Systemsprenger in der Erziehungshilfe. Wie kann eine Optimierung der Hilfe gelingen?


Bachelorarbeit, 2020

94 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1. Biografie und Lebenslauf
2.2. Lebensphase Jugend
2.3. Konzept der Lebensbewältigung
2.4. (Norm-) abweichendes Verhalten
2.5. Lebensweltorientierung
2.6. Verstehende subjektlogische Diagnostik

3. Das System „Hilfen zur Erziehung“ nach SGB
3.1. Das Herausfallen aus dem System
3.2. Heranführung an den Begriff „Systemsprenger“

4. Zum wissenschaftlichen Disku

5. Hilfreiche Strukture
5.1. Die pädagogische Haltung
5.2. Die institutionelle Ebene
5.3. Das Betreuungssetting
5.4. Die Entstehung des Leitfadens aus den Erkenntnissen

6. Empirisches Vorgehen
6.1. Erhebungsinstrument: Experteninterview
6.2. Auswertungsinstrument: Qualitative Inhaltsanalyse
6.3. Gütekriterien und Reflexion

7. Ergebnisse
7.1. Fallzusammenfassungen
7.2. Analyse
7.2.1. Vorbereitung der Hilfe
7.2.2. Durchführung der Hilfe
7.2.3. Umgang mit dem Kostenträger
7.2.4. Diagnostik
7.2.5. Partizipation des jungen Menschen
7.2.6. Elternarbeit
7.2.7. Beziehungsqualität
7.2.8. Persönlichkeit und Qualifikation der Professionellen
7.3. Interdisziplinäre Fallberatung
7.4. Theorie-Praxis-Transfer
7.4.1. Kritische Betrachtung der Ergebnisse
7.4.2. Wie kann eine Passung der Hilfe gelingen?

8. Schlussbetrachtung und Ausbl

Literatur- und Quellenverzeichnis

Anlagenverzeichnis
Anlage 1: Projektdokumentation
Anlage 2: Einwilligungserklärung zur Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Interviewdaten
Anlage 3: Leitfadeninterview zur Bachelorthesis: „Systemsprenger“ in der Erziehungshilfe. Wie kann eine Passung der Hilfe gelingen? Und Transkriptionsregeln
Anlage 4: Codier-Leitfaden

Abstract

Jugendliche „Systemsprenger“ oder auch Kinder und Jugendliche mit komplexen Le­bens- und Hilfeverläufen stellen für das System der Kinder- und Jugendhilfe eine große Herausforderung dar. Auch wenn diese Gruppe verhältnismäßig klein ist, bringen diese Kinder und Jugendlichen durch „störende“ Verhaltensweisen Mitarbeitende in pädago­gischen Kontexten an ihren Grenzen. Sie haben in der Regel schon mehrere Hilfefor­men durchlaufen und werden von einer Einrichtung in die nächste gereicht. Es gestaltet sich sehr schwierig, eine geeignete Hilfe zu finden, da diese in regelmäßigen Abständen von unterschiedlichen Seiten abgebrochen wird Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Hilfe den Bedürfnissen der Adressat*innengruppe angepasst werden kann, sodass diese gelingt. Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde einer­seits auf bestehende Vorschläge zurückgegriffen und andererseits ein empirisches For­schungsvorgehen ausgewählt. Es wurden zwei leitfadengestützte Experteninterviews durchgeführt und mittels des Instruments der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Die Ergebnisse daraus zeigen unter anderem die Notwendigkeit der Implementierung einer sozialpädagogischen Diagnostik für ein tieferes Fallverstehen und die Öffnung der Strukturen von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Dies würde zum einen er­lauben, die Bedürfnisse der Adressat*innengruppe besser ermitteln und zum anderen auch Strukturen auf den Einzelfall abstimmen zu können.

Keywords: Kinder- und Jugendhilfe, Hilfen zur Erziehung, „Systemsprenger“, stationäre Hilfen, (norm-) abweichendes Verhalten, verstehende subjektlogische Diagnosti

1. Einleitung

Von der Pflegefamilie in eine Wohngruppe, von dort aus in die Kinder- und Jugendpsy­chiatrie und wieder zurück in eine andere stationäre Wohnform. Dieser Hilfeverlauf ist für die Gruppe der sogenannten jugendlichen „Systemsprenger typisch. Diese Kinder und Jugendliche haben ein erhöhtes Gewaltpotenzial und verweigern oftmals den Schulbesuch. Sie sind eigen- und fremdgefährdend, laufen häufig weg und bleiben auch mal tagelang fern. Oftmalig werden sie zwischen ambulanten und (teil-) stationären Hilfen zur Erziehung und der Kinder- und Jugendpsychiatrie hin und hergeschoben. In regelmäßigen Abständen werden Hilfen aus unterschiedlichen Gründen beendet. Auf­grund ihrer Verhaltensweisen werden ihnen vielfältige psychiatrische Diagnosen zuge­wiesen. Für sie kann scheinbar keine passende Hilfeform gefunden werden und der Verbleib in der Familie ist auch keine Option (vgl. Baumann 2020; Schwabe 2014; Es­ser 2014).

Aktuell wird auf diese Problematik durch den Film „Systemsprenger“ (2019) unter der Regie von Nora Fingscheidt aufmerksam gemacht und an die Gesellschaft herangetra­gen. Menno Baumann, der im Rahmen seines Forschungsprojektes „Kinder, die Syste­me sprengen“ die Adressat*innengruppe untersucht hat und daraus Vorschläge für die Praxis ableitete, begleitete das Filmteam. Der Film zeigt unverblümt Ausschnitte aus dem Leben der neunjährigen Benni. Deutlich wird die festgefahrene Dynamik zwischen den Verhaltensweisen von Benni und den Mitarbeitenden der durchlaufenen Hilfefor­men. Das junge Mädchen scheint alle Helfenden in ihrem Umfeld sowohl an ihre pro­fessionellen als auch persönlichen Grenzen zu bringen. Der Film spiegelt sehr gut die Realität wieder, auch wenn diese für viele Menschen sicherlich nicht leicht anzuschauen ist. Es ist wichtig, auf dieses Problem nicht nur innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und dessen Bezugssysteme aufmerksam zu machen, sondern auch die Gesellschaft da­hingehend zu sensibilisieren. Denn auch die „Schwierigsten“ haben, wie jeder andere junge Mensch auch, das Recht darauf, sich in einem geschützten Rahmen frei entfalten zu können, ohne ihr Leben lang durch ihre Lebensgeschichte und die daraus erlernten Verhaltensweisen determiniert und als eine Randgruppe der Gesellschaft betrachtet zu werden. Schließlich kann sich niemand aussuchen, in welche Verhältnisse und Lebens­umstände er oder sie hineingeboren wird. Auch wenn die Gruppe der „Systemsprenger“ verhältnismäßig klein ist, sind ihre Lebens- und Hilfeverläufe sehr komplex, sodass sie das System der Kinder- und Jugendhilfe an seine Grenzen bringen (vgl. Schwabe 2014: 53). Auf fachlicher und rechtlicher Ebene zeigen die aktuellen Entwicklungen, dass sich vermehrt mit dieser Problematik auseinander gesetzt wird. So steht beispielsweise die Implementierung eines neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes an, welches an das Motto „Mitreden-Mitgestalten“ angelehnt ist. Das neue Gesetz soll das achte Sozialge­setzbuch reformieren und vor allem folgende Ziele berücksichtigen: mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien; ein besserer Kinder- und Jugendschutz; Stärkung von Pflege- und Heimkindern; mehr Prävention vor Ort und Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung (vgl. www.bmfsfj.de, Stand: 19.12.2019). Eine weitere Entwicklung, die zu nennen ist, betrifft das Landesju­gendamt Rheinland-Pfalz. Seit Ende des Jahres 2019 haben Jugendämter hier die Mög­lichkeit mit einem Fall, die Adressat*innengruppe betreffend, vorstellig zu werden und gemeinsam mit einem interdisziplinären Team neue Perspektiven zu entwickeln.

