In letzter Zeit werden neue Medien zu Lernzwecken (E-Learning) in der Ärztefortbildung verstärkt eingesetzt und jüngst eingeführte gesetzliche Regelungen schufen günstige Rahmenbedingungen für das Aufkommen von didaktisch und lernpsychologisch eher simplen E-Learning-Lösungen in Form von Web-Based-Trainings (WBT), welche in der Ärztefortbildung derzeit durch den Begriff Online-CME (Continuing Medical Education) geprägt sind. Gesundheitspolitisch wurde auf den Qualifizierungsbedarf mit einer Fortbildungspflicht für Ärzte reagiert. Auf der anderen Seite findet Ärztefortbildung seit jeher freiwillig statt und ist als moralische Pflicht bereits in der Medizinethik und der Zulassung zur Ausübung des Arztberufes verankert. Die vorliegende Dissertation versucht hieraus entstehende Forschungsfragen zu beantworten: E-Learning-Situation in der Ärztefortbildung: Wie wirken sich aktuelle gesundheitspolitische Entwicklungen auf das Thema "E-Learning" in der Ärztefortbildung aus? Wie sehen derzeitige E-Learning-Angebote in der Ärztefortbildung aus? Welche weiteren E-Learning-Szenarien entwickeln sich momentan in der Ärztefortbildung? Wie gestalten sich berufsspezifische Rahmenbedingungen der ärztlichen Berufsausübung im Setting "Arztpraxis"? Motivation beim E-Learning in der Ärztefortbildung: Welcher Zusammenhang zwischen Fortbildungsmotivation und Lernverhalten zeigt sich bei den Ärzten? Wie wirken sich gesundheitspolitische Regelungen für Ärztefortbildung auf die Motivation der Ärzte aus? Einschätzung von E-Learning in der Ärztefortbildung: Wie betrachtet die Zielgruppe der Ärzte das Thema "E-Learning" in der Ärztefortbildung? Wie schätzen Fachexperten das Thema "E-Learning" in der Ärztefortbildung, seine Gesamtsituation und Entwicklungen ein? Im Rahmen dieser Dissertation wurden zwei Befragungen mit Kooperationspartnern (DocCheck Medical Services GmbH, Sandoz Pharmaceuticals GmbH) in Form einer Online-Befragung (150 teilnehmende Ärzte) und einer Paper-Pencil-Befragung (90 teilnehmende Ärzte) durchgeführt. Leitfadengestützte Experteninterviews (5 Interviews) mit Fachexperten für Ärztefortbildung bilden eine zusätzliche Datenbasis.
INHALTSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
TABELLENVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
KAPITEL 0: EINLEITUNG
0. Einführung
0.1 Die ärztliche Realität hat zwei Gesichter: ein narrativer Einstieg
0.2 Zielsetzung der Arbeit
0.3 Forschungsfragen
0.4 Aufbau und Struktur der Arbeit
KAPITEL 1: E-LEARNING IN DER ÄRZTEFORTBILDUNG – EINE BESTANDSAUFNAHME
1.1. Rahmenbedingungen für E-Learning in der Ärztefortbildung
1.1.1 Wissenszuwachs
1.1.2 Bevölkerungswandel
1.1.3 Veränderte Patientenanforderungen
1.1.4 Digitalisierung
1.1.5 Auswirkungen auf die Qualifizierung von Ärzten
1.2 Die aktuelle E-Learning-Situation in der Ärztefortbildung
1.2.1 Medieneinsatz und E-Learning-Angebote in der Ärztefortbildung
1.2.2 Vermehrtes Auftreten von Online-CME
1.2.3 Beispiele für Online-CME
1.2.4 Bewertung der aktuellen Situation
1.3 Zusammenfassung
KAPITEL 2: LERNEN UND MOTIVATION IN DER ÄRZTEFORTBILDUNG
2.1 Wie Ärzte lernen
2.1.1 Die Komplexität des ärztlichen Lerngegenstandes
2.1.2 Exkurs in den Konstruktivismus
2.1.3 Wissen und Lernen aus konstruktivistischer Sicht
2.1.4 Formelle und informelle Lernprozesse im Vergleich
2.2 Warum Ärzte lernen
2.2.1 Fortbildungspflicht und Fortbildungsbereitschaft in der Ärztefortbildung
2.2.2 Motivationspsychologische Betrachtung der Ärztefortbildung
2.2.3 Motivationsmodell für Ärztefortbildung
2.3 Zusammenfassung
KAPITEL 3: E-LEARNING IN DER ÄRTZEFORTBILDUNG – EINE MÖGLICHE SITUATION
3.1 Geeignete Ansätze und Modelle für E-Learning in der Ärztefortbildung
3.1.1 E-Learning-Szenarien aus dem Hochschulbereich
3.1.2 Online-Communities als informelle E-Learning-Szenarien
3.1.3 Bewertung der möglichen Situation
3.2 Implementation von E-Learning in der Ärztefortbildung
3.2.1 E-Learning als Bildungsinnovation in der Ärztefortbildung
3.2.2 Der Arzt als Kleinstunternehmer – Implementationsbedingungen für E-Learning in der Arztpraxis
3.3 Zusammenfassung
KAPITEL 4: BEFRAGUNGEN ZUM THEMA ÄRTZEFORTBILDUNG
4.1 Fragebogen zum Thema Ärztefortbildung
4.1.1 Ziel und Zielgruppe der Befragungen
4.1.2 Inhaltsblöcke des Fragebogens
4.1.3 Fragebogen
4.2 Onlinebefragung zum Thema Ärztefortbildung
4.2.1 Kooperationspartner und Durchführung der Befragung
4.2.2 Online-Fragebogen
4.3. Offlinebefragung zum Thema Ärztefortbildung
4.3.1 Kooperationspartner und Durchführung der Befragung
4.3.2 Offline-Fragebogen
4.4. Ergebnisse der Befragungen
4.4.1 Zielgruppenverteilung, Praxisart und Internetzugang
4.4.2 Fortbildungsverhalten
4.4.3 Motivation im Beruf
4.4.4 Mediennutzung
4.4.5 Idealvorstellung von Fortbildungsangeboten
4.5 Interpretation der Ergebnisse der Befragungen
4.5.1 Vergleich der beiden Befragungen
4.5.2 Ärztliches Fortbildungsverhalten
4.5.3 Ärztliche Mediennutzung zu Fortbildungszwecken
4.5.4 Idealvorstellung von ärztlichen Fortbildungsangeboten
4.6 Zusammenfassung
KAPITEL 5: EXPERTENINTERVIEWS ZUM THEMA ÄRTZEFORTBILDUNG
5.1 Interviewleitfaden zum Thema Ärztefortbildung
5.1.1 Ziel und Zielgruppe der Interviews
5.1.2 Zusammensetzung der befragten Experten
5.1.3 Inhaltsblöcke des Interviewleitfadens
5.1.4 Interviewleitfaden
5.2 Ergebnisse der Interviews
5.2.1 Auswirkungen von eHealth auf E-Learning in der Ärztefortbildung
5.2.2 Ärztliche Fortbildungspflicht
5.2.3 Einschätzung von Online-CME
5.2.4 Rahmenbedingungen von Fortbildungsangeboten
5.2.5 Idealvorstellung eines Fortbilungsangebots: Inhalt, Didaktik, Medieneinsatz
5.2.6 Zukunftsprognose für Ärztefortbildung
5.3 Interpretation der Ergebnisse der Interviews
5.3.1 Lernen und Motivation in der Ärztefortbildung
5.3.2 E-Learning in der Ärztefortbildung
5.4 Zusammenfassung
KAPITEL 6: HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN FÜR E-LEARNING IN DER ÄRZTEFORTBILDUNG
6.1 Zusammenfassung der Ergebnisse des theoretischen und empirischen Teils
6.2 Folgerungen für die Planung und Konzeption für E-Learning in der Ärztefortbildung
6.3 Fazit und Ausblick
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG AUF CD-ROM
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Übersicht über Struktur, Aufbau und Kapitel der Arbeit
Abbildung 2: Vergleich einer CME-Printvariante mit einem Online-CME
Abbildung 3: Lernparadigmen im Vergleich
Abbildung 4: Gemäßigter Konstruktivismus und Problemorientiertes Lernen
Abbildung 5: Motivationsmodell für Ärztefortbildung
Abbildung 6: Lern-CD-ROM und Online-Umgebung e-beta-Care
Abbildung 7: Beispielseite „Musculus supraspinatus“ im Flexicon
Abbildung 8: e-Newsletter der Onlinebefragung
Abbildung 9: Frage 9 – Dimensionen von Interesse der Onlinebefragung
Abbildung 10: Ärzteverteilung der Befragungen nach Geschlecht
Abbildung 11: Ärzteverteilung der Befragungen nach Altersklasse
Abbildung 12: Ärzteverteilung der Befragungen nach Bundesland
Abbildung 13: Ärzteverteilung der Befragungen nach Facharztgruppe
Abbildung 14: Ärzteverteilung der Befragungen nach Einzelpraxis
Abbildung 15: Ärzteverteilung der Befragungen nach Internetzugang in Praxis
Abbildung 16: Ärzteverteilung der Befragungen nach Art des Internetzugangs
Abbildung 17: Ärzteverteilung – Einschätzung bzgl. zukünftige Fortbildung
Abbildung 18: Ärzteverteilung – Einschätzung bzgl. zukünftige Fortb. nach Altersklasse
Abbildung 19: Ärzteverteilung – Einstellung zur gesetzlichen Fortbildungspflicht
Abbildung 20: Ärzteverteilung – Einstellung zur Fortbildungspflicht nach Altersklasse
Abbildung 21: Ärzteverteilung – Einstellung zur freiwilligen Fortbildung
Abbildung 22: Ärzteverteilung – Einstellung zur freiwilligen Fortb. nach Altersklasse
Abbildung 23: Ärzteverteilung – Fortbildungsmotivation nach Geschlecht
Abbildung 24: Ärzteverteilung – Grund der Berufswahl
Abbildung 25: Ärzteverteilung – Dimensionen von Interesse
Abbildung 26: Ärzteverteilung – Flow
Abbildung 27: Antwortverteilung – Mediennutzung
Abbildung 28: Ärzteverteilung – Online-CME-Nutzung
Abbildung 29: Ärzteverteilung – Online-CME-Nutzung nach Geschlecht
Abbildung 30: Ärzteverteilung – Online-CME-Nutzung nach Art des Internetzugangs
Abbildung 31: Ärzteverteilung – Ort der CME-Nutzung
Abbildung 32: Antwortverteilung – Nutzung Internetangebote für berufliche Zwecke
Abbildung 33: Ideales ärztliches Fortbildungsangebot
Abbildung 34: Vorgehensweise in der Dissertation
TABELLENVERZEICHNIS
Tabelle 1: Formelles und informelles Lernen im Vergleich
Tabelle 2: Überblick über E-Learning-Szenarien im Hochschulbereich
Tabelle 3: Rahmenbedingungen zur Implementation von E-Learning in der Arztpraxis
Tabelle 4: Überblick über die Inhaltsblöcke der Onlinebefragung
Tabelle 5: Fragebogen zum Thema Ärztefortbildung
Tabelle 6: Ärzteverteilung der Befragungen nach Alter und Geschlecht
Tabelle 7: Ärzteverteilung der Befragungen nach Bundesland
Tabelle 8: Ärzteverteilung der Befragungen nach Facharztgruppe
Tabelle 9: Ärzteverteilung der Befragungen nach Einzelpraxis
Tabelle 10: Ärzteverteilung der Befragungen nach Internetzugang in Praxis
Tabelle 11: Ärzteverteilung der Befragungen nach Art des Internetzugangs
Tabelle 12: Ärzteverteilung – Einschätzung bzgl. zukünftiger Fortbildung
Tabelle 13: Ärzteverteilung – Einstellung zur gesetzlichen Fortbildungspflicht
Tabelle 14: Ärzteverteilung – Einstellung zur freiwilligen Fortbildung
Tabelle 15: Ärzteverteilung – Fortbildungsmotivation
Tabelle 16: Ärzteverteilung – Grund der Berufswahl
Tabelle 17: Ärzteverteilung – Dimensionen von Interesse
Tabelle 18: Ärzteverteilung – Flow
Tabelle 19: Antwortverteilung – Mediennutzung
Tabelle 20: Ärzteverteilung – Online-CME-Nutzung
Tabelle 21: Ärzteverteilung – Ort der Online-CME-Nutzung
Tabelle 22: Antwortverteilung – Nutzung Internetangebote für berufliche Zwecke
Tabelle 23: Anzahl der Antworten zur Idealvorstellung von Fortbildungsangeboten
Tabelle 24: Übersicht der Teilnehmer der Experteninterviews
Tabelle 25: Inhaltlicher Überblick über den Interviewleitfaden
Tabelle 26: Zusammenfassung der Handlungsempfehlungen
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
KAPITEL 0: EINLEITUNG
Vorbemerkung:
Meine persönliche Motivation, eine Dissertation mit dem Thema „E-Learning in der Ärztefortbildung“ zu schreiben, lässt sich in vielerlei Hinsicht erklären. Bereits beachtlich früh fand meine erste Berührung mit den Themengebieten von Ärztestudien und Pharmamarktforschung statt. Mein erster Nebenjob während der Schulzeit begann mit der telefonischen Anwerbung von Ärzten[1] für Präparatstudien und ging während meines Studiums in eine freiberufliche Analysetätigkeit quantitativer und qualitativer Präparatstudien über.
