Pathologische Menschlichkeit. Die Herausbildung der Krankheit Seele und Fantasie am Schicksal des Ingenieurs D-503 in Zamjatins "Wir"


Hausarbeit, 2020

15 Seiten, Note: 2,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Die Struktur und die Ideologie des Einheitsstaates
Sexualität & Familie
Das Leben im Licht der Vernunft und der Begriff der Freiheit

Die Figur des Ingenieurs D-503
Der Einfluss von I-330 und der Beginn einer seelischen Krankheit bei D-503
Die große Operation – die Beseitigung der Fantasie durch Bestrahlung

Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Der im Jahr 1924 in New York erstmals in englischer Sprache publizierte dystopische Roman Wir [KS1] 1 von Evgenij Zamjatin[KS2] zeigt eine Zukunft, in der die irrationale und chaotische Welt durch einen mechanischen und rationalen „Einheitsstaat“ ersetzt wurde. Der Grund für die Publikation außerhalb seiner Heimat war die Zwangsimmigration des Autors im Jahr 1931. Erst im Jahr 1988 konnte das Werk erstmals auch in Russland veröffentlicht werden.

Der Begriff Krankheit ist im Allgemeinwortschatz auf den ersten Blick etwas sehr Objektives und Gegebenes. Als Krankheit bezeichnet man so beispielsweise eine Störung der normalen Funktion von Organen oder Körperteilen, oder auch die des geistigen, seelischen Wohlbefindens.2 [KS3] Seine Bedeutung ist jedoch breiter gefächert: Es gibt kein universelles Konzept, sondern lediglich Definitionen abhängig von kulturellen Denkstrukturen, sowie Wertevorstellungen einer Gesellschaft.3 Ein interessantes, paradoxes und extremes Beispiel dafür bildet die von der Gesellschaft in Zamjatins Werk „Wir“ so empfundene und anerkannte Definition von Krankheit (die Herausbildung einer Seele und Fantasie).[KS4]

Die Motivation für das Verfassen dieser Arbeit ist, die Bedeutung der Definition des Krankheitsbegriffs in Zamjatins Werk Wir aufzuzeigen. Dafür soll zunächst das Wesen des Einheitsstaates dargelegt und auf dieser Grundlage die Herausbildung der Krankheit Seele und Fantasie am Schicksal des Ingenieurs D-503 analysiert werden. Die Schlussbetrachtung fasst die Ergebnisse der Analyse zusammen.[KS5]

Die Struktur und die Ideologie des Einheitsstaates

Zamjatin beschreibt in Wir eine Schreckensvision der Zukunft, in der die von der Vernunft gesteuerte Welt unter dem Motto der absoluten Gleichheit jede Individualität auslöscht. Schauplatz des Ganzen ist unser Planet Erde im 30. Jahrhundert4 nach einem 200 Jahre währenden Krieg. Diese Auseinandersetzung überlebten nur zwei Prozent der gesamten Weltbevölkerung. Sie verteilen sich auf zwei Gruppen: die Bevölkerung des Einheitsstaates und die Wilden, die hinter der vom Einheitsstaat errichteten, grünen Mauer leben. Diese Barriere wurde nach dem Krieg errichtet und dient der Isolation sowie dem Schutz der Bevölkerung der Stadt vor der feindlichen Außenwelt.

Alle Bewohner des Einheitsstaates gehorchen dem ewig herrschenden Wohltäter. Er genießt die volle Autorität im Staat und fast alle Bewohner dieser Welt glauben mit Ehrfurcht an seine unanfechtbare Gerechtigkeit. Der Wohltäter selbst sieht sich als „Verteidiger des Staates gegen die Willkür des Individuums“5. Aus diesem Grund wird am Tag der alljährlichen, symbolischen Wahlen des Wohltäters, Jahr für Jahr, und zwar einstimmig, immer derselbe Wohltäter gewählt. Dieser Tag soll jeden daran erinnern, dass sie alle ein Kollektiv, eine Einheit, ein Wir bilden. Diese zeremoniellen Wahlen verlaufen offen, am hellen Tag ab, weil man prinzipiell nichts zu verbergen hat und werden dabei von sogenannten Bewachern kontrolliert, damit keiner die gewollte Einstimmigkeit bricht.