Diese Bachelorarbeit soll sich der Frage annehmen, wie für diese Kinder- und Jugendli­chen eine Passung der Hilfe gelingen kann. Eine Passung beschreibt „[...] die Notwen­digkeit, Brüche zwischen den Lebenswelten der Kindes/ Jugendlichen und seiner Fami­lie zu vermeiden und die Anschlussfähigkeit zwischen den Unterstützungsangeboten und der biografischen Vorgeschichte zu gewährleisten“ (Esser 2014: 599 f.). Es wird sich also mit der Frage befasst, welche Strukturelemente gegeben sein müssen, damit eine Hilfe auch für diese Gruppe gelingen kann und ein weiteres Herausfallen vermie­den wird. Der Begriff „Systemsprenger“ wird in dieser Arbeit immer in Anführungszei­chen verwendet. In einem Interview mit dem Deutschlandrundfunk, erklärt Baumann, auch in Bezug auf den gleichnamigen Film (2019), dass „Systemsprenger“ niemals das Kind oder den Jugendlichen selbst beschreibt. Aus diesem Grund wird der Begriff auch in der vorliegenden Arbeit nicht geschlechtergerecht angepasst. Vielmehr soll der Be­griff ein Prozessgeschehen zwischen einem jungen Menschen mit einer bestimmten Lebens- und Familiengeschichte im Kontext der Erziehungshilfe verdeutlichen. Die Eskalation hängt also von mehreren Faktoren ab. Vor allem muss hier die Aufmerksam­keit einerseits auf die Biografie des jungen Menschen geworfen werden, andererseits aber auch auf die Bedingungen des Systems (vgl. Grampes 2019: 3). Um dieser Be­griffskonstellation gerecht zu werden, beschäftigt sich diese Arbeit mit den Verhaltens­weisen der Adressat*innengruppe und wie diese in einer verstehenden subjektlogischen Diagnostik von den Professionellen verstanden werden können, aber auch mit dem Sys­tem der Erziehungshilfe.

Das nachfolgende Kapitel umfasst die theoretischen Grundlagen, darunter Biografie und Lebenslauf, die Lebensphase Jugend, das Konzept der Lebensbewältigung, (norm-) ab­weichendes Verhalten, die Lebensweltorientierung und die verstehende subjektlogische Diagnostik. Diese Grundlagen sind relevant, um im weiteren Verlauf der Arbeit auf die Besonderheiten der Adressat*innengruppe eingehen zu können und der Leserschaft ein allgemeines Verständnis über das Entstehen spezifischer Verhaltensweisen und ihrer Sinnhaftigkeit zu geben. In Kapitel drei soll dann eine Überleitung zu dem System der Hilfen zur Erziehung geschaffen werden, denn die Adressat*innengruppe ist immer im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe einzuordnen. In diesem Zusammenhang wird zu­nächst das System beschrieben und dessen Ziele herausgestellt, um weiterhin auf die Problematik des „Herausfallens“ eingehen zu können. Damit soll im nächsten Punkt die Adressat*innengruppe genauer beschrieben und vor allem auch die Begrifflichkeiten näher erläutert werden. Neben dem Terminus „Systemsprenger“, wird ein neuer Vor­schlag, der die Adressat*innengruppe zu beschreiben versucht, eingeführt. Der Begriff Kinder- und Jugendliche mit komplexen Lebens- und Hilfeverläufen wird von dem Landesjugendamt Rheinland-Pfalz im Rahmen des interdisziplinären Beratungsangebo­tes für Jugendämter vorgeschlagen und wird im weiteren Verlauf der Arbeit vorzugs­weise verwendet.

In Kapitel vier werden anschließend bisherige Forschungsarbeiten vorgestellt. Hierbei wird vor allem die Studie von Menno Baumann herangezogen. Da das Vorhaben der vorliegenden Arbeit sich auf die abzuleitenden Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt „Kinder, die Systeme sprengen“ stützt, werden diese in Kapitel fünf unter hilfreichen Strukturen vorgestellt. Die beiden nachfolgenden Kapitel widmen sich schließlich der empirischen Untersuchung, die folglich einem deduktiv-induktiven Vorgehen ent­spricht. Die Beantwortung der Forschungsfrage geschieht anhand eines qualitativen Forschungsvorgehens. Dafür hat es sich angeboten, zwei Experteninterviews zu führen und auszuwerten. Damit der ganze Prozess den Gütekriterien von wissenschaftlichen Arbeiten entspricht, wurde dieser für die Leser*innen transparent gemacht und in Kapi­tel sechs offengelegt (Anlage 1). Als Erhebungsinstrument wurde die Methode des leit­fadengestützten Interviews ausgewählt (Anlage 3). Die Interviews wurden per Telefonat durchgeführt, aufgenommen und mittels einfacher Transkriptionsregeln nach Kuckartz (2018) verschriftlicht (Anlage 3). Ausgewertet wurde das Material anhand des Instru­ments der qualitativen Inhaltsanalyse, dazu ist Anlage 4 hinzuzuziehen. Die Ergebnisse werden gemäß diesem Vorgehen in Kapitel sieben dargestellt. Darüber hinaus wird in diesem Kapitel auch das Konzept der interdisziplinären Fallb eratung mit in die Ergeb­nisse der Interviews eingebettet. Die Informationen darüber stammen ebenfalls aus ei­nem aufgezeichneten Telefonat mit einer Mitarbeiterin des Landesjugendamtes Rhein­land-Pfalz, die ebenfalls Teil des Beratungsteams ist. Das Telefonat wurde jedoch nicht wie die Interviews behandelt, sondern lediglich zusammenfassend transkribiert. Bevor die Forschungsfrage beantwortet wird, wird nochmals ein kritischer Blick auf die Er­gebnisse geworfen und erläutert, wie diese zu betrachten sind. Die Arbeit schließt mit einer kurzen Zusammenfassung der gewonnen Erkenntnisse ab. Darauf aufbauend sol­len noch Implikationen für die Zukunft genannt werden, damit Strukturen verändert werden können und eine Passung der Hilfe für die Adressat*innengruppe gelingen kann.

2. Theoretische Grundlagen

Im ersten Schritt sollen nun die relevante Themenkomplexe eingeführt werden, damit ein ganzheitlicher Blick auf die Adressat*innengruppe geworfen werden kann. Weiter­hin zielt dieses Vorgehen darauf ab, direkt zu Beginn eine verstehende Haltung bezüg­lich „störender“ Verhaltensweisen zu generieren, was im weiteren Verlauf der Arbeit eine zunehmend bedeutendere Rolle spielen wird.

In Punkt 2.1 werden Biografie und Lebenslauf betrachtet, um weiterhin in Punkt 2.2 speziell auf die Lebensphase Jugend, in der sich der Großteil der Adressat*innengruppe befindet, eingehen zu können. Daran knüpft das Konzept der Lebensbewältigung an. Bewältigungsprozesse verfolgen immer einen subjektiven Sinn, der vor allem bei der späteren Betrachtung der Adressat*innengruppe eine wichtige Rolle einnimmt. Es gilt zu verstehen, welchen Stellenwert (norm-) abweichende bzw. „störende“ Verhaltens­weisen in der Lebensbewältigung einnehmen. In allen Bereichen spielt nochmals die gesellschaftliche Dimension eine Rolle. Schließlich sind alle zwischenmenschlichen Interaktionen auch immer auf dieser Ebene zu betrachten, vor allem in Bezug auf die Bewertung von gezeigten Verhaltensweisen hinsichtlich bestehender gesellschaftlicher Normen. Weiterhin wird der lebensweltorientierte Ansatz nach Hans Thiersch einge­führt, der in der Kinder- und Jugendhilfe das Ziel der sozialen Integration einbringt und so eine Überleitung zum nächsten Kapitel schafft. Durch den lebensweltorientierten Ansatz soll die Notwenigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung der Lebenswelt der jun­gen Menschen und die damit verbundenen, erlernten Verhaltensweisen als Bewälti­gungsmechanismus verdeutlicht werden. Abschließen wird das Kapitel mit dem Instru­ment der verstehenden subjektlogischen Diagnostik. Dieses Instrumentarium ergibt sich praktisch als Konsequenz der vorher eingeführten Themenkomplexen, da es einen ganzheitlichen Blick auf die individuelle Sinnhaftigkeit von Verhaltensweisen in der Praxis ermöglicht und einen Wegweiser im Umgang mit der Adressat*innengruppe dar­stellt

2.1. Biografie und Lebenslauf

Die Begriffe Biografie und Lebenslauf werden umgangssprachlich häufig als Synonyme verwendet. Jedoch haben die Termini zwei unterschiedliche Bedeutungen und sollen deshalb zu Beginn definiert werden. Der Lebenslauf beschreibt die zeitliche Abfolge von biografischen Ereignissen, dazu gehört beispielsweise der Bildungsweg, von der Einschulung bis zu einem höheren Bildungsabschluss. Ein wesentlicher Unterschied zu dem Biografiebegriff besteht darin, die Daten des Leblaufes nicht zu deuten, sondern lediglich zu benennen. Unter der Biografie versteht man also nicht nur den chronologi­schen Ablauf von Lebensereignissen, sondern viel mehr die individuelle Interpretation und Gewichtung dieser. Die Bedeutungsebene des Biografiebegriffes ist insofern wich­tig, als dass ein Ereignis vor dem individuellen Erfahrungsschatz seine Bedeutung er­hält. Somit konstruieren Individuen ihre Biografie stetig selbst, indem sie unterbewusst oder bewusst entscheiden, welchen Ereignissen eine Bedeutung zugemessen wird und welche Ereignisse irrelevant sind, sogar vergessen werden (vgl. Miethe 2017: 11 f.). Dabei ist aber zu beachten, dass Individuen ihre Biografie nicht willkürlich erstellen, sondern auch die aktuelle Lebenslage einen Einflussfaktor darstellt, wie Ereignisse be­wertet werden. Auf Seiten der Professionellen muss dementsprechend auch immer re­flektiert werden, wie die Klient*in eine Situation bewertet. Denn natürlich haben Pro­fessionelle auch einen biografischen Hintergrund und bewerten Situationen innerhalb ihres Erfahrungsschatzes (vgl. ebd.: 17 f.).

