liegt in einer Veränderung des tierischen Leibes, welcher das unmittelbare Objekt des Subjekts ist. Jegliche Veränderung dessen, wird unmittelbar erkannt, sie wird empfunden. Die Anschauung aller anderen Objekte ist ursächlich auf der Empfindung des unmittelbaren Objekts des Subjekts, des tierischen Leibes zurückzuführen. Auch Tieren schreibt Schopenhauer den Verstand zur Befähigung der Anschauung zu. ,,- Der Verstand ist in allen Thieren und allen Menschen der nähmliche, hat überall die dieselbe einfache Form: Erkenntniß der Kausalität [..,]“14 Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist die Fähigkeit durch Reflexion ein Bewusstsein für das Gesetz der Kausalität zu erlangen und es zu benennen. Diese Fähigkeit ist nur dem Menschen durch die Vernunft gegeben.15

Zusammengefasst bedeutet Schopenhauers transzendentalphilosophischer Ansatz der Welt als Vorstellung, dass sämtliche Wahrnehmung der Welt, das Objekt der Vorstellung eines Subjekts ist. Es existiert keine Welt außerhalb dieser Vorstellung, jegliche Erkenntnis der Welt existiert nur für das Subjekt und nur durch das Subjekt. Das Subjekt stellt sich die Objekte anhand apriorischer Erkenntnisstrukturen des Satzes vom Grunde vor. Dieser besagt, dassjegliche Erkenntnis der Objekte in Raum und Zeit und in kausaler Abhängigkeit geschieht. Der vom Gehirn erbrachte Verstand ist es, der die Anschauung vollbringt, der den kausalen Zusammenhang der Objekte in Raum und Zeit erkennt. Als Ausgangspunkt dafür, dient ihm die Wirkung auf das unmittelbare Objekt, den tierischen Leib. Die Anschauung aller anderen Objekte ist ursächlich auf die Empfindung des unmittelbaren Objekts des Subjekts, des Leibes zurückzuführen. Der Verstand ist ebenso dem Tier gegeben und nur zur Anschauung befähigt. Die Vernunft ist es, die es allein dem Menschen ermöglicht das Angeschaute zu reflektieren und zu benennen.

2.2 Die Welt als Wille

„ - Der Wille als Ding an sich liegt [...] außerhalb des Gebietes des Satzes vom Grund in allen seinen Gestaltungen, und ist folglich schlechthin grundlos, obwohl jede seiner Erscheinungen durchaus dem Satz vom Grunde unterworfen ist: er ist ferner frei von aller Vielheit, obwohl seine Erscheinungen in Zeit und Raum unzählig sind: er selbst ist Einer: jedoch nicht wie ein Objekt Eines ist, dessen Einheit nur im Gegensatz der möglichen Vielheit erkannt wird: noch auch wie ein Begriff Eins ist, der nur aus Abstraktion der Vielheit entstanden ist: sondern er ist Eins als das, was außer Zeit und Raum, Mmpriiiapio individuationis, d.i. derMöglichkeit der Vielheit, liegt.“16

Das Ziel Schopenhauers ist es den Ursprung, das Ding an sich, den Kern der Welt als Vorstellung herauszufinden, er möchte Aufschluss über die Bedeutung der apriorischen Erkenntnisstrukturen des Satzes vom Grunde schaffen. Dies kann nur gelingen indem sich Schopenhauer auf der Suche nach der Bedeutung aus der Welt als Vorstellung zurückzieht, denn in ihr ist es nur möglich Objekte unter den dort geltenden Gesetzen des Satzes vom Grunde anzuschauen. Nun erscheint es unmöglich sich aus der Welt als Vorstellung zurückzuziehen, um Erkenntnis über das Ding an sich zu erlangen. Denn wir als Individuum finden uns selbst verwurzelt in der Welt als Vorstellung wieder und können daher nur Anschauung über diese Welt, durch Affektion des Leibes als Ausgangspunkt, erlangen. Doch gerade der Leib ist nach Schopenhauer die Quelle der Erkenntnis. „Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz unterschiedliche Weisen gegeben: einmal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und dem Gesetz dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet.“17