Parallel dazu befasste ich mich während meines Studiums der Medienpädagogik stark theoretisch als auch praktisch mit den Themen „Internet“ und „Lernen“. In der Praxis resultierten hieraus mehrere Werkstudententätigkeiten, freiberufliche Internetprojekte und ein eigenes Webservice-Gewerbe zur Produktion von Webseiten. Nach absolviertem Studium erfolgte eine freiberufliche Projektarbeit für die Produktion eines E-Learning-Fortbildungsmoduls für Ärzte und Apotheker für Case Management in der Arztpraxis bzw. Apotheke. Meine Aufgaben in diesem Kooperationsprojekt der beta-Institut gGmbH und der Professur für Medienpädagogik (Universität Augsburg) bestanden aus der multimedialen Aufbereitung von Medieninhalten und der Konzeption einer Onlineumgebung für das E-Learning-Modul.
Diese praktischen Erfahrungen weckten bei mir weiteres Interesse, mich auch theoretisch noch intensiver mit den Zielgruppen im Gesundheitswesen zu befassen, um diese nach ihrem Bedarf an E-Learning und medienunterstützten Fortbildungsangeboten zu fragen. Aus Gründen der Realisierbarkeit beschränkt sich vorliegendes Dissertationsprojekt auf die Zielgruppe der niedergelassenen Ärzte (Krankenhausärzte werden im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt) und analysiert das Konstrukt der Ärztefortbildung in Deutschland rund um die Themen „Lernen“, „Motivation“ und „Medieneinsatz“, weshalb der Titel dieser Dissertation wie folgt lautet:
E-Learning in der Ärztefortbildung. Lernen, Motivation und Medieneinsatz.
Nach etwa einem Jahr sowie einem ersten verfassten Arbeitsbericht konnte ich für dieses Dissertationsprojekt mit der Sandoz Pharma GmbH und der DocCheck AG zwei namhafte Kooperationspartner im Bereich der Ärztefortbildung gewinnen.
0 Einführung
0.1 Die ärztliche Realität hat zwei Gesichter: ein narrativer Einstieg
Seit einer Urlaubsreise in den Süden vor etwa fünf Jahren habe ich in regelmäßigen Abständen Gehörgangentzündungen, welche die Behandlung in einer Hals-Nasen-Ohrenarzt-Praxis (HNO-Praxis) erfordern. Im vergangenen Monat war es wieder einmal so weit, da mein Gehörgang – wie schon so häufig − entzündet war:
Ich begebe mich an einem Dienstagvormittag unangemeldet in die HNO-Praxis meines Vertrauens, in der ich seit meinem ersten Ohrenleiden vor etwa fünf Jahren Patient bin. Der Ablauf vollzieht sich in der Regel nach folgendem Schema: Die Sprechstundenhilfe fragt mich relativ unfreundlich nach meinem Leiden und meiner Versicherungskarte. Nachdem ich ihr gesagt habe, dass ich keine Versicherungskarte besitze, da ich Privatpatient sei, sagt sie, dass sie mich bei Dr. Paul[2] „dazwischen schieben“ kann und ich im Wartezimmer Platz nehmen solle. Nach etwa fünfundvierzig Minuten Wartezeit komme ich, da Privatpatient, noch vor einem anderen Patienten dran, der eigentlich vor mir „dazwischen geschoben“ werden sollte. Ich nehme auf dem Behandlungsstuhl von Dr. Paul Platz und warte weitere zehn Minuten. Inzwischen war der etwa fünfundfünfzigjährige Dr. Paul bereits dreimal im Behandlungszimmer. Er hat mir zugenickt, telefoniert, zwei Rezepte unterschrieben und einige Male den Raum wieder verlassen. Jetzt kommt er auf mich zu, gibt mir die Hand, während er meine Krankengeschichte auf der ihm vorab von der Sprechstundenhilfe gebrachten Patientenkarte liest. „Hallo, Herr Gerstenberger, was macht die Uni?“, sagt mein Arzt – denn er kennt mich und kann sich stets an mich und meine Krankengeschichte erinnern, da ich ihn irgendwie an seinen Sohn erinnere, der im selben Alter ist … Er erzählt mir, dass es an meiner empfindlichen Haut und dem Stress liegt, dass mein Gehörgang so oft anschwillt – wie bei jedem Termin. Ich denke mir, ist halt mal wieder Wasser rein gekommen und er soll mir ein Antibiotikum verschreiben. Bevor ich das benötigte Antibiotikum verschrieben bekomme, muss ich noch eine unangenehme Prozedur über mich ergehen lassen. Jetzt kommt erst noch die Schlange, denke ich mir. Mein Arzt setzt mir ein langes, verdrehtes und eingefettetes Etwas aus Verbandsmaterial ins Ohr und drückt es mit einer Art silbernem Schraubenzieher so weit in mein Ohr, dass ich mich jedes Mal wundere, wie überhaupt so viel Platz in meinem Ohrloch sein kann. Die „Schlange“ entferne ich wie gewohnt sofort zu Hause und nicht − wie Dr. Paul bereits vor fünf Jahren gesagt hatte − „erst am nächsten Tag“ …
Einige Wochen später betrete ich eine mir von einer Bekannten empfohlene Hautarztpraxis, da sich ein eingewachsenes Barthaar entzündet hat und eine Behandlung erforderlich anmutet. Ich erscheine in der Praxis zum vorab telefonisch vereinbarten Termin, und sogleich erscheint mir die Situation ungewohnt. Direkt über dem Empfang hängt ein buntes Poster, auf welchem Folgendes zu lesen ist: „Unsere Ärzte bilden sich ständig fort, um Ihnen stets eine Behandlung auf neustem medizinischen Stand im Sinne einer Qualitätssicherung bieten zu können. Bitte erscheinen Sie nicht unangemeldet in unserer Praxis, sondern vereinbaren Sie vorab telefonisch einen Termin. Akute Fälle werden noch am selben Tag behandelt. Wir bitten Sie um Ihr Verständnis, denn nur so können wir Ihnen eine perfekte Praxisorganisation und geringe Wartezeiten garantieren ...
Ich warte tatsächlich nur etwa fünf bis zehn Minuten alleine im mit Kunstdrucken bestückten Wartezimmer und werde von der jungen Hautärztin über eine in das Wartezimmer integrierte Tür zum Behandlungsraum persönlich abgeholt. Die Behandlungssituation kommt mir jetzt eher wie ein Beratungsgespräch vor. Die Ärztin lässt mich zwischen zwei Behandlungsmethoden entscheiden und ich wähle die für mich als erträglicher erscheinende Variante. Nach meiner Behandlung dreht die Ärztin ihren flachen und futuristisch wirkenden Computerbildschirm in meine Richtung und zeigt mir eine interessante Animation über Rasurtechnik und prophylaktische Hautpflege. Anschließend drückt sie mir eine kleine Infobroschüre in die Hand und sagt: „Herr Gerstenberger, zu Ihrem Krankheitsthema habe ich erst kürzlich eine Online-Fortbildung absolviert. In dieser Informationsbroschüre finden Sie weiterführende Informationen und Internetquellen zur Prophylaxe für Ihre empfindliche Haut. Ich sage es Ihnen ja nicht gerne, aber wenn Sie diese Hinweise gut beachten, werden Sie wahrscheinlich nicht mehr zu mir in die Praxis kommen müssen ...“
Verblüfft verlasse ich die Praxis und stelle mir auf dem Heimweg einige Fragen: Wäre es nicht toll, wenn mich mein Ohrenarzt auch auf ähnliche Weise behandeln könnte?
Ist er überhaupt motiviert, sich auch in diesem Maße wie diese junge Ärztin fortzubilden? Wie müsste ein medienunterstütztes Fortbildungsangebot beschaffen sein, dass es er und andere Ärzte gerne nutzen würden?
Ich stelle mir vor, ich hätte als Medienpädagoge einen Auftrag von der Ärztekammer erhalten, ein Konzept zur Planung und Konzeption medienunterstützter Fortbildungsangebote zu entwerfen. Wie würde ich da überhaupt vorgehen – welche Lern- und Medienkomponenten würde ich in mein Konzept einsetzen?
0.2 Zielsetzung der Arbeit
Die wissenschaftliche Forschung weist im Bereich E-Learning für Klein-, Kleinstunternehmer und eben auch der Freien Berufen, zu denen die Ärzte gehören, große Lücken auf. Bislang durchgeführte Forschungsaktivitäten haben sich verstärkt mit E-Learning in Organisationen sowie in der Hochschullandschaft und vereinzelt auch mit E-Learning in klein- und mittelständischen Unternehmen (KMU) befasst.
Bereits bei kleineren und mittleren Unternehmen wird auf den fehlenden Forschungsstand hingewiesen: „Gerade kleine und mittlere Unternehmen sind es aber, die von den organisatorischen Vorteilen, die eLearning bietet, besonders profitieren könnten ...“ (Reglin & Severing, 2003, S.3). Die Verbreitung von E-Learning in KMU hat jedoch bislang nur vereinzelt stattgefunden, was vor allem an Innovationsbarrieren (Furcht vor sozialer Isolierung der Lernenden, mangelnde Erfahrung, ungeeignete Lerninhalte und vermutete Beschaffungs- und Betriebskosten) liegt (vgl. Reglin & Severing, 2003).
Noch kleinere Einheiten, wie etwa die der Ärzte (Freie Berufe), gelten als potenzielle Zielgruppen, deren zukünftig weitere Beachtung geschenkt werden sollte. Im „Netzwerk-Magazin für Lernende Regionen“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wird bei einer derzeitigen Marktsituation eine Konzentration auf die Bedürfnisse der Zielgruppen kleine, mittlere Unternehmen, Handwerker und Angestellte und Freie Berufe sowie Privatpersonen in Einrichtungen vorgeschlagen (vgl. Bolle et al., 2004). Reglin & Severing (2003) schreiben, die neue Bildungsinnovation „droht gerade diejenigen zuletzt zu erreichen, die am meisten darauf angewiesen sind“ (S. 3).
Vorliegende Dissertation setzt genau an dieser Forschungslücke an und befasst sich mit dem Einsatz neuer Medien zu Lernzwecken in der Ärztefortbildung – oder anders ausgedrückt, mit E-Learning in der Ärztefortbildung. Das Ziel von E-Learning in der Ärztefortbildung sollte die Integration von Lernprozessen in Qualitätssicherungspro-zesse der ärztlichen Berufsausübung sein.
Aus dem im letzten Abschnitt beschriebenen narrativen Beispiel resultiert eine Diskussion rund um die komplexen Problemfelder von Ärztefortbildung und E-Learning, aber auch ihren epistemologischen, methodischen sowie praktischen Möglichkeiten und Grenzen. Die Intention dieser Forschungsarbeit geht über eine wissenschaftliche Befassung hinaus und hat letztendlich die Zielsetzung, das Thema „E-Learning“ in der Ärztefortbildung soweit theoretisch und empirisch zu durchleuchten, dass ärztliche Fortbildungsmöglichkeiten in der täglichen Berufsausübung nachhaltig Verbesserungen erfahren, was wiederum zur Folge haben kann, dass ärztliches Handeln zur Optimierung einer idealen Patientenversorgung verbessert werden kann.
Als Ergebnis der Dissertation sollen Handlungsempfehlungen zur Planung und Konzeption eines E-Learning-Angebots für Ärztefortbildung abgegeben werden.
0.3 Forschungsfragen
In der weiteren Diskussion sollte es nicht darum gehen, ob und welches Potenzial E-Learning in der Ärztefortbildung hat oder eben nicht hat, vielmehr sollten sich die zen-tralen Fragestellungen unter detaillierter Betrachtung der Zielgruppe „Ärzte“ anhand der gerade beschriebenen Zielsetzungen der Dissertation ableiten:
- E-Learning-Situation in der Ärztefortbildung: Wie wirken sich aktuelle gesundheitspolitische Entwicklungen auf das Thema „E-Learning“ in der Ärztefortbildung aus? Wie sehen derzeitige E-Learning-Angebote in der Ärztefortbildung aus? Welche weiteren E-Learning-Szenarien entwickeln sich momentan in der Ärztefortbildung? Wie gestalten sich berufsspezifische Rahmenbedingungen der ärztlichen Berufsausübung im Setting „Arztpraxis“?
- Motivation beim E-Learning in der Ärztefortbildung: Welcher Zusammenhang zwischen Fortbildungsmotivation und Lernverhalten zeigt sich bei den Ärzten? Wie wirken sich gesundheitspolitische Regelungen für Ärztefortbildung auf die Motivation der Ärzte aus?
