Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Freuds Psychoanalyse
2.1 Büchner und Freud
2.2 Triebtheorie
2.2.1 Lebenstrieb
2.2.2 Todestrieb
2.2.3 Zusammenhang Eros und Thanatos
3. Liebestod in Dantons Tod
3.1 Liebestod der Ehefrauen
3.1.1 Gifttod
3.1.2 „Es lebe der König!“
3.2 Der ersäufte Liebhaber
4. Schluss
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Liebe und Tod — Zwei Phänomene, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Doch treten sie oft in Verbindung miteinander auf, denn Liebe bedeutet nicht nur Harmonie, Erfüllung und Freude, sie ist auch oft Anlass für Leid, Schmerz sowie den Tod. Ob im Theater oder in der Literatur, der sogenannte „Liebestod“ stellt dabei wohl die faszinierendste Verbindung zwischen Eros und Thanatos her. Bereits in der Antike war er Gegenstand von Mythen und bis heute ist er als zentrales Motiv in vielen literarischen Werken großer Schriftsteller aufzufinden: von Tristan und Isolde, über Shakespeares Romeo und Julia bis hin zu Goethes Die Leiden des jungen Werthers. In der deutschen Literatur wird er vor allem im 18. und 19. Jahrhundert thematisiert, denn zu dieser Zeit galt der Liebestod in Europa als „Faszinosum besonderer Art“1. So verwendet auch Georg Büchner in Dantons Tod dieses literarische Motiv. In seinem Drama gibt es drei Szenen, in denen aus Liebe zu einem Partner Selbstmord begangen wird.
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich ausgehend von dieser Beobachtung auf die Frage, aus welchen Beweggründen sich die Figuren für den Liebestod entscheiden und welche Bedeutung dies für die Interpretation des Gesamttexts hat. Gestützt wird sich hierzu auf die Methode der Psychoanalyse Freuds, der sich in seiner Triebtheorie mit dem Liebes- und Todestrieb auseinandersetzt. Die Analyse wird anhand der drei „Selbstmordszenen“ von Marions Liebhaber, Lucile und Julie durchgeführt. Hierbei wird jeweils die Liebesbeziehung zu deren Partnern, die Umstände ihres Todes und ihre innere Gefühlswelt betrachtet. Mittels der gewonnenen Erkenntnisse wird abschließend in einem Fazit die Forschungsfrage beantwortet.
2. Freuds Psychoanalyse
2.1 Büchner und Freud
Georg Büchner hinterlässt angesichts seines kurzen Lebens ein eher schmales, jedoch sehr besonderes ffiuvre. Denn sein schriftstellerisches Schaffen wurde maßgeblich durch sein Dasein als Mediziner und Naturwissenschaftler geprägt. So verfasste er seine Werke Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena sowie Woygeck zeitgleich zu naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien.2 Daher behandeln diese auch Themen wie „[d]ie Überzeugung von einem tiefgreifenden psycho-physischen Determinismus menschlichen Handelns, die skeptische Distanz gegenüber tradierten Denkgewohnheiten, die Frage nach dem Unbewußten und der Triebnatur“3 sowie den Gegensatz von Liebe und Tod. Diese Verknüpfung von naturwissenschaftlichem und psychologischem Denken erinnert stark an Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse. Wie Büchner studierte auch Freud Medizin und „[b]eide entwickeln offenbar aufgrund ihrer anatomischen, physiologischen und neurologischen Forschungsarbeit ein genuin psychologisches Interesse an der Leib-Seele Mensch“4. Da in ihren Schriften eine „geradezu provozierende Nähe ihrer Inhalte und Fragestellungen“5 besteht, wird für die Analyse Freuds Trieblehre verwendet. Dadurch soll Büchner nicht nur als Dichter, sondern auch als Naturwissenschaftler verstanden werden. Die Freud‘schen Theoreme stellen „durch ihr theoretisch-analytisches Begriffs- und Deskriptionsmaterial einen entsprechenden Interpretationsrahmen“6 dafür bereit.
2.2 Triebtheorie
„Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen.“7 — Freuds Worte in seiner Schrift Neue Folge der Vorlesung gur Einführung in die Psychoanalyse machen deutlich, weshalb er seine psychoanalytische Trieblehre immer wieder überarbeiten musste und mit dieser zu seiner Zeit auf großen Widerstand gestoßen ist. Er versuchte „die Kräfte zu erfassen, die das psych. Geschehen determinieren“8 und konzipierte dafür eine dualistisch aufgebaute Theorie, in der er immer zwei Triebarten konflikthaft gegeneinander wirken lässt.9 „Freuds Triebtheorie ist also zugleich eine Konfliktlehre, ,welche die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft, Natur und Kultur, Triebansprüchen und Triebversagungen, Eros und Thanatos zum Gegenstand hat‘“10. Für diese Arbeit ist dabei der letztere Aspekt, das Gegensatzpaar von Lebens- und Todestrieb, relevant. Die nachfolgende Begriffsbestimmung basiert auf Freuds Schrift Das Unbehagen in der Kultur von 1930, da er in dieser die Ergebnisse seiner bisherigen Triebtheorie zum Großteil verarbeitet und ausgereift hat.
