Inhalt
I. Einleitung
II. Entwicklungszusammenfassung Stefan George
III. Zeitliches Umfeld
a) Einflußreiche gesellschaftliche Entwicklungen
b) Die Wende weg vom Naturalismus
c) Das geistige Umfeld
Vor-Denker: Friedrich Nietzsche, Joris-Karl Hoysmans, Hermann Bahr
Mit-Denker: Georg Simmel, Sigmund Freud
IV. Strömungen und Begriffe
a) fin-de-siècle
b) décadence
V. Klassifizierungsbemühungen
a) Décadence-Literatur
b) Literatur des Fin-de-siècle
c) Stilisierter Impressionismus
d) Jugendstilliteratur
e) Ästhetizismus VI. Stefan George
a) Überblick über Leben und Werk
b) der George-Kreis
c) Die Blätter für die Kunst
d) Zentrale Thesen zu Stefan George
- Form und Inhalt
- Antrieb
- Exklusivität
- L'art pour l'art
VII. Zusammenfassende Schlußbetrachtung
VIII. Literaturangaben
I. Einleitung
"Dem Künstler der décadence - da steht das Wort. Und damit beginnt mein Ernst. Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser décadent uns die Gesundheit verdirbt."(Friedrich Nietzsche)
Die Zeit um die Jahrhundertwende ist Zäsur in vielen Bereichen, ebenso in der Literatur. Den Anfangspunkt einer spezifisch zu begreifenden Zeit wird von der Mehrzahl der Autoren auf 1890 datiert. Hermann Bahrs Die gute Schule, die Entlassung Bismarcks und einen erwachsen werdender Stefan George füllen das Datum mit Inhalt. Wann diese, wie immer zu charakterisierende und eventuell zu benennende Strömung oder sogar Epoche aufhört dominant zu sein, darüber herrscht eitel Uneinigkeit. 1906, mit Thomas Manns "Wälsungenblut", 1910 oder mit dem Ausbruch des Krieges, der Möglichkeiten sind es viele. Für diese Ausarbeitung setzt der betrachtete Dichter den Zeitenwechsel fest: 1900 ist bei George der Punkt erreicht, da er sich neuen Themen zuwendet und andere Ziele verfolgt, da er die Décadence hinter sich läßt.
Deren auszeichnende Elemente sind relativ klar und von vielen Autoren hinreichend beschrieben. Das Phänomen der décadence ist ein derart prägendes Element der Zeit der Jahrhundertwende. Das als positive Lebenseinstellung umgewertete Bild eines amoralischen, auf eigene seelische Probleme fixierten und degenerierten Menschen ist kennzeichnend für ein Lebensgefühl, das schon bei Kierkegaard thematisiert ist und bei Huysmans zum Idealtypus ausgebildet wird. In wieweit Décadence als prägend für die Zeit angesehen werden kann, ist strittig. Weitgehende Einigkeit herrscht über die Entwicklung des Begriffs. Décadence, noch wenige Jahre zuvor ein Schimpfwort für schmarotzende Sentimentalisten, wurde zum erstrebenswerten Zustand, mit genau den gleichen Eigenschaft versehen.
Die Stimmung des "fin-de siècle", also das Bewußtsein, in einer zerrütteten und dem Ende zugehenden Zeit zu leben ist ein weiteres zeitspezifisches Gefühl. In Frankreich hatte der Begriff, ebenso wie der von der Décadence Geschichte und wurde von dort übernommen. Hierzulande wurde das Leben - eine europäische Entwicklung rasant aufholend - immer unübersichtlicher und hektischer und als solches empfunden, so daß die Vorstellung vom nahenden Untergang einen paradoxen Halt bieten konnte und das 'Fin-de-siècle' als Vokabel populär wurde.
Jugendstil kann als ein drittes Teilelement der Epoche angesehen werden, verstanden als Bezeichnung einer Assoziationstechnik, die zur völligen Überlagerung eines Gegenstandes mit zu Ornamenten umgewandelten Worten geführt hat, als eine Stilbezeichnung innerhalb der Epoche.
Alle drei Begriffe bedürfen einer Erläuterung, da sie niemals systematisch eingeführt wurden und heute noch mit ganz unterschiedlichen Betonungen verwendet werden. Daraus leitet sich auch die Konfusion in der Benennung der Literatur der Jahrhundertwende ab (von diesem rein zeitlichen Ausdruck gehen die meisten Autoren aus), da "Décadence-Literatur", "Literatur des fin-de-siècle", "Impressionismus" oder "Jugendstilliteratur" die gleichen Autoren beschreiben und wechselseitig die gleichen Begriffe (dekadent, fin-de-siècle, impressionistisch, ästhetizistisch...) verwenden. Es sind verschiedene Betonungen oft gleich beschriebener Phänomene, die zu der Begriffsvielfalt führten.
Festzuhalten bleibt, daß fin-de-siècle, Décadence und Jugendstil, drei Begriffe sind, die ihre Berechtigung bei der Beschreibung der Jahrzente vor und nach der Jahrhundertwende haben. Sie können, da eine exakte Einordnung Georges in die verschiedenen Epochenbezeichnungen nicht möglich sein wird, als Komponenten bei der Erfassung des Dichters dienen, anhand derer er außerhalb der zu skizzierenden Diskussion greifbar wird.
Von einigen Autoren wird der Versuch protegiert, eine Bezeichnung aus der bildenden Kunst auf die Literatur zu übertragen: Unter dem Begriff 'Jugendstil' soll nach ihren Vorstellung die hier zu besprechende Zeit zusammengefaßt werden, als eine alle Künste umfassende Epochenbewegung, die sich zum einen durch Stilelemente (Linearität, ornamentales Kunstgewerbe, florale Verschlingungen) auseichnet, der zum anderen aber auch Inhalte und Anschauungen zugeordnet werden, die sich denen der Décadence annähern.
Andere betonen das Merkmal des dekadenten derart, daß sie von der DécadenceDichtung (Rasch, Koppen, Fischer m.E.) sprechen.
Der Ästhetizismus läßt sich als die Basisströmung begreifen, der in verschiedenen Richtungen modifiziert wird und erst dadurch Zeitspezifik erreicht. Ästhetizistische Bewegungen existierten bereits im 17. und 18.Jahrhundert, kennzeichnend für die zweite Hälfte des 19.Jahrhundert wird erst die Kombination mit dekadenten und endzeitlichen Inhalten und Jugend-Stil als äußerlichem Merkmal.
Der sich daraus ergebende Konflikt ist hier nicht zu lösen, vielleicht kann aber deutlich werden, worin Unterschiede und Vor- und Nachteile einiger Bezeichnungen liegen, vor allem aber können über diesen Umweg Begriffe geklärt werden. Am Beispiel Stefan Georges kann dann deutlich werden, welcher Teil seines Frühwerkes dekadent, ästhetizistisch oder dem Jugendstil folgend ist. Die Einordnung Georges in irgendein Wortgebilde wird dann nebensächlich.
Die Diskussion zum Thema Moderne soll hier ebenfalls ausgeklammert bleiben. Es soll die Einteilung Fischers genügen, der die Epoche unter Einschluß des Naturalismus 1870 beginnen läßt und mit 1890 die Namen Schnitzler, Wedekind, Dehmel und George verbindet, darin aber wohl eine Zäsur sieht, die jedoch in einen größeren Begriff einzubetten ist.
An Stefan George sind vor allem Symptome eines deutlichen Fin-de-siècle Bewußtseins, aber auch enorme dekadente Anteile sichtbar zu machen. Die Stilisierung des Äußeren seiner Werke und die Entgegenständlichung von Dingen für die Form eines Gedichtes lassen sich bei ihm mitverfolgen. (In bezug auf eine dem Begriff des Jugendstils gerecht werdende Literatur eignet sich eher das Werk Rilkes, der mit seinen Dinggedichten Derartiges geschaffen hat.)
George ist beispielhaft für einen Dichter des ausgehenden 19.Jahrhunderts. Er bringt Entwurzelung, Sinnentleertheit, Rückbezug auf das Ich und eine ästhetisierende Erfahrung der Umwelt zum Ausdruck und steht damit in der Tradition der Ästhetizisten. Gleichzeitig finden sich bei ihm aber auch stilisierende Elemente, die im Laufe der Zeit immer stärker hervortreten. An George läßt sich deshalb vortrefflich ein Wandel in der Literatur der Zeit nachvollziehen: Es ist ein Abschied oder besser noch, eine Unterwanderung des Dekadent-Ästhetitizistischen der bürgerlichen Literatur mit formalisierenden Aspekten, die hinweisen auf die stärker werdende "Stilkunst" (Hamann/Hermand) nach 1900.
George als Hauptvertreter einer "ästhetisch-dekorativen" Phase darzustellen, die thematisch noch Empfindungen beschreibt, äußerlich aber schon einer Gesamtidee folgend formalisiert, ist das Anliegen dieser Ausarbeitung. Auf den monumentalen, pädagogischen George, der die Gegenwelt der Kunst aufbauen will, soll hier nur vorausschauend verwiesen werden. Er gehört zum Anfangspunkt einer Kunst, die missionarisch für Stilideale wirbt und sich mehr und mehr für völkische Ideen einbinden oder zumindest benutzen läßt.
George kann auf eine lange Tradition Dichter und Denker zurückblicken, die die Basis für seine Dichtung gelegt haben. Zu ihnen gehören Kierkegaard, Nietzsche, Huysmans und Bahr, auf die hier in aller Kürze eingegangen werden soll. Auch die Anfänge der Soziologie und der Psychoanalyse, die in diese Zeit fallen, sollen erwähnt werden, da sie Ausdruck und Reaktion auf ein bestimmtes Lebensgefühl der Zeit sind und darum die damalige Aktualität der in unseren Augen exzentrisch anmutenden Dichtung Georges belegen.
Nietzsche ist ohnehin unerläßlich bei der Betrachtung der Literatur des fin-de-siècle: seine gedanklichen Spuren lassen sich in fast jedem Schriftsteller der Zeit nachvollziehen. Er wurde sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern seiner Thesem, sogar von eigentlichen Gegnern, die ein ihnen genehmes Substrat zogen, rezipiert.
An Stefan George sind noch einige andere Besonderheiten abzulesen, die, sich langsam aufbauend, sein Spätwerk dominieren und heute sein Bild prägen. Der Hang zum Kultischen wird beispielhaft in der Ausbildung des Kreises um ihn herum deutlich. Der Dichter wird zum Schöpfer einer neuen, besseren Wirklichkeit und Mittler zwischen der Kunst und dem Leben. Im Jahr der Seele scheint dies schon anzuklingen, doch ist es von ganz anderer Qualität. Die Kunst ist hier noch Fluchtort vor der Wirlichkeit, ein eigenes Reich, das Dichter schaffen und weiter pflegen soll. Das Elitäre scheint durch, doch ist es noch für den Autor selber geschrieben. Es ist seine Welt, die er sich schafft - nicht mehr lange und George wird messianisch.
