Essstörungen im Leistungssport. Begünstigt das System "Leistungssport" die Entwicklung von Essstörungen?


Bachelorarbeit, 2019

49 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Leistungssport
2.2 System Leistungssport

3. Essstörungen
3.1 Klassifikationssysteme
3.2 Klassische Essstörungen
3.2.1 Anorexia nervosa
3.2.2 Bulimia nervosa
3.2.3 Binge-Eating-Disorder

4. Essstörungen im Leistungssport
4.1 Anorexia athletica
4.2 Ätiologie
4.3 Risikosportarten

5. Fallbeispiele

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Essstörungen sind längst keine Modeerscheinung mehr, sondern stellen eine ernsthafte Erkrankung dar, unter der immer mehr Menschen leiden. Gesellschaftlicher Einfluss, vermeintliche Schönheitsideale, Perfektionismus und das Streben nach Macht und Anerkennung beeinflussen und steuern unser Leben (vgl. Baumann, 2008, S. 1). Oftmals werden psychische Konflikte und soziale Probleme, die häufig daraus resultieren (vgl. Bartl, 2010, S. 1), durch essen kompensiert und der Fluchtweg in die Essstörung angetreten (vgl. Baumann, 2008, S. 1). Während manche Menschen sich dadurch auszeichnen Unmengen an Nahrung zu sich zu nehmen, reduzieren andere diese auf ein Minimum (vgl. Bartl, 2010, S. 1).

Die Problematik Essstörung im Sport wird aufgrund prominenter Beispiele wiederkehrend in den Medien thematisiert (Lebenstedt et al., 2004, S. 1). Die AthletInnen sind einem ständigen Druck ausgesetzt, ihre Leistungsfähigkeit zu steigern, eine Gewichtsklasse zu erreichen oder einer ästhetischen Norm zu entsprechen. Dies führt zunehmend zu der Anstrengung, ein oft unrealistisch niedriges Körpergewicht bzw. ein niedrigen Körperfettanteil zu erreichen (vgl. ebd. S. 7). Einige erfolgreiche SportlerInnen, wie beispielsweise die ehemalige amerikanische Kunstturnmeisterin Christy Heinrich, bezahlen ihr Streben nach einem möglichst schlanken Körper und Erfolg sogar mit ihrem Leben (vgl. ebd. S. 10).

In dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, was LeistungssportlerInnen dazu veranlasst, dieses Risiko einzugehen? Diesbezüglich soll ermittelt werden, welche Faktoren beim Auftreten einer Essstörung im Leistungssport eine entscheidende Rolle spielen. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, ob LeistungssportlerInnen häufiger von Essstörungen betroffen sind, als NichtsportlerInnen. Wenn ja gibt es Sportarten, die eine besondere Gefährdung darstellen? Oder begünstigt bereits das System Leistungssport die Entwicklung von Essstörungen?

Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Im nächsten Kapitel wird zunächst der Begriff Leistungssport definiert (Kapitel 2.1) und ein Zusammenhang zwischen der Systemtheorie und Essstörungen hergestellt (Kapitel 2.2).

Im Anschluss daran erfolgt in Kapitel 3 eine Hinführung zum Thema Essstörungen. Zu diesem Zweck werden die Klassifikationssysteme erläutert (Kapitel 3.1) und die klassischen Formen der Essstörungen vorgestellt (Kapitel 3.2).

Das vierte Kapitel befasst sich mit dem Thema Essstörungen im Leistungssport und führt den Begriff Anorexia athletica ins Feld (Kapitel 4.1). In diesem Zusammenhang werden die Ätiologie (Kapitel 4.2) und mögliche Risikosportarten (Kapitel 4.3) vorgestellt Im darauffolgenden Kapitel werden drei Fallbeispiele bekannter und erfolgreicher LeistungssportlerInnen dargeboten, die bereits Erfahrungen mit Essstörungen gesammelt haben (Kapitel 5).

Schlussendlich wird im letzten Kapitel hinsichtlich der zu Beginn aufgestellten Fragen ein Resümee gezogen (Kapitel 6).