Biografie hat jedoch nicht nur eine individuelle Bedeutungsstruktur, sondern ist auch eingebettet in kollektiv-historische, gesellschaftliche und soziale Gefüge, denn alltägli- che Beziehungs- und Handlungsstrukturen beeinflussen unser Handeln (Glinka 2005: 207 ff.). Miethe definiert Biografiearbeit wie folgt:

Ausgehend von einem ganzheitlichen Menschenbild ist Biografiearbeit eine strukturierte Form der Selbstreflexion in einem professionellen Setting, in dem an und mit der Biografie gearbeitet wird. Die angeleitete Reflexion der Vergangenheit dient dazu, Gegenwart zu ver­stehen und Zukunft zu gestalten. Durch eine Einbettung der individuellen Lebensgeschichte in den gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang sollen neue Perspektiven eröff­net und Handlungsperspektiven eröffnet werden. (Miethe 2017: 24)

Vor allem in Bezug auf die Zielgruppe ist es wichtig, auch Biografiearbeit zu leisten. Biografiearbeit kann den Heranwachsenden dabei helfen, sich selbst zu verstehen, aber auch die Seite der Professionellen. Durch die Betrachtung von Lebensereignissen und deren Bedeutung für das Individuum, kann die Lebensrealität erschlossen werden. Dies ist unabdingbar für eine gelingende Hilfeplanung und die Erschließung von passenden Interventionsmöglichkeiten (vgl. ebd.: 131). In Gliederungspunkt 2.6 wird die Bedeu­tung der Biografiearbeit im Kontext der verstehenden subjektlogischen Diagnostik nochmal deutlich.

2.2. Lebensphase Jugend

Für das weitere Verständnis ist es relevant, die Lebensphase der Jugend in den Blick zu nehmen, da sich der Großteil der Adressat*innengruppe gemessen an der Altersstruktur in dieser Phase befindet (vgl. Baumann 2020: 34). Herausgestellt werden sollen spezifi­sche Charakteristika sowie Entwicklungsaufgaben und die Auswirkungen, wenn diese nicht wahrgenommen werden können.

Die Alterspanne von 13 bis ca. 25 Jahre wird als die Lebensphase der Jugend bezeich­net, wobei das Alter zwischen 13 und 18 als pubertäre Phase benannt und darüber hin­aus von einer Post-Adoleszenz gesprochen wird. Die Abgrenzung der Jugendphase und der des jungen Erwachsenenalters werden jedoch nicht anhand von Altersstrukturen definiert, sondern durch Funktionsbereiche, wie etwa veränderte Rollen und die soziale Reife, wodurch diese Phase auch hinausgezögert werden kann (vgl. Raithel 2011: 13 f.). Einerseits ist die Jugend geprägt durch die physiologische Entwicklung und andererseits beeinflusst und historisch strukturiert durch „ [. ] kulturelle, wirtschaftliche, soziale und ökologische Faktoren“ (Hurrelmann/ Quenzel 2016: 9) und kann so auch als Tran- sitionsphase in das Erwachsenenalter betrachtet werden (vgl. Raithel 2011: 18). Wichtig für das Verständnis dieser Phase sind die Entwicklungsaufgaben. Nach Hurrelmann und Quenzel lassen sich vier zentrale Entwicklungsaufgaben aus Ergebnissen der Jugendfor­schung herausstellen: das Qualifizieren, das Binden, das Konsumieren und das Partizi­pieren. Unter Qualifizieren versteht sich die Ausbildung von intellektuellen und sozia­len Kompetenzen, um eigenverantwortlich Tätigkeiten zu übernehmen, die einen per­sönlichen und gesellschaftlichen Nutzen haben. Die Entwicklungsaufgabe des Bindens fasst die Entwicklung eines Selbstbildes von Körper und Psyche zusammen, also die Identitätsentwicklung. Dies ist relevant, um enge Bindungen zu anderen Personen ein­gehen zu können. Das Konsumieren beschreibt die Entwicklung von Bewältigungsstra­tegien im Hinblick auf Stressabbau. Dazu zählt auch ein produktiver Umgang mit Wirt­schafts-, Freizeit- und Medienangeboten. Die vierte und letzte Entwicklungsaufgabe, das Partizipieren, zielt auf die Entwicklung eines Werte- und Normensystem, um als ein Teil der Gesellschaft handeln zu können. Die beschriebenen Entwicklungsaufgab en sind bei jedem Individuum in unterschiedlicher Form ausgeprägt (vgl. Hurrelmann/ Quenzel 2016: 25). Auch Hölzle stellt fest, dass in der Lebensphase Jugend Entwick­lungen stattfinden, die maßgeblich an der Identitätsentwicklung und sozialen Rollenfin­dung beteiligt sind (vgl. Hölzle 2011: 156).

Weiterhin kann die Jugend als Moratorium gesehen werden, denn Schwerpunkt ist die Orientierung an der Peergroup. Soziokulturell betrachtet ist damit eine Besonderheit dieser Phase, dass Jugendliche in der Regel von Erwachsenenpflichten entbunden wer­den und im Fokus die Alltagbewältigung steht. Die Alltagsbewältigung wird im folgen­den Gliederungspunkt unter dem Konzept der Lebensbewältigung thematisiert. Bezogen auf die Entwicklung nach Erikson (1966) stellt die Autonomie eine zentrale Kategorie der Moratoriumsperspektive dar. Diese Perspektive erlaubt es, unterschiedliche Lebens­stile im Jugendalter zu beschreiben, denn durch die Entbindung von Erwachsenenpflich­ten entsteht ein Schonraum, in dem Verhaltensweisen erprobt werden können, die sich von den Erwachsenen abgrenzen (vgl. Raithel 2011: 19). Somit ist das Jugendalter meist auch Einstiegspunkt bzw. Höhepunkt für riskante Verhaltensweisen (vgl. ebd.: 9). Dabei kann der Begriff des Risikos sowohl positiv als auch negativ bewertet werden, denn Risiken können einerseits als Bedrohung und andererseits als Chance fungieren. In der Literatur finden sich dazu verschiedene Konzepte, die das Risikoverhalten versu­chen zu klassifizieren. Raithel fasst diese Risikoverhaltenswei sen in vier Typen zusam­men: Gesundheitliches Risikoverhalten (z.B. Drogenkonsum, Ernährung), delinquentes Risikoverhalten (z.B. Gewalt), finanzielles Risikoverhalten (z.B. Warenkonsum) und ökologisches Risikoverhalten (z.B. Müllentsorgung) (vgl. ebd.: 28).

Da die Jugendphase mit vielen Veränderungen, sowohl physisch als auch psychosozial, verbunden ist, stellt dieser Lebensabschnitt auch eine sehr riskante Entwicklungszeit dar (vgl. Raithel 2011: 9). Dazu wurden unterschiedliche Erklärungsmodelle entwickelt. In dieser Arbeit wird auf das belastungstheoretische Sozialisationsmodell zurückgegriffen, denn es ist auch in Anlehnung an das Konzept der Lebensbewältigung zu sehen. Das jugendliche Risikoverhalten wird als Ergebnis des psychosozialen Belastungsniveau s, was typisch für diese Phase ist, und mangelnden Bewältigungskapazitäten, gesehen. Effiziente Bewältigungsstrategien müssen erst noch erprobt werden. Diese werden als Voraussetzung für eine stabile Identitätsentwicklung gesehen und sind für den zukünfti­gen Lebensstil bedeutend. Raithel stellt fest, dass es zu (selbst-) gefährden Verhaltens­weisen kommen kann, wenn es Probleme bei der Lebensbewältigung gibt (vgl. ebd. 58.).