Der Leib trägt eine doppelte Funktion. Er ist dem principio individuationis unterworfen, das bedeutet er liegt als Individuum umgeben von Vielheit in der Welt als Vorstellung vor. Aber gleichzeitig ist der Leib nichts anderes als zur Vorstellung gewordener Wille. Der Leib in der Welt der Vorstellung und der Leib als Produkt des Willens sind dasselbe, sie sind Eins. Letzten Endes ist der Leib Produkt des Willens in der Welt der Vorstellung. Der Wille kann aufgrund dieser Erläuterung der doppelten Funktion des Leibes nicht in der Vorstellungswelt liegen, vielmehr bedingt er sie. Das bedeutet er ist nicht dem Satz vom Grunde unterworfen. Der Wille, das Ding an sich, ist von Zeit und Raum unabhängig, er ist nicht Wirkung einer Ursache, er ist nicht dem principio individuationis unterworfen, er existiert also nicht als Individuum in Vielheit. Er ist unteilbare Einheit, außerhalb der Welt der Vorstellung. Außerdem unterliegt die Welt als Vorstellung ausschließlich strengem Determinismus, der Wille ist unabhängig davon und ist daher grundlos. Dies steht im krassen Gegensatz zum menschlichen Willen, welcher auf bestimmte Zwecke gerichteter, individueller Wille ist.18 Der Weltwillen als das Ding an sich ist niemals Objekt, denn dann wäre er wiederum nur Erscheinung. Um ihn trotzdem verständlich zu machen, nimmt sich Schopenhauer als Verständigungspunkt den menschlichen Willen hinzu. Dieser ist genauso eine Erscheinung in der Welt der Vorstellung, allerdings die von uns am unmittelbarsten erkannte. Der menschliche Wille ist die für uns deutlichste Erscheinung des Willens in der Welt der Vorstellung und hat eine gewisse Analogie zum Weltwillen. Somit dient er als Grundlage, um den wahren Willen, der nicht Objekt eines erkennenden Subjekts in der Welt der Vorstellung sein kann, verstehen zu können. Das Ding an sich, der Weltwille, ist das innerste Wesen jeder Erscheinung, also auch des uns unmittelbar bekannten menschlichen Willens. Somit ist er keine abstrakte Größe, die wir durch Schlüsse erkennen können, „sondern ein durchaus unmittelbar Erkanntes und so sehr Bekanntes, daß wir, was Wille sei, viel besser wissen und verstehen, als sonst irgend etwas, was immer es auch sei.“19. Der Weltwille, das Ding an sich, ist der einzige Begriff, der seinen Ursprung nicht in der anschaulichen Vorstellung hat. Er hat gar keinen Ursprung und keine Begründung, er wird auch nicht von der Erkenntnis beleuchtet, so wie es beim menschlichen Willen in der Welt der Vorstellung der Fall ist. Er ist im Inneren und geht aus dem unmittelbaren Bewusstsein eines jeden hervor, in welchem er sich selbst, in der Welt der Vorstellung als Individuum manifestiert, erscheint. In ihm fallen das Erkennende und das Erkannte zusammen. Er ist Eins und zwar das, was außerhalb von Zeit, Raum und Kausalität liegt.20 Die Frage die sich nun stellt ist jene, ob wir den formlosen Weltwillen als Ding an sich, im Selbstbewusstsein erkennen können, oder ob es nur möglich ist den menschlichen Willen als Analogie dessen zu erkennen. Bei der Erörterung dieser Frage führt Schopenhauer in der WWV leider keine trennscharfe Unterscheidung beider Begriffe durch und macht somit eine eindeutige Antwort unmöglich. Nichtsdestotrotz ragt der Weltwille als innerstes Wesen aller Objekte auch in den unmittelbar erkannten menschlichen Willen hinein. Somit sind wir unmittelbar mit ihm verbunden, was Schopenhauer nutzt, um doch einen geheimnisvollen Weg zur Erkenntnis des Dings an sich zu ebnen: „Das Ding an sich kann, eben als solches, nur ganz unmittelbar ins Bewußtseyn kommen, nämlich dadurch, daß es selbst sich seiner bewußt wird: es objektiv erkennen wollen, heißt etwas Widersprechendes verlangen. Alles Objektive ist Vorstellung, mithin Erscheinung, ja bloßes Gehimphänomen.“21 Indem sich das Ding an sich selbst bewusst wird, versucht Schopenhauer die apriorischen Erkenntnisstrukturen des Intellekts zu umgehen, welche die Unerkennbarkeit des Dings an sich bedeuteten.22 Die Problematik liegt in der Beschreibung eines Vorgangs, der den Satz vom Grunde umgeht. Die Beschreibung selbst, ausgesprochen verortet in der Welt der Vorstellung, ist dem Satz vom Grunde aber unterworfen. Somit kann es keine adäquate Beschreibung der Selbsterkenntnis des Dings an sich geben, sie kann letztlich, wenn überhaupt, nur sein.