2. Theoretischer Hintergrund

Um das Thema Essstörungen im Leistungssport behandeln zu können, wird zunächst in Kapitel 2.1 eine Spezifizierung des Begriffs Leistungssport vorgenommen. Im Anschluss daran wird das Thema Essstörungen in Anlehnung an die systemtheoretische Betrachtung erörtert.

2.1 Leistungssport

Der Begriff Leistungssport weist eine Vielzahl von möglichen Begriffsbestimmungen auf. Fachleute sind sich uneinig, wo der Breitensport aufhört und der Leistungssport beginnt. Das sportwissenschaftliche Lexikon definiert Leistungssport, als Sport, der mit dem Ziel der Erreichung einer persönlichen Höchstleistung betrieben wird (vgl. Röthig, 1992, S. 282). Vom Bundesamt für Sport (BASPO) wird Leistungssport beschrieben als die „manifeste Ausrichtung auf Leistungsziele und den Leistungsvergleich anlässlich von nationalen und internationalen Wettkämpfen“ (Braun, 2016, S. 17). Fester Bestandteil des Leistungssports ist die Konkurrenzorientierung. Offenbart wird sie in der Aufgabe der SportlerInnen, sich gegen andere zu behaupten und die Leistungen der Konkurrenten zu überbieten (vgl. Weber, 2003, S. 95). Folglich trainieren LeistungssportlerInnen wettkampf- und konkurrenzorientiert. „Die körperlichen Leistungen im Spitzensport werden anhand eines Trainingsplans entwickelt, der Tag für Tag eingehalten werden muss, damit am Höhepunkt des sportlichen Lebens, dem Wettkampf, der höchste Leistungsstand erreicht wird“ (Andrey, 2009, S. 19). Um den Begriff Leistungssport noch genauer zu definieren und auf entsprechende Sportlerkollektive zu übertragen ist es unabdingbar, eine Charakterisierung der leistungsphysiologischen und trainingsanamnestischen Basisdaten vorzunehmen. Die Beschreibung von Sportlerkollektiven mit dem Anspruch Leistungssport setzt bestimmte Aspekte voraus. Die Basis des Leistungssports ist die Mitgliedschaft in einem Sportverein oder- verband, sowie die Regelmäßige Teilnahme an überregionalen Wettkämpfen. In diesem Zusammenhang ist eine Unterscheidung zwischen Weltklasse,- und OlympiasportlerInnen, sowie nationalen ElitesportlerInnen und beginnenden LeistungssportlerInnen mit kürzerer Trainings- und Wettkampfhistorie notwendig. Darüber hinaus werden das Niveau der sportlichen Leistungen (Bestleistungen, Platzierungen), sowie physiologische Kenngrößen der körperlichen Leistungsfähigkeit (u.a. Laktakschwellen) angegeben. Auch die Trainingsanamnese stellt einen wichtigen Aspekt dar. Diesbezüglich sollten Angaben über die Dauer, den Umfang, sowie die Intensität des Leistungssports gemacht werden. Ferner wird zwischen JugendsportlerInnen, jüngeren ErwachsenensportlerInnen im typischen Leistungssportalter von 18 bis 35 Jahren und älteren ErwachsenensportlerInnen unterschieden (vgl. Scharhag et al., 2018).