- Einschätzung von E-Learning in der Ärztefortbildung: Wie betrachtet die Zielgruppe der Ärzte das Thema „E-Learning“ in der Ärztefortbildung? Wie schätzen Fachexperten das Thema „E-Learning“ in der Ärztefortbildung, seine Gesamtsituation und Entwicklungen ein?
Die soeben gestellten Forschungsfragen sollen im Rahmen dieser Arbeit theoretisch und empirisch beantwortet werden. Aus diesen Ergebnissen werden die Handlungsempfehlungen zur Konzeption und Planung des E-Learning-Angebots für Ärztefortbildung abgeleitet.
0.4 Aufbau und Struktur der Arbeit
Die drei Teile der Arbeit lassen sich einem Ist-Zustand, einem Soll-Zustand und einer Empfehlung zur Hinführung des Ist-Zustands in den Soll-Zustand für E-Learning in der Ärztefortbildung zuordnen.
Theoretischer Teil
Der theoretische Teil dieser Arbeit umfasst die Kapitel 1-3. Er wurde bewusst prägnant gehalten, um das Thema E-Learning in der Ärztefortbildung im Rahmen der gegenwärtig häufig ausufernd wirkenden Diskussionslage im Gesundheitswesen verständlich auszuführen. Es wird analysiert, mittels welcher theoretischer Ansätze und Konzepte sich die besonderen Herausforderungen in der Ärztefortbildung, speziell mit Blick auf den Einsatz von E-Learning, beschreiben und im Blick derzeitiger wissenschaftlicher Diskussionen zeichnen lassen.
Die besonderen Rahmenbedingungen für Ärztefortbildung im Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland und eine Bestandsaufnahme für E-Learning in der Ärztefortbildung werden in Kapitel 1 näher beschrieben.
Kapitel 2 erklärt das thematische Umfeld von E-Learning aus einer konstruktivistischen Perspektive und extrahiert die Thematik „Wissen und Lernen“ schrittweise aus einer erkenntnistheoretischen Sicht und leitet diese in lehr-lerntheoretische Anwendungskonzepte über. Motivationspsychologische Aspekte runden dieses zweite Kapitel ab, indem sich die Diskrepanz zwischen Zwang und Freiwilligkeit (in der Ärztefortbildung) wie ein roter Faden durch diesen Abschnitt zieht.
Das dritte Kapitel befasst sich erneut mit der Thematik „E-Learning in der Ärztefortbildung“ und widmet sich bereits existierenden E-Learning-Anwendungen. Zur Veranschaulichung, welche E-Learning-Anwendungen bereits in der Ärztefortbildung möglich sind, bieten zahlreiche formelle Beispiele aus dem Hochschulbereich einen ersten Orientierungsrahmen. Diese werden zusätzlich um das informelle Lernbeispiel von Online-Communities erweitert. Abschließend erfolgt eine Darstellung von Implementationsfaktoren für E-Learning (als Bildungsinnovation) in der Ärztefortbildung, wobei der besondere Fokus hier auf der Rolle des Arztes als Kleinstunternehmer in seiner täglichen Arbeitsumwelt liegt.
Empirischer Teil
Der empirische Teil knüpft direkt an die Erkenntnisse des theoretischen Teils an und verwendet hierfür einen Methodenmix aus quantitativen und qualitativen Verfahren. Kapitel 4 beginnt mit einer zweiteiligen quantitativen Bedarfsanalyse aus Zielgruppensicht, welche aus einer an Ärzte gerichteten Befragung besteht. Diese Befragung wird in einer Online-Variante (als Online-Befragung) als auch einer Offline-Variante (als Fragebogen in Papierform) durchgeführt, um medienaffine von weniger medienaffinen Ärzten unterscheiden zu können. Qualitative halbstandardisierte Experteninterviews zur Einschätzung der Gesamtsituation und Zukunftsentwicklung von E-Learning in der Ärztefortbildung (Kapitel 5) mit Fachexperten für Ärztefortbildung komplettieren den empirischen Teil.
Handlungsempfehlungen
Aus den theoretisch und empirisch gewonnenen Erkenntnissen resultieren in Kapitel 6 Handlung se mpfehlungen zur Planung und Konzeption eines E-Learning-Angebots für Ärztefortbildung. Die Arbeit schließt mit einem Fazit und Ausblick auf die zukünftige Situation für E-Learning in der Ärztefortbildung.
Abbildung 1 visualisiert den Aufbau, die Struktur und die Kapitel der Arbeit in einer Übersicht.
Abbildung 1: Übersicht über Struktur, Aufbau und Kapitel der Arbeit
Quelle: Eigene Darstellung.
KAPITEL 1: E-LEARNING IN DER ÄRZTEFORTBILDUNG – EINE BESTANDSAUFNAHME
1.1 Rahmenbedingungen für E-Learning in der Ärztefortbildung
Ein Arzt betrachtet ein kleines Fenster auf einer hochfrequentierten medizinischen Internetseite. Es zeigt in etwa der Größe eines „Hanutas“ eine kurze Videosequenz eines Patienten im Rentenalter, der von seinen Beschwerden berichtet. Jetzt wird unübersehbar das Wort „Patienten“ eingeblendet. Es wechseln sich kurze Videosequenzen und Begriffe wie Experten, Verfahren und Befunde ab. Schließlich blinkt die Botschaft in deutlich gekennzeichneten Buchstaben: „Sammeln Sie online CME-Punkte – zertifizierte Fortbildung“.
Egal, auf welcher medizinischen Webseite man sich auch derzeit befinden mag, man liest dieses Wort − „Online CME“. Gemeint ist die Möglichkeit, Fortbildungspunkte über das Internet zu erwerben. Der Begriff „CME“ steht für „Continuing Medical Education“ und beschreibt die kontinuierliche berufsbegleitende medizinische Fortbildung. Kurz gesagt, hiermit ist der Erwerb von Punkten im Rahmen der Ärztefortbildung gemeint (vgl. Bundesärztekammer, 2003).
Doch warum müssen Ärzte Fortbildungspunkte im Rahmen einer kontinuierlichen Ärztefortbildung erwerben? Gehörte das lebenslange Lernen nicht seit jeher zum ärztlichen Selbstverständnis, um fachspezifische wie auch interdisziplinäre Kenntnisse kontinuierlich zu aktualisieren, um als Primärziel eine optimale Patientenversorgung zu gewährleisten (vgl. Bundesärztekammer, 2004)? Und weshalb werden diese Kurseinheiten als Online-Angebote über das Internet angeboten? Bietet das Lernen unter Mithilfe der neuen Medien, was im Allgemeinen mit E-Learning bezeichnet wird, innovative Möglichkeiten, die es in traditionellen Fortbildungsangeboten vorher nicht gab?
Die Antworten erscheinen auf den ersten Blick einfach. Im Rahmen der Gesundheitsreform 2004 wurde eine gesetzlich geregelte Fortbildungspflicht mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz − GMG) für Ärzte eingeführt und in § 95 d im Sozialgesetzbuch V (SGB V) rechtlich festgehalten (vgl. Sozialgesetzbuch V, § 95 d).
Seit diesem Zeitpunkt wird die Ärztefortbildung unter dem politischen Schlagwort der „Qualitätssicherung“ reglementiert und Ärzte müssen ihre Fortbildungsaktivitäten nachweisen.
Weshalb schießen gerade jetzt in der Ärztefortbildung Online-CME wie Pilze aus dem Boden? Sind Online-CME die gewünschte Umsetzung der Ärzteschaft im Prozess des berufsbegleitenden lebenslangen Lernens? Oder entstanden Online-CME erst durch die gesetzlich geregelte Fortbildungspflicht? Existieren nicht andere E-Learning-Kurs-varianten, die für den berufsbegleitenden Lernprozess der Ärzte besser geeignet wären? Welche weiteren gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Veränderungsprozesse wirken sich auf die Ärzteschaft in ihrer täglichen Berufsausübung und ihren Fortbildungsbedarf aus? Ist E-Learning in der Ärztefortbildung tatsächlich schon weit fortgeschritten oder befindet es sich hier – wie auch in anderen Branchen − noch in den Kinderschuhen?
Diese Diskussion lässt sich am besten beginnen, indem man die Rahmenbedingungen für E-Learning in der Ärztefortbildung genauer unter die Lupe nimmt. Der gesellschaftliche Wandel verursacht ein enormes Wissenswachstum im Gesundheitswesen, beinhaltet den derzeitigen gesellschaftlichen Bevölkerungswandel und zeigt sich in veränderten Patientenanforderungen und einer zunehmenden Digitalisierung der ärztlichen Arbeitsumwelt. Aus dem aktuellen Zeitgeschehen im Gesundheitswesen resultiert ein vermehrter Qualifizierungsbedarf seitens der Ärzteschaft. E-Learning kann im Rahmen dieses Bedarfs eine unterstützende Rolle spielen. Zahlreiche Angebote, wie z. B. die gerade beschriebenen Online-CME, können als Adaption des Gesundheitsmarktes auf aktuelle gesundheitspolitische Trends verstanden werden.
1.1.1 Wissenswachstum
Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland wird durch die Gesamtheit aller Einrichtungen und Personen gebildet, welche der Erhaltung, Förderung oder Wiederherstellung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung dienen (Wild, 2004, S. 45, zitiert nach Beske & Hallauer, 1999). In Deutschland vereinigt das System des Gesundheitswesens somit rund 100.000 Arztpraxen, 21.000 Apotheken, 2.200 Krankenhäuser und 300 Krankenkassen (vgl. Pfeiffer, 2005).
Seit dem Jahre 1997 nahm die Beschäftigung im deutschen Gesundheitswesen um insgesamt 2,5 % zu. Am 31. Dezember 2003 gab es laut Statistischem Bundesamt in Deutschland ca. 4,2 Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen, was einem Anteil von 10,7 % aller Beschäftigten in Deutschland entsprach.
Zwischen 20 % und 40 % aller Leistungen dieser 4,2 Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen entfielen hierbei auf Wissensmanagementprozesse (u. a. auf die Erfassung und Kommunikation von Informationen) (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2003).
Der Fortschritt in der Medizin und der Fortschritt in der Informations- und Kommunikationstechnologie bedingen weiter ansteigende Informationsmengen (vgl. Haux, Ammenwerth, Herzog & Knaup, 2004) und verursachen einen exponentiell ansteigenden Wissenszuwachs im Gesundheitswesen.
Der Fortschritt in der Medizin drückt sich durch den Einsatz modernster Informatik- und Kommunikationswerkzeuge und elektronischer Endgeräte zur Diagnose- und Therapieoptimierung aus. Hauptziel ist es, die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern. Zukunftsszenarien sind hier Anwendungen der sogenannten Telemedizin, wie z. B. Telemonitoring zur Überwachung von Patientendaten, wie etwa die permanente Messung der EKG-Werte bei Herzpatienten.
Durch den Einschlag neuer Kommunikationswege wird die Mobilität der Patienten nicht mehr in jedem Behandlungsfall notwendig sein. Bisher gelangten Patienteninfor-mationen stets in Form des Patienten zum Arzt; zukünftig wandern wahrscheinlich eher die Informationen in automatisierter Form zum Arzt. Laut Prognosen werden winzige, implantierte und vernetzte Endgeräte zu mehr Mobilität und verstärktem Informationstransfer beitragen. Zukünftig wird den Ärzten mehr Medienkompetenz abverlangt werden, wenn sie in einem medien- und technologieunterstützten Gesundheitswesen nach neuesten Methoden und Wissensstand praktizieren möchten.
1.1.2 Bevölkerungswandel
Aufgrund des demografischen Wandels befindet sich unsere Gesellschaft und folglich auch zukünftige Patienten in einem Veränderungsprozess. In nahezu allen Industriestaaten altert die Bevölkerung. Als Auslöser werden vor allem der Rückgang der altersspezifischen Sterblichkeitsziffern in höheren Altersstufen und der Rückgang der Geburtenziffern genannt (vgl. Meier-Baumgartner, Dietz & Engelbrecht, 1998).
Die mittlere Lebenserwartung der Menschen in Deutschland hat sich deutlich verändert. Die Gründe sind Erfolge in der modernen Medizin und eine verbesserte Qualität der Gesundheitsversorgung, die es in dieser Form vorher nicht gegeben hatte (vgl. Haux et al., 2004).
Als Hauptgrund des Geburtendefizits kann ein gesellschaftlicher Wertewandel genannt werden. Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit, beruflicher Erfolg, kinderlose Ehen und Kinder als befürchtetes Armutsrisiko sind hier die wesentlichen Verhaltensintensionen (vgl. WIKIPEDIA, 2005).
Das zukünftige durchschnittliche Patientenbild wird sich demnach stark von dem der jetzigen Patienten unterscheiden. Chronische Krankheiten, altersbedingte Multimorbidität und komplexe Krankheitsbilder werden ein realistischer Zustand von zunehmend hochbetagten Patienten sein. Verstärkt werden Maßnahmen der Prävention und Rehabilitation umgesetzt werden müssen (vgl. Meier-Baumgartner et al., 1998).
1.1.3 Veränderte Patientenanforderungen
Auch innerhalb der medizinischen Behandlung sind in naher Zukunft Veränderungsprozesse zu erwarten. Es wird mit einem sukzessiven Paradigmenwechsel in der Arzt-Patienten-Beziehung gerechnet.