Die Nummern, so werden die Personen im Werk betitelt, streben nach der absoluten Gleichheit aller Menschen. Statt eines Namens tragen sie eine Buchstaben-Zahlen-Kombination an einheitlichen, hellblauen Anzügen. Das kollektive Wir steht über dem Ich, worauf bereits der Titel des Romans verweist. Der Einzelne ist so dermaßen verwandelt, dass es zu einem vollkommenen Verlust der Individualität kommt.6 „Я лишь попытаюсь записать то, что вижу, что думаю — точнее, что мы думаем“7 (My, 56), so schreibt es der Ich-Erzähler D-503 auch in einem Tagebucheintrag. In ihm ist die Ideologie des Einheitsstaates derartig tief verankert, dass er sich in seinen Aufzeichnungen, die den Roman bilden, oftmals durch ein gemeinschaftliches Wir ausdrückt. Anhand der Gleichstellung der Gesetze der Physik mit denen der Menschheit rechtfertigt er die Priorität des Wirs gegenüber dem Ich: [Д]опускать, что у „я“ могут быть какие-то „права“ по отношению к Государству, и допускать, что грамм может уравновесить тонну, — это совершенно одно и то же. Отсюда — распределение: тонне — права, грамму — обязанности; (My, 172)

Im Einheitsstaat herrschen strenge Gesetze: Ein Nichtbefolgen des Alkohol- und Tabakverbots führt beispielsweise zur sofortigen Verurteilung durch den Wohltäter zu einem öffentlichen Tod in einer Gaskammer. (vgl. My, 110)[KS6] Dies sei die logische Konsequenz darauf, den Einzelnen zum Wohle aller zu bestrafen, um daraus zu lernen. „Die Opferung der Abtrünnigen“8 dient der „Andacht der Vernunft“9. Die Nummern haben eine Pflicht zur Gesunderhaltung, es wird also für das physische Wohlbefinden gesorgt.

Die Philosophie des Staates basiert auf der Durchsichtigkeit, denn sowohl die Häuser, als auch die Inneneinrichtung bestehen aus einem transparenten, glasähnlichen Material (vgl. My, 57). Die Bewohner des Einheitsstaates stehen unter ständiger Beobachtung, da jeder eine vollkommen freie Sicht in die Wohnung des anderen hat. Diese Tatsache erscheint D-503 als sinnvoll, denn sie erleichtert „die schwere und wichtige Arbeit der Bewacher“ (Wir, 27). Die Denunzierung ist eine unbedingte Pflicht, die jede Nummer im Falle eines Verbrechens dazu anweist, sich unverzüglich zu den Bewachern zu begeben, um eine Meldung zu erstatten. Sämtliche Menschenrechte, wie Meinungsfreiheit, Wahlrecht, Privatsphäre und das Recht auf Bewegungsfreiheit, existieren nicht. Die Kontrollsysteme funktionieren gut und auch das Postgeheimnis ist ein lang vergessenes Wort: Я [D-503] знал: прочтенное ею письмо — должно еще пройти через Бюро Хранителей (думаю, излишне объяснять этот естественный порядок) (My, 105)

Das Büro der Bewacher (russ. bjuro chranitelej) enthält das Wort „chranit‘“, welches die Notwendigkeit des Schutzes „vor Rückfällen in die Unvernunft“10 jedes Einzelnen vor sich selbst suggeriert. D-503 ist das Paradebeispiel für einen domestizierten Einheitsstaatsbürger, der in idealer Weise der Ideologie entspricht und alle Maßnahmen befürwortet.

Sexualität & Familie

Die Welt des Einheitsstaates ist nach den vorgeblich logischen, naturwissenschaftlichen Regeln organisiert. Die Intimität ist dabei auf eine „harmonische, angenehm nützliche Funktion“ reduziert (Wir, 31). Der Einheitsstaat sieht in der Liebe und in Hunger den Feind, den es zu bezwingen gilt, um die Welt zu kontrollieren (vgl. Wir, 30).