Die ganze Welt der Vorstellung ist Ausdruck des Weltwillensjedes Objekt des erkennenden Subjekts trägt dieselbe Doppelfunktion wie das unmittelbare Objekt des Leibes und ist somit genauso Produkt des Willens. Nach Schopenhauer hat der eine in allem innewohnende Wille ein unbegründetes Streben, welches auf Selbsterhaltung und Selbstproduktion gerichtet ist. Dieses äußert sich in der Vielfältigkeit der organischen Natur und dem Willen aller Lebewesen zum Überleben.

„Man betrachte diesen universellen Lebensdrang, man sehe die unendliche Bereitwilligkeit, Leichtigkeit und Ueppigkeit, mit welcher der Wille zum Leben, unter Millionen Formen, überall und jeden Augenblick [...] ungestüm ins Daseyn drängt [,..]“23. Dieses Streben ist zusätzlich unersättlich und hat als höchstes Ziel den Erhalt aller Gattungen. Dies beschreibt Schopenhauer in Kapitel 28. Der Charakteristik des Willens zum Leben seiner Ergänzung zum zweiten Buch: so finden wir, daß sie, von der Stufe des organischen Lebens an, nur eine Absicht hat: die der Erhaltung aller Gattungen. Auf diese arbeitet sie hin, [...] durch die dringende Heftigkeit des Geschlechtstriebes, durch dessen Bereitschaft sich allen Umständen und Gelegenheiten anzupassen [.. ,]“24

Der Geschlechtstrieb wird von Schopenhauer als Beweis für den Drang des Willens zum Erhalt aller Gattungen, in der ergänzenden Metaphysik der Geschlechterliebe herangeführt.25 Auf diese kann hier nicht näher eingegangen werden, da dies eine genauere Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Schopenhauers nach sich zöge und dies den Rahmen dieser Arbeit überstiege.

Als essenziell für ein Verständnis der Welt als Wille erachte ich die Selbstentzweiung des Willens. „Die deutliche Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Thierwelt, welche die Pflanzenwelt zur Nahrung hat, und in welcher selbst wiederjedes Thier die Beute und Nahrung eines anderen wird, [...] indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständige Aufhebung eines fremden erhalten kann;[...]“. Dieser ständige Kampf aller Erscheinungen als Repräsentation der Entzweiung des Willens hat zum Zweck, dass aus dem Streit niederer Erscheinungen des Willens und ihrer gegenseitigen Verschlingung höhere Wesen hervorgehen. Bis hin zum Menschen. Dieser führt den Kampf der Selbstentzweiung, im unbewussten Streben eine höhere Erscheinung des Weltwillens zu werden, gegen die Individuen der eigenen Spezies weiter. Als Beispiel dafür zieht Schopenhauer die Sklaverei Nordamerikas heran. Das Wesen der ganzen Welt als Repräsentation des Willens, des einen Dings, ist ein blinder nicht zu befriedigender Drang, der ohne Ziel und Zweck zum Leben strebt. Durch dieses Streben bringt der Wille nichts hervor außer Schmerz und Leid alles Lebendigen. „Im Grunde entspringt dies daraus, daß der Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden.“26 Gefangen durch die apriorischen Erkenntnisstrukturen des Satzes vom Grunde, in der Welt als Vorstellung, können wir diesem Leiden, Produkt des selbstverzehrenden Willens, nicht entgehen.27

2.3 Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich.