Des Sehers wort ist wenigen gemeinsam:
Schon als die ersten kühnen wünsche kamen
In einem seltnen reiche ernst und einsam
Erfand er für die Dinge eigne namen - ...
II. Entwicklungszusammenfassung Stefan George
Stefan George wurde am 12. Juli 1868 in Büdesheim am Mittelrhein geboren. Seine Vorfahren stammten aus dem deutschsprachigen Lothringen und waren zwei Generationen zuvor umgesiedelt. Sein Vater war Gastwirt und Weinhändler.
Die Innerliche Phase Georges beginnt nach den Jugendgedichten, während ihrer schreibt er nur für die Kunst. Algabal beschreibt Décadence und verstärkt den Ruf nach Mitstreitern, ist eher pessimistisch im Vergleich zur vorhergehenden Einsamkeitsbekämpfung. Nach Algabal folgt die große Krise, in der er wenig kreativ ist. Sie dauert ebenso lange an wie seine Beziehung zu Ida Coblenz, mindestens bis 1896. Er kämpft bis zum Jahr der Seele um Wiedergenesung, gleichzeitig erscheinen dann auch die Bl ä tter f ü r die Kunst (1892). Er reist nach Wien zu Hofmannsthal, wo es beinahe zum Duell kommt. George lernt 1893 Karl Wolfskehl, Ludwig Klages und Alfred Schuler kennen und wird 1894 in die Künstlerkreise Münchens und die literarischen Zirkel Berlins eingeführt. Die Drei B ü cher (1895) enthalten kein Bekenntnis, sondern sind immer nur Spiegel seiner selbst. George beginnt über eine Verbindung der Lebensbereiche Kunst und Welt nachzudenken und pflegt Kontakte mit Gelehrten wie Simmel und ist sich sicher, daß diese in ihren Sphären in seinem Sinne handeln werden. Er begreift die Aufgabe, Deutschland von einer "politischen Krankheit" zu heilen, bleibt durch seine Verbindungen aber in der angestammt distanzierten Position. 1896 vollzieht er die Wende zum Optimismus und läßt erstmals erkennen, daß er geistiger Lenker werden und die Müdigkeit überwinden will. Mit dem Jahr der Seele (erscheint 1897) hat George seine Periode der Beklemmung abgeschlossen. Es ist eine sehr persönliche Lyrik, die er nur für sich schreibt. Eine Kunst des Einsamen. Mit dem Teppich des Lebens ist der Übergang zum lehrenden George erreicht. Er hat ein geradezu klassizistisches Werk geschaffen, indem das Bild des heiligen Künstlers mit den Attributen Unfehlbarkeit und Vollkommenheit ausgeschmückt wird. Der siebente Ring läßt alle l'art pour l'art Tendenzen Georges vergessen und ist auch in seiner ungestümen Art einer neuen Zeit zugehörig, der der neuen Nationalliteratur.
Im Teppich des Lebens kündigen sich schon neue Themen an: Es zeigen sich erste Anzeichen für den George, der nach außen geht, der sich um die Errichtung einer Kunst-Welt bemüht, der die Erneuerung in der Kunst verkündet und immer stärker dem näher kommt, was Hamann/Hermand Stilkunst nennen. Anfangs bringt er eine "tiefe und radikale Erfahrung von der Nichtigkeit des Daseins, der Verlorenheit der Ichs in diesem Dasein" zum Ausdruck, zum Algabal heißt es: "Nie war das Einsiedlertum vollkommener, nie waren Dinge wie Menschen radikaler ihres Wertes beraubt gewesen". Und danach: David umschreibt den Wandel.
"Wer hätte geglaubt, daß von den Dichtern der Zeit George es sein würde, der die Rolle spielen sollte, zu der er sich selber bestimmte? Eine wenig vitale Dichtung unternimmt es, einem Volk seine Kraft wiederzugeben. Der Dichter, der sich ins Exil begeben und sogar eine Zeitlang Deutschland um eine Art europäischer literarischer Gemeinschaft willen verleugnet hatte, wird bald zum Nationaldichter geweiht werden. Der Theoretiker des l'art pour l'art wird zum Pädagogen, die Dichtung wird aktiv. Eine Gruppe von Schriftstellern entwickelt sich zur geheimen Regierung eines 'neuen Reiches'. Eine schwere, aber profane Lyrik belädt sich mit Metaphysik und Geschichte, schafft Gesetzestafeln, erfindet sogar eine Theologie. Der Sinn der Literatur kehrt sich plötzlich um, und die formvollendeten Spiele der ersten Jahre machen dem Terrorismus Platz"
III. Zeitliches Umfeld
a) Einflußreiche gesellschaftliche Entwicklungen
Den Konnex zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und literarischen Erscheinungen vollziehen bemerkenswert viele Autoren. Fischer nennt die Literatur des fin-de-siècle (so seine Begrifflichkeit) ein ausgezeichnetes Beispiel für die Verankerung des Kunstwerkes im gesellschaftlichen Bewußtsein. Fischer: "So deutlich wie in keiner anderen Epoche läßt diese Literatur Geschlossenheit und Übergeschichtlichkeit vermissen." Er wehrt sich gegen die Vorstellung der "autonomen Kunstwerke" (ebd. Fischer scheint dies als ein abgeschlossenes Sinnsystem zu verstehen), da er um 1900 Kunstwerke findet, die in ein semiotisches Bezugssystem eingebunden sind, das nicht in sich geschlossen ist, aber stark auf andere Texte rekurriert. (Inwieweit diese Einschätzung auf George zutrifft, wird noch zu diskutieren sein)
Wuthenow sieht ebenfalls den Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen. Gerade "die Opposition gegen Arbeit, Planung, Zeitaufwand, Verdienst und Tüchtigkeit" als ein markant empfundenes Prädikat der Literatur ist für ihn Reaktion auf repressiv empfundene Moralvorschriften. Er schreibt weiter "Die Absolutheit der Kunst ist als eine Reaktion auf die vom Nützlichkeitsdenken geprägte Ausbreitung des bürgerlichen Arbeitsethos zu verstehen" und unterstreicht damit auch, daß Literatur sich verstärkt zurückzog und eben nicht mehr bezug auf ein semiotisches System nahm.
Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung kann in einer als unerträglich empfundenen alltäglichen Realität gefunden werden. Die ständigen Hochs- und Tiefs in der wirtschaftlichen Konjunktur, die Resultate des hektischen Umbaus des agrarischen Preußens in ein industrielles Deutschland waren, überraschten Experten wie Bevölkerung und stellten alle vor Probleme, die sie an den Plänen ihrer Regierung zweifeln ließen. Trotzdem ging der Prozeß rasant weiter, ein enormer Bevölkerungszuwachs (damals als Zeichen von nationaler Stärke gesehen) bestärkte noch die bestehende Landflucht in die Städte und Industriezentren. Großbanken und industrielle Kartelle entstehen rasend schnell, es bildet sich die neue untere Mittelschicht der Angestellten. Gleichzeitig zeigt der dogmatisch wirkende Staat Schwächeanfälle. Die Sozialistengesetze wirken nicht gegen das Erstarken der Arbeiterbewegung und der lange im Bürgertum hoch geschätzte Liberalismus geht immer weiter in die Knie.
Das moderne Leben erzeugte Unsicherheit in nicht gekanntem Maße, der Ausgang war ungewiß und der persönliche Vorteil meist nicht erkennbar. Dies empfanden besonders stark die Künstler wie George, der vielleicht empfunden haben könnte, wie Karl Lamprecht, der es im Folgenden beschreibt:
"Das moderne Leben ist insofern besonders unästhetisch, als es zu beständigen Störungen der geistigen Konzentration führt. Das ewige Hasten, der Pfiff der Lokomotive, das Klingeln der Straßenbahn, die ständige Überschwemmung mit Postsachen, der zudringliche Nachrichtendienst der Zeitungen, die steigende Zahl von persönlichen Berührungen bei ständig erhöhter Leichtigkeit des Personenverkehrs, dies und vieles andere legt vor allem den Wunsch nahe, dem Sklaventum des Augenblicks zu entfliehen: den Wunsch nach Ruhe im geistigen Genuß, ein stilles Sichversenken in ein Dasein, dessen festliche Stunden von keiner Rohheit des Daseinskampfes gestört, dessen Summe dem freien Flug der Einbildungskraft gewidmet sein müsse."
Die Ursachen dieser persönliche Erfahrung, mit der Lamprecht nicht alleine stand, macht Hans Sanders anhand der sich verändernden Strukturen deutlich. Die "modern- bürgerliche Gesellschaft" zeichet sich nach Ansicht von Hans Sanders durch eine "sprunghafte Entwicklung des ökonomischen Sektors, dessen Expansion auf Dauer gestellt wird" aus. Die daraus folgende Rationalisierung der den Rahmen bildenden Institutionen (hierunter versteht er zum Beispiel Kirche oder Staat) zerstören Orientierungssysteme, die sich an traditionellen Weltbildern ausrichteten.
Der Autor beobachtet einen Wandel in der Beziehung zwischen Stadt und Land, der durch den Bau von Eisenbahnen und den damit veränderten Kommunikationsstrukturen bedingt ist. Märkte weiten sich - bis zur übernationalen Ebene - aus, Bauern arbeiten nicht mehr, um zu überleben, sondern beginnen, nach Profitdenken zu handeln und sie werden mit Zeitungen in städtische Massenkultur integriert.
Das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft entwickelt sich weg vom liberalistischen Modell der getrennten Bereiche zur engen Kooperation, zum Beispiel bei der Eisenbahn oder bei Großindustrien, die zu Monopolstellungen der Unternehmen führen.
Sanders konstatiert eine "Erosion der traditionellen Weltbilder", die er in Dechristianisierungstendenzen bei Teilen der Arbeiter und bei "zunehmend säkulare[n] Orientierungen an Wissenschaft und politische[n] an republikanischen Normen" wiederfindet. Vereinzelungsängste, die Abneigung gegen die als roh und rücksichtslos, hektisch empfundenen Veränderungen, der Wunsch nach Ruhe und Rückzug wird erklärbarer.
Hans Schwerte globalisiert, indem er das wilhelminische Zeitalter als Erklärungsfigur heranzieht, doch erscheint seine Beobachtung plausibel: "das sogenannte wilhelminische Zeitalter, das in ihm sich manifestierende eigentümlich Wilhelminische, hat duchweg in Opposition zur Moderne und ihren maßbildenden literarischen Leistungen gestanden" - so charakterisiert Hans Schwerte das Verhältnis von Staat und Literaten in der Zeit und erklärt in seinem Text, quasi aus der gegenüberliegenden Perspektive der Herrschenden, die Entwicklung der Dichter zu Außenseitern und Opponenten der Gesellschaft.