Естественно, что, подчинив себе Голод […], Единое Государство повело наступление против другого владыки мира — против Любви. (My, 76)

Bei diesen beiden „Gefühlen“ handelt es sich um Grundbedürfnisse von normalen Menschen, die hier eher unterdrückt oder sogar ausgelöscht werden sollen. Den zuvor herrschenden Nahrungsmittelmangel löste der Wohltäter durch die Einführung von synthetischer Erdöl-Nahrung. Dieser Umstand bringt die Nummern im Werk noch mehr auf einen Roboterstatus. Um auch die Liebe „mathematisiert“ (Wir, 30) zu organisieren und für das sexuelle Wohlbefinden der Nummern zu sorgen, entwarf man die Lex Sexualis: „Endlich war auch dieses Element besiegt, d. h. organisiert, mathematisiert […].“ ( Wir , 30) Diese Regel dient nur dem Zweck der Arterhaltung[KS7] , die nur während der zu beantragenden „Sexualtage“ und der „persönlichen Stunden“ (Wir, 19) vollzogen werden darf. „Jede Nummer [hat] das Recht auf jede andere Nummer“ (Wir, 31) und die Liebe verursacht keinerlei Beziehungsprobleme. Dies ist im Übrigen die einzige Möglichkeit, eine Bescheinigung für das Herablassen der Stores [KS8] im durchsichtigen Zimmer zu bekommen. Alles, was man dafür braucht, ist ein rosa Billetbüchlein, eine Art Abonnement für „ein sexuelles Lebensmittel“ (Wir, 30f.).

Der Staat erteilt zudem nur geeigneten Vätern und Müttern die Erlaubnis zum Kinderkriegen und diese werden unmittelbar nach der Geburt dem Staat zur Erziehung übergeben (vgl. Wir, 36). Ein Kriterium, das der Einheitsstaat unter anderem an potenzielle Mütter stellt, ist eine gewisse Körpergröße. So werden die Konzepte der Vergangenheit, wie Liebe, Bindung und Familie, aufgelöst und die Kinder werden schon früh zum „Glück ohne Freiheit“ erzogen (Wir, 76).

Das Leben im Licht der Vernunft und der Begriff der Freiheit

Mit dem Ziel des „mathematisch fehlerlosen Glücks“ (Wir, 5) aller Menschen, unter dem „wohltätigem Joch des Verstandes“ (ebd.), schreibt auch D-503, der Konstrukteur der Rakete Integral, seine Tagebucheinträge, um diese zusammen mit dem Raumschiff zum Zwecke der „ideologischen Infiltrierung“11 [KS9] zu anderen unzivilisierten Planeten zu bringen und die Bevölkerung, im Falle des Nichtgehorchens, „zum Glück zu zwingen“ (Wir, 5). Die Bewohner des Einheitsstaates glauben, die Freiheit sei der wilde Zustand der Menschheit und die Wurzel allen Übels:

Свобода и преступление так же неразрывно связаны между собой, […] Единственное средство избавить человека от преступлений — это избавить его от свободы. (My, 90)

Das Glück sei nur durch den Verlust der Freiheit zu erreichen. D-503 formuliert die Alternative folgendermaßen: „Entweder Glück ohne Freiheit oder Freiheit ohne Glück“ (Wir, 76). Die Menschen sehen sich aus Gründen der Vernunft gezwungen, die Unfreiheit[KS10] zu wählen, um das Ziel „Glück“ zu erreichen. Die unfreien Maschinen gelten als vollkommen und stehen antithetisch zu der unvernünftigen Welt der Bäume hinter der grünen Mauer. Die exakt genauen Bewegungen und Abläufe der Maschinen werden idealisiert und bewundert. D-503 träumt davon, eines Tages wie sie zu werden. Der Protagonist schaut auf die Welt aus der Perspektive eines Ingenieurs und findet eine ethische Begründung für die Unfreiheit des Menschen in der Symbolik des Tanzes: [П]очему танец красив? Ответ: потому что это несвободное движение, потому что весь глубокий смысл танца именно в абсолютной, эстетической подчиненности, идеальной несвободе. (My, 58)