Die Erprobung von Verhaltensweisen spielt in der Jugend also eine wichtige Rolle, dazu gehören auch in einem gewissen Maße riskante Verhaltensweisen. Diese haben einer­seits die Funktion, sich von Erwachsenen abzugrenzen, sprich Autonomie zu erlangen, aber auch eine Zugehörigkeit zur Peergroup zu schaffen. Neben den Entwicklungsauf­gaben nach Hurrelmann und Quenzel stehen Jugendliche zwischen den Polen Autono­mie und Zugehörigkeit, dies stellt auch Baumann fest (vgl. Baumann 2020: 59; auch: Reiser 2006). Die Sozialisation gilt dann als erfolgreich, wenn die oben genannten Ent­wicklungsaufgaben produktiv bewältigt werden können und es gelingt, „[.] die Anfor­derung der persönlichen Individuation und der sozialen Integration zu verbinden und eine Ich-Identität aufzubauen“ (Hurrelmann/Quenzel 2016: 221). Eine produktive Be­wältigung meint die aktive Auseinandersetzung mit körperlichen, psychischen und sozi­al-ökologischen Anforderungen und hat einen prozesshaften Charakter. Abhängig von den zur Verfügung stehenden Ressourcen, fallen auch die Ergebnisse der Entwicklungs­aufgaben unterschiedlich aus. Können die Entwicklungsaufgaben nicht durch personale und / oder soziale Ressourcen bewältigt werden, entstehen Risikowege, die sich auf die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen auswirken. Ausdruck dessen sind „problematische“ Verhaltensweisen. Diese Verhaltensweisen können sich beispielswei­se in Form von Aggressionen, Ausflüchten oder depressiven Verstimmungen zeigen und sollen den eigentlichen Misserfolg der Entwicklungsaufgaben vor der sozialen Umwelt aus Scham und Selbstschutz verbergen. Langfristig führt die Nicht­Bewältigung zu einer gestörten Persönlichkeitsentwicklung (vgl. ebd.: 229 f.).

2.3. Konzept der Lebensbewältigung

Dieser Gliederungspunkt behandelt das Konzept der Lebensbewältigung im Anschluss an die Lebensphase Jugend. In Verbindung mit riskanten Verhaltensweisen soll nun die Brücke zu (norm-) abweichenden Verhaltensweisen, die über die Erprobungsphase hin­ausgehen, geschlagen werden.

Das Bewältigungsmodell nach Böhnisch ist insofern relevant für die Zielgruppe, als dass es auch (norm-) abweichendes Verhalten als Bewältigungsmechanismus auffasst. (Norm-) abweichendes Verhalten, in Form von Bewältigungsverhalten, tritt dann auf, wenn konforme Mittel zur Überwindung einer kritischen Situation nicht zur Verfügung stehen und somit eine Handlungsfähigkeit nicht erreicht werden kann (vgl. Bönisch 2017: 19). Zudem betrachtet es nicht nur die individuelle Ebene des gezeigten Bewälti­gungsverhaltens, sondern kann auch die sozial-interaktiven und gesellschaftlichen Be­dingungen dessen aufschließen. Die Betrachtung der gesellschaftlichen Ebene in Bezug auf das Bewältigungsverhalten der Zielgruppe ist aus systemischer Sicht interessant, da auch immer der Gesamtkontext miteinbezogen wird. Auf diese Weise kann das Verhal­ten der jungen Menschen als Ergebnis individueller Erfahrungen, eingebettet im gesell­schaftlichen Kontext, erklärt werden. Nach Böhnisch mache diese Mehrdimensionalität des Ansatzes die reflexive Qualität aus. Das bedeutet, es fordere dazu auf, die Hinter­grundbedingungen psychosozialer Arbeit zu hinterfragen. Dies schaffe die Option, Möglichkeiten und Grenzen sozialpädagogischen Handelns zu reflektieren (vgl. Böh- nisch 2018: 11). Das System der Hilfen zur Erziehung, welches im nächsten Kapitel thematisiert wird, stößt in der Arbeit mit der Zielgruppe an seine Grenzen. So ist es un­abdingbar, vor dem Hintergrund von (norm-) abweichenden Verhaltensweisen als Be­wältigungsstrategie, auch die pädagogische Arbeit innerhalb des Systems zu betrachten.

Das Konzept der Lebensbewältigung nach Böhnisch versteht sich als dreidimensionales Modell. Es beleuchtet die psychodynamische Dimension, die soziodynamische / interak­tive Dimension und die gesellschaftliche Dimension, woraus sich wiederum Handlungs­aufforderungen ergeben (vgl. ebd.: 11 f.). Dabei definiert Böhnisch (Lebens-) Bewälti­gung als „[...] das Streben nach psychosozialer Handlungsfähigkeit in kritischen Le­benskonstellationen“ (ebd.: 20). In diesem Kontext verstehen sich kritische Lebenskons- tellationen als, nicht oder nicht mehr mit den vorhandenen Ressourcen bewältigbare Ereignisse. Somit ist die psychosoziale Handlungsfähigkeit gefährdet. Die psychosozia­le Handlungsfähigkeit versteht sich als ein Konstrukt zwischen den Magnetfeldern Selbstwert, Anerkennung und Selbstwirksamkeit, die unbedingt erhalten werden müssen. Wenn dies jedoch nicht mehr mit angemessenen Mitteln geschehen kann, wird die Er­haltung der Handlungsfähigkeit auch mit (norm-) abweichendem Verhalten kompensiert (vgl. Böhnisch 2018: 20 f.). Dieses intensive Streben nach unbedingter Handlungsfä­higkeit wird in kritischen Lebenssituationen als ein Selbstbehauptungstrieb, der emotio­nal und triebgesteuert ist, freigesetzt. Aus einer kritischen Situation entsteht eine innere Hilflosigkeit. Böhnisch spricht in diesem Kontext von einer Abspaltungsdynamik, wenn es dem Individuum nicht möglich ist, aus dieser inneren Hilflosigkeit durch Thematisie­rung herauszukommen. Thematisierung beschreibt hier nicht nur den Vorgang des Mit­teilens, sondern vielmehr den damit verbundenen sozial -interaktiven Vorgang, sprich Beziehungen zu knüpfen und ein soziales Netzwerk aufzubauen. Voraussetzung ist je­doch, die Fähigkeit dafür zu besitzen. Ist das nicht der Fall, entsteht ein somatischer Druck und das Bedürfnis diesen Druck zu erleichtern. Im Bereich der Sozialen Arbeit erfolgt die Auflösung des somatischen Drucks in Form von antisozialer Kompensation, die hier die sogenannte Abspaltung darstellt (vgl. ebd.: 21-24).

Das Modell kann auch in Anlehnung an das Coping-Konzept aus der Stressforschung gesehen werden (vgl. Böhnisch 2017: 21; auch Brüderl 1988 und Stark 1996). Das Co­ping-Konzept geht davon aus, die Bewältigung von Stresszuständen entstünde aus so­matisch aktivierten Antrieben, um einen homöostatischen (Gleichgewichts-) Zustand wiederzuerlangen. Das Bewältigungsmodell nach Böhnisch knüpft an diese Gesetzmä­ßigkeiten, im Sinne der Erhaltung der Handlungsfähigkeit, an. Hinsichtlich der Anwen­dung des Bewältigungsparadigmas für die sozialpädagogische Diagnostik wird eine Verbindung zwischen gesellschaftsbezogenem Sozialverhalten und dem triebdynamisch gesteuerten Selbst als psychische Instanz hergestellt. Dabei liegt das Augenmerk auf der Betrachtung der misslungenen Balance zwischen Umwelt und Individuum. Diese Ebene ist nach Böhnisch ausschlaggebend für ein Verhalten, das soziale Aufmerksamkeit zum Ziel hat. Lebensbewältigung wird maßgeblich durch die Lebenslage eines Individuums beeinflusst. Die Lebenslage beschreibt diejenigen Verhältnisse, die durch das Vorhan­densein / Nicht-Vorhandensein von Ressourcen und deren Zugänglichkeit im sozioöko­nomischen Gefüge für ein Individuum konstruiert wird (vgl. Böhnisch 2012: 223 f).

Historisch betrachtet, konnte sich der moderne Mensch aus den starren, klassengebun­denen Lebensumständen herauslösen. Trotz der Möglichkeit, sich neue Spielräume in individualisierten Lebensumständen erschließen und verändern zu können, sind Indivi­duen immer noch gewissermaßen an ihre Herkunft gebunden. Sozialpolitisch betrachtet, ist eine Unterstützung zur Erschließung neuer Spielräume innerhalb kritischer Lebens­umstände nur möglich, wenn diese auch als soziale Probleme im sozialstaatlichen Ge­füge anerkannt werden (vgl. Böhnisch 2012: 24).

Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass (norm-) abweichendes Verhalten auch als eine Bewältigungsform auftreten kann. Dies geschieht, wenn das Individuum durch konforme Kompensationsmethoden die kritische Lebenssituation nicht bewältigen kann und durch den Trieb, die Handlungsfähigkeit um jeden Preis erhalten zu müssen, auch auf nonkonforme Mittel zurückgreift. Dabei bringt das antisoziale Verhalten die ange­strebte Entspannung und wird trotz der negativen Konnotierung durch die Gesellschaft, als positiv erlebt (vgl. Böhnisch 2018: 24).

2.4. (Norm-) abweichendes Verhalten

Im Anschluss an das Bewältigungsmodell nach Böhnisch, ist vor allem die Auseinan­dersetzung mit (norm-) abweichendem Verhalten für die Zielgruppe relevant. Zunächst werden Begrifflichkeiten geklärt, die im Zusammenhang mit (norm-) abweichendem Verhalten stehen. Devianz versteht sich als „[...] Abweichung konkreter Verhaltenswei­sen von bestehenden, in einer bestimmten Gesellschaft anerkannten Normen“ (Büscher 2009: 55). Bei dieser Definition wird deutlich, dass vor allem die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Strukturen und personellem Handel in den Fokus genommen wird. Nach Dollinger und Raithel lässt sich Devianz in drei Kategorien unterteilen. Die kon­ventionelle Devianz beschreibt das abweichende Verhalten in einem Rahmen von un­scharfer normativer Grenzziehung. In diesen Fällen von Devianz besteht eine recht gro­ße Flexibilität, ein Verhalten als solches zu kategorisieren. Als Beispiel dafür führen Dollinger und Raithel den Konsum „weicher“ Drogen im Jugendalter auf, was wiede­rum in dieser Phase als Normalität angesehen wird und somit auch akzeptiert ist (vgl. Dollinger/ Raithel 2006: 11 f.). Die provozierende Devianz gilt als Verstoß gegen ge­sellschaftliche Normen, die jedoch nicht im kriminellen Bereich liegen, wie etwa eine unterlassene Begrüßung. Die problematische Devianz geht in den Bereich der Krimina­lität über und ist mit Sanktionen verbunden (vgl. ebd.: 12). Im weiteren Verlauf der Ar­beit wird der Terminus Devianz verwendet.

Delinquenz ist ein weiterer Begriff, der in der Literatur oft in Verbindung mit (norm-) abweichendem Verhalten während der Adoleszenz genutzt wird. Hier beschreibt der Terminus ein (norm-) abweichendes Verhalten, welches aber nicht zwingend strafrecht­lich eingeordnet werden muss. Böhnisch definiert den Begriff des (norm-) abweichen­den Verhaltens als „[.] selbstgefährdendes und destruktives Verhalten, das zwar in der Regel keinen strafrechtlichen Sanktionen unterworfen ist, aber vielfach sozial geächtet wird“ (Böhnisch 2017: 12). Weiterhin kontrastiert Böhnisch, alle Definitionen von (norm-) abweichendem Verhalten würden ebenso einen Konstruktionsprozess wieder­spiegeln, der systemübergreifenden Einflussfaktoren unterliege (vgl. ebd.: 13). Welches Verhalten als „normal“ angesehen und welches Verhalten als „abweichend“ deklariert wird, ist also immer auch als gesellschaftliches Konstrukt anzusehen, „[.] in denen das Gelingen oder Misslingen der Lebensbewältigung im Sinne herrschender normativer Modelle kodifiziert wird“ (Büscher 2009: 42 f.).

Es lassen sich zwei Aspekt in dem Begriff der Abweichung vereinen. Zum einen gibt es auf Seiten der Gesellschaft eine bestimmte Erwartungshaltung, sich normkonform zu verhalten. Dahingehend herrscht ein ständiger Bewertungsprozess des gezeigten Verhal­tens. Zum anderen gibt es auf individueller Ebene die Bereitschaft diese Normen und Regel auch einzuhalten. Es gilt also herauszufinden, ob ein junger Mensch die vorherr­schenden Regeln und Normen nicht einhalten will oder es nicht kann und aus welchen Gründen dies geschieht. Böhnisch führt in seinen Überlegungen zu (norm-) abweichen­dem Verhalten auch den Aspekt der institutionellen Gebundenheit ein. So werden be­stimmte Verhaltensweisen ausschließlich im institutionellen Kontext sanktioniert und können außerhalb dessen auch positiv bewertet werden. Dazu führt er das Beispiel von „störenden“ Verhaltensweisen in der Schule an, die dort mit Sanktionen verbunden sind, außerhalb dieses Rahmens jedoch zu einer Statusaufwertung seitens der Peergroup füh­ren können (vgl. Böhnisch 2017: 12; Büscher 2009: 53 f.).

Als Teil der öffentlich geltenden Ordnungs- und Normalitätsmuster stellt insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe auch immer eine gesellschaftliche Kontrollinstanz dar. Weiterhin ist Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe bei (norm-) abweichenden Verhal­tensweisen zu intervenieren, präventive Maßnahmen zu ergreifen und junge Menschen in die Gesellschaft zu reintegrieren und ihnen zu einer möglichst „normalen“ Biografie zu verhelfen. Aus den gesetzlichen Rahmenbedingungen lassen sich sowohl Struktu­relemente, die auf die Kontrollfunktion der Kinder- und Jugendhilfe als Wächteramt hinweisen, als auch Elemente, die den pädagogischen Auftrag wiedergeben, finden. Die Hilfen zur Erziehung sind beispielsweise als Muss-Vorschriften formuliert und halten so Eingriffsmechanismen inne (vgl. §§27- 35a SGB VIII). Diejenigen Regelungen, in denen es weniger um Kontrolle geht, sind als Kann- und Soll-Vorschriften wiederzufin­den, wie zum Beispiel in der Jugendarbeit. Somit steht sie im Spannungsfeld von Kon­trolle einerseits und Hilfe andererseits, was wiederum den Vorwurf, die Kinder- und Jugendhilfe selbst würde abweichendes Verhalten verursachen und deviante Karrieren fördern, generiert (vgl. Böhnisch 2017: 170 f.).

2.5. Lebensweltorientierung

Unter diesem Punkt wird der lebensweltorientierte Ansatz nach Hans Thiersch vorge­stellt. Dieser Ansatz vereint die vorher aufgegriffenen Themenkomplexe. Er erläutert das allgemeine Ziel der Hilfen zur Erziehung, die soziale Integration, und schafft eine Überleitung zum darauffolgenden Kapitel, welches sich noch einmal speziell mit dem System beschäftigt Weiterhin erlaubt dieser Schritt eine Heranführung an die Adres­satinnengruppe.