Bereits zu diesem Zeitpunkt möchten Patienten über ihre Krankheiten und Therapieansätze bestmöglich informiert sein. Die Informationsgesellschaft ist in Deutschland längst Wirklichkeit geworden, und in keinem Land der Welt gibt es mehr Internetseiten pro Kopf als in der Bundesrepublik Deutschland (BRD: 85, USA: 60 Internetseiten pro 1000 Einwohner) (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2003). War es früher noch schwer, Informationen zu einer speziellen Krankheit zu erhalten, schafft das Internet heute neue Möglichkeiten. Die Schwierigkeit liegt derzeit wohl eher darin, sich im Dschungel der unzähligen Informationsmöglichkeiten zurechtzufinden. Aufgrund dieser Entwicklungen werden aufgeklärte Patienten zu informierten und semiprofessionellen Krankheitsexperten, was zu mehr Partizipation und Selbstbestimmung im Arzt-Patienten-Verhältnis führt. Empowerment des Patienten und die Steigerung der Patientensouveränität sind hier neue und gängige Begriffe (vgl. Tautz, 2002).
Zukünftig treten sich wohl immer häufiger anstatt Arzt und Patient zwei Experten in einem partnerschaftlichen und gleichberechtigten Verhältnis gegenüber. Ärzte übernehmen im Idealfall die Rolle eines Lotsen (eines Beraters), der den souveränen Patienten bei seinen Entscheidungen unterstützt und berät. Bezieht man die veränderte Arzt-Patienten-Situation auf die bereits beschriebenen Reformversuche im Gesundheitswesen, so entstehen folgende Ziele: Zum einen gilt es, die medizinische Patientenversorgung und zum anderen die Informationsversorgung der Patienten zu verbessern.
1.1.4 Digitalisierung
Den Bedarf an Qualitätsoptimierung (hierunter fällt auch die Ärztefortbildung) und das Rationalisierungspotenzial im Gesundheitswesen hat die Bundesregierung erkannt. Mit dem im Rahmen der Gesundheitsreform 2004 durchgeführten GKV-Modernisierungs-gesetz (GVG, seit 01. Januar 2004 in Kraft) wurden Prozesse zur Rationalisierung und Qualitätsoptimierung gesetzlich verabschiedet. Digitalisierung lautet einer der Schlüsselbegriffe dieser Reform. Wenn man Kommunikations- und Datenerfassungsprozesse digitalisiert, können Rationalisierungseffekte erreicht werden, die Belastungen, die aufgrund demografischer Entwicklungen und des Einsatzes neuer, kostenintensiver Methoden zu erwarten sind, zumindest teilweise kompensieren können (vgl. Pfeiffer, 2005).
Um dieses Vorhaben umzusetzen, will die Bundesregierung eine deutschlandweite Infrastruktur zur Vernetzung des gesamten Gesundheitswesens zur Anwendung von Telematiklösungen zur Optimierung der Gesundheitsversorgung aufbauen. Unter Telematikanwendungen versteht man die Anwendung von Telekommunikation und Informatik im Gesundheitswesen (international wird hier häufig der Begriff „ehealth“ verwendet) (vgl. Warda & Noelle, 2002).
Durch den Aufbau einer einheitlichen Telematikinfrastruktur können Ärzte aktualisierte Informationen über die vorhergegangenen Behandlungen ihrer Patienten erhalten, was u. a. dabei hilft, Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Elektronische Medien vereinfachen die Verwaltung von Patientendaten, und die Vernetzung der Einrichtungen ermöglicht eine Optimierung der gesamten Verwaltungsprozesse. Papier kann weitgehend durch elektronische Medien ersetzt werden, womit Rationalisierungseffekte und Kosteneinsparungen zu erwarten sind. Folglich wird jedes traditionelle Rezept zum eRezept, Überweisungsscheine werden durch den virtuellen Raum verschickt und Röntgenbilder können digital übermittelt werden (vgl. Pfeiffer, 2005).
Der erste Schritt zur Schaffung der Telematikinfrastruktur ist die Einführung der sogenannten elektronischen Gesundheitskarte (vgl. Pfeiffer, 2005). Dieses Schlüsselele-ment der eHealth-Strategie der Bundesregierung wird wohl die wichtigste „Schuhlöffelfunktion“ beim Aufbau der deutschlandweiten Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen sein. Die elektronische Gesundheitskarte avanciert zur ersten einrichtungsübergreifenden Kooperation der Beteiligten im Gesundheitswesen. Als mögliche Funktionen werden eine Identitätsprüfung, die Verschlüsselung der Informationen und eine elektro-nische Signatur integriert sein. Informationssicherheit und Vertrauenswürdigkeit sollen mit diesen Vorkehrungen gewährleistet werden. Der Einsatz der elektronischen Karte erfolgt grundsätzlich auf freiwilliger Basis. Die Anwendungsmöglichkeit der Karte besteht aus zwei Teilen, einem administrativen und einem medizinischen Teil. Die Anwendungen des administrativen Teils mit der Integrationsmöglichkeit des elektronischen Rezeptes werden verpflichtend sein. Der medizinische Teil der Gesundheitskarte wird für Patienten optional sein und für die Dokumentation von Patienteninformationen und Krankheitsverläufen sowie Verschreibungen benutzt werden können. Der Abruf von Informationen seitens der Leistungserbringer (Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser usw.) kann grundsätzlich nur in Verbindung mit einem elektronischen Heilberufeausweis (Health Professional Card, HPC) erfolgen, der über eine qualifizierte elektronische Signatur verfügt (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2003).
Im Jahre 2006 wurde mit der flächendeckenden Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte an die Versicherten der gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen begonnen; die Ausgabe sollte Ende 2007 abgeschlossen sein und die bisherige Krankenversicherungskarte (KVK) komplett ersetzen (vgl. Dolle, 2005).
Neben den angesprochenen Rationalisierungseffekten unterstützt die elektronische Gesundheitskarte die Transparenzsteigerung patientenbezogener Daten. Im Notfall haben Patienten wichtige Gesundheitsdaten schnell zur Verfügung. Dieser Aspekt ist vor allem für den Menschen in seiner Krankheit vorteilhaft, wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen zu treffen. Auch die Verschreibung unverträglicher Arzneimittel kann dokumentiert und verringert werden. Patienten haben die Möglichkeit, sich einen Überblick über ihren Gesundheitsstatus zu verschaffen, was die Mitwirkung und Eigenverantwortung im Versorgungsprozess erheblich verbessert und zu mehr Autonomie und Patientensouveränität führt (vgl. Dolle, 2005). Somit ist hier ein weiterer Schritt hin zum bereits beschriebenen Paradigmenwechsel im Arzt-Patienten-Verhältnis erkennbar.
Die Schaffung einer einheitlichen Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen bildet zusätzlich eine notwendige Voraussetzung im Zusammenspiel der zu erwartenden Entwicklungen im Bereich Diagnostik und Therapie. Der zugehörige Teilbereich der Gesundheitstelematik wird mit Telemedizin bezeichnet und dient dem Ziel der Überbrückung einer räumlichen oder auch zeitlichen („asynchronen“) Distanz zwischen Arzt und Patient oder zwischen zwei sich konsultierenden Ärzten mittels Telekommunikation (vgl. WIKIPEDIA, 2005).
In einigen Jahren werden zum Austausch von Informationen vermutlich vermehrt telemedizinische Verfahren eingesetzt. Die in diesem Zusammenhang zu nennenden Leistungen betreffen verstärkt die Patientenbeobachtung (Telecare, Telemonitoring) und die Einholung von Zweitgutachten bei komplizierten Erkrankungen (Telediagnose). Das Zukunftsszenario der Fernoperation (Teleoperation) wird laut Expertenmeinung eher in weniger häufigen Fällen angewandt werden. Telediagnostik und Teletherapie werden vermutlich in räumlich dünn besiedelten Gebieten und in speziellen Situationen mit Anweisungen an sich vor Ort befindende Fachkräfte stattfinden (vgl. Haux et al., 2004).
Stellen wir uns folgendes Zukunftsszenario vor: Bei einem Herzpatienten, Herrn Adams, wurden im Jahre 2010 Herzrhythmusstörungen festgestellt. Seit dieser Diagnose trägt Herr Adams einen Sensor zur Messung seiner Herzwerte in Form eines Fingerrings, der die Daten eines Mikro-EKG-Chips, der ihm in Herznähe implantiert wurde, kontinuierlich empfängt. Das EKG von Herrn Adam wird permanent gemessen und direkt an ein Informations- und Kommunikationssystem (in Form eines tragbaren Computers) seiner Hausärztin geschickt. Ein auf Herzinfarkt spezialisiertes wissensbasiertes Anwendungssystem mit Diagnose- und Therapie-Leitlinien prüft die Daten, bevor sie in die elektronische Krankenakte von Herrn Adams übertragen werden.
2013 erleidet Alfons Adams in den frühen Morgenstunden einen Herzinfarkt. Das Computersystem hat seine Hausärztin bereits automatisiert informiert, sodass sie wenig später einen Krankenwagen alarmiert. Bei der Anforderung des Krankenwagens weist sich die Ärztin mit ihrem digitalen Ärzteausweis aus, und während der Krankenwagen unterwegs zu Herrn Adam ist, überträgt die Hausärztin mittels ihres mobilen Personal Digital Assistants (PDA) die elektronische Krankenakte ihres Patienten an das Universitätsklinikum, in das Herr Adams eingeliefert werden soll. Diese optimierte Prozesskette digitaler Datenübertragung rettet in unserem Beispiel Herrn Adams das Leben (vgl. Haux et al., 2004).
Diese humanzentrierte Technikvision könnte in einigen Jahren bereits Realität geworden sein. Solche Szenarien wären ohne die Digitalisierung von Daten, den Einsatz und die Vernetzung mobiler und stationärer Endgeräte sowie der damit benötigten Medienkompetenz ihrer Anwender nicht mehr möglich.
Hier lässt sich eine Verbindung zum Paradigma des Ubiquitous Computing herleiten (vgl. Mattern, 2005). Der aus den 1990er-Jahren durch einen Aufsatz von Mark Weiser geprägte Begriff des Ubiquitous Computing beschreibt die zu erwartende Durchdringung der Welt mit Informationstechnologie. Alltagsgegenstände (wie etwa der Ring von Herrn Adams in unserem Beispiel) werden mit Informationstechnologie zum Sammeln, Speichern, Verarbeiten und Kommunizieren von Daten aufgerüstet und sind in intelligenter Weise miteinander vernetzt. Es entsteht eine intelligente, an den Menschen angepasste Umwelt (hier lässt sich eine weitere Verbindung zum Paradigma der Künstlichen Intelligenz herstellen). Vernetzte Computer kommunizieren mit in die Umgebung integrierten sogenannten „smarten Gegenständen“. Das Ziel ist eine unaufdringliche und nachhaltige Unterstützung des Menschen im Alltag, kombiniert mit einer durchgängigen Automatisierung und Optimierung wirtschaftlicher Prozesse. Die Vernetzung wird sich bis in die letzten Alltagsgegenstände verlängern, und es entsteht ein allgegenwärtiges Internet der Dinge (vgl. Mattern, 2005).
1.1.5 Auswirkungen auf die Qualifizierung von Ärzten
Die bereits angesprochene Reform im Gesundheitswesen sowie ein sich ständig wandelndes Arbeitsumfeld erfordern eine lebensbegleitende ärztliche Qualifizierung als notwendige Konsequenz. Ärzte müssen zukünftig nicht nur Qualifikationen im Umgang mit neuen medizinischen Verfahren und Methoden und im Umgang mit neuen Medien der Informations- und Kommunikationstechnologie erwerben, sondern sie müssen auch ihre beruflichen Verhaltensweisen einem veränderten Patientenbild anpassen. Vernetzte moderne medizinische Endgeräte tragen zu mehr Mobilität und verstärktem Informationstransfer bei. Sie werden den Ärzten jedoch auch eine gesteigerte Medienkompetenz abverlangen. Die Folge ist ein gesteigerter Fortbildungsbedarf seitens der Ärzteschaft, die seit jeher zu einer fortbildungsintensiven Zielgruppe zählt.
Der Paradigmenwechsel im Arzt-Patienten-Verhältnis wird sich – so eine der Kernthesen dieses ersten Kapitels – längerfristig auch auf die Lernkultur der Ärzte auswirken. Weinert (1997) versteht unter Lernkultur: „[...] die Gesamtheit der für eine bestimmte Zeit typischen Lernformen und Lehrstile sowie die ihnen zugrundeliegenden anthropologischen, psychologischen, gesellschaftlichen und pädagogischen Orientierungen“ (Weinert, 1997, S. 12).
Bislang nahmen Ärzte vor allem in den Augen der Patienten die Position eines allwissenden Krankheitsexperten ein, dessen Meinung stets als Expertise galt. Treffen sie nun auf Patienten, die viel Wissen über ihre Krankheit, gepaart mit persönlicher Erfahrung mitbringen, ändern sich die Positionen in der einstigen Experten-Laien-Kommunikation. Die Rollen können soweit getauscht werden, dass der Arzt zum Laien und der Patient zum Experten wird. Dies könnte vor allem in Situationen, in der die subjektive Erfahrung eine besondere Rolle spielt, der Fall sein, wie z. B. bei seltenen Krankheiten und Krankheitsbildern.
