"Alles ist in allem". Die Ontologie des Anaxagoras


Essay, 2019

12 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Entstehung der Welt

Erklärung der Veränderung

Das „Samen-Argument“

Prinzip des nús

Vergleich mit anderen vorsokratischen Lehren

Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Lehre von Anaxagoras von Klazomenai (500 v. Chr. bis 427 v. Chr.) gilt als eine Reaktion auf die eleatische Lehre von Parmenides und Zenon. Die Eleaten waren Monisten und nahmen an, dass es nur eine Sache in der Welt gibt: das Seiende, welches unveränderlich, unentstanden, stabil und unvergänglich sei. Parmenides argumentierte, dass Veränderung nicht möglich sei und das Entstehen und Vergehen nur etwas Scheinbares und Nicht-Seiendes sei. Das Nichts-Seiende sei veränderlich, entstanden, instabil und vergänglich. Die ontologische Unterscheidung zwischen dem Seienden und Nicht-Seienden bestimmt, wie und ob wir von etwas eine wahre wissenschaftliche Erkenntnis erhalten können. Die zentrale These von Parmenides lautet, dass nur das Seiende ist und das Nicht-Seiende nicht ist. Nach Parmenides ist die Welt eine Einheit in dem Sinne, dass es keine Pluralität an Entitäten gebe und die Welt als solche die einzige Entität sei.

Im Gegensatz zur eleatischen Position gilt Anaxagoras - ebenso wie Empedokles und die Atomisten - als ein Pluralist. Er nimmt an, dass nicht nur ein Element, sondern eine Vielheit an Elementen existiere. Anaxagoras stimmt zwar mit Parmenides überein, dass Seiendes unveränderlich, unentstanden, unvergänglich und stabil sei. Er will aber zeigen, dass Veränderung kein Merkmal des Nichtseienden ist, sondern eine Wirkung des Seienden (Trennung und Mischung) aus stabilen Prinzipien. Anhand der anaxagorischen Vorstellung der Weltentstehung wird nun gezeigt, wie dieser die Veränderung in der Welt erklärt und begründet:

Entstehung der Welt

Anaxagoras beschreibt eine vorkosmische Zeit vor der Entstehung der Welt („Kosmos“), in welcher alle Sachen in einer Art Ursubstanz in unendlicher Kleinheit zusammen und vermischt waren:

„Gleichmäßig-zusammen waren die Sachen alle, unendlich sowohl der Zahl [unbeschränkt zahlreich] als auch der Kleinheit nach. Denn auch das Kleine war ohne Ende [was klein war, war unbeschränkt klein], und während sie alle gleichmäßig-zusammen waren, war darin infolge dieser Kleinheit nichts klar erkennbar. Denn Luft-wie-auch-Äther, beide unendlich [groß] seiend, verdeckten alles. Denn in der Gesamtheit aller Sachen sind diese als die größten drin, sowohl zahlenmäßig als auch der Ausdehnung nach.“ (DK 59 B 1)

In diesem vorkosmischen „Chaos“ waren alle Sachen sowohl quantitativ als auch nach der qualitativen Beschaffenheit zusammengemischt (vgl. De Crescenzo 1988, 221). Dies war eine Mischung aus unendlich vielen Sachen, welche sozusagen die „Summe aller sinnlich wahrnehmbaren und aller gedanklich vorstellbaren Dinge“ darstellt, welche jemals in der Welt existiert bzw. existieren werden (vgl. Nickel 2012, 175; DK 59 B 4). Begründet mit der unendlich möglichen Teilbarkeit der Sachen, war alles unendlich klein. Deshalb waren diese Sachen auch nicht „klar erkennbar“ - sozusagen wie der Inhalt eines unendlich großen Mixers, „in dem man weder eine Farbe noch sonst irgendein Merkmal unterscheiden konnte“ (De Crescenzo 1988, 221; DK 59 B 3, B 1). Die Weltentstehung ist eine Trennung von diesem Zusammen- und Gemischt-sein. Diese Trennung wird vom Prinzip des „nús“ (Geist, Intellekt) in Gang gesetzt, welcher alles ordnet und gestaltet (DK 59 A 65; DK 59 A 46).