In Anlehnung daran, verrichten die Nummern ihre täglichen Tätigkeiten wie Aufstehen, Essen, Kauen, Spazieren und zu Bett gehen gleichzeitig nach einem strikten Zeitplan, um dem angestrebten Ideal der absoluten Gleichheit und Unfreiheit zu entsprechen. Dagegen gilt alles Irrationale, wie die Eifersucht und Leidenschaft, als eine unzivilisierte, „dumme, unwirtschaftliche Verschwendung menschlicher Energie“ (Wir, 37).

Dass der Hunger und das Leiden der Menschheit beseitigt worden sind, sei der Verdienst des Wohltäters. Die Menschheit habe einen Erlöser gefunden, der „[i]hnen […] ein für allemal sagen [kann], was das Glück ist ˗ und sie dann an dieses Glück ketten [wird].“ (Wir, 251) Es scheint, als wären die meisten Nummern, vor allem der Protagonist mit dem System des Einheitsstaates einverstanden und mit ihrem eigenen Verständnis von Glück sogar zufrieden:

Glück gilt hier als Sättigung der unmittelbaren Bedürfnisse in der Orientierung an dem, was berechenbar und machbar ist – inklusive der Abdichtung gegen alle weitreichenden Fragen ethischer, ästhetischer, metaphysischer und religiöser Art. Und Freiheit ist schlicht Nicht-festgelegt-sein, das Suchen und Selbst-entscheiden-können – inklusive der Möglichkeit von Irrtum und Scheitern12

Die Figur des Ingenieurs D-503

Nummer D-503 ist 32 Jahre alt und „nur einer von den Mathematikern des Einheitsstaates“ (Wir, 6), der das Regime verehrt. Die Hauptfigur ist ein idealer Prototyp des „logischen Denke[rs]“, (Wir, 8) der seine Persönlichkeit vollkommen aufgegeben hat und froh ist, ein „Teil von etwas Gewaltigem, Mächtigem, Einheitlichem“ (Wir, 43) zu sein. Der Protagonist ist aufgrund seiner behaarten Hände, hervorgerufen durch „ein[en] Tropfen Waldblut“ (Wir, 225f.), und seiner Nase mit seinem Aussehen unzufrieden. Er bewundert die äußerliche Gleichheit aller Nummern und hegt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ohne die Vielfalt der Nasen, da dies „ein Grund zum Neid“ sei (Wir, 13). Der tägliche Marsch zur Musik des Einheitsstaates lässt ihn besonders stark das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit/zu den anderen Nummern empfinden. Er versucht mit allen Kräften, die Beweise für das höchste Glück, welches alle Nummern im Einheitsstaat empfinden, anzuführen. So idealisiert er die „vernünftige Mechanik“ (Wir, 25), wogegen alles Irrationale „wilde Phantasien“ seien und negativ beurteilt werden (Wir, 27).

Zu Beginn seiner Berichterstattung befindet sich der Protagonist im emotionalen Gleichgewicht. Die „verbrecherischen Instinkte“ (Wir, 46) der früheren Menschen sind ihm völlig fremd. D-503 befindet sich in einer erfüllenden sozialen Dreiecksbeziehung mit O-90 und seinem besten Freund R-13. Doch schon bald macht ihn das bereits erwähnte Tröpfchen Waldblut (Wir, 225f.) für die Liebe und den Schmerz empfänglich. Mit dem Eintritt von I-330 in sein Leben kommt es zu einer Reihe von Abweichungen von dem Wir zugunsten des Ichs. Der Erzähler gerät „in den Sog des Verbotenen“13.