Im Idealfall treffen zwei Krankheitsexperten aufeinander, die gemeinsam an der Lösung eines Problems arbeiten, nämlich der bestmöglichen Bewältigung der Krankheit des Patienten, voneinander und miteinander lernen. Dies kann deutliche Auswirkungen auf das Lernverhalten und das Verhältnis zu Lernen, Wissen und Wissenserwerb der Ärzte haben. In solch einem Verständnis können Ärzte nicht mehr nur von Kollegen oder Fortbildungsmaßnahmen, sondern auch von ihren Patienten lernen. Diese Veränderungen können zu mehr Qualität im Gesundheitswesen führen, da sich die Ärzte mehr denn je verpflichtet fühlen, dem veränderten Wissensstand des Patienten Rechnung zu tragen, woraus eine erhöhte Fortbildungsbereitschaft entsteht.
1.2 Die aktuelle E-Learning-Situation in der Ärztefortbildung
Ganz so neu, wie man […] meint, ist der Begriff des e-Learning nicht, wenn man darunter erst einmal die Abkürzung für „electronic learning“ versteht, bei dem Lernprozesse in irgendeiner Form „elektronisch“ angeleitet, gelenkt oder unterstützt werden (Reinmann-Rothmeier, 2003, S. 31). Zu Beginn seines Auftretens wurde verstärkt das elektronisch unterstützte Lernen (satellitengestütztes Lernen, CD-ROM, Videobänder ...) mit dem Begriff „E-Learning“ assoziiert. Später richtete sich in Zeiten des Internetbooms in den 1990er-Jahren der Fokus vermehrt auf das webunterstützte Lernen. Heute hat sich allerdings ein übergeordneter Begriff für alle Arten des medienunterstützten Lernens (somit sind alle Offline- und Online-Medien beinhaltet) eingebürgert (vgl. Reinmann-Rothmeier, 2003).
Die Verwendung von E-Learning kann in einer Präsenzveranstaltung unter Hinzunahme digitaler Medien stattfinden oder als kompletter Ersatz von Präsenzveranstaltungen organisiert sein. Die wohl derzeit verbreitetste und beliebteste Variante ist das sogenannte Blended Learning (hybride Lernformen), das als Ergänzung oder Erweiterung von Präsenzveranstaltungen durch Medieneinsatz erfolgt.
Für E-Learning in der Ärztefortbildung lässt sich folgende Arbeitsdefinition einführen:
Medienunterstütztes, selbstorganisiertes Lernen mit dem Ziel der berufsorientierten, kontinuierlichen Fortbildung.
1.2.1 Medieneinsatz und E-Learning-Angebote in der Ärztefortbildung
Das Gesundheitswesen ist seit Jahren eine Wachstumsbranche. Seine speziellen medizinischen Märkte wie auch jener der Ärztefortbildung wachsen kontinuierlich.
Bevor man die aktuelle Marktübersicht von E-Learning-Angeboten darlegt, sollte man das Augemerk vorab auf den generellen Medieneinsatz in der Ärztefortbildung legen. Unabhängig von gesetzlichen Regelungen besteht Ärztefortbildung seit längerer Zeit aus zwei wesentlichen Bestandteilen:
- dem Besuch von Veranstaltungen und
- dem selbstorganisierten (Selbst-)Studium.
Fortbildungsveranstaltungen (Vorträge, Seminare, Diskussionen etc.) werden in der Regel von den Ärztekammern, bei denen alle Ärzte Pflichtmitglieder sind, laufend durchgeführt (vgl. Bader, 2005). Weitere Anbieter sind vor allem Fachverbände, die Pharmaindustrie und Fachverlage, die Fortbildungsangebote vermehrt als Kundenbindungsinstrumente einsetzen.
Das selbstorganisierte Studium umfasste bislang vor allem das Literaturstudium durch Fachliteratur. Hierbei sind besonders zwei Printtitel zu erwähnen, die der Arzt regelmäßig und kostenlos zugeschickt bekommt. Dies sind das von der Bundesärztekammer veröffentlichte Deutsche Ärzteblatt, welches die Ärzte wöchentlich erhalten, und die von den Verbänden der deutschen Arzneimittelhersteller gemeinsam herausgegebene, jährlich erscheinende „Rote Liste“ (vgl. Bader, 2005).
Der ärztliche Printmarkt umfasst in Deutschland etwa 20 auflagenstarke Titel (u. a. Ärzte Zeitung, Ärztliche Praxis, Ärztliches Journal Reise & Medizin usw.) für alle niedergelassenen Ärzte, in welchen integrierte Fortbildungsmodule seit Jahren zum Standard gehören. Die jährlich durchgeführte LA-MED-Studie liefert hier Ergebnisse zu den Auflagenzahlen der Titel, die bei den Marktführern etwa zwischen 70.000 (z. B. Ärzte Zeitung, 66.359, 2. Quartal 2006) und 40.000 Exemplaren liegen (vgl. Käckenhoff, 2006). Zur Abdeckung ihrer Fachgebiete nutzten die Ärzte entsprechend Spezialzeitschriften, die neuesten Ausgaben von Lehrbüchern, Monografien und Nachschlagewerken (vgl. Bader, 2005).
E-Learning in der Ärztefortbildung entsteht momentan vor allem durch die Ergänzung, Unterstützung, Erweiterung und teilweise auch Substituierung der beschriebenen Fortbildungmaßnahmen und -mittel durch das Internet. Fortbildungsveranstaltungen können durch Internetlösungen (wie z. B. Webseiten, Internetforen usw.) vor- und nachbereitet werden. Im medienunterstützten, selbstorganisierten Lernen durch Selbststudium besteht die wesentliche Veränderung derzeit darin, dass wissenschaftliche Aufsätze in Zeitschriften oder Fachbüchern sowie die Nutzung audiovisueller Medien vermehrt durch Online-Angebote ergänzt werden (vgl. Bundesärztekammer, 2003).
Eine komplette Listung aller E-Learning-Angebote in der Ärztefortbildung ist derzeit aufgrund der fehlenden Markttransparenz leider nicht möglich. Die kommentierte E-Learning-Datenbank KELDAmed, welche speziell für E-Learning im medizinischen Bereich initiiert wurde, kann allerdings einen ersten Überblick über die generelle Größenordnung von E-Learning im medizinischen Bereich bieten: „KELDAmed ist eine Medizinisch-Wissenschaftliche Bibliothek der Fachgebiete Medizin und Pharmazie mit dem Ziel der Verbesserung des Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebots […]“ Über die Homepage http://KELDAmed.uni-hd.de ist diese Datenbank frei im Internet zugänglich (Waldmann et al., 2006, S. 537). KELDAmed listete am 12.10.2006 1.572 Lehr- und Lernmodule, davon 957 eMedien und 692 eBooks (vgl. (Waldmann et al., 2006). Es muss darauf hingewiesen werden, dass KELDAmed lediglich frei zugängliche Treffer liefert, womit ein großer Bereich an pharma- und verlagsorganisierten Fortbildungsangeboten, bei welchen in der Regel eine Kundenkennung mit einem sogenannten Login erforderlich ist, ausschließt. Der komplette Markt dürfte also bei Weitem größer sein. KELDAmed listet auch englischsprachige Treffer, welche vermehrt nicht aus Deutschland stammen, jedoch zur Fortbildung für den deutschen Markt geeignet sind. Inhaltlich entschieden sich die Mannheimer Betreiber (der Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg) für Begriffe mit den Schlagworten: „E-Learning“, „Multimedia“, „CBT“ usw. und in ihrer Orientierung „für den pragmatischen Ansatz: „Alles, was fürs Studium nützlich ist“ (Friedlein, Schoppmann & Boeckh, 2003, S. 34).
Auffällig häufig ist hierbei die Variante der bereits eingeführten Online-CME aufzufinden, welche hier durch den Begriff „CBT“ („Computer-Based-Training“) abgebildet werden.
1.2.2 Vermehrtes Auftreten von Online-CME
Online-CME werden meist von Verlagen (medizinische Fachverlage und Zeitschriften), der Pharmaindustrie, Berufsverbänden und sonstigen Anbietern, wie z. B. Multimedia-Dienstleitern, veranstaltet. Sie finden vermehrt mittels Web-Based-Trainings (welche als die Online-Variante der CBTs verstanden werden können) statt, welche meist nach dem Drill & Practice-Prinzip des aus den 1970er-Jahren bekannten programmierten Unterrichts funktionieren. In der Regel wird Wissen präsentiert, angeeignet und überprüft. Dieser Prozess wird so oft wiederholt, bis ein gewollter Wissenstransfer stattgefunden hat. Die Rolle des Lerners ist eher passiv und der Lehrer tritt häufig in Form eines autoritären, unterweisenden Lehrers auf. Lernprozesse entsprechen in solch einem Lehr-Lernkontext einer behavioristisch gestalteten Einübung von Wissen; die Kontrolle des Lernerfolgs wird tendenziell mittels Multiple-Choice-Fragen überprüft (vgl. Baumgartner & Payr, 1999).
Bereits der Begriff „Online-CME“ weist auf das Lernszenario hin, nämlich die Umsetzung einer CME-Kurseinheit im Internet. Online-CME sind vermehrt die elektronische Umsetzung bzw. Digitalisierung kurzer Fortbildungseinheiten. Es wird ein Text- bzw. Inhaltsabschnitt eigenständig gelesen und durcharbeitet sowie anschließend über Kontrollfragen geprüft. Mussten die beantworteten Fortbildungskurzeinheiten bislang in Papierform eingeschickt oder gefaxt werden, gibt es hier nun eine elektronisch optimierte Prozesskette, sodass z. B. auch automatisiertes Feedback gegeben wird und eine sofortige Erfolgskontrolle erfolgen kann.
1.2.3 Beispiele für Online-CME
Abbildung 2 vergleicht eine Printvariante (man könnte hier auch die Neologismen Offline-CME oder Print-CME einführen) einer CME-Fortbildungseinheit der Zeitschrift „Der Niedergelassene Arzt“ mit dem Online-CME Medizinerwisser.de der Universität Witten/Herdecke.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Vergleich einer CME-Printvariante mit einem Online-CME
Quelle: Entnommen aus „Der Niedergelassene Arzt“ (Ausgabe 3/2006), http://www.medizinerwissen.de.
Zu diesem Beispiel einige Erläuterungen: Seit dem Jahr 2000 publiziert das Wissensnetzwerk der Fakultät für Medizin der Universität Witten/Herdecke evidenzbasierte und interaktive Leitlinien, welche unter www.evidence.de im Internet erreichbar sind (vgl. Wissensnetzwerk evidence.de, 2005).
Die evidenzbasierte Medizin ist ein neuer, moderner Ansatz, der auf das bereits angesprochene Ziel der gesteigerten Patientensouveränität im Gesundheitswesen gerichtet ist. Patienten treffen in diesem Ansatz ihre Entscheidungen selbst, Ärzte übernehmen hier unter Einbezug aktuellster Ergebnisse aus der medizinischen Forschung eine Art Beratungsfunktion. Aus Studienergebnissen werden Leitlinien mit Handlungsanweisungen entwickelt, in denen auf Basis vorhandener wissenschaftlicher Studien Schritt für Schritt erklärt wird, wie bei einem bestimmten Problem in der Behandlung genau vorgegangen werden soll (vgl. Hackenbroch, 2005).
Unter der Bezeichnung und zugehörigen Internetadresse www.medizinerwissen.de entwickelte die Einrichtung evidence.de gemeinsam mit einem IT-Dienstleister ein kostenpflichtiges CME-Fortbildungsportal. Das Online-CME-Beispiel ist als klassisches Web-Based-Training mit Kontrollfragen konstruiert und funktioniert folgendermaßen: Teilnehmer können evidenzbasierte Leitlinien zu Krankheitsbildern unter www.evidence.de (bzw. www.leitlinien-wissen.de) online lesen bzw. stehen unter dieser Internetdomain die Daten als PDF-Dateien zum Download bereit. Anschließend müssen die Teilnehmer in Fortbildungsmodulen auf www.medizinerwissen.de Fragen (pro Modul zehn Fragen) in Form eines Quiz beantworten. Zur Ergebniskontrolle werden verschiedene Fragenvarianten verwendet: Single Choice, Multiple Choice, Tabellenzuordnungen, Drop-Down-Zuordnungen und Bild-Zuordnungen. Werden 70 % der Fragen richtig beantwortet, erhalten die Teilnehmer für ihre Leistung einen CME-Punkt und können sich anschließend ein automatisiertes und personalisiertes Fortbildungszertifikat (in Form einer PDF-Datei) herunterladen und ausdrucken. Die Teilnahmebestätigung ist von der Ärztekammer Westfalen-Lippe zertifiziert. Die Kosten für die Teilnahme am CME-Fortbildungsportal betragen 9 Euro pro Fortbildungsmodul und werden in Form herausgegebener TANs (Transaktionsnummern) eingelöst. Die Transaktionsnummern können bei den Kassenärztlichen Vereinigungen, der Universität Witten/Herdecke oder per T-Pay[3] bestellt und bezahlt werden. Zusätzlich werden Wertgutscheine von Kooperationspartnern (z. B. bei Veranstaltungen oder Kongressen) bereitgestellt (vgl. Wissensnetzwerk evidence.de, 2005).