Es blieben den Literaten nach Hoffacker drei Möglichkeiten, um auf die sie überrollenden Ereignisse zu reagieren. Sie konnten sich in ästhetische Opposition begeben, wie sie hauptsächlich mit der Arbeit in Zeitschriften wie Pan, Jugend oder Fackel geschah oder gleich das Ästhetentum als Rückzug in die Innerlichkeit betreiben. Die dritte Möglichkeit war der konstruktive Ausweg aus der literarischen Opposition, der im Aufgreifen Nietzsches Individualismus oder einer Mannschen ironischen Aufsässigkeit seine Ausprägung fand.
b) Die Wende weg vom Naturalismus
"Als Bismarck bei seiner Abdankung ein gesichertes Reich hinterläßt, befindet sich die deutsche Literatur auf einem Tiefstand, wie er seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr festzustellen war." (Claude David)
Mit derart harschen Worten beschreibt Davis die literarische Situation, in der die Wende hin zu neuen Arten der Kunst möglich werden konnte. Traditionell galt die Vorstellung, der Künstler solle im Kunstwerk aufgehen, es wurde nicht davon ausgegangen, daß der Dichter für die Gesellschaft eine schöpferische Position inne habe. Seine Aufgabe lag in der wirklichkeitsgetreuen Darstellung des Lebens, was oft genug in der geschönten Darstellung der Herrschertaten seinen Ausdruck fand. Der Dichter sollte als Individuum Kunst und Leben verbinden.
Die Gegenbewegung zum Naturalismus wird dadurch gespeist, daß sich Kunst und bestehende Gesellschaft weit voneinander entfernt haben. Die Dichter müssen sich deshalb wieder neu einen Platz und eine humane Funktion innerhalb der Gesellschaft suchen. Bei dieser Such haben sie auch mit anderen Problemen zu kämpfen: Einsamkeit und Distanz, Fremdheit und Isolierung verworrene Suche nach Sinn und Zusammenhang nennt Hoffacker und beschreibt damit plausibel die Ursachen der Themenwahl, der Ideale und der Lebensweise der Dichter und der Dichtung des letzten Jahrzehnts des 19.Jahrhunderts.
Das wesentliche Defizit des Naturalismus war die Unfähigkeit, subjektive Erfahrung zur Darstellung zu bringen, schreibt Peter Bürger, und weiter, "Dem Naturalisten erstarrt die Wirklichkeit zum Gegenstand, in den einzugreifen ihm verwehrt ist". Der naturalistische Dichter ist demnach zur Beschreibung verdammt, die er in ihrer ganzen Vielfalt zwar darstellen, aber nicht mit subjektiven Maßstäben bewerten oder gar verändern kann.
Kritisiert wurde, auch von George, vor allem die Allgemeinverständlichkeit dieser Kunst, negativ verstanden bedeutet dies, daß sie sich zu sehr an volkstümliche Maßstäbe annähert und deshalb weniger anspruchsvoll und ansehnlich ist. Man sprach vom "Herdengeschmack" oder der "Madame Toutlemonde", George nannte die "leute niederer abstammung", für die er nicht wirken wolle. Hamann/Hermand: "Man hatte in den Tagen des Naturalismus so viel Außerkünstlerisches in die Kunst aufgenommen, daß man jetzt eine Aversion gegen alles Banale und Alltägliche empfand."
Insofern war es pure Reaktion, was darauf folgte. Oskar Wilde wird wie folgt zitiert, er invertiert die Ideale der Naturalisten: "Von der Literatur verlangen wir Erlesenheit, Charme, Schönheit, Macht der Empfindung. Wir wollen uns nicht durch die Schilderung des Treibens der unteren Volksschichten anekeln lassen." Das ging recht leicht über die Lippen, kamen doch die meisten der Literaten der Zeit aus reichen Bürgersfamilien oder wurden in Ausnahmefällen (so George) von ebensolchen Mäzenen unterstützt.
Wie Hermand es formuliert treten jetzt die "verwöhnten Kinder der Gründerzeit auf, deren höchstes Ideal eine ästhetische Geschmackskultur ist, die sich aus allen gesellschaftlichen Verpflichtungen herauszuhalten sucht." Staat galt in diesen Kreisen nicht mehr viel, repressiv oder zu schwach waren die Vorwürfe und Demokratie war ebenfalls verpönt. Mit ihr verband man, daß sich ein mittelmäßiges Niveau durchsetzen würde und das ohnehin abstoßende Volk weiter Einfluß und Macht bekommen würde (Vergleiche hierzu Kapitel II c) Nietzsche). Fischer: "Dem Parterre-Geschmack der Naturalisten, ihrer Vulgarität und ihrem Demokratismus wollten die Décadents etwas Subtileres, Raffinierteres, dem Massengeschmack Entgegengesetztes gegenüberstellen: Die Kunst der Décadence."
c) Das geistige Umfeld
Vor-Denker: Friedrich Nietzsche, Joris-Karl Hoysmans, Hermann Bahr Mit-Denker: Georg Simmel, Sigmund Freud
Das Phänomen Nietzsche-Rezeption in der Literatur seit der Jahrhundertwende erstreckt sich noch bis heute, fand aber seinen vorläufigen Höhepunkt bei Thomas Mann. Doch selbst für Lebzeiten Nietzsches gilt: "Man kann zwischen Tausenden von Zitaten wählen, um die Wirkung Nietzsches in den neunziger Jahren zu charakterisieren".
Nietzsche war auch ein brillianter Beobachter und Beschreiber seiner Zeit, der Zeit der décadence - er war es, der den Begriff mit seiner Schrift "Der Fall Wagner" (1888) in Deutschland einführte. Er soll ihn Bourgets "Essais de psychologie contemporaine" entnommen haben. Er wob das Wort von der décadence im Nachhinein in sein Gedankengebäude ein, da er mit dessen Hilfe pointierter und polemischer seine Kulturkritik anbringen konnte.
Fischer datiert den Beginn der intensiven Rezeption Nietzsches mit dem Jahr 1890, als Georg Brandes in der Deutschen Rundschau einen Artikel über den Denker veröffentlichte (Nebenbei ist dies eine weitere Stütze für die von ihm gezogene Epochengrenze). Danach ging es rasant aufwärts und Einflüsse auf die deutsche Literaturszene sieht Fischer durchaus. (Inwieweit George durch Nietzsche beinflußt wurde, konnte nicht ermittelt werden.) Koppen ist der Ansicht, daß die große Verbreitung des Textes entscheidend zur Popularisierung des Begriffes geführt hat, wegen "des angeseherenen Namens" mehr als die Schriften Bahrs (s.u.). Er vertritt die These, daß Nietzsches Dekadenzkritik aber dazu beigetragen hat, "daß man sich im literarischen Deutschland zur 'Décadence' nie so selbstgefällig und provozierend bekennen wollte wie in Frankreich.
Fischer vermutet, daß die Kritik, die Nietzsche an der Dekadenz übte, vielen nicht behagte, wofür die Beobachtung spricht, daß vor allem der kulturkritische und nicht der dekadenzüberwindende Ansatz verarbeitet wurde. Es wurde vor allem seine Umwertung der Werte, sein Infragestellen, seine Entlarvung der christlichen Moral und sein Angriff gegen jeden demokratischen Gedanken begeistert aufgenommen. Man muß dazu sagen, daß mehr die Kritik selbst als ihre Inhalte zählten, wichtig war das Zerstörende, das wortgewaltig Zertrümmernde und nicht die moralische Haltung und der Übermenschengedanke, der dahinter stand und mit dazu gehörte. Am Beispiel von Julius Langbehn macht Fischer diese Tendenz deutlich und verallgemeinert es zu einem Merkmal eines Jahrzehntes: "... diese Bodenlose Kritiklosigkeit gegenüber allen Äußerungen, die nur entschieden genug mit dem Bestehenden abrechneten, ist ein Charakteristikum der neunziger Jahre". (Hinzuzufügen ist, daß Nietzsche mit dem völkischen und heimatnahen Langbehn nichts gemeinsam hatte.) Für Koppen gehört Nietzsche zu den "apokalyptischen Reitern", die den Ausgang der "zivilisatorischen Hochblüte" ankündigten.
Nietzsche setzt sich mit dem Phänomen der Décadence auseinander, sowohl bei anderen, als auch bei sich, der sich als Kind der Décadence ansah - aber auch als ihr Überwinder. Nietzsche, der "dekadente Décadence-Kritiker [...] mit Décadence-Instinkt, den er sich selber zusprach.": "Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der Tat das Problem der décadence [...]. Hat man sich für die Anzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral, - man versteht, was sich unter ihrem heiligsten Namen und Wertformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit. Moral verneint das Leben... Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisziplin vonnöten: - Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir [...]."
Nietzsches eigene Auseinandersetzung mit der Décadence in ihm ist besonders interessant, denn er begreift sie auch als Aufgabe, die, richtig genommen und verarbeitet, über die damit verbundene Arbeit positive Effekte zeigen kann. Die Dekadenz durchlaufen zu haben, ist demnach seinen Ideal, dem Leben, dienlich. Sie erscheint als heilsamer Übergang zu Größerem. Fischer interpretiert Nietzsche so, daß die "Größe und Leistung der wahren Décadence bestehe darin, sie als Individuum zu bekämpfen, auch wenn damit die allgemeine Décadence nicht aufgehalten werden könne". Nietzsche: "Die Instinkte bekämpfen müssen - das ist die Formel für décadence". Dies findet sich auch in seiner Vorstellung wieder, daß große Einzelpersonen der Geschichte sich dadurch auszeichnen, daß sie die ihnen eigene besonders große décadence bezwingen (Cäsar, Napoleon) und sie dadurch idealtypisch produktiv werden lassen.
Man fand also in Nietzsche scheinbar einen Unterstützer gegen die bürgerliche Gesellschaft und für die Dekadenz, indem man seine Analysen einer verfallenden, degenerierten, schwächlichen christlichen Welt mit einem neuen Schluß verband. Denn die Forderung Nietzsches an jedes "starke" Individuum, über sich selbst hinaus zu wachsen und höchste - gerade moralische - Forderungen an sich selbst zu stellen, wurde übergangen. Es ging zu diesem Zeitpunkt noch um die Verstärkung einer dekadenten Lebenseinstellung. Es war eher ein Abgesang auf die bestehende Ordnung als der Versuch, eine neue, bessere zu errichten. Dies begründet die einäugige Aufnahme der Texte Nietzsches.