2.2.1 Lebenstrieb
Unter Eros, auch Liebes- oder Lebenstrieb, versteht Freud einen Trieb, der die lebende Substanz erhalten und zu immer größeren Einheiten zusammenfassen will: von einzelnen menschlichen Individuen, über Familien sowie Stämme, Völker und Nationen bis hin zur Menschheit an sich.11 Dass diese Menschenmengen libidinös aneinander gebunden werden sollen, zeugt von dem Bindungsprinzip des Eros.12 Die nachfolgenden Triebe, welche Freud ursprünglich als eigenen Triebdualismus eingeführt hat, sind nun Teil des Lebenstriebs:
1) Die Ich- bzw. Selbsterhaltungstriebe sind die nicht-libidinösen Triebe, welche das Einzelwesen erhalten wollen.13 Hierbei handelt es sich um die zielgehemmte Liebe, also Zuneigung oder Zärtlichkeit wie bei einer Beziehung zwischen Mutter und Kind.
2) Die Sexual- bzw. Objekt- oder auch Arterhaltungstriebe haben als libidinöse Triebe ihre Hauptfunktion in der Erhaltung der Art, was auch von der Natur in jeder Weise begünstigt wird.14 Es ist somit die Rede von der geschlechtlichen oder genitalen Liebe.
Die Sexualtriebe gelten mit ihrer Fortpflanzungs- und Arterhaltungsfunktion als die Hauptrepräsentanten des Eros.15 Dabei wird die Libido von einer anfangs ausschließlichen Energiequelle der Sexualtriebe nun für die Kraftäußerung des Eros verwendet.16 Sie beinhaltet damit Lust, Leidenschaft und sexuelles Begehren.
2.2.2 Todestrieb
Der Todestrieb, auch Destruktionstrieb oder Thanatos genannt, ist nach Freud der gegensätzliche Trieb zu Eros. Dieser strebt danach, die Einheiten des Lebenstriebs aufzulösen und sie dann in den uranfänglichen, anorganischen Zustand zurückzuführen.17
Bereits in Jenseits des Lustprinzips von 1920 führt Freud aufgrund von Spekulationen den Todestrieb ein, dessen Existenz er im Gegensatz zum Eros jedoch auch in Das Unbehagen in der Kultur nicht eindeutig beweisen kann:
Nun war es nicht leicht, die Tätigkeit dieses angenommenen Todestriebs aufzuzeigen. Die Äußerungen des Eros waren auffällig und geräuschvoll genug; man konnte annehmen, daß der Todestrieb stumm im Inneren des Lebewesens an dessen Auflösung arbeite, aber das war natürlich kein Nachweis.18
Er ist der Auffassung, Thanatos komme in seiner eigentlich nach innen gerichteten Form der Selbstzerstörung nur selten vor. Vielmehr tritt ein Teil des Triebes nach außen als Aggression und Destruktion in Erscheinung, weshalb er den Todestrieb auch Destruktionstrieb genannt hat. Wenn die Abfuhr der Aggressionen nach außen jedoch nicht möglich ist, werden die ohnehin immer vor sich gehenden selbstzerstörende Potentiale gesteigert.19 Den natürlichen Aggressionstrieb besitzt jeder Mensch und Freud beschreibt ihn als „Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes, den wir neben dem Eros gefunden haben, der sich mit ihm in die Weltherrschaft teilt“20.