Im Fokus des lebensweltorientierten Ansatzes steht die Auseinandersetzung der Adres- sat*innen, hier Kinder- und Jugendliche mit komplexen Lebens- und Hilfeverläufen, mit ihren alltäglichen Lebensverhältnissen und damit auch die Bewältigung der Chan­cen und Risiken dessen. Dabei werden die Lebensverhältnisse auch immer vor dem Hintergrund der verfügbaren Ressourcen und den materiellen und politischen Bedin­gungen, die gesellschaftlich-historisch gewachsen sind, betrachtet (vgl. Grun- wald/Thiersch 2018: 906). Die Lebenswelten der Kinder- und Jugendlichen mit kom­plexen Lebens- und Hilfeverläufen sind, wie die Betitelung es schon in sich trägt, sehr komplex und vielfältig. Die Adressatinnen werden nicht als alleinstehendes Individu­um betrachtet, sondern immer in ihrer Wirklichkeit, die die subjektiven Deutungsmuster und Handlungsstrategien beinhaltet. Damit verbunden ist auch die Lebensbewältigung in Form von Bewältigungsstrategien sozialer und gesellschaftlicher Konstruktionen (vgl. ebd.: 908 f.). Weiterhin zeigt die Lebenswelt auch das Verhältnis von Gegebenem und Möglichem auf, was wiederum erlaubt, neue Wege zur Gestaltung der Lebenswelt herauszustellen. Um die fokussierte Gruppe in ihrer Lebenswelt zu erreichen, wird so­mit der lebensweltorientierte Ansatz herangezogen (vgl. Schwabe 2014: 53 ff.). Dieser ist durch folgende Strukturmaximen aufgebaut: Prävention, Regionalisierung, Alltags­nähe, Integration und Partizipation. Sie bilden den theoretischen Rahmen für eine pra- xisorientierte Arbeit und wurden im achten Jugendbericht von 1990 formuliert (vgl. Grunwald/ Thiersch 2018: 911; Bundesministerium für Frauen und Jugend 1990: 85). Die lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe versteht sich als präventiv orientier­ter Ansatz. Primärpräventiv zielt sie auf stabile Verhältnisse ab, sekundärpräventiv sind vorbeugende Hilfen in solchen Situationen, die sich zu Krisen aufbauen können, zu se­hen. Die Strukturmaxime der Prävention schließt auf die Notwendigkeit, auch ein sol­ches Netz an Hilfeangeboten zu schaffen. Weiterhin müssen diese Angebote regionali- siert bzw. dezentralisiert werden, sprich, die Hilfeangebote werden einer Region zuge­ordnet mit dem Verständnis, dass diese auch allgemein zugänglich sind. Hierfür ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Gestaltung der Angebote auf regionaler Ebene zwingend erforderlich. Auch die Alltagsnähe stellt einen wichtigen Faktor bezüglich der Zugänglichkeit dar. So sollen zeitliche und organisatorische Zugangsbarrieren abgebaut werden, sodass die Angebote von den Adressat*innen nicht nur regional erreichbar sind, sondern sich auch tatsächlich mit dem alltäglichen Leben vereinbaren lassen. Dies schließt auch die Situationsbezogenheit und Ganzheitlichkeit der Angebote mit ein. Die Adressat*innen werden im Gefüge ihrer sozialen Systeme auf individueller und kollek­tiver Eben betrachtet. Durch die Integration spezifischer Adressat*innengruppen in of­fen zugängliche Angebote ergibt sich jedoch auch immer die Kehrseite der Ausgren­zung von Gruppen. Hier sind speziell diejenigen mit komplexen und vielfältigen Le­benszusammenhängen und -problemen gemeint, also die Gruppe der Kinder und Ju­gendlichen mit komplexen Lebens- und Hilfeverläufen. Beispielsweise besteht eine „Abschiebeproblematik“, indem Jugendliche durch (norm-) abweichende Verhaltens­weisen ein Hausverbot in offenen Jugendtreffs erhalten und so der Straße überlassen werden. Darum ist es von besonderer Wichtigkeit, Hilfsangebote zu schaffen und aus­zubauen, die Gruppen, wie Kinder und Jugendliche mit komplexen Lebens- und Hil­feverläufen, ebenfalls integrieren. Die letzte Strukturmaxime ist die Partizipation. Da­runter wird das Mitbestimmungsrecht der Adressat*innen verstanden, Hilfsangebote sollen also gemeinsam erarbeitet und gestaltet werden (vgl. Bundesministerium für Frauen und Jugend 1990: 85-90).

Der lebensweltorientierte Ansatz zielt darauf ab, die Lebenswelt der Adressat*innen zu erschließen und zu verstehen, um sie in ihren Lebenslagen unterstützen zu können. Dies geschieht vor dem Hintergrund des sozialräumlichen Kontextes, in dem das Individuum mit all seinen Ressourcen und Problemen, all seinen Freiheiten und Einschränkungen steht. Wie oben bereits erwähnt, schließt dies auch die politischen, materiellen und ge­sellschaftlichen Strukturen, die an den sozialräumlichen Kontext gebunden sind, mit ein. Die Hilfe soll so gestaltet sein, dass sie die Adressat*innen in ihrer Lebenswelt ab­holt und dabei die sozialräumlichen Strukturen mit einbezieht. Ziel ist es, die Potenziale zu stärken, um ein gelingendes und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen (vgl. Grunwald/ Thiersch 2018: 906-911). An dieses Ziel knüpft auch das System der „Hilfen zur Erziehung“ an, das im nächsten Kapitel thematisiert wird.

2.6. Verstehende subjektlogische Diagnostik

Bevor jedoch zum nächsten Kapitel übergegangen wird, soll auch im Hinblick auf die Forschungsfrage, wie eine Passung der Hilfe gelingen kann, das Instrument der verste­henden subjektlogischen Diagnostik vorgestellt werden. Die Methode wird in Kapitel 7.4, dem Theorie-Praxis-Transfer, als hilfreiches Strukturelement nochmals aufgegrif­fen. Das Verständnis von Verhaltensweisen seitens der Adressat*innengruppe stellt weiterhin für die ganze Arbeit einen Stützpfeiler dar.

Die verstehende subjektlogische Diagnostik ist ein Instrument für Verstehensprozesse in pädagogischen Kontexten, welches von Menno Baumann entwickelt wurde. Es soll für Pädagog*innen ein Handwerkszeug in der Praxis mit der Adressat*innengruppe darstel­len, um ein tiefergehendes Fallverstehen zu ermöglichen und die Handlungsfähigkeit zu erhalten. Damit soll einerseits die „kritische rollenförmige Distanz“ und andererseits die „empathische Annahme“ des jungen Menschen gewährleistet werden (vgl. Baumann 2009: 25). Um auf die Anwendung dieses Instruments eingehen zu können, müssen zu­nächst die Begrifflichkeiten erläutert werden. Im Bereich der Psychologie ist die Diag­nostik ein Instrument um eine Diagnose stellen zu können. Dabei gelten Symptome als Diagnosekriterium, die wiederum einem spezifischen Krankheitsbild zugeordnet wer­den. Daraus werden folglich (Be-)Handlungsschritte abgeleitet. Dieses Verständnis von Diagnostik geht also davon aus, dass die Erstellung einer Diagnose am Anfang eines therapeutischen Prozesses steht. Im Kontext der verstehenden subjektlogischen Diag­nostik wird Diagnostik jedoch vielmehr als ein Prozess gesehen, in dem der*die Päda­gogen dauernd diagnostische Beobachtungen macht. Diagnostik wird verstanden als die Suche nach Zusammenhängen, die darauf abzielen einen Zugang zu Verhaltenswei­sen zu finden, die hinderlich sind, mit einem Menschen in einen Dialog zu treten (vgl. ebd.: 18 f.).

Weiterhin können die traditionellen Kriterien der Objektivität, der Messgenauigkeit und der Gültigkeit für die verstehende subjektlogische Diagnostik nicht gelten. Eingebettet in eine systemische Sichtweise wird davon ausgegangen „[...] dass jede Beobachtung immer eine Beobachtung eines Beobachters ist, und somit niemals von diesem unab­hängig“ (Baumann 2009: 19). Damit muss der Prozess nicht objektivierbar, sondern rekonstruierbar sein. Weiterhin muss das Kriterium der Funktionalität gegeben sein. Dieses Kriterium geht darauf zurück, ob die Diagnose und die dazu aufgestellten Hypo­thesen die Sinnhaftigkeit einer Verhaltensweise als Lebensbewältigung auffasst und ob diese Hypothese die Handlungsfähigkeit der Diagnostizierenden erweitert. Darüber hin­aus leitet Baumann die sogenannte kommunikative Validierung, die ursprünglich von Mayring als Gütekriterium der qualitativen Inhaltanalyse erarbeitet wurde, als weiteres Kriterium zur Messung der Gültigkeit ab. Dabei muss geprüft werden, ob andere Teammitglieder die Diagnose auch in Anbetracht der Funktionalität teilen (vgl. ebd.: 17-21).

Der Begriff des Verstehens meint hier, Zusammenhänge zwischen Einflussfaktoren und den Reaktionen des jungen Menschen zu erkennen. Grundlage dafür bildet, Verhalten als Überlebensstrategie, also aus einem bestimmten Sinn heraus zu betrachten. Es sollen Hypothesen entwickelt werden, die ein bestimmtes Verhalten als eine Antwort auf eine aktuelle oder vergangene Lebenssituation beziehen und den Zusammenhang herausstel­len (vgl. ebd.: 22 f.). An dieser Stelle ist nochmals auf Kapitel 2.3. hinzuweisen, wel­ches das Konzept der Lebensbewältigung behandelt und so ein tiefergehendes Ver­ständnis für die Funktionalität von Bewältigungsmechanismen im Kontext von diesem Instrumentariums bietet.

An die Sinnhaftigkeit des Verhaltens lässt sich der Begriff der Subjektlogik anknüpfen. Dieser bezieht sich auf die Eigenwelt des jungen Menschen und soll deutlich machen, „[...] dass es um die (systemisch ausgedrückt) sinnstiftende Eigenkonstruktionen von Wirklichkeit des Betroffenen geht“ (ebd.: 24). Zusammengefasst ist Verhalten immer das Ergebnis von Lebensbewältigung, welches für das Individuum innerhalb der subjek­tiven Wirklichkeit sinnvoll ist. Dabei soll das Instrument der verstehenden subjektlogi­schen Diagnostik helfen, eben genau diese Zusammenhänge für externe Beobach- ter*innen aufzuschlüsseln (vgl. ebd.: 20-24).