Joris-Karl Huysmans
Mit Joris-Karl Huysmans verbindet sich automatisch das Bild des hypersensiblen Ästhetizisten, der zurückgezogen in dem ausgefeilt ausgebauten Landhaus wohnt: Das Bild des des Esseintes aus seinem Roman au rebours (1884), oder Gegen den Strich, eines Herzogs, der der letzte Vertreter eines degenerierten Adelsgeschlechtes ist. In diesem Roman wird bis in das letzte Detail ein versessen über-sinnlichter Mensch dargestellt, der mit Hilfe seines Reichtums immer neue Reize für seine verkümmerte Seele schaffen will. Er konstruiert sich eine künstliche Welt und schreckt nicht davor zurück, selbst Tiere seinen ästhetischen, völlig vergeistigten Idealen anzupassen, auch wenn sie daran zugrunde gehen müssen. Ausführlich wird beschrieben, wie er sich ernährt, wie er die Likörs aus einer Orgel bezieht, was er liest und wie er kleine Experimente mit fremden Menschen macht. Im ganzen ist er ein zutieft unglücklicher und kranker Mensch. Sein dekadenter Lebensstil nimmt ihm derart viel von seiner Kraft, daß er schwächer und schwächer wird und am Ende seinen Rückzug aus allem gesellschaftlichen rückgängig machen muß. Die nur sinnliche Lebenseinstellung scheitert.
Das Buch wird trotzdem zur Bibel der Décadence, zum "dekadenten Manifest", zur Anleitung für ein ästhetizistisches Leben. Es ist nicht der Stil, der dieses Buch berühmt gemacht hat, in dieser Hinsicht steht Huysmans ganz in der Tradition der abbildenden Naturalisten, es sind die Inhalte: Das Verderbende, die beschriebene Lust am Verfall, die luxuriöse Hinwendung zur Innerlichkeit, die radikale Ablehnung alles Gesellschaftlichen wird aufgenommen.
Die Figur Des Esseintes lebt insofern wirklich gegen den Strich, als daß sein Dasein dem eines Normalbürgers diametral entgegengesetzt ist. Deshalb muß au rebours auch als Gegenentwurf gegen die als öde und banal empfundenen Existenzformen der Zeit angesehen werden. Er negiert alle bürgerlichen Ideale. Die aufgebaute Gegenwelt dient nur dem Schönen und Exquisiten und Künstlichen.
Huysmans hat unendlich viel Stoff geliefert, aus dem sich die neuen Bewegungen bedienten und an dem sie sich maßen. Die Figur des Esseintes wird zum Dekadenten schlechthin und selbst wenn Vertreter der Décadence viel differenziertere Lebens- und vor allem Literaturentwürfe machen, bleibt dieses Bild in den Köpfen der vielen Leser verhaftet. Koppen meint, daß es "ein für allemal fast als Sinnbild der Décadence- Literatur galt".
Hermand nennt au rebours das Lieblingsbuch der "preziös-stilisierenden Richtung" der Malerei, ein Etikett, das sich auch auf Huysmans übertragen läßt.
"Gegen den Strich" hatte Hermann Bahr tief bewegt, ihm entnahm er den Hang zum Künstlichen. Das Werk wurde allgemein prägend für das Verständnis des Begriffes der Décadence.
Hermann Bahr
In Hermann Bahrs Die gute Schule (1890) finden sich in konzentrierter Form Merkmale der Dekadenz wieder. Marion Busch und Gerhard Müller verstehen Bahr derart, daß er versuchte, "die neue literarische Richtung programmatisch zu erfassen". In ihren Augen kommt ihm der Verdienst zu, Ideen aus Frankreich in Deutschland und Österreich verbreitet zu haben. Hermann Bahr gelang es immer wieder, nahende Veränderungen früh zu erkennen und als erster laut zu machen.
Bahr definierte nicht, was unter Décadence zu verstehen sei - ihm fällt es nicht leicht, "den Begriff der Décadence zu formulieren" - , sondern stellte vier wesentliche Merkmale heraus: nervöse Reizempfindlichkeit, Hang zum Künstlichen, Sucht nach dem Mystischen und einen Zug ins Ungeheure und Schrankenlose bei gleichzeitiger Ablehnung alles Gewöhnlichen und Alltäglichen. Koppen bezeichnet Nahr als "recht genauer Beobachter, dem es allerdings nicht gelingt, die von ihm genannten Charakteristika zu einem kohärenten Bild zu vereinigen", und kritisiert die "Überbetonung des sprachlichen Aspekts" (ebd.), die nicht Koppens Vorstellung vom "dekadenten Syndrom" entspricht.
Die Hauptfigur in "Die gute Schule" (1890) thematisiert sein Verständnis von dem, was dekadent ist und lebt ein typisch dekadentes Verhalten, wie es sich auch bei Huysmans findet.
Der Dekadente ist in seinem Lebenswandel zunächst unbürgerlich. Aus dieser Opposition erwächst der Hang zur selbstgestalteten Schein- und Kunstwelt, eine Flucht in die Schönheit der Innerlichkeit, in einen "esoterischen Ästhetizismus".
Der junge Maler reflektiert alle Eindrücke bis zur Selbstentwurzelung und muß sich, Kierkegaards Johannes im Tagebuch des Verf ü hrers in soweit ähnelnd, auf sich selbst zurückbeziehen, als dem einzigen verläßlichen Wert, der nach der Ablehnung alles Gesellschaftlich-Moralischem bleibt. Die eigene Reizsteigerung ist für ihn der verbliebene Weg der Selbstempfindung. Völlig auf sich zurückgeworfen, egozentrisch, exzessiv und nervös-gereizt, kultiviert er die Lust zu leiden, wird dabei (im bürgerlichen Sinne) handlungsunfähig.
Auf der einen Seite steht die "höchste Nachempfindungsfähigkeit von Gefühlen im Sinne der reflektierten Empfindung", auf der anderen Seite die gerade durch diese extreme Vergeistigung enstandene Unfähigkeit, natürliche Beziehungen einzugehen und darin wirklich zu erleben. Die Liebesbeziehung, die Bahr außergewöhnlich erotisch und detailliert schildert, dient der Hauptfigur nur als Stimulans seiner überreizten Nerven. Die Notwendigkeit der Reizsteigerung mündet in sado-masochistische Spiele und Blutvergießen. Busch/Müller deuten dies als "Suche nach neuen, ungewöhnlichen Erlebnissen in einer normierten und uniformierten Gesellschaft".
Der "dekadente Held" (Busch/Müller) ist nach außen hin Bohemien und Flaneur, ansonsten "überaus nervös, unfähig zu Entscheidungen oder gar Handlungen", egozentrisch und exzessiv. Koppen betont den reaktiven Charakter der Figur, sie ist "negatives Abziehbild" eines Bürgers.
Sigmund Freud
"Gerade die Décadence hat die Fähigkeit der Selbstanalyse entscheidend vorangetrieben." Dies schreibt Fischer und weiter fortfahrend liefert er auch die Brücke zur Psychoanalyse Freuds: "In ihrem Umkreise sind das Unbewußte und der Traum auf eine Art und Weise beschrieben worden, die berechtigt, vom entscheidenden Schritt zwischen Romantik einerseits und der Psychoanalyse andererseits zu sprechen."
Die Welt der Décadence-Literatur oder die des Expressionismus war Sigmund Freud fremd. Er stand Goethe, Lessing und Heine nahe und äußerte sich mehrfach abfällig über die zeitgenössische Literatur, und stand "ohne Verbindung mit den Zeittendenzen". Worbs sieht in Freud einen Bildungsbürger, der noch einmal die humanistische Strömung in der Kunst, ausgehend von Goethe, und die wissenschaftliche, deren Vater Hegel war, synthetisieren konnte. In seinen Werken kommt demnach ein Verständnis zum Tragen, das sich auf Denker bezieht, die in der zeitgenössischen Kulturdebatte als überholt oder wenigstens unaktuell galten. Obwohl er der Décadence abwehrend gegenüber stand, war sie maßgebend für sein Denken - er übersprang sie, um sie doch intensiv in seine Studien einfließen zu lassen.
Und doch hatte er Anteil an der Entwicklung der hier thematisierten Literaturepoche, vor allem aber liefert er weiteres Material zum Verständnis des damaligen Lebensgefühls. Freud beschreibt die Lebensnähe der Literatur, dadurch daß sich deren Themen auch als Fragestellung in seiner Psychoanalyse wiederfinden.
Der "Rückzug ins Individualistische, Private", wie Jost Hermand es nennt und die Nabelschau der auf sich zurückgeworfenen dekadenden Dichter parallelisieren auffällig mit den Theorien der neuen Psychoanalyse, die das Innere weiter als bisher in den Vordergrund des Denkens und des Handelns rückt.
Rudolf Walter findet an ganz ähnlicher Stelle die Verbindung zwischen Freud und dem Jugendstil. Darin, daß es eine "neue Sensibilisierung für die Werte des Natürlichen, des Emotionalen, Vitalen und Vorbewußten" gibt ähneln sie sich frappant.
Wenn Freud fordert, in der Strenge der Triebverdrängung nachzulassen, ein Zustand, der in seinen Augen "Kulturheuchelei" war, dann überschneidet sich dies mit der zeitgenössischen Kritik an einer schein-sicheren aber angesichts der unerklärlichen gesellschaftlichen Entwicklungen sich entblößenden positivistischen Lebenshaltung. Der Kulturzustand erscheint Freund pathologisch.
Insofern kann man Horkheimers Ausspruch verstehen, der Freuds Werke als "großen Jugendstil" bezeichnet hat: Die Irrationalität der Welt und des Menschen, in denen unbewußte Kräfte mehr beeinflussen, als bis dahin vorstellbar war - dies steht ganz im Gegensatz zum engen Weltbild des Idealismus - bilden eine große Gemeinsamkeit. Es ist die Suche nach neuen Erklärungsmodellen für die Phänomene der Zeit und die Suche nach neuen Richt-Werten, die der Antrieb war. Dies ging von der Feststellung aus, daß die Fundamente, auf denen das damalige (Geistes-)Leben fußte, nicht mehr trugen.
Abschluß und Beginn eines neuen Aufbruchs und Kontinuums im Sinne des oben genannten bietet Julius Langbehn an:
"Man ist einigermaßen übersättigt von Induktion: man dürstet nach Synthese; die Tage der Objektivität neigen sich wieder einmal zu Ende und die Subjektivität klopft an die Türe. Man wendet sich zur Kunst!"
Georg Simmel
Georg Simmel sind einige sehr anschauliche Beschreibungen der Stimmung des fin-de- siècle zu verdanken. Innerhalb seiner soziologischen Studien finden sich einige Passagen, die zum einen den gesellschaftlichen Hintergrund durchsichtiger machen, vor dem diese Art der Literatur entstehen konnte, zum anderen lassen sich an seinen Schilderungen Rückschlüsse auf das allgemeine Empfinden ziehen. Ein Teil von dem, was er wahrnahm, prägte weite Teile der Bevölkerung. Hannes Böhringer und Karlfried Gründer schreiben über Simmmel , daß er "den Empfindungen und Gefühlen jener Schicht Ausdruck verliehen [hat], die hilflos und ohnmächtig Anteil nehmen mußten an der gewaltigen Expansion der deutschen Wirtschaft nach der Reichsgründung von 1871 und dem damit rasch wachsenden Proletariat."
