In dieser Arbeit beschäftige ich mich mit dem Schriftsteller Thomas Mann und seinem Alterswerk „Die Betrogene“. Zunächst wird die Erzählung in einem kurzen Resümee vorgestellt und damit ein erster Einblick in das letzte abgeschlossene Prosawerk des bedeutenden deutschen Autors gewährt. Anschließend richtet sich mein Hauptaugenmerk auf die bemerkenswerte Entstehungsgeschichte des Opus sowie auf die durch die Topoi Liebe und Tod gekennzeichnete Motivik der Erzählung. Im weiteren Verlauf setze ich mich mit der Rezeptionsgeschichte und letztlich mit dem Aspekt der Relevanz für das Mannsche Œuvre auseinander.
Inhaltsverzeichnis
1. Thematische Einführung
2. Resümee der Erzählung
3. Genese der Erzählung
4. Motivik der Erzählung
5. Rezeption der Erzählung
6. Relevanz der Erzählung für das Œuvre
7. Schlussbetrachtung
8. Literaturverzeichnis
8.1. Primärliteratur
8.2. Sekundärliteratur
1. T hematische Einführung
Ich möchte mich in dieser Hausarbeit mit dem deutschen Schriftsteller Thomas Mann und seinem Alterswerk „Die Betrogene“ beschäftigen. Dieses Vorhaben begründet sich in der Absicht, sowohl dem Anspruch des Seminars „Thomas Manns Spätwerk“ Rechnung zu tragen als auch den literarischen Stil des Autors anhand des nach eigenem Bekunden für seine Person sehr typischen Erzählwerks zu porträtieren. In dem später erschienenen Aufsatz „Rückkehr“ konstatiert Thomas Mann:
„Es [‚Die Betrogene’, Anm. d. Verf.] könnte von keinem anderen sein und gehört mit einer gewissen Notwendigkeit zu mir und dem Meinen.“1
Dass seine Manier in „Die Betrogene“ vor allem durch eine charakteristische Motivik der Topoi Liebe und Tod konstituiert ist, soll in Kapitel 4. dieser Hausarbeit an konkreten Beispielen exemplifiziert werden. Mein Hauptaugenmerk möchte ich ferner auf die bemerkenswerte Entstehungsgeschichte des Opus richten (siehe Kapitel 3.). So ist die Genese der „kleine[n] Mythe von der Mutter Natur“2, wie Mann die Novelle einst nannte, in der Hinsicht frappant, dass ihre Konzeption auf eine beiläufige Anekdote von Ehefrau Katia zurückzuführen ist.3 Nicht minder interessant stellt sich zudem der Blick auf die Rezeptionsgeschichte dar, welche in Kapitel 5. illustriert werden soll. Denn der Verfasser selbst sah in der Erzählung ein „problematisches Produkt“4 und titulierte sie überdies als „Experiment“5. Im weiteren Verlauf möchte ich mich mit der Relevanz des Alterswerkes für das Mannsche Œuvre auseinander setzen (siehe Kapitel 6.). Schlussbetrachtend soll Kapitel 7. aufzeigen, dass die Novelle durchaus assoziativ zu der Lebensgeschichte des Literaten zu sehen ist. In diesem Zusammenhang sei lediglich auf die
Krebserkrankung des Schriftstellers respektive der Protagonistin der Erzählung hingewiesen.
Um ein möglichst vollständiges und vor allem verständliches Bild des vorliegenden
literarischen Textes zu erhalten, möchte ich „Die Betrogene“ jedoch zunächst in einem kurzen Resümee6 vorstellen und damit einen ersten Einblick in das letzte abgeschlossene Prosawerk des bedeutenden deutschen Autors gewähren.
2. Resümee der Erzählung
Mit „Die Betrogene“ erscheint 1953 das letzte vollendete Prosawerk von Thomas Mann. Protagonistin der novellistischen Erzählung ist die etwa fünfzigjährige Offizierswitwe Rosalie von Tümmler, die mit ihrer Tochter Anna, welche mit einem Klumpfuß geboren und unverheiratet geblieben ist, und ihrem jüngeren Sohn Eduard gemeinsam im Düsseldorf der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts lebt. Rosalie, eine große Naturliebhaberin, leidet infolge des Eintretens des Klimakteriums unter verschiedensten psychischen Veränderungen wie „ängstliche Wallungen“7 und „Tage der Schwermut“8. Eine abrupte Wendung erfährt die Szenerie mit dem Auftreten des amerikanischen Kriegsveteranen Ken Keaton, der als Hauslehrer für Eduard angestellt und „nicht eben vom Geiste gezeichnet“9 ist. Rosalie verliebt sich trotz des „unter seelischen Widerständen sich vollziehenden Erlöschen[s] ihrer physischen Weiblichkeit“10 in den jungen Amerikaner. Das plötzliche Wiedereinsetzen der Menstruation interpretiert sie dabei als Zeichen des Wohlwollens der Natur. Mit dem Scharfsinn einer vom Leben Ausgeschlossenen ahnt Anna indes, dass die späte Leidenschaft der Mutter deletär wirken wird und versucht, ihr die „unselige
Anwandlung“11 als naturbedingte körperliche Erregung plausibel zu machen. Rosalie verschließt sich jedoch dem in ihren Augen widerspenstigen Gebaren der Tochter und widersetzt sich einer Entlassung des Nachhilfelehrers. Vielmehr erscheint ihr jeglicher Widerstand hinsichtlich ihrer Neigung als „Treulosigkeit“12 und undankbares Verhalten gegenüber der Natur, welche sich ihrer Person bediene, um ein verjüngendes „Wunder“13 zu tun.