Der Einfluss von I-330 und der Beginn einer seelischen Krankheit bei D-503

Nicht überraschend vor dem Hintergrund seiner Berufung als Mathematiker beschreibt D-503 die Nummern durch eine auf ein Minimum reduzierte, skizierende, geometrische Sprache.14 Ein Merkmal von I-330, der Frau, in die sich der Ich-Erzähler gegen seinen Willen verliebt, ist „ein seltsames aufreizendes X“ „in ihren Augen oder Brauen“ (Wir, 12). Dieses X steht für das Irrationale, Neue und Unbekannte in ihr, so wie X in der Mathematik ein Symbol des Unbekannten ist. I-330 ist durch einen schlanken, großen Buchstaben gekennzeichnet, der in D-503 das Bild einer geschmeidigen „Gerte“ (Wir, 13) erweckt. Sie ist eine Angehörige der revolutionären Gruppierung Mephis, die mit den Menschen hinter der grünen Mauer in Kontakt stehen.

Als I-330 zum ersten Mal im alten Haus15 schamlos versucht, ihn zu verführen, kann er die Undurchsichtigkeit von I-330 und des Hauses, die Fremdheit der Einrichtung und das ganze Chaos darin kaum ertragen. Dies bringt ihn auf folgende philosophische Gedanken: [В]едь человек устроен так же дико, как эти вот нелепые „квартиры“, — человеческие головы непрозрачны, и только крошечные окна внутри: глаза. (My[KS11] , 82)

Er fühlt sich sowohl fasziniert als auch abgestoßen von dieser Frau. Er verpasst sogar beinahe seinen obligatorischen Kurs im Auditorium (ein schweres Vergehen im Verständnis des Protagonisten) und geht nicht zu den Bewachern, um I-330 zu denunzieren. Die Pflicht zur Bildung ist eins der wenigen allgemeinen kulturellen Menschenrechte im Einheitsstaat. [KS12]

Mit dem Eintreten von I-330 in sein Leben verändert sich für den Protagonisten schon recht bald die Wahrnehmung der Welt und er enthüllt in seinem Bericht unfreiwillig seine innere Gespaltenheit.16 Der klare, blaue und wolkenlose Himmel (vgl. Wir, 8) verwandelt sich in seinem Bewusstsein allmählich zum „bleigrauen Himmel“ (Wir, 217). Die Gefühle, die I-330 in ihm auslösen, sind dem Protagonisten völlig neu. Zuvor beschrieb und verherrlichte er die systemkonforme Beziehung zu O-90: „Завтра придет ко мне милая О, все будет просто, правильно и ограниченно, как круг.“ (My, 120) Doch „durch die wie eine Revolution in sein Seelenleben einbrechenden Gefühle für I-330“ kommt er „zu einer völlig systemabweichenden Auffassung der Liebe […]“.17 In seiner Einstellung zu seiner früheren Freundin O-90 verhielt er sich genau nach der „Lex sexualis“, streng nach den Regeln. Die Liebe zu I-330 verwandelt sich von einer angenehm nützlichen Funktion mit rosa Billets in eine Leidenschaft, die ihn gleichzeitig verwirrt und wiederbelebt. ‚Не могу без тебя, не надо без тебя‘ (My, 243) Я гибну. Я не в состоянии выполнять свои обязанности перед Единым Государством... Я... (My, 114)

D-503 schrieb zuvor in einer trockenen und strengen Sprache, die einem Bericht gleicht. Mit dem Eintreten von I-330 in sein Leben verändert sich auch sein Schreibstil. Die übliche Klarheit seiner Gedanken geht immer mehr und mehr verloren, der logische Aufbau wird durch kurze, verwirrend wirkende Sätze, voller Wiederholungen und Ungereimtheiten, ersetzt.