In seinem Aufsatz Die Gro ß st ä dte und das Geistesleben schafft Simmel einen Zusammenhang zwischen den als gesteigert empfundenen Nervenreizen und einem Typ Mensch, dem Großstadtmensch. Dieser zeichnet sich durch erhöhte Intellektualisierung aus, da er seinen Verstand als "Schutzorgan gegen die Entwurzelung" einsetzt, als "präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigung der Großstadt". Das dominante Geld ist der "fürchterlichste Nivellierer", das den spezifischen Wert von Dingen nicht mehr sichtbar werden lasse. Insgesamt konstatiert Simmel, daß Großstadtmenschen nicht mehr in angemessener Weise auf Reize reagieren können, sie werden "blasiert" und durch die Entfernung zur "objektiven Welt" fallen sie selber in ein "Gefühl der Entwertung". Die einzige Möglichkeit, in dem so vielfältigen und damit auch leichten Leben wieder eine markante Person zu werden, besteht in der unentwegten Steigerung des Individuellen, um "überhaupt noch hörbar, auch für sich selbst zu werden".
"Berührungsangst" nennt Simmel die Versuche seiner Mitmenschen, ihre innere Stabilität zu bewahren, wenn sie wegen ihrer "pathologischen Überreiztheit" versuchen, nicht in Kontakt mit anderen Objekten zu kommen. Die verlorene Einheit von "wissenschaftlicher Objektivität und der gefühlten Wertbedeutung des Lebens und der Dinge" läßt sich Simmels These nach durch verstärkte Sinnlichkeit wiedergewinnen. Simmel ist auch der Ansicht, daß es legitim ist, sich einem Gegenstand nur ästhetisch zu nähern.
Simmel hilft beim Verständnis der Entwicklung von Stefan George, der sich immer weiter zurückgezogen hat vor der bedrohenden und verachteten Gesellschaft, seine Innerlichkeit, also das individuell-spezifische seiner Person pflegend. Vielleicht sind Selbstsuche, Überreiztheit und extreme Vergeistigung aus dieser Sicht besser nachzuvollziehen.
Simmel selber fand seine Individualität nicht zu letzt in seinem persönlichen antisystematischen Stil, zugestanden werden ihm "ungemein feines Beobachtungsvermögen" und "Reizsamkeit ohnegleichen" - insofern zeigen sich bei ihm, dem Beschreibenden ebenfalls Zeichen seiner Zeit. Er ist ein "Typischer Vertreter des Bildungsbürgertums des fin-de-siècle", wie Sibylle Hübner-Funk meint.
IV. Strömungen und Begriffe
a) fin-de-siècle
Frankreich war hinsichtlich der Literatur der Vorläufer und für viele Autoren auch das Vorbild und der Orientierungspunkt in ihrem Werden. Dies war keine versteckte Schwärmerei, sondern eine offene Bekenntnisnahme zu dem, was im Nachbarland Wert besaß. Die Bezeichnungen fin-de-si è cle und d é cadence wurde also auch nicht übersetzt, sondern als Zeichen der Partizipation im Original übernommen.
In Frankreich wurde der Begriff vom fin-de-siècle laut Erwin Koppen 1886 in einer Rezension der Zeitschrift Le D é cadent eingeführt, was auch Fischer stützt. Fischer weist darauf hin, daß in Frankreich fin-de-siècle eine "Ausstülpung oder Zuspitzung des Décadence-Gefühls" meinte, an deren Ende man glaubte sich zu befinden. Es sei "Ausdruck vager Befürchtungen, die sich mit dem ausgehenden Jahrhundert verbinden", gewesen. Fischer muß auf Deutschland bezogen décadence und fin-de-siècle als zwei sich gegenseitig stützende Begriffe erklären, da sie hier gleichzeitig auftraten, wodurch sich dekadente Ansichten und ein Endzeitgefühl miteinander vermischten und verbanden.
"Das bleichsüchtige Ende des Jahrhunderts wird von nun an zur griffigen Formel, mit der jener Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft, den man mit Décadence bezeichnet, seine Warnung vor dem bevorstehenden Ende einkleidet."
Hoffacker bekräftigt dieses Zusammenspiel und erklärt die Zeit unter Zuhilfenahme beider Begriffe:
"Die Krisenliteratur stieß auf breites Publikum, die Manieriertheit vieler Autoren aber auch auf herbe Kritik. Das 'antizipierende Feingefühl' der Décadence; 'geistvolle Aphorismen, ohne System verstreut'; 'faszinierend hyperrevolutionär erscheinenede Gesten'; 'tiefe Unzufriedenheit mit der Kultur der Gegenwart' (G.Lukács) bei gleichzeitigem teuren Genuß dieser Kultur zeichnete die Fin-de-siècle-Stimmung aus."
Hermann Bahr war es, der die Begriffe in Deutschland einführte, er nahm die "Vermittlerrolle" zwischen der französischen Décadence und Denkern in Deutschland und Österreich ein. Die gute Schule von 1890 wird auch von Fischer als die zentrale Quelle für den Beginn einer Literaturepoche der Jahrhundertwende angesehen; Erwin Koppen bewertet Bahrs Roman Die D é cadence von 1891 originärer.
Zentral ist "Fin-de-siècle" als Stimmung anzusehen, zu der unter anderem die hier vorgestellten Autoren beigetragen und aus der sie geschöpft haben. Die oben beschriebenen politischen Umstände wirkten sich auf Geisteshaltung und Lebenseinstellung aus. Endzeitstimmung kann nur aus einer resignativen Haltung heraus entstehen, die in diesem Fall durch mehrere Einflüsse gespeist wurde. Fischer führt an, daß man sich durch das Erbe der gründerzeitlichen Väter belastet fühlte und nicht meinte, die Kraft zu haben, sich selbst aus dieser Situation befreien zu können.
Fischer führt diese These nicht weiter aus, doch ist zu vermuten, daß er sich auf die Unwägbarkeiten eines ursprünglich begrüßten kapitalistischen Systems, mit Rezessionen und Pleiten nach enormen Investitionswellen, bezieht. Angst verbreitete den bürgerlichen Schreibern auch die Vorstellung einer proletarischen Revolution und eine Klasse Kleinbürger, die weiter Einfluß gewinnen und sich nicht unterdrücken lassen - Indiz waren die hilflosen Sozialistengesetze. Weiter führt er Verdrossenheit gegenüber staatlicher Macht, die sich in geistiger Enge (rühmende Staatskunst) und politischer Ohnmacht bemerkbar machte, wobei die sozialdemokratische Opposition als Entfernungsmöglichkeit nicht praktikabel erschien. Auch das Dilemma, das sich aus dem vatikanischen Konzil 1870 für viele ergab und das die offizielle Religiosität weiter unglaubwürdig erscheinen ließ, war ein Beispiel dafür, daß Bestehendes zerstört wurde, Neuland aber nicht in Sicht war. Das genau war das Grundgefühl, ein Teil des Fin-de- siècle zu sein. David ist sogar der Ansicht, daß man ernsthaft das Ende der Welt nahen sah: "Es gab damals eine große Angst, einen Schrecken vor 1900, wie es einen Schrecken des Jahres 1000 gegeben hatte. Jetzt wie damals fürchtete man den Weltuntergang."
Hinsichtlich der Frage, ob, wie es charakteristische Inhalte für die Literatur der Jahrhundertwende gab, auch stilistische Eigenheiten festzustellen sind, wird wie folgt beantwortet. Fischer findet schon in Bahrs Die gute Schule, dem er als erstem deutschen Roman das Prädikat fin-de-siècle zuerkennt, einen Stil, der in den "folgenden Jahren für eine Reihe von Autoren verpflichtend werden sollte". Seltsame Worterneuerungen, schwindsüchtige Empfindsamkeit, fiebrischer Stil, trotzige Begehrlichkeit, so umreißt er etwas, das den Rahmen der Sprache zu sprengen versucht, um die neue Ästhetik übermittelbar zu machen. Konkreter wird Fischer in seinem Beitrag zur Propyläen Literaturgeschichte. Dort nennt er als Stilmerkmale: ungenaue Wortwahl, angestrengte Verschleierungstechnik, Bilderüberfluß, unpassende Metaphern, Mißbrauch von Synonymen und Zuspitzung auf verblüffende Pointen. Fischer weist besonders darauf hin, daß diese Charakteristika sowohl positiv als auch negativ verstanden werden können und konnten. So wurden die Werke auch als empfindungsreich, voller Nuancen und Sprachgrenzen erweiternd angesehen und ihnen angerechnet, daß sie unsagbare Gedanken ausdrücken könnten - vor allem die Reizbarkeit der Nerven und die Halluzinationen der Dekadenten.
Koppen sieht die Literatur des Fin-de-siècle stilistisch zu häufig in der Tradition der Naturalisten, mit einigen dekadenten Merkmalen, die aber seiner Ansicht nach nicht ausreichen, die Zeit über einen spezifischen Stil zu definieren. Bahrs Anspruch, der "Überwinder des Naturalismus" zu sein, wie er von sich wenig bescheiden behauptete, scheint damit nur thematisch erfüllt worden zu sein.
b) décadence
"...die zerfaserten Nervenenden an den europäischen Dekadenzstrom anzupolen und unter Zuckungen ungeahnter Sensationen unterzugehen mit der Würde, mit der die spätrömischen Kaiser die Barbarenströme erwartet hatten."
Seit Montesquieus "Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer" von 1734 wird laut Fischer der Begriff mit besonderer Konnotation verwendet. Bewundert wird die zunehmende Feinheit der römischen Kultur zu dem Zeitpunkt da das Reich seinen Machthöhepunkt schon überschritten hatte. Die "in allen Verwesungsfarben schillernden Figuren, Sitten und Gebräuche" wurde als Bild des feinen Untergangs gemalt. Man ist der Ansicht, daß der nahe Untergang des Reiches die Sensibilität und damit auch die Kunstfertigkeit angeregt habe.
Daß sich "Décadence" vor seiner Umdeutung auf die Jahrhundertwende auf den Untergang des römischen Reiches bezog, meinen auch Reinhard Farkas oder auch Rasch. Dieser sieht in den verschiedenen Erklärungsansätze der Jahrhunderte, für den Niedergang allgemein, den gemeinsamen Nenner in der Annahme, daß alles vom Menschen erzeugte "bestimmt sei, zugrunde zu gehen".
Bedeutung erlangte der Begriff für die Generation des ausgehenden Jahrhunderts dadurch, daß mit ihm die "Aufsplitterung von Kunst und Leben" in der antiken Welt verbunden war und genau diese Zerrissenheit die Erfahrung der Literaten beschrieb.