2.2 System Leistungssport

Bei der Systemtheorie handelt es sich um ein interdisziplinäres Erkenntnismodell, welches Systeme zur Beschreibung und Erklärung verschiedener komplexer Phänomene heranzieht (vgl. Sedlacek et al., 2010, S. 11). „Als System (griechisch ‚Zusammenstellung‘) wird allgemein das aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzte Ganze, die Gesamtheit von Elementen bezeichnet, die so aufeinander bezogen oder miteinander verbunden sind und in einer Weise interagieren, dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können, d. h. als strukturierte systematische Ganzheit“ (Hugger & Kordaß, 2018, S. 16). „In der differenzierungstheoretischen Perspektive gelten Wirtschaft, Politik, Bildungs- und Gesundheitswesen, Kunst, Religion, Wissenschaft, sowie Familie und Leistungssport als eigenständige, soziale Teilsysteme, die sich mit der Umstellung des gesellschaftlichen Differenzierungsprinzips allmählich auszudifferenzieren beginnen […]“ (Weber, 2003, S. 23). Im Laufe der Vergangenheit hat sich das Differenzierungsprinzip stetig verändert. In modernen Gesellschaften hat sich jedoch die funktionale Differenzierung durchgesetzt. Die verschiedenen Teilsysteme sind auf spezifische Bezugsprobleme der Gesellschaft eingestellt. Die Funktion der Politik besteht beispielsweise darin, kollektiv übergreifende Entscheidungen zu treffen (vgl. ebd., S. 23). Die Ausprägung eigenständiger, semantischer Codes ist essentiell für die gesellschaftlichen Funktionsbereiche. Die jeweiligen Systeme definieren sich über die binäre Codierung, anhand derer die Teilsysteme operieren. So unterscheidet das Rechtssystem beispielsweise zwischen Recht und Unrecht und die Wissenschaft zwischen Wahrheit und Unwahrheit (vgl. ebd., S. 27). Die Subsysteme erbringen Leistungen füreinander und ergänzen sich infolgedessen, was sie unverzichtbar macht. Schimank und Volkmann unterscheiden folgende Arten intersystemischer Leistungen: Bereitstellung von 1) finanziellen Ressourcen, 2) Technik, 3) Personal, 4) Wissen, 5) Entscheidungen und 6) Gewalt (vgl. ebd., S. 32). Im Teilsystem Leistungssport wird beispielsweise eine umfassende Infrastruktur zur Verfügung gestellt. So sollen eine Rundumbetreuung der Leistungsträger und eine optimale Vorbereitung auf Wettkämpfen gewährleistet werden. Darüber hinaus werden ab Mitte der 60er Jahre sportspezifische Förderungseinrichtungen gegründet, wie Sportinternate und Landes,- Bundes- und Olympiastützpunkte (vgl. Weber, 2003, S. 94).

Der Leistungssport als gesellschaftliches Teilsystem

Das ausdifferenzierte Teilsystem Leistungssport zeichnet sich nicht durch eine gesellschaftliche Funktion aus, lässt sich aber dennoch über den binären Code Sieg/Niederlage näher charakterisieren (vgl. ebd., S. 23f.). Das leistungssportliche Handeln aller Akteure beruht auf dieser binären Codierung, mit der auch eine Konkurrenz- und Wettbewerbsorientierung einhergeht (vgl. ebd., S. 94). Leistungsvergleiche entscheiden über den Zutritt und das Verbleiben im System. AthletInnen stehen folglich vor der Aufgabe, sich gegen ihre KonkurrentInnen durchzusetzen und diese zu überbieten. In einigen Sportdisziplinen erhalten die SportlerInnen lediglich eine Chance. Ein Übertritt der vorgegebenen Fläche beim Kunstturnen kann beispielsweise alle Siegchancen zerstören (vgl. ebd., S. 95). Dieser Drang nach Perfektion und der Wunsch besser zu sein als seine KonkurrentInnen üben einen enormen Druck auf die SportlerInnen aus. Neben den AthletInnen und TrainerInnen existieren in diesem Teilsystem darüber hinaus eine Reihe weiterer Akteure, wie beispielsweise Funktionäre, Mediziner, Sponsoren, Journalisten, Zuschauer, sowie Experten des Rechts und der Wissenschaft (vgl. ebd., S. 94). Während sich die SportlerInnen für Siege interessieren, verfolgen jene Akteure andere Ziele: Für Unternehmer stehen gewinnbringende Investitionen im Vordergrund, Politiker richten ihr Augenmerk auf den Ausbau der eigenen Machtposition und für die Massenmedien ist der Neuigkeitswert ihrer Berichtserstattung entscheidend (vgl. Dresen, 2010, S. 221). „Infolge dieser unterschiedlichen systemkonstituierenden Codierung befinden sich die gesellschaftlichen Teilsysteme in einem Orientierungsdissens, gleichzeitig aber immer auch in spezifischen Interessenkonsensen, die allesamt über die finanziellen Zuwendungen verbunden sind“ (Ebd., S. 221).