Dieses Kapitel, welches explizit Erwähnung in Thomas Manns Buddenbrooks findet, beginnt Schopenhauer mit der Ergründung der Todesfurcht des Menschen.28 Er stellt fest, dass die Todesfurcht in jedem Lebewesen a priori vorhanden ist, da jedes Lebewesen die Kehrseite des erkenntnislosen, blinden zum Leben treibenden Willens ist. Die Todesfurcht kann nicht durch die Erkenntnis entstehen, das weist Schopenhauer bereits am Tier nach. Dieses ist nicht zur Erkenntnis seines unumgänglichen Ablebens fähig, wie es der Mensch durch die Vernunft kann, und trotzdem lebt es in größter Angst vor dem Tod. Weil die Todesfurcht unabhängig von der Erkenntnis in der Welt als Vorstellung bereits a priori im Lebewesen, im Abbild des zum Leben treibenden Willens in der Welt der Vorstellung, vorhanden ist. Schopenhauer zeigt außerdem auf, dass aus dem Blickwinkel der Erkenntnis der Tod nicht zu fürchten ist. Das Nichtsein für ein Übel zu halten ist absurd, da ein Übel das Dasein und/oder ein Bewusstsein voraussetzt. Wenn man tot ist, dann sind diese Beiden gleichermaßen nicht gegeben und somit kann kein Übel empfunden werden. Zusätzlich bedient er sich Epikur um seine Erklärung zu stützen: „Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtete Epikur den Tod und sagt daher ganz richtig [...] (der Tod geht uns nichts an); mit der Erläuterung daß wann wir sind, der Tod nicht ist, und wann der Tod ist, wir nicht sind (Laert., X, 27).“29 Der Tod sei außerdem nur eine Sache des Augenblicks und tritt nach Schopenhauer ohne Schmerz ein. Der zum Leben treibende Wille fürchtet den Tod, wird aber von ihm nicht betroffen, sondern das bloße Subjekt der Erkenntnis, der Intellekt. Der Intellekt hat seiner Natur nach, keine Furcht, ihm ist Sein und Nichtsein gleichgültig. Er besteht in seiner Beziehung zur Welt als Vorstellung, deren Dasein im Grunde Eins mit dem seinigen ist. Nicht das individuelle Bewusstsein überlebt den Tod, sondern das was sich gegen ihn sträubt: der erkenntnislose, blinde, zum Leben treibende Wille. Darin unterscheidet sich Schopenhauer von allen bisherigen Philosophen, die als das ewige im Menschen den Intellekt ansahen. „Alle Philosophen haben darin geirrt, daß sie das Metaphysische, das Unzerstörbare, das Ewige im Menschen in den Intellekt setzten: es liegt ausschließlich im Willen, der von jenem gänzlich verschieden und allein ursprünglich ist. Der Intellekt ist [...] durch das Gehirn bedingt, daher mit diesem anfangend und endend. Der Wille allein ist das Bedingende, der Kern der ganzen Erscheinung, von der Form dieser, zu welcher die Zeit gehört, somit frei, also unzerstörbar. Mit dem Tode geht demnach zwar das Bewusstsein verloren, aber nicht das was das Bewusstsein hervorbrachte und erhielt: das Leben erlischt, nicht aber das Prinzip des Lebens, welches in ihm sich manifestierte. Daher sagt jedem ein sicheres Gefühl, daß in ihm etwas schlechthin Unvergängliches und Unzerstörbares sei.“30

[...]


1 Mann, Tomas (2002): Buddenbrooks. Verfall einerFamilie. S.721

2 Mann, Thomas (1938): Schopenhauer. S.53

3 Vgl. Mattem, Nicole; Neuhaus, Stefan (Hrsg.) (2018): Buddenbrooks. Handbuch. S.190 f.

4 Mann, Tomas (2002): Buddenbrooks. Verfall einerFamilie. S.722

5 Vgl. Meixner, Uwe (2017): Metaphysik. S.172

6 Vgl. Irrlitz Gerd (2015): KantHandbuch. Leben und Werk. S.155

7 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.10

8 Vgl. Spierling, Volker(2002): ArlhurSchopenhauer. ZurEinführung. S.26-27

9 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.26

10 Vgl. Spierling, Volker(2003): SchopenhauerABC. S.231

11 Vgl. Schopenhauer, Arthur (2009): Die Weltals Wille und Vorstellung. S.27

12 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.32

13 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.33

14 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.40

15 Vgl. Ruffing, Magrit (2014): Die transzendentalphilosophische Grundlegung (WI, §§1-7). S.24-25.

16 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.116

17 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.106

18 Vgl. Hasse, Heinrich: Darstellung des Willens. S.287-289

19 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.115

20 Vgl. Schopenhauer, Arthur (2009): Die Weltals Wille und Vorstellung. S.114-116

21 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.624

22 Vgl. Hasse, Heinrich: Darstellung des Willens. S.287-293

23 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.751

24 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.752

25 Vgl. Bimbacher, Dieter (2014): Metaphysikdes Willens (WI, §§23-29). S.73-77

26 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.150

27 Vgl. Spierling, Volker (V99W)'. Arthur Schopenhauer. Eine Einführung in Leben und Werk. S.130-135

28 MüllerFred(1988): Oldenburginterpretationen; ThomasMannBuddenbrooks. S. 54

29 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.841

30 Schopenhauer, Arthur (2009): Die Welt als Wille und Vorstellung. S.865

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Die Poetik der Buddenbrooks. Die Bedeutung von Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption
Hochschule
Pädagogische Hochschule Karlsruhe  (Institut für Sprache und Literatur, Institut für Philosophie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
39
Katalognummer
V941448
ISBN (eBook)
9783346271426
ISBN (Buch)
9783346271433
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schopenhauer, Thomas Mann, Buddenbrooks, Die Welt als Wille und Vorstellung, Ueber den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich
Arbeit zitieren
Malte Kraft (Autor:in), 2019, Die Poetik der Buddenbrooks. Die Bedeutung von Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/941448

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