1.2.4 Bewertung der aktuellen Situation
Die gesetzlich geregelten Rahmenbedingungen unterstützen, dass Online-CME vermehrt entwickelt werden. Die von der Bundesärztekammer herausgegebenen Empfehlungen zur ärztlichen Fortbildung dienen als Richtlinie zur Gestaltung und Anerkennung von Fortbildungseinheiten für die Landesärztekammern. In einem extra Abschnitt werden Empfehlungen zur Gestaltung und Anwendung elektronischer Medien in der ärztlichen Fortbildung abgegeben. Im Wesentlichen werden die Aspekte Autorenschaft, Inhalt und Didaktik angesprochen. Diese Richtlinien sprechen die eindeutige Angabe der Herausgeber und Autoren sowie die Thematik der wissenschaftlichen Aktualität an. Die Abgrenzung von Originalinformationen und Interpretationen sowie richtige Zitierweisen sollten eingehalten werden. Der inhaltliche Bereich beschreibt in seiner Empfehlung eine modulare Gliederung eines zielgruppenspezifisch generierten Lernstoffs. Die didaktischen Empfehlungen umfassen hier problemorientiertes, interdisziplinäres und interaktives Lernen. Die Lerndauer sollte in ihrer Empfehlung einer Lerneinheit von 45 Minuten entsprechen. Wissenstransfer und Lernfortschritt sollten durch Lernkontrolle (in Form von Kontrollfragen) überprüft werden (vgl. Bundesärztekammer, 2003).
Reflektiert man diese Richtlinien, so versteht man, warum momentan Online-CME so häufig in der Ärztefortbildung vorkommen. Durch diese Vorgaben bieten sich die kurzen Lerneinheiten mit Multiple-Choice-Kontrollfragen nahezu an. Leider lässt sich eher schlecht beurteilen, ob ein tatsächlicher Wissenstransfer stattfindet, wenn es wie in unserem Beispiel lediglich darum geht, 70 % der gestellten Multiple-Choice-Fragen richtig zu beantworten. Eigentlich muss nur an der richtigen Stelle geklickt werden, um die gewollten Ergebnisse zu erzielen und einen Fortbildungspunkt zu erhalten. Ein Verstehen der Inhalte wird dabei in den seltensten Fällen sichergestellt. An dieser Stelle kommt sicherlich die Frage auf, ob Ärzte überhaupt motiviert sind, diese Art von Fortbildungsvarianten zu absolvieren – oder ob es nicht eher um einen unkomplizierten und schnellen Punkteerwerb geht, um seiner Fortbildungspflicht nachzugehen.
Auf der anderen Seite entdeckt man in der Online-CME-Bewegung neue bildungs- und lernspezifische Impulse, indem das Internet eingesetzt wird. In unserer Gesellschaft verändert sich das Verhältnis zu Medien immer stärker, und Fortbildungsvarianten wandeln und passen sich entsprechend neuer medialer Märkte an.
Es lässt sich vorstellen, dass in den Alltag integrierte Medien das lebenslange Lernen unterstützen. Liegt es da nicht nahe anzunehmen, dass sich Ärzte während einer Untersuchung Lerninhalte oder auch u. a. Online-CME auf einem digitalen Endgerät abrufen, um eine bestehende Wissenslücke aktuell schließen zu können (vgl. Baumgartner, Häfele & Maier-Häfele, 2002)? Der E-Learning-Experte Peter Baumgartner spricht hier von „just-enough-learning“ bzw. von „granularem Lernen“ (vgl. Baumgartner et al., 2002). Man könnte auch das Lernen auf Abruf assoziieren und diesbezüglich den Begriff „learning on demand“ verwenden.
Weiter könnte man das Konstrukt des Micro Learning heranziehen. Micro Learning-Szenarien werden im Allgemeinen durch den Einsatz neuer Medien unterstützt und können beispielsweise per E-Mail, online und auch per SMS stattfinden. Der Begriff „Micro Learning“ leitet sich vom Begriff des Micro Teaching ab, unter welchem ein Lehrertraining mit kleinen Schülergruppen und kleinen Unterrichtseinheiten von kurzer Dauer zur Einübung spezieller Fertigkeiten verstanden wird.
Mirco Learning ist ein Lernen eng umgrenzter Inhalte in relativ kurzer Zeit. Es kann sich um Lernphasen von Sekunden bis hin zu mehr als einer Stunde handeln. Inhaltlich dreht es sich stets um geringe Contentmengen (Microcontent, Microknowledge), wie z. B. einzelne Wörter, kurze Texte oder ganze Aufgaben. Micro Learning beschreibt eine Lernform für den in der durch Medien umgebenen und durchdrungenen Umwelt lebenden Menschen. Besonders an dieser Lernform ist, dass Lernprozesse in das tägliche Handeln oder auch in den Berufsalltag integriert werden können. Micro Learning-Phasen können isoliert stehen oder in ein Curriculum integriert sein. So können auf diese Weise Fakten, Fertigkeiten oder Prinzipien erworben werden (vgl. Reinmann, 2007).
Der Erziehungs- und Medienwissenschafter Theo Hug beschreibt verschiedene Anwendungsfelder für Micro Learning und berücksichtigt hier auch die Ärztefortbildung (vgl. Hug, 2005):
„Some are dealing with special topics such as healthcare in the continuing education …” (Hug, 2005, S. 2).
1.3 Zusammenfassung
Im ersten Kapitel wurde der Versuch unternommen, eine Bestandsaufnahme für E-Learning in der Ärztefortbildung zu skizzieren. Die momentanen Rahmenbedingungen für E-Learning in der Ärztefortbildung weisen auf deutliche Veränderungsprozesse im heutigen Gesundheitswesen hin. Der Fortschritt in der Medizin, mit dem Einsatz modernster Methoden, der Informatik- und Kommunikationstechnologie und elektronischer Endgeräte verursacht ein enormes Wissenswachstum im Gesundheitswesen. Der demografische Wandel ruft ein verändertes Patientenbild alter und multimorbider Patienten hervor. Die Fortschreitung der Informationsgesellschaft und ein erleichterter Informationszugang durch das Internet bewirken Veränderungen im Arzt-Patienten-Bild und eine gesteigerte Patientensouveränität. Im Sinne eines politisch angestrebten Digitalisierungsprozesses zur Vernetzung des gesamten Gesundheitssystems sind ganzheitliche Telematiklösungen geplant, in welche E-Learning-Szenarien letztendlich integriert werden könnten. Die gerade beschriebenen Abschnitte bewirken in ihrer Kombination einen stark ansteigenden Qualifizierungsbedarf der Ärzte.
Die aktuelle Situation von E-Learning in der Ärztefortbildung zeigt sich vor allem durch die Ergänzung klassischer Fortbildungsmethoden durch elektronische Medien. Das vermehrte Auftreten von Online-CME lässt sich vor allem durch die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen und Richtlinien für elektronische Medien in der Ärztefortbildung erklären; ein Vergleich zwischen einer Print-CME-Variante und einem Online-CME verdeutlicht die prinzipiell starken Ähnlichkeiten. Online-CME können im Sinne einer optimierten elektronischen Prozesskette einen Mehrwert bieten. Die Bewertung der aktuellen Situation von E-Learning in der Ärztefortbildung deutet das vermehrte Auftreten von Online-CME nicht nur als didaktisch schwache Umsetzung von Fortbildungsangeboten, sondern weist auch auf das Potenzial von Online-CME für arbeitsintegrierte Micro Learning-Prozesse hin.
KAPITEL 2: LERNEN UND MOTIVATION IN DER ÄRZTEFORTBILDUNG
2.1 Wie Ärzte lernen
Wie lernen Ärzte? Und ist das, was Ärzte lernen, eigentlich schwierig zu lernen? Welche Kompetenzen müssen sich Ärzte von morgen aneignen? Wie funktionieren Lernen und Wissenserwerb generell? Gibt es hier verschiedene Perspektiven, die man einnehmen kann, und welche Lehr-Lernkonzepte sind für ein ärztliches Lernen hilfreich? – Diese Fragen sollen in den folgenden Abschnitten beantwortet werden.
2.1.1 Die Komplexität des ärztlichen Lerngegenstandes
Ärzte erhalten ihre Ausbildung durch ein Universitätsstudium, welches die Grundlage für ihre ärztliche Tätigkeit bieten soll. Dieses Universitätsstudium reicht aber nicht aus, um über Jahre hinweg die ärztliche Tätigkeit vollverantwortlich ausüben zu können. Ein wesentlicher Aspekt liegt sicherlich darin, dass das heutige Medizinstudium von den Auswirkungen des naturwissenschaftlichen Paradigmas in der Medizin geprägt ist (Hohner, 2003, S. 20).
An erster Stelle rückt der ärztliche Lerngegenstand aufgrund von berufspraktisch benötigten fachmedizinischen Fertigkeiten ins Zentrum der Analyse: Unser Wissen über Gesundheit und Krankheit ändert sich fortwährend, und eine Behandlung, die heute noch den neuesten Kenntnissen entspricht, kann sich morgen schon als falsch herausstellen, oder es tauchen Krankheiten auf, die zurzeit des Medizinstudiums des Arztes noch nicht bekannt waren. Die ärztliche Berufsausübung erfordert aus diesen Gründen kontinuierliches Lernen, um sich stets aktuelles medizinisches Wissen anzueignen. Der ärztliche Lerngegenstand enthüllt sich indes als weitaus komplexer. Ärzte werden in der Regel mit den Befunden ihrer Patienten konfrontiert und müssen aufgrund ihres bereits vorhandenen Wissens eine Diagnose stellen und dementsprechend ihren Therapievorschlag abgeben. Fehler dürfen hierbei nicht unterlaufen. Es geht hier nicht um die Anwendung von Faktenwissen, sondern um eine Situationserfassung und fallbezogene Problembewältigung. Man spricht deshalb auch häufig statt von Patienten von Fällen (vgl. Schülpbach & Majumdar, 2003).
Der niedergelassene Arzt – um den es speziell in dieser Arbeit geht − ist in erster Linie auf seine subjektive Wahrnehmung und Konstruktion der Gesamtsituation angewiesen. Analog zu einem Detektiv muss der Arzt die vom Patienten und teilweise auch von seinem sozialen Umfeld offenbarten Informationen interpretieren. In vielen Fällen ist hier akutes Handeln aufgrund nur weniger Indizien gefragt, und es gilt, auf diese Fälle vorbereitet zu sein.
Nimmt man den ärztlichen Lerngegenstand genauer unter die Lupe, so sollte man nicht fragen, was Ärzte lernen sollten, sondern welche Anforderungen zukünftig auf die Ärzte zukommen werden und welche ärztlichen Kompetenzen dies erfordert.
In naher Zukunft werden den Ärzten vermehrt überfachliche Kompetenzen abverlangt werden. Die im letzten Kapitel beschriebene Multimorbidität der Patienten bringt komplexere Krankheitsbilder hervor. Akute Störungen, die bislang durch den naturwissenschaftlichen Ansatz und einfache Kausalstrukturen gelöst werden konnten, weichen nun komplexen chronischen Krankheiten. Das Bild des Arztes verändert sich vom Heiler und Retter in der Not hin zum psychosozialen Berater, was ein neues Selbstverständnis, pathogenetische Modelle sowie neue Fähigkeiten in Bezug auf Diagnostik und Therapie erfordert (vgl. Hohner, 2003).
Moderne Krankheitsbilder weisen zunehmend auch umweltbezogene oder verhaltensbezogene Aspekte auf, da verschiedene Ursachen interner und externer Art zusammenkommen können. Eine organ- und sympthomorientierte naturwissenschaftliche Auffassung und damit verbundene traditionelle ärztliche Kompetenzen weichen in Zukunft ökosystemischen Krankheitsbildern (vgl. Hohner, 2003).
Jüngere technologische Entwicklungen verursachen neue Herausforderungen an die medizinische Ethik und den damit verbundenen Fragen nach den Kriterien für Tod und einem menschenwürdigen Sterben (vgl. Hohner, 2003). Bereits der heutige Arzt und vielmehr der Arzt der Zukunft „wird sich mit diesen Problemen auf verschiedenen Ebenen, auf der handwerklich-technischen, auf der moralischen, auf der juristischen Ebene auseinander zu setzen haben“ (Hohner, 2003, S. 22).