2.2.3 Zusammenhang Eros und Thanatos
Mit dem Lebens- und Todestrieb legt Freud zwei basale Triebe bzw. Grundbedürfnisse fest, durch die das menschliche Leben, genau genommen das „Es“, gelenkt wird. Es sind „Kräfte, die im organischen Leben einerseits nach Erhaltung, Bindung und Entwicklung und andererseits nach Regression und Tod [...] streben“21. Diese treten stets zusammen auf und in ihrem ständigen Zusammen- sowie Gegeneinanderwirken sieht Freud das Phänomen des Lebens.22 Da sich die beiden Triebe in jeweils unterschiedlichen Mengenverhältnissen miteinander legieren, sind sie nach Freud für ein Urteil nicht erkenntlich.23 Dadurch haben Lebens- und Todestrieb für ihn einen mythischen Charakter, wie bereits in Kapitel 2.2 beschrieben, was durch ihre Umschreibung als „Eros“ und „Thanatos“ deutlich wird.24 Die Beziehung der zwei Triebgruppen macht besonders, dass Thanatos in den Dienst des Eros gezwängt wird, „indem das Lebewesen anderes, Belebtes wie Unbelebtes, anstatt seines eigenen Selbst vernichtete“25, wodurch jede Triebäußerung indirekt an den Todeswunsch gebunden ist. „[A]us der Ambivalenz von Liebe und Haß, aus der Gleichzeitigkeit des Bedürfnisses nach Liebe und dem Drang nach Triebbefriedigung entwickeln sich Angst (vor Liebesverlust) und Schuldgefühl (aufgrund der fortwirkenden Aggressionen) und in dessen Gefolge die Selbstbestrafung.“26 Dieser ewige Kampf zwischen Eros und Thanatos, also Selbsterhaltung und Selbstzerstörung, macht nach Freud den wesentlichen Inhalt des Lebens aus.27
3. Liebestod in Dantons Tod
Freuds große Themen von Lust, Trieb und Tod spielen in Dantons Tod eine zentrale Rolle. Büchner rezipiert und revolutioniert das philosophie- und wissenschaftstheoretische Wahrnehmungsmaterial seiner Zeit, „indem er die ,vernünftige‘ Geschichte mit der todessehnsüchtigen, wahnsinnigen und mordenden Natur konfrontiert“28. Der Titel selbst lässt schon erahnen, dass der Tod ein allgegenwärtiges Motiv des Dramas ist: neben den Morden der Französischen Revolution und Dantons Todessehnsucht vor allem der Liebestod. Insgesamt gibt es drei Figuren, einen Mann und zwei Frauen, die sich für den Freitod aus Liebe entscheiden. Wer sie sind, wie deren Tat aussieht und was sie dazu bewegt hat, wird im Folgenden erläutert und anhand Freuds Triebmodell analysiert.
3.1 Liebestod der Ehefrauen
Julie Danton und Lucile Desmoulins — Zwei Frauen, denen zweifellos eine große Bedeutung im Drama zugeschrieben wird. Es sind Julies Anfangs- sowie Luciles Endszene die dem Stück gewissermaßen einen Rahmen geben.29 Als Frauen treten sie fast ausschließlich im privaten Raum auf und ihr Wesen ist auf das Dasein als Ehefrau beschränkt. Da sie die Liebe auf emotionaler Ebene verkörpern, geben sie ihren Männern, Georg Danton und Camille Desmoulins, Halt und stehen ihnen zur Seite. Die nachfolgende Betrachtung von Julies und Luciles Beziehung zu ihrem Ehepartner soll zur Beantwortung der Frage beitragen, wieso sie sich für den Liebestod entschieden haben: ein Akt fehlender Emanzipation oder ein Ausdruck größtmöglicher Liebe?
[...]
1 Schulz, Gerhard: Liebestod. Gedanken zu einem literarischen Motiv. In: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Sabine Doering, Waltraud Maierhofer und Peter Philipp Riedl. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2000. S. 375-389, hier S. 379.
2 Vgl. Kitzbichler, Martina: Aufbegehren der Natur. Das Schicksal der vergesellschafteten Seele in Georg Büchners Werk. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. S. 12.
3 Kitzbichler: Aufbegehren der Natur. S. 12.
4 Ebd.
5 Ebd.
6 Ebd. S. 18.
7 Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1933. S. 131.
8 Bayer, Lothar: Triebtheorie nach Freud. In: Dorsch. Lexikon der Psychologie. Hrsg. von Markus Antonius Wirz. Online abrufbar unter: https://portal.hogrefe.com/dorsch/triebtheorie-nach-freud-1/ (14.02.2020).
9 Vgl. ebd.
10 Imbusch, Peter: Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektive auf das 20. Jahrhundert. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage 2005. S. 93.
11 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders.: Studienausgabe. Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Bd. 9. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und Strachey James. 5. Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer 1989. S. 245-249, hier S. 246ff.
12 Vgl. ebd. S. 249.
13 Vgl. ebd. S. 245.
14 Vgl. ebd.
15 Vgl. Köhler, Thomas: Freuds Psychoanalyse. Eine Einführung. 2. Auflage. Stuttgart: W. Kohlhammer 2007. S. 73.
16 Vgl. Freud: Das Unbehagen in der Kultur. S. 245ff
17 Vgl. ebd. S. 246.
18 Ebd.
19 Vgl. Freud: Das Unbehagen in der Kultur. S. 247.
20 Ebd. S. 249.
21 Kitzbichler: Aufbegehren der Natur. S. 21.
22 Vgl. Freud: Das Unbehagen in der Kultur. S. 246f.
23 Vgl. ebd. S. 247.
24 Vgl. Kitzbichler: Aufbegehren der Natur. S. 21.
25 Freud: Das Unbehagen in der Kultur. S. 247.
26 Kitzbichler: Aufbegehren der Natur. S. 22.
27 Vgl. Freud: Das Unbehagen in der Kultur. S. 249.
28 Kitzbichler: Aufbegehren der Natur. S. 18.
29 Vgl. Borgards, Roland und Neumeyer, Harald (Hrsg.): Büchner-Handbuch. Leben — Werk — Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung 2009. S. 225-254, hier S. 226.