Während eines Ausfluges zum Schloss Holterhof offenbart sie Ken ihre Liebe. Doch bereits am folgenden Tag wird eine hoffnungslos fortgeschrittene Gebärmutterkrebserkrankung diagnostiziert, deren warnende Symptome Rosalie als unerwarteten „Seelenfrühling[s]“14 missdeutet hatte. Nur wenige Wochen später realisiert sie auf dem Sterbebett, dass ihre Schuld darin lag, sich einen „Frühling ohne den Tod“15 gewünscht zu haben. Letztlich versöhnt mit der geliebten Natur stirbt Rosalie von Tümmler einen „milden Tod“16.
Nachdem ich im Vorhergehenden versucht habe, auf die nennenswertesten Inhalte des Mannschen Erzählwerks Bezug zu nehmen, soll nunmehr dessen Entstehungsgeschichte im Vordergrund meiner Betrachtung stehen.
3. Genese der Erzählung
Thomas Mann unterbrach im Frühjahr des Jahres 1952, drei Jahre vor seinem Tod, die Arbeit an dem Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil“ (1954), um mit „Die Betrogene“ eine weitere Erzählung zu schreiben.17 Hans Rudolf Vaget vermutet hierbei sicher nicht zu Unrecht, dass sich
Manns Vorhaben in der nicht verarbeiteten, unerfüllten Liebe zu Klaus Heuser begründete18 – einem Sohn des Direktors der Düsseldorfer Kunstakademie und Manns „glücklichste [Leidenschaft]“19. Auch die Wahl des Ortes Düsseldorf als Schauplatz der Erzählung dürfte ähnlich motiviert gewesen sein, denn Mann und Heuser begegneten sich häufig in der rheinländischen Metropole.20 Thomas Mann selbst kommentierte seinen Entschluss mit der Anmerkung, ein Projekt wieder einmal abschließen zu wollen,21 was meinem Vernehmen nach dafür spricht, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits konkrete Vorstellungen hinsichtlich eines weiteren Erzählwerks gehabt haben muss.
Um die Konzeption Gestalt werden zu lassen, bedurfte es eines äußeren Anlasses. Wie der Tagebuchaufzeichnung vom 6. April 1952 zu entnehmen ist,22 berichtete seine Ehefrau Katia beim Frühstück im kalifornischen Heim in Pacific Palisades von einer Münchener Aristokratin, der das gleiche Unheil, samt der medizinischen Missdeutung im Rahmen einer Liebesgeschichte, widerfahren war, wie es desgleichen der Figur Rosalie von Tümmler ereilen sollte. Mann, der von dem Bericht, den Vaget für mein Empfinden befremdlich als „Fabel“23 deklariert, prompt angetan war,24 unternahm nur kurze Zeit später erste Recherchen. So bat er beispielsweise den befreundeten Arzt Dr. Frederick Rosenthal um konkrete Informationen bezüglich Gebärmutterkrebs, Klimakterium und Ovarien. Betreffs des Schauplatzes Düsseldorf erkundigte sich der Schriftsteller bei Grete Merrem-Nikisch, einer Bekannten aus dem Rheinland, und ihrem Neffen Dr. Rudolf Oberloskamp, dessen Namen aus Dankbarkeit für seine Hilfsbereitschaft in der Erzählung erscheinen sollte. Von Merrem-Nikisch erhielt Mann das gerade veröffentlichte Merianheft, welches ihm wertvolle historische und topografische
Details über Düsseldorf vermittelte. Eine im Heft zitierte Passage aus Emil Barths Roman „Der Wandelstern“ (1939) enthielt ferner die Beschreibung eines Ausfluges nach Schloss Benrath bei Düsseldorf, das in „Die Betrogene“ als Schloss Holterhof in Erscheinung tritt.25
Die ersten Entwürfe des Werkes, in denen sich Thomas Mann mithilfe der Rechercheergebnisse um eine wirklichkeitsnahe Darlegung der Dinge bemühte, sind für den 14. Mai 1952 belegt.26 Bereits einen Monat später, am 14. Juni 1952, führte er die Figur Ken Keaton in die Handlung ein,27 für die wohl das äußere Erscheinungsbild von Ed Klotz, häufiger Gast im kalifornischen Heim der Manns und überdies Student von Golo Mann28, maßgebend war. Darüber hinaus dürfte auch ein Assistenzarzt des Chicagoer Billings Hospitals Modell gestanden haben, in welchem Mann 1946 wegen einer Lungenkrebserkrankung therapiert wurde.29 Während James N. Bade unter anderem auch Klaus Heuser als Vorbild für Ken Keaton sieht,30 erkennt Marianne Krüll in der Person des Amerikaners sowohl den jungen Thomas Mann als auch seinen Sohn Klaus.31 Für die Figur der Rosalie von Tümmler war hingegen ein Porträt der deutschen Schriftstellerin Gertrud von Le Fort ideengebend.32 Den Vornamen Rosalie, ein „absichtlich komischer Name“,33 wählte Mann, da ihm der Charakter seiner Protagonistin „halb komisch“34 erschien. Eva-Maria Kraske erinnert der Name derweil an die christliche Legende von der Heiligen Rosalia.35
In den folgenden Monaten musste die Arbeit an „Die Betrogene“ mitunter längerfristig unterbrochen werden. Sorgte beispielsweise Ende Juni der Umzug aus
den USA zurück nach Europa für eine ungewollte Schaffenspause, setzte Thomas Mann Ende des Jahres 1952 eine schwere Grippe außer Gefecht, von der er sich nur mühsam erholte. Es verwundert demnach nicht, dass der Autor zuweilen die Lust am Schreiben verlor und die Textproduktion ins Stocken geriet. Entsprechend heißt es zum Beispiel in einem Tagebucheintrag vom 26. August 1952:
„Gearbeitet ohne in Arbeitsverfassung zu sein.“
[...]