Fischer bezieht sich auf Nisard, der 1834 Gemeinsamkeiten zwischen beiden Epochen fand: den Hang zur überfeinerten Bildung, die überwuchernden Beschreibung, die übertriebene Nuancierung, gewollte Subtilitäten und Übertreibungen, diese vor allem im Häßlichen. In stilistischer Hinsicht führte er ungenaue Wortwahl, angestrengte Verschleierungstechniken, Bilderüberfluß, unpassende Metaphern, Mißbrauch von Synonymen und Zuspitzung auf verblüffende Pointen an.
Nachdem dieser Begriff zu Anfang des 19. Jahrhundert für minderwertige Literatur verwendet wurde, schafft Baudelaire die Entlastung in seinen "Notes nouvelles" (1857), indem er die Frage stellt, warum Dichtung der Spätzeit minderwertig sei. Baudelaire lehnt den Begriff "Décadence-Literatur" jedoch ab. Rasch verweist auf Gautier, der "Décadence" daraufhin wertfrei als "Literatur, die sich der Verfallsthematik zuwendet", verwenden kann. Hier wird diese Literatur nicht als die des Verfalls, sondern die einer äußeren Reife verstanden, die nur eine gealterte Zivilisation hervorbringen könne - künstlerische Blüte und gesellschaftlicher Verfall werden dadurch vereinbar. Nisard umschreibt auch, wie dekadenter Stil sein sollte: erfindungsreich, kompliziert, geistreich, voller Nuancen, die Grenzen der Sprache ständig erweiternd, um die "Geheimnisse einer erhöhten Reizbarkeit der Nerven" wiedergeben zu können, farbenreich und unsagbare Gedanken ausdrückend.
Für die Literatur bekommt der Begriff der 'décadence' 1834 Bedeutung, dadurch daß Désiré Nisard ihn im Sinne von "hohler Sprachartistik, Maßlosigkeit und Gesuchtheit" erweitert. In altphilologischen Betrachtungen hatte er diese Eigenschaften in Parallelität zu spätantiken Schriftstellern an seinen romantischen Zeitgenossen diagnostiziert, wodurch 'décadence' zum polemischen Sprachmittel in Literaturdebatten wurde.
Was Nisard noch abwertend gemeint hatte, wurde schon bald zur Auszeichnung einer modernen Literatur: Künstlichkeit, Sprachartistik und Naturferne.
Mit Baudelaire wurde die décadence zum Kennzeichen einer Epoche und als Basis eines neuen Selbstbewußtsein umgewertet. In Frankreich häufen sich die Resonanzen und die Bekenner zu der Ästhetisierung des Unnatürlichen, 1884 erscheint au rebours von Joris Karl Hoysmans als ein erster Höhepunkt in der Darstellung eines dekadenten Lebens.
Daß Dekadentsein überhaupt zu einem positiven Wert werden konnte, erklärt Rasch dadurch, daß die Verfallsbeobachtung "von der Befangenheit in rein positiven Anschauungen von Wachtum und Fortschritt" erlöst, sie dient demnach als Ausstiegsmöglichkeit aus einer sich verselbständigten, persönlich nicht steuerbaren Entwicklung, die beständig mitzureißen sucht.
Auf Nietzsche muß man verweisen, wenn man nachvollziehen möchte, wie der ursprünglich nur in Frankreich inhaltsreiche Begriff auch in Deutschland geläufig wurde. In Der Fall Wagner von 1888 schreibt Nietzsche: "Womit kennzeichnet sich jede literarische décadence? Damit, daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr."
Für Nietzsche steht alles, das irgend dekadente Anteile trägt gegen das aufsteigende Leben, seinem Leitbild. Décadence ist in seinen Augen Verkümmerung und Degeneration. Die Anbetung von Verfall, Schwäche und Zersetzung ist ihm, der das Starke gegen gleichmachende Strömungen wie die Demokratie oder eine genießende Moderne verteidigt, zuwider.
Wolfgang Rasch sieht in dem als positiv wahrgenommenen Verfall eine Grundposition der Décadence, also "Die Bejahung all dessen, was 'chute', Sturz und Fall und Untergang ist, die Erfahrung der Welt aus dem, was ihr verfällt ..."
Die Empfindung, am Ende einer Kultur zu stehen, war nicht ganz neu, man bezog sich ja auch auf den Untergang des römischen Reiches und dessen kulturelle Leistungen, doch "verbindet man jetzt mit dem Begriff des Alt- und Müdeseins, der Überkultiviertheit und Degeneriertheit die Idee eines Geistesadels." Wenn dieser Gedanke auch nicht ganz neu war, so hatte er doch eine neue Qualität gewonnen, was dazu führte, daß es einen regelrechten "Verfallsrausch" (Hauser) gab, eine Lust an der Zerstörung und der Selbstzerstörung.
Die Décadence ist nach Meinung einiger Autoren zentral ein Gegenentwurf gegen den noch immer dominierenden Naturalismus. Die Vulgarität und der Demokratismus des Naturalismus erschien als zu grobschlächtig. Etwas dem Massengeschmack entegegengesetztes, etwas Subtileres, Raffinierteres sollte entstehen: Die Kunst der Décadence. Anstatt der "Kunst der breiten Massen" war nun die "Kunst der ganz Wenigen, der Erlesenen, der Kunstjünger und Kunstfreunde" das Ziel.
Man hatte genug von der Darstellung der grausamen Realität. Darin wurde nichts Künstlerisches mehr entdeckt. Als wirklich Künstlerisch wurde alles Künstliches und Naturfernes definiert. Das Lebendige sollte aus der Kunst verbannt werden.
Nach Fischer ist die Décadence ein Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft und das, obwohl fast alle der bekannten dekadenten Autoren der Zeit aus dem bürgerlichen oder liberal-bürgerlichen Millieu stammten.
Fischer ist mit Koppen der Ansicht, daß Décadence weniger einen Stil als viel mehr eine Haltung dem Leben gegenüber beschreibt. In der Literatur äußert sich dies dadurch, daß sich die gehaltlichen Charakteristika verändern, die Stilmittel des Naturalismus aber weitgehend beibehalten werden. Fischer weist an anderer Stelle aber dezidiert darauf hin, daß es nicht vor allem eine Frage des Stils sei, sondern daß es "auch stoffliche und motivische Eigenheiten dekadenter Literatur" gibt.
Koppen differenziert bei der Benutzung des Terminus, da er doppelt belegt ist. Auf der einen Seite bezeichnet er die typisch symbolistischen stilistischen Muster und sprachlichen Techniken, auf der anderen Seite aber ein bestimmtes Lebensgefühl, mit den sich daraus ableitenden Themen - und beides ist verwirrend verschränkt. Koppen betont, wie schon gesagt, den zweiten Aspekt und damit die spezifischen Motive und Charakteristika.
An Bahrs Figur wird ein wichtiges Element erkennbar, das nicht originär für die Décadence war, als Thema aber immer wieder auftauchte. Die Umwertung des Häßlichen zum Schönen und damit auch die Liebe zum Sadismus. In der Liebesszene mit Fifi (auch hier, wie in der Malerei, ein 'Anhänger') wird zudem die oben genannte Reizunempfindlichkeit bei gleichzeitiger hoher Sensibilität der Welt gegenüber deutlich:
"Sonst kam es ihnen nicht mehr zur Befriedigung, als wenn sie sich mit Blut zusammenleimten; und bis in die Eingeweide, mit verkrampften Nägeln, mußten sie sich zerwühlen und an den Gedärmen zerren, damit, von so viel Leidenschaft niedergeritten und gestampft, ihre stumpfen und verwüsteten Nerven noch einmal empfänden."
Die "fragwürdigste Kategorie dieser dekadenten Dämmerstimmung" finden Hermann/Hamand bei der Verliebtheit in den eigenen Tod. Voller Abscheu berichten sie darüber, daß nun sogar der Tod als "Stimmungfaktor" degradiert, zum Kunstwerk stilisiert ist und jenseits religiöser Anschauungen steht. In den Sterbegefühlen finden sie aber auch "etwas Geheucheltes und Unverbindliches".
In diesem Beispielen wird illustriert, was Wuthenow wie folgt zusammenfaßt: "Überdruß, Verfeinerung, Bildung, Eleganz, eine elitäre Haltung gegenüber den bedrohlichen Banalitäten des Alltags, gegenüber der wesenstlich stillosen Natur, allem Organischen überhaupt, werden gerne zur Schau getragen, können aber leicht umschlagen in lähmende Lebensangst".
Die dekadente Haltung beschreiben Hermann/Hamand in der DDR-Ausgabe ihres Impressionismus. Es hätten "weite Kreise [..] ihren sozialen Kompaß verloren und verfallen dadurch einer "Heiligung der Instinkte", die einen außerordentlich parasitären Charakter" aufweise.
Kritiker der Dékadence ließen nicht auf sich warten, lieferten dabei auch prägnante und polemische Beschreibungen ab. So Karl Kraus, schon 1893: "Ich hasse und haßte diese falsche erlogene 'Decadence', die ewig mit sich selbst coquettiert; ich bekämpfe und werde immer bekämpfen: die posierte, krankhafte, onanierte Poesie."
Der Hang zum Stilisierenden, zur Form, der mit der Zeit immer stärker hervortritt, um dann bestimmendes Moment zu werden, ist nach Hauser nur zu verständlich. Die Dekadenten fühlten sich umgeben von nur zu ahnenden Entsetzlichkeiten, die nicht zu fassen sind, von einer sie bestürmenden Wirklichkeit, der sie haltlos ausgesetzt sind, die sie wahrscheinlich nicht einmal begreifen können.
"Der Abgrund, der für den Christen die Sünde, den Ritter die Ehrlosigkeit, den Bürger die Gesetzwidrigkeit war, ist für den Dekadenten alles, wofür er keine Begriffe, keine Worte, keine Formulierung hat. Daher sein verzweifelter Kampf um die Form ..."
V. Klassifizierungsbemühungen
a) Décadenceliteratur
"Die literarische Décadence um 1900" lautet schon der Titel des Buches von Wolfdietrich Rasch. Er vertritt am deutlichsten die These, daß es eine bestimmte epochalisierende Entwicklung um die Jahrhundertwende gab, die unter dem Aspekt des Dekadenten subsummiert werden kann, ohne allerdings umfassend zu sein.
"Sie [die literarische Décadence] kulminiert zwar im späten 19.Jahrhundert unverkennbar, aber bestimmt doch keineswegs allein das literarische Leben, sondern ist nur eine seiner Komponenten. Es läßt sich also nicht von einer Zeit der DécadenceLiteratur in dem Sinne sprechen, wie man etwa von der Periode der barocken, klassischen oder romantischen Dichtung spricht."
Die Décadence Literatur war "eine bedeutende Komponente der europäischen Literatur" (ebd). Auszeichnend sind Themen wie gesteigerte Sensibilität, Verfall, Krankheit, Ästhetizismus, Künstlichkeit, Zerstörung, Willensschwäche, Reizsteigerung und Isolation. Raschs Ansicht nach beginnt diese Literaturepoche um 1890 und tritt um 1912 zurück.