Die Massenmedien entdeckten recht früh, dass die Menschen ein gesteigertes Interesse am Sport zeigen (vgl. Weber, 2003, S. 96). „Die Medialisierung des Sports – die ihm durch den Verkauf von Senderechten existentiell wichtige Finanzressourcen einbringt, während die Massenmedien im Gegenzug von den erhöhten Einschaltquoten und Auflagen profitieren -, steigerte aber nicht nur die Nachfrageinteressen des Publikums“ (Ebd., S. 97). Die mediale Instrumentalisierung des Sports hat auch das Interesse anderer Funktionsbereiche geweckt (siehe Abb.1). So stellt der Leistungssport beispielsweise für den Absatzmarkt des Wirtschaftssystems einen wichtigen Faktor dar und wird als attraktiver Werbeträger für Konsumgüter genutzt. Ziel ist ein Imagetransfer des Leistungssports auf die Produkte. Prominente AthletInnen verkörpern Werte wie Leistungsbereitschaft und Durchhaltevermögen, was die jeweiligen Angebote hochwertiger erscheinen lässt (vgl. ebd., S. 97). Für die Interessen der Teilsysteme, ist es unabdingbar, dass die SportlerInnen erfolgreich sind. In diesem Sinne fordern die Akteure des Wirtschaftssystems, ebenso wie alle anderen Umfeldakteure des Leistungssports, eine Steigerung sportlicher Leistungen. Das Motto Citius, Altius, Fortius (faster, higher, stronger) gilt also nicht nur im System Leistungssport, sondern spielt auch in anderen Teilsystemen eine entscheidende Rolle (vgl. Tamir et al., 2015, S. 107). Folglich sehen sich die Akteure nicht nur dem eigenen Anspruch, besser als die Konkurrenz zu sein, ausgesetzt, sondern werden gleichzeitig mit der Beobachtung und Instrumentalisierung dieser Konkurrenz durch Massenmedien, Politik und Wirtschaft konfrontiert (vgl. ebd., S. 221f.).

Die folgende Abbildung stellt die Kerninteressen der Teilsysteme übersichtlich dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Umwelten des Spitzensports und ihre teilsystemischen Interessen (Dresen, 2010, S. 223)

Es wird ersichtlich, dass das Leistungssport-System zuverlässige Siege der AthletInnen voraussetzt. Die finanzielle Zuwendung ist an nachweisbare Erfolge gebunden. Es stellt sich die Frage, wie die SportlerInnen diesen extremen Anforderungen an Körper und Psyche dauerhaft standhalten sollen. Die Literatur verweist darauf, dass der Rückgriff auf Doping für einige SporlterInnen in der Vergangenheit eine Lösung zu sein schien (vgl. Dresen, 2010, S. 225). Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass es AthletInnen gibt, die Doping entschieden ablehnen. Doch wie kann dann eine Leistungssteigerung erzielt werden? Was tun, wenn die Konkurrenten diesmal besser waren? Verschiedene Studien zum Thema Essstörungen sind auf das Phänomen Anorexia athletica gestoßen. Infolge dieser Störung verringern SportlerInnen bewusst das eigene Körpergewicht, um bessere sportliche Leistungen zu erzielen (vgl. Lebenstedt et al., 2004, S. 28). Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass aufgrund des Leistungsdrucks, den das Teilsystem Leistungssport mit sich bringt, die SportlerInnen dazu neigen, ihr Essverhalten zu reduzieren und eine Essstörung zu entwickeln.

3. Essstörungen

„Als Ess-Störungen werden nach den klinischen Klassifikationssystemen (DSM-IV/DSM-IV-TR und ICD 10) Störungen in der Regulation der Nahrungsaufnahme bezeichnet, die nicht durch körperliche Faktoren wie Krankheiten induziert werden“ (Lebenstedt et al., 2004, S. 14). Folglich handelt es sich um psychosomatische Erkrankungen, bei denen das Essen ein zentrales Problem darstellt, welches negative medizinische, psychische und soziale Folgen hervorbringt. Betroffene leiden unter einem gestörten Verhältnis zum Essen und zum eigenen Körper (vgl. ebd., S. 14).