Erklärung der Veränderung

Anaxagoras gesteht durch die Annahme einer Urmischung zu, dass ein unveränderliches und unentstandenes Seiendes wie bei Parmenides existiert (vgl. DK 59 B 4). Nichtsdestotrotz habe Parmenides Unrecht, was Entstehen und Vergehen betrifft. Im folgenden Zitat ist eine klare und direkte Kritik an den Eleaten („die Griechen“) erkennbar:

„Die Griechen haben keine richtige Meinung vom Entstehen und Vergehen. Denn keine Sache entsteht oder vergeht, im Gegenteil: es tritt aus Seienden etwas in Mischung zusammen und trennt sich wieder. Deshalb sollten sie besser das Entstehen als ein Sichzusammenmischen und das Vergehen als ein Sichtrennen bezeichnen“. (DK 59 B 17)

Simplikios kommentiert dieses Zitat von Anaxagoras, indem er klarstellt, dass dieses Argument als Grundlage dafür angesehen werden kann, dass „nichts aus Nichtseiendem, dafür aber das Entstehende aus Seiendem entsteht.“ (DK 59 B 17) Die Gesamtmenge der Sachen in der Welt entsteht nicht aus etwas, was nicht ist, sondern aus etwas, was ist. Die Veränderung wird also durch Trennung (Vergehen) und Mischung (Entstehen) der Elemente erklärt. Es ändern sich nicht die Elemente der Mischung, sondern nur die Mischverhältnisse. Der überwiegende Mischanteil bestimmt sodann die Identität einer Sache. (DK 59 B 12)

In diesen getrennten und zusammengesetzten Sachen besteht jeweils eine unendliche Vielheit. Es gibt schließlich nichts, „das vom kleinen her das Kleinste wäre, sondern es gibt immer wieder etwas, das noch weniger ist. Denn es ist ausgeschlossen, da[ss] es das Seiende nicht geben würde. Andererseits gibt es vom Großen her immer etwas, das noch größer ist. Und [an Größe] ist es dem Kleinen zahlenmäßig gleich, während jedes Einzelne in Bezug auf sich selbst sowohl groß als klein ist.“ (DK 59 B 3, B 1) Simplikios kommentiert dazu:

„Denn wenn jedes in jedem ist und jedes aus jedem ausgesondert wird, wird auch aus demjenigen, das als das Kleinste betrachtet wird, noch etwas ausgesondert werden, das kleiner ist als dieses, und dasjenige, das als das Größte betrachtet wird, wurde wiederum aus etwas ausgesondert, das noch größer ist als es selbst.“ (DK 59 B 3, B 1)

Anaxagoras schließt nun, dass sich aus dieser unendlichen Vielheit der Sachen wiederum eine Einheit ergibt: „Wenn nun diese Unterschiede gegeben sind, so darf als sichere Erkenntnis gelten, da[ss] alles nichts weniger ist [als es ist] und auch nichts mehr - denn es lä[ss]t sich nicht erhärten, da[ss] es mehr gibt als alles -, sondern alles ist immer gleich.“ (DK 59 B 5) Simplikios fügt hinzu, dass es sich dabei stets um Mischungen handelt, welche aus „Gleichteiligem“ gebildet wird (DK 59 B 5). Alle Sachen sind also Mischungen von anderen Sachen. Die Sachen sind zwar nach außen hin unterschiedlich (vgl. Erdmännchen vs. Tischlampe), aber dennoch sind die Arten der Teile der Mischungen von allen Sachen gleich. Es sind also Aggregate aus Gleichteiligem mit unterschiedlichen Mischverhältnissen, von denen jeweils eine dominiert (DK 59 B 12; DK 59 A 44). Alles hat Anteil an allem. In allen Sachen gibt es eine Vielheit an unendlich vielen Elementen:

„Und wenn die Anteile des Großen und des Kleinen [welche die großen und kleinen Sachen in sich haben] zahlenmäßig gleich sind, muß auch deshalb alles in jedem sein. So ist es ausgeschlossen, da[ss] irgend etwas isoliert wäre; nein, es hat alles Anteil an jedem. Wenn es ausgeschlossen ist, da[ss] es ein Minimum geben kann, so ist auch ausgeschlossen, da[ss] etwas isoliert werden oder sich an und für sich konstituieren kann; im Gegenteil, so wie es am Anfang war, so ist es auch jetzt: alles gleichmäßig zusammen. In allen Sachen gibt es vielerlei, und es ist zahlenmäßig Gleiches von den Sichaussondernden in den größeren und in den geringeren.“ (DK 59 B 6)

Die Sachen vereinnahmen somit stets auch deren Gegensätze. Im Warmen ist auch Kaltes, im Kalten ist auch Warmes enthalten: „Die Sachen in der einen Weltordnung sind weder voneinander getrennt noch mit einem Beilschlag voneinander abgeschnitten worden, weder das Warme vom Kalten noch das Kalte vom Warmen.“ (DK 59 B 8)