Er verweist auf Koppen und schließt sich dessen Feststellung an, daß Décadence- Literatur eine "ästhetische Opposition gegen die bürgerliche Industriegesellschaft der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts" ist, jedoch nur eine unter vielen. Das Spezifische an dieser Bewegung ist die Verfallsthematik, auf die "alle Einzelmotive zurückweisen". (Das Oppositionelle noch weiter betonend, gelangt man zu der Bezeichnung "Wilhelminisches Zeitalter", den Bayerdörfer/Conrady/Schanze als treffend wegen der ihrer Ansicht nach starken Reflexivität von Politik und Literatur während dieser Zeit ansehen: "Literarische Kritik und kritisierte Zeit sind enger aufeinander bezogen, als es zuweilen in den Zeilen steht.")
"Décadence-Literatur ist nichts anderes als eine literarische Reaktion, eine ästhetische Opposition gegen die bürgerliche Industriegesellschaft der letzten Jahrzehnte des 19.Jahrhundert", schreibt Koppen als scheinbare Zusammenfassung seines Verständnisses des Begriffes. Doch füllt er ihn an anderer Stelle mit inhaltlichem und formalem Inhalt. Immer mit der Décadence verbunden sind Naturfeindschaft, Künstlichkeit, Fortschrittsfeindlichkeit, Auflösung klassischer Sprach- und Stilmuster. Die Oppositionshaltung ist nie progressiv, sondern vielmehr eskapistisch, Sprache dient nicht primär der Kommunikation, sondern ist ästhetischer Ausdruck, weshalb sie "nicht eindeutig und präzise, sondern mehrdeutig und unklar zu sein hat." Auf Untergangsängsten und der Erfahrung einer fortschrittsfeindlichen Zivilisation beruht nach Koppens Ansicht der Aufstieg des Begriffes zum Modewort, dies ist das "geistesgeschichtliche Substrat".
Seiner Ansicht nach stehen die gehaltlichen Charakteristika im Vordergrund, weswegen er sich gegen die Auffassung der Décadence als eine Stilbewegung verwahrt. "Décadence umreißt eine Haltung dem Leben und der Gesellschaft gegenüber" betont er.
p>Koppen datiert den Beginn dieser Epoche mit dem Ende der 70er Jahre, konkret mit Théophile Gautiers "Fleurs du Mal", auch wenn er in denen nur die Ausdeutung von Baudelaires Positionen sieht. Koppen scheint dazu zu tendieren, unter Décadence- Literatur die Abwehr des bekannten Lebens, das als zum Untergang bestimmt angesehen wird, zu verstehen, einer "allgemeinen Unzufriedenheit mit den Phänomenen der Umwelt (scienza, religione, forma politica, economia)", wie er Giapietro Lucinis decadenza umschreibt. Diese Umwelt soll umgeformt werden und muß dazu "drei Phasen des Niedergangs, der Fäulnis und des Todes duchlaufen" - das bei Lucini gefundene inhaltliche Verständnis von Décadence, das von Abschluß und Neubeginn genährt ist, entspricht am ehesten seinen Kriterien für die Klassifikation von Autoren zu einer Literatur der Décadence. Das Besondere an dieser Haltung ist, daß Koppen hier der Décadence schon den Willen zum Neubeginn zuschreibt. Gerade wenn dieser sichtbar wird, meinen andere Autoren (Fischer, Hamann/Hermand) hat sich die eigentliche dekadente Haltung überlebt.
b) fin-de-siècle
Fischer benutzt den Ausdruck "fin-de-siècle" als Bezeichnung für die gesamte Literaturepoche in Deutschland zwischen 1890 und 1900 nur in einem seiner Beiträge zur Zeit, an anderer Stelle schreibt er zur Décadence.
Das "Prädikat fin-de-siècle" will Fischer nur denen zuerkennen, die Décadencebewußtsein für sich oder für ihre Figuren akzeptiert oder kritisiert haben. Aus seiner Sicht ist Literatur des fin-de-si è cle exakter als D é cadenceliteratur, da zum einen der letztere Begriff nur halbherzig angenommen wurde (er war zwar verbreitet, jedoch weiterhin distanziert benutzt) und zum zweiten mit der Décadence-Losung eine endzeitliche Stimmung verbunden war.
Fischer vermißt für Deutschland die lange Tradition der dekadenten Literatur, wie es sie in Frankreich gab und findet auch kein gemeinsames Selbstverständnis von Décadence-Literaten hierzulande. Die wenigen derartigen Schreiber, die Fischer angibt (Martens, Lilienfeis, Przybyszewski, Holitscher) sind für ihn Außenseiter.
Ist die fin-de-siècle-Stimmung in Frankreich oder England nur Zusatz zur bestehenden Décadence-Tradition, so ist fin-de-siècle in Deutschland die Zentralformel, die zwar ohne dekadente Elemente und Vorarbeit nicht tragfähig wäre, die Thematik der Jahrhundertwende aber treffender umreißt. Fischer sieht nur eine endzeitliche Décadence vorliegen, weswegen er das Wort vom ausgehenden Jahrhundert als den klareren Begriff bevorzugt. Die Untergangsempfindung war demnach in Deutschland stärker als der Wille, in Décadence oder in Décadencegedanken zu leben.
Fischer weist für die Entwicklung der Literaten darauf hin, daß dem Fin-de-siècle "der Weg von der Bindungslosigkeit in die Bindung" immanent war, daß die Ablehnung der bestehenden Ordnungen nur von kurzer Dauer war und die Masse der Autoren nach einigen Jahren der Distanzierung wieder Anhänger von Katholizismus, Sozialismus, Monarchismus u.a. wurden. Das Zentrum der Fin-de-siècle Literatur befindet sich seiner Ansicht nach in Wien, George stelle in der Hinsicht eine Ausnahme dar.
Irritieren ist, daß Fischer an anderer Stelle die Literatur der Jahrhundertwende unter dem Titel "Décadence" beschreibt. Fischers Position läßt sich eventuell dadurch klären, daß man seine Differenzierungen innerhalb der Gattungen beachtet. Nämlich, daß "die literarische Décadence sich doch eher in der Prosa heimisch fühle - der Bereich der Lyriker war der Symbolismus", nur ist damit noch nicht seine doppelte Begrifflichkeit erklärt.
c) stilisierter Impressionismus
Richard Hamann und Jost Hermand haben den vierten Band ihrer fünfteiligen Kulturgeschichte Deutschlands, der die Zeit um die Jahrhundertwende umfaßt, mit einem besonderen Anspruch "Stilkunst um 1900" genannt. Wie Hermand im Vorwort zur 2.Auflage besonders hervorhebt, wird die Kunst der Zeit "in aller Nacktheit vor den Hintergrund des spätwilhelminischen Imperialismus gerückt". Sie legen besonders Wert auf neue Ideologische Aspekte in der Kunst und sehen die Grundtendenz der Zeit in der fortschreitenden Stilisierung, die dabei ein Ideal des volkshaften und monumentalen anstrebt, das sich in Weltmachtphantasien des Dritten Reiches wiederfindet. Der "Einheitsstil [...], der sowohl den einzelnen als auch die Gesamtheit des Volkes wieder einer allgemein verpflichtenden Idee unterstellt" wird als gefährliche Grundtendenz gesehen, in denen Hermand "unterschwelligen Imperialismus" und "Präfaschismus" wiederfindet.
Hamann/Hermand wehren sich vehement gegen Begriffe wie Jugendstilliteratur oder Neuromantik. Dies sind für sie "Beweihräucherungen und avantgardistische Akzente" und deren Vertreter "Kunstschmuser mit ihren rein ästhetischen Anschauungen".
Glücklicherweise belassen es die Autoren nicht bei einer derart pauschalen Klassifizierung der Zeit als eine Stilkunst mit präfaschitischen Ansätzen durch die Vereinheitlichung des Stils. Sie nehmen stattdessen eine Dreiteilung der Zeit vor: Eine "ästhetisch-dekorative" Phase, die sie zwischen 1895 und 1902 ansiedeln, grenzen sie von der "volkshaft-monumentalen" und "werkbetont-sachlichen" ab.
Erstere bezeichnen sie auch als "stilisierten Impressionismus", deren Anfänge wiederum als "Neoimpressionismus", als dessen markantesten Lyriker sie den frühen George nennen. Kennzeichend ist die Bemühung um bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die "jedoch im rein Sensualistischen steckenblieb". Hier wird nur die Form stilisiert, die Inhalte aber weiterhin der ästhetischen Empfindungswelt des Impressionismus entnommen.
Dieser "große Künstler der Epoche", George, ist noch harmlos dekorativ und verfeinert äußerliches Arrangement. Der spätere, der das Zentrum eines Kreises bildet und pädagogisch wirkt, ist in den Augen der Autoren schon durch die Propagierung eines Kunstideals und einer Kunstwelt als der wahren und erlösenden wieder regressiv und vor allem "reaktionären Ideenkomplexen" nahe.
Der gesamten "Stilkunst" machen Hamann/Hermand den Vorwurf, aus der Reaktion auf einen ästhetisierenden Impressionismus heraus den Weg zu einer monumentalisierenden Darstellungsweise nicht mehr in seiner ideologischen Bedeutung reflektiert und bestenfalls beendet zu haben: Man kann nicht umhin, "von einer geometrisierenden 'Stilkunst' zu sprechen, die sich in dialektischer Auseinandersetzung mit dem Impressionismus zu immer monumentaleren Ausdrucksformen entwickelte, ohne dabei ihre rein formale Ausgangsposition zu überwinden."
Sie betonen stark die nationalen, völkischen, lebensstarken und männlichen Schriften, deren Ursprünge sie ab 1900 finden. "Das 3.Reich" von Johannes Schlaf gehört dazu (1900) und Heinrich Pudor (Neues Leben, 1902), aber auch bei George finden sie Frühformen dieser Strömung.
"Um 1900" heißt bei Hamann/Hermand immer: völkisches ab 1900. Und doch liefern sie die prägnanteste Bezeichnung der Kunst, deren Vertreter George ist: Stilisierter Impressionismus heißt es bei ihnen. Mit ihrer Betonung der Reaktion auf diese Epoche lassen sie zwar deutlich werden, welche Folgen aus den Ideen der Ästheten erwachsen sind, nur können sie sie als neuartige und innovative Entwicklung nicht mehr würdigen. Ihr Blick ist geschichtlich-moralisch und nicht künstlerisch-phänomenologisch.
d) Jugendstilliteratur
Der Rede von der Jugendstilliteratur liegt die Idee zugrunde, daß es Bemühungen um eine "Kulturelle Einheit" und "einheitlichen Stil für die Epoche" gibt. Der Begriff bemüht sich um eine Beschreibung eines gesamtgesellschaftliche Komplexes, den Künstler zum Ausdruck bringen. Walter versteht ihn als "Umfassender Begriff, der, reduziert, alles beinhaltet, nicht nur symbolischen Ästhetizismus, der nur Kunst und Künstler thematisiert".