Im Folgenden werden die zwei international gebräuchlichen Klassifikationssysteme beschrieben, bevor auf die klassischen Essstörungen eingegangen wird.

3.1 Klassifikationssysteme

Um die Diagnose einer Essstörung stellen zu können, bedarf es bestimmter Merkmale, die in zwei international gebräuchlichen Klassifikationssystemen beschrieben werden. „Das Klassifikationsschema der Weltgesundheitsorganisation »International Classification of Diseases« (ICD) umfasst alle Krankheiten, die es gibt“ (Gerlinghoff, 2003, S. 14). Essstörungen sind im Kapitel F5 „Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren“ der internationalen Klassifikation Psychischer Störungen (ICD-10) aufgeführt (vgl. Jacobi et al., 2004, S. 1). Anorexia nervosa (F50.0) und Bulimia nervosa (F50.2) werden als wichtigste Syndrome benannt (siehe Tab.1). „Daneben existiert als weniger spezifische Störung jeweils eine Form einer ‚atypischen‘ Anorexia und Bulimia nervosa, die Kategorie ‚Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen‘, ‚Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen‘ sowie die Kategorien ‚sonstige Essstörungen‘ und ‚Nicht näher bezeichnete Essstörungen‘“ (Jacobi et al., 2004, S. 1).

Bei dem zweiten Klassifikationssystem handelt es sich um „Diagnostic and statisrical Manual of Mental Disorders“ (DSM), welches von der amerikanischen Psychiatriegesellschaft erarbeitet wurde. Dieses System beschränkt sich auf psychische Störungen und ist seit 1994 in der 4. Fassung (DSM-IV) verfügbar (vgl. Gerlinghoff, 2003, S. 14f.). Das Klassifikationssystem DSM-IV ordnet Essstörungen in einem eigenen Kapitel ein (vgl. Jacobi et al., 2004, S. 1) und nahm im Jahr 1994 eine neue Untergruppe, bestehend aus Übergewichtigen, welche Essanfälle mit einhergehendem Kontrollverlust erleiden, in die Forschungskriterien auf (vgl. Fuchs, 2012, S. 232). Dieses Störungsbild wurde als Binge-Eating-Störung bezeichnet und gehört seit jeher der Kategorie Nicht näher Bezeichnete Essstörung an (vgl. Jacobi et al., 2004, S. 1).

In Tabelle 1 werden die entsprechenden diagnostischen Kategorien des ICD-10 und DSM-IV gegenübergestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Klassifikation von Essstörungen im ICD-10 und DSM-IV (Jacobi et al., 2004, S. 2).

3.2 Klassische Essstörungen

3.2.1 Anorexia nervosa

Charakteristisch für die Krankheit Anorexia Nervosa, im Deutschen auch bekannt als Magersucht, ist ein selbst herbeigeführtes Untergewicht (vgl. Schneller, 2010, S. 8).Dabei liegt das Körpergewicht mindestens 15% unter dem für Geschlecht, Größe und Alter zu erwartenden Gewicht bzw. bei Erwachsenen unterhalb von 17,5 kg/m2 (Body-Mass-Index) (vgl. Zeeck et al. 2011, S. 48). Bei Kindern und Jugendlichen ist die Verwendung des BMI nicht angebracht. Als Gewichtskriterium wird hier stattdessen das Unterschreiten der 10. Altersperzentile verwendet (vgl. Fuchs, 2012, S. 232). Anorektische Menschen verspüren den Wunsch extrem schlank zu sein und selbstbestimmt handeln zu können. Ihr Körperbild ist völlig verschoben (Körperschemastörung) und trotz des bestehenden Untergewichts ist die Angst, zu dick zu sein, allgegenwärtig (vgl. Lebenstedt et al., 2004,S. 14).