Für das Verständnis der verstehenden subjektlogischen Diagnostik ist nicht nur die Le­bensbewältigung zu betrachten, sondern auch die Strukturlogik der menschlichen Ent­wicklung. Alle Prozesse der menschlichen Entwicklung erfolgen in dem Spannungsfeld des Strebens nach Autonomie und dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Bezogen auf Kinder und Jugendliche mit „Verhaltensstörungen“ sind diese Pole an irgendeinem Punkt aus dem Gleichgewicht geraten, damit nimmt die Betrachtung der individuellen Entwicklung als Balanceakt eine wichtige Rolle ein (vgl. Baumann 2009: 25-27). Hier sei auf das Kapitel 2.2 hinzuweisen, welche sich mit der Lebensphase Jugend beschäftig und auf eben genannte Gesetzmäßigkeiten eingeht.

Das Instrument selber wurde auf Grundlage von vier Methoden aus dem Bereich der verstehenden Diagnostik entwickelt. Darunter fungierten die feldtheoretische Lebens­raumanalyse, das szenische Verstehen, die lebensproblemzentrierte Pädagogik und die plananalytische Kinderpädagogik als Orientierungspunkte (vgl. ebd.: 39). Die einzelnen Methoden sollen hier nicht weiter beschrieben werden, da dies den Rahmen dieser Ar­beit sprengen würde. Nun soll die Anwendung der verstehenden subjektlogischen Diag­nostik folgen. Wichtig zu erwähnen ist, dass Diagnose in diesem Kontext die Visualisie­rung der Erkenntnisse meint (vgl. ebd.: 67).

Zuerst werden zentrale Kernaussagen zu relevanten Lebensräumen zum Ausdruck ge­bracht. Die relevanten Lebensräume meinen hier die Kernfamilie, die Peer-Group, die schulische Situation und ein weiterer relevanter Lebensraum. Die Informationen dazu werden in kurzen Aussagesätzen formuliert und die Bedeutung für den jungen Men­schen mit -/+ symbolisiert. Ambivalenzen werden durch eine Häufung der Zeichen aus­gedrückt (z.B. ++/-). Im zweiten Schritt werden Hypothesen über die zentralen Kon­fliktfelder vor dem Hintergrund des Balanceaktes zwischen Autonomie und Zugehörig­keit generiert. Die Hypothesen werden ebenfalls durch kurze, prägnante Aussagen aus­gedrückt, Zusammenhänge werden über „Wenn-Dann-Aussagen“ benannt. Im dritten Schritt werden implizite Ziele und Strategien in Form von Ich-Aussagen formuliert. Diese Vorgehensweise erlaubt es, Daten zu sortieren und in einen Zusammenhang zu stellen (vgl. ebd. 67-70). Die folgende Darstellung verdeutlicht die Visualisierung der Erkenntnisse als Ergebnis der verstehenden subjektiven Diagnostik.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Instrument der verstehenden sub­jektlogischen Diagnostik Elemente der vorher behandelten Themen aus diesem Kapitel beinhaltet. Zum einen thematisiert das Instrument den Grundgedanken zu (norm-) ab­weichenden Verhalten als eine Form der Lebensbewältigung. So greifen Menschen auf (norm-) abweichende Verhaltensweisen zurück, wenn sie nicht mehr in der Lage sind ihr Leben durch gesellschaftlich anerkannte Bewältigungsformen zu bewältigen (vgl. Bönisch 2017: 19). Dies impliziert, dass diese Verhaltensweisen als Form von Lebens­bewältigung auch immer ein sinnvolles Verhalten ist, denn diese Verhaltensweisen werden durch den Trieb handlungsfähig zu bleiben generiert. Auch der lebensweltorien­tierte Ansatz findet Anwendung in diesem Instrument. Durch die verstehende subjektlo­gische Diagnostik soll ein Perspektivwechsel ermöglicht werden, dem es den Anwen­derinnen erlaubt in die Lebenswelt, also die Realität des jungen Menschen zu rekon­struieren. Es gilt herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt und in welchen Situationen eine „störende“ Verhaltensweise einen Sinn für das Individuum ergeben hat oder ergibt. In dieser Hinsicht müssen die Anwenderinnen dieser Methode auch nah an der Le­benswelt arbeiten, denn Verhalten und Interaktion sind in der subjektiven Wirklichkeit zu verorten (vgl. Grunwald/ Thiersch 2018: 906-911)

3. Das System „Hilfen zur Erziehung“ nach SGB VIII

Das System der „Hilfen zur Erziehung“, kurz HzE, ist im achten Sozialgesetzbuch ve r- ankert und ist Teil der Kinder- und Jugendhilfe. Die Hilfen zur Erziehung sind in den Paragraphen 27-3 5a aufgelistet. Darunter lassen sich insbesondere folgende Maßnah­men bestimmen: Erziehungsberatung, Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistandschaft / Betreuungshelfer*in, Sozialpädagogische Familienhelfer*in, Erziehung in einer Ta­gesgruppe, Vollzeitpflege, Heimerziehung bzw. andere betreute Wohnformen, intensiv sozialpädagogische Einzelbetreuung und die Eingliederungshilfe für Kinder und Ju­gendliche mit einer seelischen Behinderung (§§27-35a SGB VIII). „Insbesondere“ be­deutet im rechtlichen Kontext, dass vor allem diese Formen der Hilfen im Regelfall durch den Kostenträger gewährt werden, aber nicht ausschließlich (vgl. Schmidt 2017: 123). Unterschieden werden ambulante (z.B. Sozialpädagogische Familienhilfe), teilsta­tionäre (z.B. Tagesgruppe) und stationäre Hilfen (z.B. Heimerziehung).

Die Hilfen zur Erziehung richten sich speziell an Kinder und Jugendliche vom Zeit­punkt der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Über das 18. Lebensjahr hinaus können weiterhin Hilfen gewährt werden, „[...] wenn und solange die Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist“ (§41 Abs.1 S.1 SGB VIII). Der Anspruch auf die Hilfen zur Erziehung entsteht dann, wenn eine ange­messene Erziehung des Kindes oder des Jugendlichen durch die Personensorgeberech­tigten nicht gewährleistet werden kann und so das Wohl des jungen Menschen gefährdet ist. Das Kindeswohl ist hier ein unbestimmter Rechtsbegriff, der anhand präziser Krite­rien und objektiven Entwicklungsstandards festgemacht wird. Der Begriff bezieht sich demnach nicht nur auf die körperliche Unversehrtheit, sondern auch auf die geistige und seelische Gesundheit des jungen Menschen (vgl. Schmidt 2017: 120). Adressat*innen sind also Kinder und Jugendliche, die in belastenden Familienverhältnissen bzw. Le­bensbedingungen aufwachsen und deren Wohlergehen in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht in ihrer Umgebung nicht gewährleistet werden kann.

Daher haben die Hilfen zur Erziehung das Ziel, die Entwicklung zu Fördern und die jungen Menschen „[...] zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Per­sönlichkeit“ (§1 Abs.1 SGB VIII) zu erziehen. Ein weiteres Ziel stellt die soziale In­tegration dar. Dieses Ziel ist in Verbindung mit dem lebensweltorientierten Ansatz, der im vorherigen Kapitel beschrieben wurde, zu sehen. Nach Thiersch bedeutet soziale Integration die Anpassung der Hilfeleistungen an die Lebensumstände der Adres­sat*innen und sie nicht durch eine Sonderstellung auszugrenzen. Die subjektiven Le­bensverhältnisse müssen wahrgenommen werden, damit eine Bewältigungshilfe ermög­licht werden kann (vgl. Bundesministerium für Frauen und Jugend 1990: 88). Dabei richten sich die Art und der Umfang nach dem individuellen Einzelfall (vgl. §27 Abs.2 SGB VIII). Die Hilfeform muss entsprechend den Bedürfnissen geeignet und notwendig sein, um die Gefährdung im Wohl des jungen Menschen abwenden zu können (vgl. §27 Abs.1 SGB VIII).