Insgesamt werden den Ärzten also vielfältige Kompetenzerweiterungen abverlangt, und der Stellenwert von ärztlichem Lernen wird sich in naher Zukunft sicherlich deutlich erhöhen. Ärzte müssen heute mehr denn je komplexe Zusammenhänge erkennen, Situationen richtig nachvollziehen und interpretieren. Welche Einstellung hat z. B. der Patient selbst zu seiner Krankheit? Welchen Einfluss nimmt sein Umfeld auf ihn? Wie wirken weitere außerpersönliche Rahmenbedingungen auf ihn ein? Diese Anforderungen benötigen heutzutage eine gute Konstruktionsleistung des Arztes.
Aber wie können sich Ärzte das benötigte Wissen aneignen? Wie können benötigte Fähig- und Fertigkeiten erlernt werden? Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Wissen und Lernen? Wie funktioniert das Wahrnehmen von Situationen – und was hat das mit Erkennen und dem Begriff der Wahrnehmung zu tun? Diese Fragen sind äußerst komplex, können aber erklärt werden, indem man einen Exkurs in den Konstruktivismus unternimmt.
2.1.2 Exkurs in den Konstruktivismus
Einführungsbeispiel:
Leben wir in einer realen oder in einer durch unser Gehirn produzierten Welt? Ist unser Leben Traum oder Realität? Schein oder Wirklichkeit? – Genau dieses Thema streckt sich als roter Faden durch die futuristische Trilogie namens Matrix. Im Jahre 2019 wird die Welt von Maschinen beherrscht, welche die Menschen als Energiequellen in Form von schlafenden, menschlichen Batterien nutzen. Damit die Energiequelle „menschliche Rasse“ nicht rebelliert, wird den Menschen eine Computersimulation (die sogenannte Matrix), nämlich die reale Welt aus dem Jahre 1999 vorgespielt … Aber es existieren einige von den Batterien abgekoppelte Menschen, die sich der maschinellen Unterdrückung widersetzen. So wird Neo, der Held der Trilogie, von seinem späteren Meister und Lehrer Morpheus in der Matrix aufgesucht; dieser bietet ihm die Pille der Erkenntnis an, welche Neo den Unterschied zwischen Traum und Wahrheit, zwischen vorgetäuschter Realität und Wirklichkeit erkennen lässt ... Das Thema, welches sich durch die komplette Saga zieht, ist das der Konstruktion der Welt durch unser Gehirn. Wir empfinden die Welt nicht so vor, wie sie tatsächlich in der Realität existiert, sondern so, wie wir sie in unserer eigenen Wirklichkeit konstruieren und interpretieren. Die Wirklichkeit ist folglich unsere subjektive Realitätskonstruktion … Morpheus führt Neo in die Welt außerhalb der Matrix und lehrt ihm mittels Computersimulationen die Kampfkunst, damit er zu gekommener Zeit die Matrix beherrschen und die Menschheit retten kann … Um die rechte Kampfkunst erlernen zu können, muss Neo zuerst seine Sichtweise ändern, damit er verstehen kann, wie seine Erkenntnis und sein Wissen zustande kommen. In einer mysteriösen Szene sagt Morpheus zu ihm: „Was ist Realität? Was du siehst, hörst, fühlst, riechst und schmeckst? Wenn das so ist, dann ist Realität nichts weiter als elektrische Signale, interpretiert von deinem Gehirn“ (Kolodzey, 2005). Die Lösung auf die Frage findet Neo in einer Begegnung mit einem kleinen Mönchsjungen, der durch die Kraft seiner Gedanken einen Löffel verbiegt. Der Löffeljunge erklärt Neo, wie er es schafft, den Löffel zu verbiegen: „Versuch nicht, den Löffel zu verbiegen; das ist nämlich nicht möglich. Versuch einfach, dir die Wahrheit vorzustellen […] den Löffel gibt es nicht. Dann wirst du sehen, dass sich nicht der Löffel biegt, sondern du selbst“ (Kolodzey, 2005). Am Ende des ersten Teils der Trilogie „Matrix“ befindet sich Neo im Endkampf mit einem maschinellen Gegenspieler und hat es gelernt, seine Wahrnehmungen und Interpretationen der Matrix so zu modellieren, dass er diese vollständig beherrschen kann.
Wissen, Lernen und die konstruierte Wirklichkeit
Wenn man sich mit Wissen und Lernen aus konstruktivistischer Perspektive beschäftigt, stellt man sich evtl. ähnliche Fragen wie der Held Neo in Matrix: Was ist der Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit? Was kann ich wissen? Wie funktioniert eigentlich die Aufnahme von Wissen? Was kann ich wahrnehmen? Wie kann einem Lernenden Wissen vermittelt werden? Wie hat sich dementsprechend der Lehrer zu verhalten? Und wie lassen sich Lernumgebungen gestalten, um gute Lernerfolge zu erreichen?
Wissen und Lernen sind ein schwer zu trennendes Begriffspaar, denn diese beiden Begriffe stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Wissen und Lernen stellen in gewisser Weise unterschiedliche Sichtweisen auf dasselbe Phänomen dar (Reinmann, 2005, S. 5). Lernen beschreibt den Prozess des Aneignens von Wissen, und Wissen ist das Ergebnis und das Ziel von Lernen (vgl. Baumgartner & Payr, 1999).
Die Frage, was Wissen ist und wie es entsteht, gehört zu den grundlegenden Fragen der Philosophie (Mandl & Reinmann-Rothmeier, 2000, S. 4). In der Philosophie werden seit jeher solche philosophischen Entwicklungen als Erkenntnistheorie (der Fachausdruck lautet hier Epistemologie) bezeichnet, die sich mit den Möglichkeiten und Bedingungen unserer Erkenntnis beschäftigen (vgl. Allefeld, 1997). Die Erkenntnistheorie befasst sich dementsprechend mit der Frage, was Menschen erkennen bzw. wissen können. Im Gegensatz zur Ontologie[4] bezieht sie sich nur auf Dinge, die für uns wahrnehmbar und erkennbar sind. Die ontologischen Fragen nach dem Warum und Weshalb werden in der Erkenntnistheorie nicht berücksichtigt.
Bereits seit der Kontroverse zwischen Plato und Aristoteles (vgl. Mandl & Reinmann-Rothmeier, 2000) unterteilt sich die Philosophie in zwei gegenspielerische Lager: die Rationalisten (u. a. Descartes, Spinoza, Leibniz, Wolff) und die Empiristen (u. a. Hobbes, Locke, Hume) (vgl. Ludwig, 1995). Der Begriff des Wissens ist in der Philosophiegeschichte bereits immer eng mit dem Begriff der Wahrheit verbunden. „Wahrheit“ schafft eine Verbindung zur Wahrnehmung (Sinneswahrnehmung), man könnte auch sagen, es geht um die Frage, was wir für „wahr“ nehmen. Zählt also das, was wir durch unsere Sinneswahrnehmung erfahren und anschließend interpretieren, oder zählt etwa das, was wir uns vorab (a priori, vor all unserer Sinneswahrnehmung) durch unseren Geist (und unser Denkvermögen) vorstellen und anschließend anhand der Sinneswahrnehmung überprüfen?
Nach Plato existiert ein a priorisches (vor aller Erfahrung vorhandenes) Wissen, welches nicht durch unsere Sinneswahrnehmung erklärt werden muss. Wissen wird folglich deduktiv durch die Tätigkeit des logischen (logos = der Verstand) Denkens erschlossen. Aristoteles hingegen sieht die einzige Quelle des Wissens in der Sinneserfahrung. Wissen wird folglich induktiv erschlossen wird, indem die Erkenntnis von der Sinneserfahrung abgeleitet wird (vgl. Mandl & Reinmann-Rothmeier, 2000).
Vor allem in der heutigen Zeit gewinnt das Thema „Wissen“ immer größere Bedeutung, und es existieren verschiedene Formen und Disziplinen (wie etwa die der Wissenspsychologie und vor allem die Disziplin des Wissensmanagements), die sich mit Wissen aus unterschiedlichen Perspektiven befassen. Darüber hinaus gibt es die Unterscheidung zwischen Wissen, Information und Daten.
Untersucht man nun den Begriff des Lernens und dessen Verbindung zum Thema „Wissen“ genauer, stellt man sich die Frage: Was ist eigentlich unter Lernen zu verstehen? Sehr vereinfacht ausgedrückt, ist Lernen die Veränderung von Verhalten (vgl. Skowronek, 1970). Lernen wird in der Lernpsychologie als nicht unmittelbar beobachtbarer Vorgang verstanden, der zu einer relativ stabilen Veränderung im Verhalten und damit auch im Wissen einer Person führt und auf Erfahrung unterschiedlichster Art beruht (vgl. Reinmann, 2005). Dabei muss es sich im Ergebnis um relativ langfristige Veränderungen handeln, die kognitiven, affektiven, psychosomatischen oder sozialen Charakter haben (Reinmann, 2005, S. 5). Lernen erfolgt aufgrund eines Lernanlasses infolge einer Interaktion mit der Umwelt (vgl. Skowronek, 1970), welcher in der außerpsychischen Umwelt (z. B. Arbeitsalltag, Lernumgebung) oder auch in der innerpsychischen Umwelt, also in der Person selbst (z. B. Reflexion, Erlebnisse), liegen kann (vgl. Reinmann, 2005). Im definitorischen Sinne sollten Änderungen des Verhaltens ausgeschlossen werden, die sich aufgrund von Ermüdungen oder sonstigen Beeinträchtigungen durch von außen zugeführte Substanzen (wie etwa Drogen oder Medikamente) ergeben (vgl. Skowronek, 1970). Es finden sich unzählige Definitionen zum Begriff „Lernen“. Folgende zwei Definitionen stellen den Begriff des Lernens zusammenfassend dar:
„Unter Lernen versteht man den bewussten und unbewussten individuellen oder kollektiven Erwerb von geistigen und körperlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Lernen kann als Änderung des Verhaltens, Denkens oder Fühlens aufgrund verarbeiteter Wahrnehmung der Umwelt oder Bewusstwerdung eigener Regun- gen bezeichnet werden“ (WIKIPEDIA, 2006).
„Lernen ist der Vorgang, durch den eine Aktivität im Gefolge von Reaktionen des Organismus auf eine Umweltsituation entsteht oder verändert wird. Dies gilt jedoch nur, wenn sich die Art der Aktivitätsänderung nicht auf der Grundlage angeborener Reaktionstendenzen, von Reifung oder von zeitweiligen organi- schen Zuständen (z. B. Ermüdung, Drogen usw.) erklären lässt“ (Hilgard & Bo- wer, 1973, S. 16, zitiert nach Stangl, 2006).
Beschäftigt man sich mit Wissen und Lernen aus einer konstruktivistischen Sichtweise, so sind die Begriffe „Realität“ und „Wirklichkeit“ von weiterem Nutzen. Der Begriff der Realität kann mit „Sachheit“ übersetzt werden. Man kann darunter auch die außerpsychische Umwelt verstehen.
Realisten verkörpern Leute, die der Auffassung sind, dass es eine Realität gibt, die unabhängig von den Menschen und ihrem Bewusstsein existiert; alle Gegenstände dieser Welt und ihre Eigenschaften existieren folglich unabhängig von unserer Wahrnehmung. Unsere Aussagen sind dann wahr, wenn sie mit der Realität übereinstimmen (Aleksandrowicz, 2006, S. 21-22). Eine dem Realismus radikal entgegengesetzte Position ist der Idealismus. Im Idealismus wird angenommen, dass alles, was existiert, geistiger Natur und somit Gedachtes ist. Eine Richtung, die diesen Gedanken noch weiter fasst, ist der Solipsismus, der davon ausgeht, dass die Welt nur in unserem Kopf existiert.
Mit dem Begriff der Wirklichkeit kommt an dieser Stelle der Konstruktivismus[5] ins Spiel; ferner meinen wir hier den Radikalen Konstruktivismus. Die Grundthese des Radikalen Konstruktivismus (vereinfacht wird häufig die verkürzte Bezeichnung „Konstruktivismus“ verwendet) lautet, dass Erkenntnis als subjektiver Konstruktionsprozess zu verstehen ist und demgemäß die Wirklichkeit das Ergebnis der Erkenntnis ist (vgl. Allefeld, 1997). Ein Konstruktivist stellt sich auf den Standpunkt, dass Menschen die Gegenstände in ihrer Erkenntnis nicht finden, sondern erfinden, diese vielmehr konstruieren. Die Wirklichkeit ist somit unsere subjektive, innerpsychisch produzierte Realität und deren Interpretation.
Wenn ich mir vorstelle, ich möchte im nächsten Monat ein neues Auto kaufen, und habe mich z. B. für das neue Model des VW Golfs entschieden – plötzlich werden für mich die Straßen voll sein mit diesem Typ von Automobil, obwohl es in der Realität mit all seinen Mobilfahrzeugen nicht etwa auf einmal mehr Fahrzeuge vom Typ Golf geben wird. Meine Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und vor allem die Interpretation der wahrgenommenen Fahrzeuge haben sich verändert.
Die erkenntnistheoretische Interpretation des Radikalen Konstruktivismus kann auf Immanuel Kant zurückgeführt werden, der zwar von einer bewusstseinsunabhängigen Welt ausgeht, aber postuliert, dass diese für uns nicht erfahrbar ist. Kant möchte, ebenso wie Hegel, die beiden Lager der Rationalisten und der Empiristen versöhnen.