Es werden zwei Formen der Anorexia nervosa unterschieden: die restriktive Form zeichnet sich dadurch aus, dass das Untergewicht durch eine eingeschränkte Nahrungszufuhr und zusätzliche sportliche Aktivität erzielt wird, wohingegen bei der aktiven Form (purging-Typ), selbstinduziertes Erbrechen oder die Einnahme von Abführmitteln oder Diuretika die gewünschte Gewichtsreduktion herbeiführen sollen (vgl. Fuchs, 2012, S. 232). Häufig sind Betroffene nicht in der Lage, den Gewichtsverlust selbst adäquat wahrzunehmen und verleugnen diesen (vgl. Teufel & Zipfel, 2015, S. 16). Die fehlende Krankheitseinsicht führt dazu, dass eine Therapie häufig sehr mühsam und in einigen Fällen sogar hoffnungslos ist (Lebenstedt et al., 2004,S. 15). Menschen, die unter einer schweren Anorexie leiden, zeigen einen kachektischen Ernährungszustand (vgl. Teufel, Zipfel, 2015, S. 16). „Die äußerliche Erscheinung ist fahl, subkutanes Fettgewebe kann fehlen, sodass einzelne Knochen sowie Muskeln und Muskelsehnen wahrgenommen werden“ (Teufel & Zipfel, 2015, S. 16). In Extremfällen fühlen sich Betroffene auch im Zustand der Kachexie noch zu dick (vgl. ebd., S. 16). Um die Anorexia nervosa eindeutig diagnostizieren zu können, wurden Kriterien entwickelt, die in den Klassifikationssystemen (DSM-IV und ICD-10) festgelegt wurden. Die diagnostischen Kriterien der DSM-IV und ICD-10 weisen Ähnlichkeiten hinsichtlich des Gewichtskriteriums, der Körperschemastörung, der Amenorrhö und der Gewichtsphobie auf (siehe Tab.2). Nichtsdestotrotz unterscheiden sich die Systeme. Die ICD-10 verwendet den Body Mass Index (BMI) für die Definition des Gewichtsverlustes, während das DSM-IV auf das Kriterium von 85% des zu erwartenden Gewichts Bezug nimmt. Hinsichtlich der Definition des selbst herbeigeführten Gewichtsverlustes sind die ICD-10-Kriterien präziser und die endokrinen Störungen werden klarer zum Ausdruck gebracht. (vgl. Steinhausen, 2005, S. 1).

Die Diagnosekriterien für Anorexia nervosa nach ICD-10 und DSM-IV werden auf der kommenden Seite dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2 : Diagnosekriterien für Anorexia nervosa nach ICD-10 und DSM-IV (Jacobi et al., 2004, S. 4)

Wie Tabelle 2 entnommen werden kann, hat die Nahrungsrestriktion körperliche und psychische Folgen. „Durch den Starvationszustand kommt es zu einer Störung des endokrinen Systems, die bei Frauen unter anderem in einem Sistieren der Monatsblutung ihren Ausdruck findet“ (Zeeck et al. 2011, S. 48). Bei Kindern besteht die Gefahr einer Verzögerung der Pubertät und einer Stagnation der körperlichen Entwicklung. Hinsichtlich der Psychischen Ebene kann verzeichnet werden, dass zunächst häufig das Gefühl von Leichtigkeit und Kontrolle vorherrscht, was später in eine depressive Stimmungslage umschlägt. Betroffene nehmen andere Menschen realistisch wahr, wohingegen der eigene Körper, trotz des bestehenden Untergewichts, als fett erlebt wird (vgl. ebd., S. 48).