Вдруг — рука вокруг моей шеи — губами в губы... нет, куда-то еще глубже, еще страшнее... Клянусь, это было совершенно неожиданно для меня, и, может быть, только потому... Ведь не мог же я — сейчас я это понимаю совершенно отчетливо — не мог же я сам хотеть того, что потом случилось. (My, 111)

Die Perspektive des Erzählens ändert sich von einer berichtenden in eine erzählerische, tagebuchähnliche Form. Die „zunächst objektiv-sachlich-wissenschaftlich erscheinende Darstellung des Einheitsstaates“ verwandelt sich „nach und nach in eine poetisch-emotional gefärbte Auseinandersetzung mit dem eigenen Seelenzustand“18. Der Protagonist beginnt, sich zu reflektieren und hat alltäglich mit dem Verlust der Identität zu kämpfen:

Второпях я задел за рукопись, страницы рассыпались и никак не сложить по порядку, а главное — если и сложить, все равно не будет настоящего порядка, все равно — останутся какие-то пороги, ямы, иксы. (My, 190)

Das Herunterfallen des Manuskripts ist ein Symbol für das innere Chaos im „Kopf“ des Protagonisten. Der Charakter durchlebt eine Identitätskrise, die sich aus der Unvereinbarkeit seiner Gefühle zu I-330 und seinem ideologischen Denken entwickelt.

[...]


1 Um Sprachmischungen zu vermeiden wird im laufenden Text z. T. aus einer deutschen Übersetzung zitiert: Samjatin, Jewgenij, Wir, Berlin 1994, Herausgegeben von Siegfried HEINRICHS, aus dem Russischen von Thomas RESCHKE. Im Folgenden zitiert als Wir, die Seitenangaben erfolgen in Klammern im laufenden Text.

2 Vgl. <https://de.wikipedia.org/wiki/Krankheit>, (aufgerufen am 12.07.2020)

3 Homosexualität galt beispielsweise früher, zur Zeit der Sowjetunion, als eine psychische Krankheit.

4 Vgl. GERIGK, Horst-Jürgen, „Jewgenij Samjatin: Wir“, in: Staat und Revolution im russischen Roman des 20. Jahrhunderts, Heidelberg 2005, S. 188. Im Folgenden zitiert als GERIGK, Wir.

5 GERIGK, Wir, S. 190.

6 Vgl. ebd., S. 188.

7 ZAMJATIN, Evgenij, My, in: Russkaja Antiutopija, hrsg. von Vadim PEREL’MUTER, Moskva 2014. Im Folgenden zitiert als My, die Seitenangaben erfolgen in Klammern im laufenden Text.

8 GERIGK, Wir, S. 196.

9 Ebd .

10 Vgl. ebd., S. 200.

11 GERIGK, Wir, S. 188.

12 HOMMES, Ulrich, Glück oder Freiheit? in: Philosophische Tradition im Dialog mit der Gegenwart Festschrift für Hansjörg A. Salmony, hrsg. von Andreas CESANA und Olga RUBITSCHON, Basel 1985, S. 160.

13 GERIGK, Wir, S. 204.

14 Rotmann, Ulrike, „Zamjatins „Wir““, in: Geschlechterbeziehung im utopischen Roman, Bd. 21, Würzburg 2003, S. 158-159. Im Folgenden zitiert als ROTMANN, Wir.

15 Ein nicht aus Glas bestehendes Haus, Überbleibsel aus der Zeit vor dem 200-jährigen Krieg.

16 Vgl. Rotmann, Wir, S. 160.

17 Ebd., S. 174.

18 Rotmann, Wir, S. 160.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Pathologische Menschlichkeit. Die Herausbildung der Krankheit Seele und Fantasie am Schicksal des Ingenieurs D-503 in Zamjatins "Wir"
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Slavistik)
Note
2,3
Jahr
2020
Seiten
15
Katalognummer
V946793
ISBN (eBook)
9783346282941
ISBN (Buch)
9783346282958
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zamjatin, Wir, Krankheit Seele, Ideologie, Einheitsstaat, D-503, I-330, die große Operation, Freiheit, Vernunft, Wohltäter, Dystopie
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Pathologische Menschlichkeit. Die Herausbildung der Krankheit Seele und Fantasie am Schicksal des Ingenieurs D-503 in Zamjatins "Wir", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/946793

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