Erkenntnis und das Ding an sich
Immanuel Kant wird dem deutschen Idealismus zugeordnet. Nach ihm existieren Gegenstände nicht unabhängig von unserer Beobachtung „an sich“, sondern vielmehr als unsere Bewusstseinsinhalte. Es mag zwar sein, dass es eine bewusstseinsunabhängige Welt gibt, Kant bezeichnet sie als „das Ding an sich“, aber der Mensch hat keinerlei Zugang zu ihr (vgl. Herzig, 1999).
In Kants Kritik der reinen Vernunft zieht sich folgendes Thema wie ein Programm durch das komplette Werk: Das Verhältnis zwischen meinem Ich, das etwas erkennen möchte, und dem Gegenstand, den es zu erkennen gilt. Kant nennt dieses Programm die Kopernikanische Wende oder auch die Revolution in der Denkart (vgl. Ludwig, 1995).
„Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Ko- pernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegun- gen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenherr drehte sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ“ (Kant, 1787, KRV, B151 ff.).
Durch diesen Vergleich wird damit Schluss gemacht, dass der menschliche Verstand ein Fass ist, in welches alle gewonnene Erkenntnis hineinschüttet wird, und je nach Bemühung, Qualität des Inhalts und Bildungsfähigkeit würde sich dieses Fass und auch unsere Erkenntnis ändern. Nach Kant ist der Verstand das zentrale Maß aller Erkenntnis, um das sich die erkannten Gegenstände drehen, so wie wir sie jetzt sehen, und nicht, wie sie in der Wirklichkeit sind (vgl. Ludwig, 1995).
Ludwig (1995) verwendet hier ein Beispiel zur Verdeutlichung: Ein junger Hobby-Astronom richtet sein Teleskop in die Ferne und blickt auf die Sterne. Er nimmt einen blass-blauen runden Fleck mit merkwürdigen Ringen wahr. Ist er dagegen schon etwas geübter, wird für ihn aus dem blass-blauen Fleck ein Stern. Aus dem Stern wird etwas später (in seinem Verstand wohlgemerkt) ein kugelförmiger Planet. Noch später werden aus den Ringen Asteroiden, und aus dem Planeten wird der Saturn. Die Begriffe wie „Stern“, „Planet“ und „Ringe“ und schließlich auch der Name „Saturn“ sind eine Produktion des Verstandes. Der Planet Saturn hat sich im Erkenntnisakt nach und nach verändert und sich nach unserem Verständnis gerichtet, ohne dass sich der „Saturn an sich“ geändert hat (vgl. Ludwig, 1995).
Aber wie funktioniert bei Kant dieser Erkenntnisprozess? Um etwas erkennen zu können, benötigt man auf der einen Seite die Sinneswahrnehmung und auf der anderen Seite den Verstand. Sehen wir z. B. eine Katze, so ist es nicht nur die Leistung unseres Sehvermögens und unserer Ohren, sondern unseres Verstandes, aus dem gesehenen Tigerfell, dem Schnurrbart, den Pfoten und dem gehörten Miauen den Begriff „Katze“ zu formen. Ist dagegen keine Katze zu sehen oder zu hören, kann sich unser Verstand jedoch durch den Begriff „Katze“ ein niedliches kleines Felltierchen konstruieren (vgl. Ludwig, 1995). Wenn ich mir eine rosa Giraffe in einer Telefonzelle vorstelle, funktioniert es − obwohl eine rosa Giraffe in einer Telefonzelle nicht meiner sinnlichen Erfahrung entspricht, kann ich mir diese vorstellen.
Aber wie kann man nun aus dem Gewirr von Sinneseindrücken (bei Kant heißt es „Mannigfaltigen“) eine Ordnung finden und Gegenstände wahrnehmen? Die Antwort findet Kant in zwei reinen (a priorischen) Formen sinnlicher Anschauung als Prinzipien unserer Erkenntnis, nämlich in Raum und Zeit. Raum nennt Kant den äußeren Sinn, Zeit nennt er den inneren Sinn. Für unsere Wahrnehmung bedeutet dies, dass Raum und Zeit unsere Empfindungen ordnen und wir auf diese Weise Gegenstände wahrnehmen (vgl. Ludwig, 1995). Man kann dies mit einer unabsetzbaren Brille vergleichen. Wir haben stets die „Raumbrille“ und die „Zeitbrille“ auf und sehen deshalb immer räumlich und empfinden unser Erleben stets in zeitlicher Abfolge.
Letztendlich lassen sich Kants kopernikanische Thesen in folgendem Zitat zusammenfassen:
„Die Bedingungen der Möglichkeiten der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung …“ (Kant, 1787, KRV, B197).
Die Erkenntnis richtet sich also nicht nach den Gegenständen, sondern wir konstruieren die Gegenstände nach unserer Erkenntnis. Wir finden die Gegenstände in unserer Wahrnehmung wieder und interpretieren das Wahrgenommene (vgl. Ludwig, 1995). Eine Richtung, welche diese Kantsche Sichtweise aufgreift, ist die des Radikalen Konstruktivismus.
Vertreter des Radikalen Konstruktivismus
Die Hauptvertreter des Radikalen Konstruktivismus sind keine Philosophen, sondern stammen aus dem Umfeld kybernetisch-systemtheoretischer Forschung (Biologie, Neurobiologie und Gehirnforschung, Kybernetik, Sprach- und Entwicklungspsychologie usw.). Die Bezeichnung „Radikaler Konstruktivismus“ wurde von Ernst von Glasersfeld, einem Sprach- und Entwicklungspsychologen, eingeführt. Neben ihm gelten Heinz von Foerster (Kybernetiker) und Humberto R. Maturana & Francisco Varela (Biologen) als weitere Gründungsväter. In Deutschland wird der Radikale Konstruktivismus durch den Literaturwissenschaftler Siegfried J. Schmidt, den Neurobiologen Gerhard Roth und durch den mit seinem systemtheoretischen Ansatz mit dem Konstruktivismus verbundenen Soziologen Niklas Luhmann vertreten (vgl. Allenfeld, 1997).
Im Folgenden sollen explizit die Arbeiten von Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster sowie Humbeto R. Maturana mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden dargestellt werden.
Glasersfeld − Kybernetisches Modell
Nach Ernst von Glasersfeld bildet der kognitive Organismus ein in sich geschlossenes System. Das Rohmaterial für seine mentale Operation besteht aus Perturbationen, d.h. aus Wahrnehmungen und Operationsergebnissen, die das innere Gleichgewicht stören (vgl. Glasersfeld, 2001):
„Aus kybernetischer ebenso wie aus konstruktivistischer Sicht ist Wissen also das Repertoire der Begriffe und Begriffsstrukturen, mit denen der aktiv Erleben- de angesichts einer unaufhörlichen Folge von Perturbationen vorübergehendes Gleichgewicht schafft und zu erhalten versucht“ (Glasersfeld, 2001, S. 61).
Von Glasersfeld bezieht sich auf ein kybernetisches Modell der Wahrnehmung, das von William T. Powers ausgearbeitet worden ist. Die Idee besteht darin, dass Wahrnehmung und alle darauf aufbauenden höheren Erkenntnisfunktionen als die Konstruktion von Invarianten zu verstehen sind. Nach Powers funktioniert die Interaktion eines Organismus mit seiner Umwelt folgendermaßen: Eigenschaften der Umwelt werden nur insofern berücksichtigt, als sie von den für den Organismus notwendigen Lebensbedingungen abweichen, und entsprechend so beeinflusst, dass sie möglichst optimale Werte annehmen. Zweck dieses Prozesses ist es nicht, vorgegebene Einheiten der Welt in den Organismus aufzunehmen, sondern umgekehrt dafür zu sorgen, dass „da draußen“ nichts anderes ist als das, was durch interne Bedürfnisse festgelegt ist. Die Verhältnisse einer Außenwelt werden nicht aufgenommen, sondern vielmehr wird ein Konstrukt einer Welt geschaffen, das dem Organismus und seinen geistigen Funktionen passt. Die Konsequenz aus dem kybernetischen Modell von Powers bildet für Glasersfeld die Begründung dafür, dass das, was wir für eine objektive Welt halten, in Wahrheit die Konstruktion unseres Erkenntnisapparats ist. Dies bezeichnet er als „Radikaler Konstruktivismus“ (vgl. Allenfeld, 1997).
Ein Organismus handelt letztendlich allein, um seine Wahrnehmung zu steuern. Das bedeutet aber schließlich, dass ein Organismus lediglich seine sensorischen Signale manipuliert, um sie mit den internen Referenzwerten in Übereinstimmung zu bringen. Der Organismus handelt nicht dadurch, indem er auf ein Problem in der Umwelt einwirkt, sondern er verändert die Wahrnehmung des Problems. Glasersfeld (2001) verwendet hier das Konzept der Viabilität. Ziel dieses Konzeptes ist es, Wissen zu gewinnen, welches viabel ist, d. h. das menschliches Handeln anleitet und Problemlösungen in der Realität ermöglicht:
„Viability hieß ursprünglich die ‚Gangbarkeit’ eines Weges und wurde dann in der Entwicklungsgeschichte für die Überlebensfähigkeit von Arten, Individuen und Mutationen verwendet“ (Glasersfeld, 1995, S. 18).
Viabilität wird in diesem Sinne als eine Art Brauchbarkeit verstanden. Folglich ist das Ziel von Wahrnehmung und Erkenntnis keine möglichst wahrheitsgetreue Darstellung der Wirklichkeit, sondern eine brauchbare Erlebenswelt, die zielstrebiges Handeln verlangt (vgl. Glaserfeld, 1995). Glasersfeld erläutert dies durch das Beispiel der wilden Pferde. Wenn sich ein Hengst mit seinen Vorderhufen erfolgreich gegen ein Raubtier verteidigt, dann ist das Verhalten in Bezug auf die Umwelt genauso viabel, als wenn der Hengst flüchten würde (vgl. Glasersfeld, 1995).
Übertragen auf Lernprozesse und Problemlösungsstrategien könnte man hier anmerken, dass es im Konstruktivismus nicht die eine richtige Lösung gibt. Vielmehr existieren stets verschiedene mögliche Wege, die zur Lösung eines Problems führen. Ein lernendes System verfügt im einfachen Fall über folgende Komponenten: ein Repertoire unterschiedlicher Tätigkeiten, Wahrnehmungsorgane und über Störungsmeldungsmelder, die alarmieren, wenn die gemeldeten Signale nicht mit dem Referenzwerten übereinstimmen. Es muss eine Art Handlungsbereitschaft und ein Gedächtnis besitzen, indem der Erfolg für Handlungen aufgezeichnet wird. Ein Lernprozess beginnt zwangsläufig mit einer zufälligen Auswahl einer Tätigkeit als Reaktion auf ein Störsignal. Wird die Fehlermeldung durch diese Aktivität nicht reduziert, wird eine andere Versuchsweise eingesetzt (usw.), so lange, bis die Fehlermeldung durch Aktivität behoben ist oder bis dieser Prozess nach Versuch und Irrtum endet, wenn ein Versuch erfolgreich war. Die Verbindung zwischen erfolgreicher Tätigkeit und Störsignal wird aufgezeichnet, und sobald die Fehlermeldung das nächste Mal erscheint, wird die gespeicherte Aktivität automatisch ausgelöst. Folglich lernt ein Organismus lediglich aufgrund von Störeinflüssen bzw. gibt Gelerntes ausschließlich aufgrund von neuerlichen Störeinflüssen auf. Lernen ist demnach nichts anderes als der angepasste Umgang mit Kognitionen. Die Erklärung dieser Funktionsweise erinnert stark an das Assimilations-Akkommodations-Prinzip von Piaget (s. Abschnitt 2.1.3) (vgl. Glasersfeld, 1995).
[...]
[1] … und Ärztinnen! In dieser Arbeit verzichte ich der besseren Lesbarkeit zuliebe auf die Nennung beider Geschlechter und deren Endungen. An Stellen, an denen männliche Formen verwendet werden, sind stets immer auch Mädchen und Frauen gemeint.
[2] Name geändert.
[3] Zahlungssystem der Telekom, mit dem die Zahlungen per Telefonrechnung möglich sind.
[4] Ontologie hingegen ist die Lehre von den Dingen, die existieren, die Lehre vom Sein (vgl. Aleksandrowicz, 2006).
[5] In der Philosophie des 20. Jahrhunderts existieren mehrere unabhängig voneinander entstandene, in ihren Auffassungen völlig verschiedene erkenntnistheoretische Strömungen, die aufgrund des gemeinsamen Namensbestandteils Konstruktivismus oft irrtümlich für ähnlich oder gar übereinstimmend gehalten werden (vgl. WIKIPEDIA, 2006). Der Begriff „Konstruktion“ wird vom lateinischen „constructa“ abgeleitet und bedeutet „gedanklicher Entwurf“, „Plan“, „Entwicklung“ (Fritz-Stratmann, 2006, S. 1).
- Arbeit zitieren
- Dr. Axel Gerstenberger (Autor:in), 2007, E-Learning in der Ärztefortbildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94197
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