3.2.2 Bulimia nervosa

Bei der Bulimia nervosa, oder auch Ess-Brech-Sucht, handelt es sich im Gegensatz zur Anorexia nervosa um eine Krankheit, die sich im Verborgenen abspielt (vgl. Beckmann & Elbe, 2008, S. 113). Das Körpergewicht der Betroffenen weicht häufig nicht von der Norm ab. Folglich ist ihr äußeres Erscheinungsbild eher unauffällig und bleibt somit für Außenstehende oft unbemerkt. Bulimiker können ihr Essverhalten in der Öffentlichkeit gut kontrollieren, was dazu führt, dass selbst das engere Umfeld die Krankheit oft nicht bemerkt (vgl. Lebenstedt et al., 2004,S. 18). Menschen die an Bulimia nervosa erkrankt sind leiden unter immer wiederkehrende Heißhungerattacken, in deren Verlauf Sie unkontrolliert riesige Mengen an Nahrungsmitteln verschlingen (vgl. Hoffmann, 2009, S. 4). Anschließend versuchen Betroffene durch selbstinduziertes Erbrechen, häufig in Kombination mit Abführmitteln (Laxantien) und Entwässerungsmedikamenten (Diuretika), diesem Verhalten entgegenzuwirken, um eine Gewichtszunahme zu vermeiden (vgl. Lebenstedt et al., 2004,S. 18). Im DSM-IV werden derartige Fressanfälle definiert als „der Verzehr einer bestimmten Nahrungsmenge innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z.B. zwei Stunden), wobei die Menge der gegessenen Nahrung eindeutig größer sein muss als die Menge, die die meisten Menschen innerhalb des gleichen Zeitraums und unter vergleichbaren Umständen […] zu sich nehmen würden“ (Jacobi et al., 2004, S. 5). Im Rahmen eines Fressanfalls verzehren Betroffene tausende Kalorien in Form von hochkalorischen Lebensmitteln, wie Süßigkeiten oder Kohlenhydraten (vgl. ebd., S. 5f.). Sie verspüren eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln und beschreiben häufig das Gefühl, nicht mehr mit dem Essen aufhören zu können. Es entsteht eine Art Teufelskreis, in dessen Verlauf die Erkrankten erbrechen um zu Essen und essen um zu Erbrechen. Ihr schlechtes Gewissen über ihre Taten führt dazu, dass Bulimiker erneut zum Essen greifen. Auch wenn kaum äußerliche Anzeichen für das Vorhandensein der Krankheit vorliegen, hat die Bulimia nervosa körperliche Folgen, wie Konzentrations,- Menstruations,- und Herzthyhmusstörungen, sowie Kreislaufschwächen und Schädigungen des Zahnschmelzes aufgrund des häufigen Kontakts mit der Magensäure beim Erbrechen (vgl. Bartl, 2010, S. 12f.). Um die Diagnose einer Bulimia nervosa zu stellen, müssen die Essanfälle durchschnittlich mindestens einmal pro Woche über einen Zeitraum von drei Monaten auftreten (vgl. Svaldi & Tuschen-Caffier, 2018, S. 4). „Zur Abgrenzung von der Anorexia nervosa und im Unterschied zu den Kriterien des ICD-10 fordert das DSM-IV allerdings, dass die bulimische Störung nicht ausschließlich im Verlauf einer Anorexia nervosa auftreten sollte, d.h. das Vorhandensein einer bulimischen Symptomatik bei gleichzeitigem erheblichen Gewichtsverlust bzw. Untergewicht würde die Diagnose einer Anorexia nervosa ‚Binge Eating/Purging-Subtyp‘ zur Folge haben“ (Jacobi et al., 2004, S. 7). PatientInnen mit Fressanfällen und unauffälligem Gewicht, werden nach der ICD-10, sofern sie die DSM-IV-Kriterien einer Bulimia nervosa erfüllen, aufgrund des fehlenden Untergewichts als atypische Bulimia nervosa (F50.3) klassifiziert (vgl. ebd., S. 7). Die wöchentlich eingesetzten kompensatorischen Maßnahmen geben Aufschluss über den Schweregrad der Bulimia nervosa und werden nach dem DSM-IV eingestuft. Als leichte Form der Bulimia nervosa gelten bis zu drei Episoden kompensatorischer Maßnahmen, vier bis sieben als mittelgradige und acht bis 13 als schwere Form. Die Klassifikationskriterien der ICD-10 ähneln weitgehend denen des DSM-IV. Im Gegensatz zum DSM-IV stellt der Kontrollverlust in der ICD-10 kein Kriterium für die Bulimia nervosa dar. Des Weiteren werden keine operationalen Kriterien hinsichtlich der notwendigen Dauer und Häufigkeit der Essanfälle aufgestellt (vgl. Svaldi & Tuschen-Caffier, 2018, S. 4):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3: : Diagnosekriterien für Bulimia nervosa nach ICD-10 und DSM-IV (Jacobi et al., 2004, S. 6)