1 Thomas Mann: Rückkehr. In: Thomas Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften. Nachwort von Martin Gregor-Dellin. In: Thomas Mann: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1983. S. 472-477; hier: S. 475.
2 Thomas Mann: 1944-1955. Teil III. Herausgegeben von Hans Wysling und Marianne Fischer. In: Rudolf Hirsch/Werner Vordtriede (Hrsg.): Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 14/III. Passau: Ernst Heimeran Verlag, 1981. S. 520.
3 vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1951-1952. Herausgegeben von Inge Jens. 2. und verbesserte Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1993. S. 198-199.
4 Mann: Rückkehr. In: Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften. In: Mann 1983. S. 472-477; hier: S. 475.
5 Mann: 1944-1955. Teil III. In: Hirsch/Vordtriede 1981. S. 524.
6 Ein einfaches, aber anschauliches funktionales Resümee findet sich in den Aufzeichnungen von Johannes Pfeiffer. (vgl. Johannes Pfeiffer: Über Thomas Manns Erzählung „Die Betrogene“. In: Felix Arends u. a. (Hrsg.): Wirkendes Wort. Deutsches Sprachschaffen in Lehre und Leben. Nr. 8. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1957. S. 30-33; hier: S. 30.)
7 Thomas Mann: Die Betrogene. Erzählung. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1953. S. 8.
8 Mann 1953. S. 8.
9 Mann 1953. S. 33.
10 Mann 1953. S. 8.
11 Mann 1953. S. 72.
12 Mann 1953. S. 74.
13 Mann 1953. S. 77.
14 Mann 1953. S. 49.
15 Mann 1953. S. 126.
16 Mann 1953. S. 127.
17 vgl. Hans Rudolf Vaget: Thomas-Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München: Winkler Verlag, 1984. S. 293.
18 vgl. Vaget 1984. S. 298.
19 Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1977. S. 185.
20 vgl. Vaget 1984. S. 298.
21 vgl. Mann: 1944-1955. Teil III. In: Hirsch/Vordtriede 1981. S. 510.
22 vgl. Mann 1993. S. 198-199.
23 Vaget 1984. S. 293.
24 In einem Brief an Walter Rilla heißt es: „Die Geschichte beruht auf einer Anekdote aus dem Leben, die aller Einzelheiten ermangelte, mich aber sofort produktiv ansprach, [...].“ (Mann: 1944-1955. Teil III. In: Hirsch/Vordtriede 1981. S. 522.)
25 vgl. Vaget 1984. S. 294-295.
26 vgl. Mann: 1944-1955. Teil III. In: Hirsch/Vordtriede 1981. S. 582.
27 vgl. Mann: 1944-1955. Teil III. In: Hirsch/Vordtriede 1981. S. 582.
28 Golo Mann ist das dritte Kind aus der Ehe von Thomas und Katia Mann.
29 vgl. Vaget 1984. S. 296-297.
30 vgl. James N. Bade: Die Betrogene aus neuer Sicht. Der autobiographische Hintergrund zu Thomas Manns letzter Erzählung. Frankfurt am Main: R. G. Fischer Verlag, 1994. S. 21-22.
31 vgl. Marianne Krüll: Im Netz der Zauberer. Eine andere Geschichte der Familie Mann. Zürich: Arche Verlag, 1991. S. 416.
32 vgl. Vaget 1984. S. 297.
33 Mann: 1944-1955. Teil III. In: Hirsch/Vordtriede 1981. S. 525.
34 Mann: 1944-1955. Teil III. In: Hirsch/Vordtriede 1981. S. 525.
35 vgl. Eva-Maria Kraske: Betrug und Gnade. Thomas Manns Erzählung „Die Betrogene“. 1. Auflage. Bad Schwartau: WFB Verlagsgruppe, 2006. S. 11.
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