Das „Samen-Argument“

Anaxagoras veranschaulicht seine ontologische Theorie anhand des Beispiels eines Samens: „In ein und derselben Samenflüssigkeit seien Haare enthalten sowie auch Nägel und Venen und Arterien und Nerven und Knochen, und dies alles sei, eben weil sie kleine Teilchen bildeten, nicht wahrnehmbar, aber es differenziere sich allmählich während des Wachstumsprozesses.“ (DK 59 B 10) Er argumentiert dies mit der (rhetorischen) Frage, wie denn sonst „aus Nicht-Haar Haar entstehen“ könne und „aus Nicht-Fleisch Fleisch?“. (DK 59 B 10) Dieser Gedankengang gelte beispielsweise auch für die Farben, da „im Weißen [...] das Schwarze“ und „das Schwarze im Weißen“ enthalten sei. Analog dazu gelte dies auch für Gewichte: „dem Schweren sei das Leichte beigemischt“ und umgekehrt. (DK 59 B 10) Für die Entstehung des Menschen nimmt er also analog zur Entstehung der Welt eine Art Ur-Mischung im Samen an, in welchem bereits alle Elemente des zukünftigen Menschen (Blut, Augen, Knochen, etc.) enthalten sind. Aus dem Samenkorn entstehen alle Charakteristika des Menschen.

Der Mensch ist nur in einem bestimmten Sinne etwas „anderes“ als der Samen. Und zwar in dem Sinne, dass der Mensch infolge des Entstehungs- und Wachstumsprozesses sichtbar geworden ist. Der Prozess des Entstehens bedeutet also so viel wie „sichtbar werden“ und der abgeschlossene Prozess der Entstehung bedeutet eben, dass das Entstandene jetzt sichtbar geworden ist. Existiert haben die nun sichtbar gewordenen Teile jedoch schon davor im Samen. Die embryonale Entwicklung und das Wachstum erklärt er nach einem Bericht von Aristoteles folgendermaßen:

„Er behauptet, da[ss] die fleischigen Teile, welche in der Nahrung sind, zu den fleischigen Teilen [im Embryo] hinzukommen. Diejenigen, welche das nicht annehmen, sondern meinen, da[ss] der Samen aus dem ganzen Körper herkomme, haben ein Problem: Wie kann [das Embryo] durch Addierung einer fremden Substanz größer werden, wenn das Hinzukommende sich nicht ändert?“ (DK A 18)

Durch diese Argumente kann Anaxagoras also trotz der unveränderlichen, unentstandenen und unvergänglichen Materie die Veränderung erklären. Beispielsweise erklärt er die Entstehungen von Holz, Rinde, Blätter und Früchte eines Baumes dadurch, dass in dem Wasser des Baches, welches durch die Wurzeln des Baumes eingesaugt wird, bereits alle Stoffe enthalten sind, aus denen der Baum besteht. Diese Stoffe sind aber nur „in so kleinen Teilchen enthalten, dass sie nicht sichtbar, sondern nur durch das Denken zu erschließen sind. Gleiches wird aber nur von Gleichem ernährt.“ (Nickel 2012, 175) Dies bedeutet aber nicht, dass nun einfach alle Dinge vollkommen „gleich“ sind und uns unsere Sinne nur täuschen. Denn es ist stets ein Bestandteil dominant (z. B. das Warme oder das Kalte): „Kein anderes Ding aber ist irgendeinem anderen völlig gleich; im Gegenteil: wovon am meisten in ihm enthalten ist, das ist und war ein jedes Einzelne auf das deutlichste.“ (DK 59 B 12)

Anaxagoras erklärt jedoch nicht nur, wie die Veränderung der Sachen erklärt werden kann, sondern auch, warum diese Sachen so oder so gemischt sind. Erklärt wird dies durch das Prinzip des Geistes (nús), welches in seiner ontologischen Lehre eine bedeutende Rolle einnimmt:

Prinzip des nús

Anaxagoras differenziert zwischen jenen Sachen, welche immer eine Mischung bilden, und dem Geist/Intellekt (nús), welcher zwar auch als etwas Materielles (vgl. De Crescenzo 1988, 223) bzw. Körperliches (vgl. Nickel 2012, 175) zu denken ist, aber „die feinste“ und „die reinste“ von allen Sachen ist (DK 59 B 12), alles durchdringen kann (DK 59 A 55) und deshalb außerhalb der Sachen existiert: „Alles andere hat in Betreff eines Anteils teil an jedem, der Geist aber ist etwas, das unendlich und sichselbstbestimmend ist, und er ist mit nichts in Mischung verbunden“ (DK 59 B 11, 12). Der Geist ist also als einziger nicht mit der Mischung verbunden, da dieser sonst wieder in jedem und allem enthalten wäre. Dennoch spielt der Geiste für bestimmte Sachen eine Rolle:

„Und alles, was Seele hat, sowohl die größten wie die kleineren [Lebewesen], sie alle beherrscht der Geist. Auch die gesamte Kreisbewegung beherrscht der Geist, so da[ss] sie sich überhaupt dreht.“ (DK 59 B 12).

Der Geist ist also nicht als ein schöpferisches Wesen zu verstehen, welches die Materie hervorbringt (vgl. De Crescenzo 1998, 223), sondern als die Wirkursache, welche alles ordnet und gestaltet (DK 59 A 46). Insgesamt lässt sich der Geist anhand drei verschiedener Funktionen charakterisieren:

a) Kosmologische Funktion

Nach Anaxagoras ist der Geist das Prinzip für die vernünftige kosmologische Ordnungstätigkeit, was die Gutheit der Welt erklärt. Der Geist bestimmt dabei das logische Kriterium, nach welchem die unendlich kleinen Teile geordnet sind (vgl. De Crescenzo 1988, 221). Der Geist verursacht auch die vernünftige Trennung der Ur-Mischung und bestimmt die Identität der Sachen.

a) Erkenntnistheoretische Funktion

Der Geist hat auch eine erkenntnistheoretische Funktion. Dieser beseelt nicht nur die Lebewesen, sondern hat auch „von jeder Sache jede Erkenntnis“ (DK 59 B 12). Die sinnliche Wahrnehmung kann im Gegensatz dazu täuschen. Die erscheinenden Dinge sind nicht das, was sie sind: „Infolge ihrer Kraftlosigkeit sind wir nicht imstande, das Wahre zu unterscheiden.“ (DK 59 B 21) Als Beispiel nennt er die „infinitesimalen Änderungen der Farben“, welche die Unzuverlässigkeit der sinnlichen Wahrnehmungen beweist (DK 59 B 21). Was sichtbar und wahrnehmbar ist, ist also nicht das Wesen einer Sache. Es gilt zu unterscheiden zwischen dem wahrnehmbaren Ding und der tiefliegenden Struktur. Wir haben keine Einsicht in die genaue Beschaffenheit der Elemente, sondern nur eine oberflächliche Erkenntnis. Wir nehmen nur das Einzelne als dasjenige wahr, „von dem am meisten in der Mischung enthalten ist und das am meisten zu greifen ist und sich an der vordersten Stelle befindet“ (DK 59 A 44). Durch den Geist haben wir jedoch die Möglichkeit, dieses Unsichtbare zumindest denkbar zu machen.

b) Teleologische Funktion

Anaxagoras spricht dem Geist auch eine teleologische Funktion zu: „Und wie es sein würde und wie es war und was jetzt ist und wie es sein wird, das alle ordnet der Geist an, wie auch diese Kreisbewegung, die jetzt die Sterne und die Sonne und der Mond vollführen und auch die Luft und der Äther, die sich aussondern.“ (DK 59 B 12) Auch Aristoteles berichtet von dieser teleologischen Funktion: „der Geist arbeite von einem gewissen Prinzip aus, nachdem er sich einmal einen Plan ausgedacht habe.“ (DK 59 A 45) Das Entstehen und Vergehen erfolgt also nicht beliebig oder zufällig, sondern gemäß einem vernünftigen Plan mit gewissen Zielen („wie es sein würde und wie es war und was jetzt ist und wie es sein wird“). Die Menschen, Pflanzen und Tiere sind also aus einem bestimmten Grund heraus so gebaut wie sie sind. Es ist keine willkürliche Mischung und Trennung von Elementen. Der Geist als teleologisches Prinzip reguliert diese Veränderung.

[...]

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
"Alles ist in allem". Die Ontologie des Anaxagoras
Hochschule
Universität Wien
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
12
Katalognummer
V942743
ISBN (eBook)
9783346285126
ISBN (Buch)
9783346285133
Sprache
Deutsch
Schlagworte
anaxagoras, vorsokratiker, antike, ontologie, metaphysik
Arbeit zitieren
Alexander Hölzl (Autor:in), 2019, "Alles ist in allem". Die Ontologie des Anaxagoras, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/942743

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