Für die Adressat*innengruppe sind vor allem die stationären Hilfeformen zu betrachten, da sie auf Grund der komplexen Lebens- und Hilfeverläufen vielseitige Bedürfnisse haben und niedrigschwellige Angebote, wie eine Sozialpädagogische Familienhilfe die­sen Bedarf nicht decken können. In §34 SGB VIII ist die Heimerziehung bzw. sonstige betreute Wohnformen geregelt. Diese Art von Hilfe soll für den jungen Menschen einen geregelten Alltag schaffen und die Entwicklung entsprechend seinen Bedürfnissen mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten unterstützen. Ziele dieser Hilfe sind ers­tens, die Rückführung in die Familie, zweitens, auf das Leben in einer andren Familie vorzubereiten oder drittens, die Verselbständigung. Weiterhin ist die intensive sozialp ä- dagogische Einzelbetreuung in §35 SGB VIII in Bezug auf die Zielgruppe zu nennen. Diese Hilfe soll besonders die soziale Integration und auf eine eigenständige Lebensfüh­rung abzielen. Auch hier muss die Hilfe den individuellen Bedürfnissen der jungen Menschen zu Gute kommen.

Aus der Annahme heraus, das System müsse sich an die individuellen Lebenslagen an­passen, entsteht die Herausforderung der sozialen Integration für Kinder und Jugendli­che mit komplexen Lebens- und Hilfeverläufen (vgl. Bundesministerium für Frauen und Jugend 1990: 88.). Imbusch und Heitmeyer definieren Integration als den sozialen Zu­sammenhalt in einer Gemeinschaft. Dieser Zusammenhalt ist durch eine soziale Ord­nung, bestehend aus ethischen und moralischen Werten und Normen, strukturiert. Somit kann Integration auch als ein dynamischer Prozess gesehen werden, der von individuel­len, gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Faktoren abhängt. Die Rahmenbedingungen von Integration beziehen sich dementsprechend auf das Aus­maß der politischen, ökonomischen und kulturellen Teilhabe, wie beispielsweise der Erwerb von Bildungsabschlüssen und Einkommen oder gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Voraussetzung für eine Integration ist es jedoch, von der Gemeinschaft aner­kannt zu werden und dieser zugehörig zu sein. Das Zusammenwirken der unterschiedli­chen Faktoren kann eine Integration begünstigen, allerdings auch zu einer Desintegrati­on führen (vgl. Heitmeyer/ Imbusch 2012: 10 ff.). Betrachtet man vor diesem Hinter­grund die Gruppe der jugendlichen „Systemsprenger“, so findet bei ihnen eine Entwick­lung zur Desintegration statt, denn sie werden als eine Randgruppe der Gesellschaft dargestellt. Sie unterliegen der allgemein gesellschaftlichen Erwartung, sich den vor­herrschenden Werten und Normen anzupassen. Die jungen Menschen sind also dazu angehalten, sich hinsichtlich ihrer Lebensstile an die Gesellschaft anzupassen und ihre erlernten Verhaltensweisen aufzugeben (vgl. Discher/ Schimke 2014: 39 ff.). Problema­tisch daran ist, dass die jungen Menschen sich von dieser Erwartungshaltung provoziert und diskriminiert fühlen könnten und als Reaktion darauf (norm-) abweichende Verhal­tensweisen zeigen. Somit würden sie jedoch wieder als Randgruppe der Gesellschaft gesehen werden, da das gezeigte (norm-) abweichende Verhalten als Bewältigungsme­chanismus zu bewerten ist und demnach, wie in Kapitel 2.3-2.4 erläutert, einen subjek­tiven Sinn für die Adressat*innengruppe hat. So können diese Verhaltensweisen auch nicht einfach durch Assimilation, also die Anpassung an das allgemeine Werte- und Normensystem der Gesellschaft, erfolgen. Für die soziale Integration müssen folglich gesellschaftliche Strukturelemente verändert werden (vgl. Iben 2011: 451). Trotz dieser Dynamik wird die soziale Integration als Ziel der Hilfen zur Erziehung benannt. Grund­bedingung dafür ist es, eine passende Hilfe zu installieren, die an die Lebenslage des jungen Menschen angepasst ist (vgl. Bundesministerium für Frauen und Jugend 1990: 85 ff.).

Des Weiteren ist zu beachten, dass die Hilfen keinen staatlichen Eingriff in die elterli­che Sorge darstellen und die elterlichen Rechte Vorrang haben (vgl. §1 Abs.2 S.1 SGB VIII). Ein Eingreifen in diese Rechte durch den Staat, der hier eine Wächterfunktion einnimmt, ist nur berechtigt, „[...] wenn die Gefahr nicht auf andere Weise [...] begeg­net werden kann“ (Moch 2015: 687).

Insgesamt stellen die Hilfen zur Erziehung ein breitgefächertes Unterstützungssystem dar und weisen viele Möglichkeiten und Angebote für junge Menschen und ihre Fami­lien auf. Trotz der Vielfältigkeit gibt es immer noch Kinder und Jugendliche, für die keine passende Hilfe gefunden werden kann bzw. die jungen Menschen kaum bis gar nicht erreicht werden. Immer wieder wird versucht, eine neue Hilfe zu installieren. Die­ser Prozess wird jedoch in regelmäßigen Abständen aus unterschiedlichen Gründen ab­gebrochen. Deswegen kritisieren Schwabe und Moch das System der Erziehungshilfen, denn es stoße in der Arbeit mit den „Schwierigsten“ an seine Grenzen (vgl. Schwabe 2014: 53 ff.; Moch 2015: 694 f.).

Um eine gelingende Hilfe für die Adressat*innengruppe zu finden, sollen im nächsten Schritt die Begrifflichkeiten erläutert und somit typische Verhaltensweisen und Charak­teristika herausgestellt werden. Dies ist vor allem wichtig, um die Lebensumstände in Verbindung mit den in Kapitel 2 erarbeiten, relevanten Themenkomplexen verstehen und geeignete Rahmenbedingungen innerhalb des Systems einrichten zu können. Insbe­sondere diese Gruppe ist auf eine verlässliche Struktur angewiesen (vgl. Moch 2015: 695 f.).

3.1. Das Herausfallen aus dem System

Die Anzahl der jungen Menschen, die aus dem System der Hilfen zur Erziehung heraus­fallen, beläuft sich auf ungefähr 10-15%, gemessen an der Anzahl derjenigen, die diese Hilfen in Anspruch nehmen. Baumann ermittelt hier einen durchschnittlichen Wert von 13,93% innerhalb des Einzugsgebietes der Studie „Kinder, die Systeme sprengen“. Die­ses Ergebnis bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Zeitraum von 2 Jah­ren ein vollstationärer Wohngruppenplatz durch einen jungen Menschen beansprucht wird, der sich als nicht haltbar zeigt (vgl. Baumann 2020: 27). Die Hilfeformen werden aufgrund von schwierigen bzw. krisenhaften Verhaltensweisen der Kinder und Jugend­lichen frühzeitig abgebrochen. Eine neue Hilfeform zu finden gestaltet sich immer schwerer, da auch die individuellen Fälle an Komplexität und Vielschichtigkeit gewin­nen (vgl. Schwabe 2014: 53 ff.). Junge Menschen, die also in regelmäßigen Abständen wiederholt aus den Jugendhilfemaßnahmen herausfallen, werden unter folgenden Be- grifflichkeiten zusammengefasst und vermischt: „schwierige“ Jugendliche, „Problemju­gendliche“, „Erziehungsresistent“, „Schwererziehbar“ und jugendliche „Systemspren­ger“ (vgl. Baumann 2020: 13 f., Witte/Sander 2006: 7 ff.). Witte und Sander kontrastie­ren diese Kinder und Jugendlichen als die „[...] besonders Schwierigen, die den Rah­men jeder Institution sprengen. Die Jugendlichen pendeln rastlos über viele Jahre zwi­schen Familie, Jugendhilfe, Straße, Psychiatrie und schließlich auch Gefängnis“ (Wit- te/Sander 2006: 7). Dieses Zitat zeigt deutlich die Grenze und das Scheitern des Hilfe­systems auf mehreren Ebenen der professionellen Hilfe. Die Gründe dafür werden durch ein bestimmtes Verhalten der Zielgruppe deutlich.

[...]

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Systemsprenger in der Erziehungshilfe. Wie kann eine Optimierung der Hilfe gelingen?
Hochschule
Hochschule Koblenz (ehem. FH Koblenz)
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
94
Katalognummer
V943448
ISBN (eBook)
9783346292254
ISBN (Buch)
9783346292261
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hilfen zur Erziehung, Kinder- und Jugendhilfe, "Systemsprenger"
Arbeit zitieren
Bianca Müller (Autor:in), 2020, Systemsprenger in der Erziehungshilfe. Wie kann eine Optimierung der Hilfe gelingen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/943448

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