3.2.3 Binge-Eating-Disorder

Unter der Kategorie der Nicht Näher Bezeichneten Essstörungen (NNB) werden im DSM-IV jene Essstörungen zusammengefasst, die nicht alle Kriterien einer spezifischen Störung erfüllen. Eine Störung, die der Kategorie der NNB angehört, ist die Binge-Eating-Disorder. Danach werden diejenigen Syndrome klassifiziert, bei denen regelmäßige Heißhungerattacken auftreten, weitere Kriterien der Anorexia oder Bulimia nervosa jedoch fehlen. Die Definition der Heißhungerattacken entsprechen den Kriterien der Bulimia nervosa: Sie müssen im Durchschnitt mindestens an zwei Tagen pro Woche und über sechs Monate auftreten (vgl. Jacobi et al., 2004, S. 8). Im Gegensatz zur Bulimia nervosa treten jedoch keine regelmäßigen, kompensatorischen Maßnahmen, wie selbstinduziertes Erbrechen, als Folge der Fressattacken auf (siehe Tab. 4). Aufgrund der nicht vorhandenen oder nur selten angewandten Kompensationsmechanismen sind viele PatientInnen mit einer Binge-Eating-Disorder übergewichtig (vgl. Jacobi et al., 2004, S. 8). Für esssüchtige PatientInnen sind ein häufiges Diätverhalten und Fressattacken charakteristisch. Strenge Diäten und der aufkommende Jojo-Effekt, der sich dadurch auszeichnet, dass das Gewicht zunächst erfolgreich reduziert wird und anschließend in die Höhe schießt, sind für die steigende Gewichtszunahme ausschlaggebend. Auch bei dieser Form der Essstörung beschreiben Betroffene eine Art Teufelskreis. Sie fühlen sich zu dick und beschließen folglich eine Diät zu beginnen, deren Erfolg jedoch nicht ihren Erwartungen entspricht. Ständiges Maßregeln führt dazu, dass die Diät von Hungerattacken unterbrochen wird. Esssüchtige schämen sich und greifen erneut zum Essen (vgl. Bartl, 2010, S. 16). Ohne vorhandenes Hungergefühl verschlingen sie Unmengen an Nahrung, bis sie sich vollgestopft und unwohl fühlen. Oftmals werden Menschen, die an einer Binge-Eating-Disorder leiden, von einem schlechten Gewissen und Depressionen begleitet. Aufgrund der ständigen Gewichtszunahme kommt es zu gesundheitlichen Schädigungen, wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Diabetes mellitus, Gicht, Hypertonus und Hyperlipidämie (vgl. ebd., S. 17). Die DSM-IV-Kriterien der Binge-Eating-Disorder können der folgenden Tabelle entnommen werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 4 : Forschungskriterien für Binge-Eating-Störung nach DSM-IV (Jacobi et al., 2004, S. 9)

4. Essstörungen im Leistungssport

Das Spiel „Besser, Erfolgreicher, Dünner…“ gewinnt in unserer modernen Industriegesellschaft immer mehr an Bedeutung. Magersüchtige sind die vermeintlichen „Gewinner“ dieses Spiels. Sie neigen häufig zu Perfektionismus und verspüren den Drang, in allen Bereichen des alltäglichen Lebens Bestleistungen zu erzielen. Dieses Streben nach Perfektion setzt sich auch bei AthletInnen im Sport fort (vgl. Trabi & Scheer, 2007, S. 27).

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Details

Titel
Essstörungen im Leistungssport. Begünstigt das System "Leistungssport" die Entwicklung von Essstörungen?
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)  (Sportwissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
49
Katalognummer
V942659
ISBN (eBook)
9783346287526
ISBN (Buch)
9783346287533
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Essstörung, Leistungssport, Anorexia athletica, Magersucht, Idealgewicht, Risikosportarten, Ätiologie
Arbeit zitieren
Lisa Hogrefe (Autor:in), 2019, Essstörungen im Leistungssport. Begünstigt das System "Leistungssport" die Entwicklung von Essstörungen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/942659

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