Übertragen aus der bildenden Kunst, werden mit ihm ähnliche Merkmale assoziiert. Die Worte werden Rankenwerk und Ornament, die das Eigentliche aussparen. Das braucht das assoziative Zutun des Lesers, was auch Ausdruck von Exklusivität ist. Diese Kunst schafft Distanz zur Realität des Alltags, die Stilisierung soll die eigene Betroffenheit und Unsicherheit verdecken.
Es entsteht eine partikulare Welt, ein Refugium vor ungewissen Alltagsgeschehen. Die Kunst und die Ästhetik sind die Werte des Lebens. Es ist eine in die Ästhetik verlagerte Utopie.
Ziel des Jugendstils ist "ein Volk von Künstlern und Genießern, die Vision eines total ästhetisierten und werthaften Lebens, ein Schlaraffenland der Künstler." Als "utopischer Raum" fungiert das eigene Atelier, dort kann der Wunsch nach einem Refugium realisiert werden.
Koppen nennt für den literarischen Begriff kennzeichnende Stilelemente mit Stichwörtern: Linearität, ornamentale Kunstgewerblichkeit, Vignette und florale Verschlingung. Er bestreitet nicht, daß sich die "Décadence-Literatur" (Koppen) dieser Mittel bedient, doch sieht er in ihnen kein konstituierendes Element an.
Jugend-Stil ist mit seinen fleuralen Natur-Symbolen ein Ausdruck für die ersehnte Kunst-Welt der alltagsfernen Reinheit. Außerdem beinhaltet er schon im Begriff zwei wichtige Nietzsche-Themen: Das Dionysische findet sich in der Jugend und das Appolinische im Stil.
Insgesamt ist die Rede von der Jugendstilliteratur sehr umstritten und wird offensichtlich eher in vereinheitlichenden Beschreibungen aller Phänomene der Jahrzehnte verwandt als in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen.
e) Ästhetizismus
Von Ästhetizismus sprechen die hier rezipierten Autoren nur im Rahmen ihrer Begrifflichkeit als Stilmerkmal. Als Epochenbezeichnung hat er in dieser Literatur keine Bedeutung erlangt, obwohl Ästhetizismus vielleicht der die Denkweise der Zeit am weitesten umfaßende Begriff wäre. Er würde dann aber einen weiteren Zeitraum umfassen als "Um die Jahrhundertwende", wie es hier geschieht. Zu untersuchen wäre, inwieweit die vorangestellten Epochenbezeichnungen Teil einer ästhetizistischen Periode sind, welche besondere Merkmale wie Décadence oder Untergangsstimmung aufweist.
Wuthenow bemüht sich am einigen Stellen um einen geweiteten Blick, der über die punktuelle Betonung eines der Merkmale hinausgeht. Er schreibt: "Die Entsakralisierung des poetischen Subjekts, die Demaskierung des künstlerischen Genies, die Reinigung der Kunst von allen religiösen, moralischen, weltanschaulichen und sozialen Elementen, die neue Präzision und Sachlichkeit, die Einbeziehung des bis dahin ausgegrenzten sog. Häßlichen, die Opposition gegen eine immer mehr ökonomisch bestimmte Gesellschaft, das sind Momente der ästhetizistischen Revolte in der Vor- und Frühzeit der europäischen Moderne." In dieser Definition bleibt es allerdings fraglich, ob sie auf die Jahrhundertwendenliteratur Anwendung finden kann, da sakralisierende Tendenzen und überladene Sprache immer wieder als Kernmerkmale genannt werden und zusätzlich die übertriebene Innerlichkeit, die überreizten Nerven und die Untergangsahnungen brücksichtigt werden müßten.
Peter Bürger, der mit dem Begriff des "Ästhetizismus" arbeitet, beschreibt die Position des Subjekts innerhalb dieser Strömung. "Die Ästhetizisten haben das tätige Subjekt, aber dessen Tätigkeit bleibt eine rein ideelle Sinnsetzung, die die Außenwelt unverändert läßt."
Die Differenzen zwischen Ästhetizismus und Décadence erwähnt Arnold Hauser wenn er schreibt, daß ersteres Aspekte wie "Kulturuntergangs- und Krisenstimmung" nicht beinhaltet, die Kernthemen der Décadence waren.
Bei Rasch ist das Ästhetizistische nur ein Motiv der Décadenceliteratur. Er versteht den Begriff unter Bezugnahme auf Schopenhauer als "durch Ausschaltung des Willens mögliche Verhalten reiner, passiver Kontemplation". Die Wirklichkeit wird "ästhetisiert und das bedeutet: neutralisiert", entscheidend ist für Rasch "der Mangel an menschlichem Anteil".
VI. Stefan George
a) Überblick über Leben und Werk
Stefan George wurde als drittes Kind am 12.Juli 1868 in Büdesheim am Mittelrhein geboren. Unbeugsam, herablassend, reserviert - mit diesen Adjektiven versucht David den Charakter George zu erfassen. In Liebesdingen war ihm Glück lange nicht vergönnt: Seine erste Liebe entpuppte sich als Chimäre, er wandte sich enttäuscht von ihr ab und verabscheute sie, um sie einige Jahre später wieder in Gedichten zu verehren. Insgesamt verlebte George eine keusche Jugendzeit.
Sowohl dieses als auch die Abgeschiedenheit seines Lebens hat einen Ursprung in seiner mutmaßlichen Homosexualität. Um sich vor Anfeindungen zu schützen, mußte er abgeschieden leben, so daß dies auch ein mögliches Motiv für das Ausweichen auf die Kunst als künstliche Welt abgibt. (Sein Verhältnis zu Hofmannsthal war wahrscheinlich ebenfalls durch die Homosexualität belastet.)
Die Vorfahren Georges väterlicherseits kamen aus dem deutschsprachigen Lothringen, sein Urgroßonkel war 1813 an den Rhein umgesiedelt und hatte einige Verwandte nachkommen lassen. George unterstrich seine keltische Herkunft gerne und ließ sich noch lange auf französische Art George nennen. Sein Vater war Gastwirt und Weinhändler. Um seinen Lebensstil zu finanzieren brauchte der Dichter Mäzene, die ihm die vollkommene Innerlichkeit erst ermöglichten.
Seinen späteren Gedichten entsprechend werden von ihm "sehr feine, blutleere, sehr ausdrucksvolle Hände" berichtet, aber auch mundartliche Aussprache, einen hessischen Dialekt und handwerkliches Geschick. David vermutet von George, daß er nie eine andere Absicht verfolgt habe, als dichterisch tätig zu sein. Der prägende Kampf der Jugendjahre war der der Ablösung vom Katholizismus, mit dem er noch 1889 rang.
Zwischen Oktober 1889 und März 1891 studiert George an der Universität in Berlin. Seine Werke verteilte er bis 1898 nur an Freunde, erst danach gab er sie einer breiteren Öffentlichkeit zu lesen. Den wirklichen Einschnitt in Georges künstlerischer Entiwicklung findet David ab 1900: Bis dato hatten seine Gedichte gemeinsam, "daß ihr einziges Thema die Dichtung selbst war und ihre einzige Gestalt der Dichter". Es war Dichtung für die Welt der Kunst und wird mehr und mehr gestalterisch in Bezug auf das Leben selbst. Mit der Jahrhundertwende teilen sich die beiden Schaffensperioden Georges, deren erste im Folgenden näher beleuchtet werden wird.
Georges eigentliches Werk beginnt 1890 mit den Hymnen, zuvor hatte er einige Jugendgedichte verfaßt, die er erst nach der Jahrhundertwende veröffentlichen läßt, erst, als er sich seiner Position schon sicher ist. In den Hymnen lassen sich die Erlebnisse Georges sehr genau nachzeichnen, Aufenthalte in Dänemark (Strand) oder in Paris (Nachmittag) schlagen sich nieder. Und doch erzählt die Dichtung nicht, die Ereignisse sind nur der Anstoß, "Das Gedicht ist nur ein Bild, eine Augenblicksimpression". Auch Gefühle werden nur aus Abstand betrachtet; es sollen niemals malerische oder einzigartige Momente festgehalten werden. Diese dienen nur als Vorwand oder Anregung.
Begegnungen werden mit höchster Distanz zu sich selbst und der Person beschrieben, sie sind wie frei im Raum schwebend. Wenn George sich des Vokabulars von Malern bedient, drängt sich der Eindruck auf, daß ihm die Welt als ein großes Bild erscheint, das ihn immer aufs neue anregt.
Die Hymnen sind eine Dichtung der Abgeschiedenheit, ihre Themen sind Trennung und Abstand, Abreise, flüchtige Begegnung. Die Wirklichkeit wird durch eine Phantasiewelt ersetzt, die dem Dichter als Zufluchtsort dient. Diese künstliche Welt der Kunst läßt sich nach Georges Vorstellungen nur durch Einsamkeit erreichen. David: "George hat sich für die mönchische Zurückgezogenheit entschieden".
Der Beurteilung Davids folgend, drückt George seine imaginierte Welt in konventionellen Symbolen aus. Sein gekünstelter Stil und die fast menschliche Züge annehmende Natur lassen das Leben wie erstarrt scheinen. "Das Denken ersetzt die sinnliche Wahrnehmung", ganz so, wie es die Helden der dekadenten Romane bei Bahr oder Huysmans zunächst erlebt und dann erlitten haben. Parallel dazu verändert George auch seine Sprache, er schafft immer mehr Neologismen (viele aus dem Lateinischen), um "unbefleckte Wörter" zu haben - das Neue soll offensichtlich und spürber sein.
Mit den stilisierenden Komponenten erregte George besonders Anstoß: "einen exklusiven Stilisierungswillen, der jeder Bezogenheit zum Alltäglichen aus dem Wege geht" und "betonte Arroganz" schreiben Hermann/Hamand ihm zu. George will sich um rein künstlerisch Probleme kümmern und nicht sozialen Fragen annehmen.
Hermann/Hamand sehen bei George die Bemühung, das Wort vollständig aus seiner alltäglichen Kommunikationsumgebung herauszureißen, um es zum künstlerischen Werkzeug zu machen. Der Sprache wird die Realität entzogen, Ziel ist die Wortkunst. Diese bedarf eigener, sie absetzender Typographien, einer Sprache, "deren Schreibweise und Interpunktion sich eigentlich nur mit den von Lechter entworfenen Drucktypen wiedergeben läßt". Zusätzlich bedurfte sie Neologismen. Beispielhaft führen die Autoren einige Wortkreationen an: "verdorrtes Laub" wird zu "dorrenden laubes geknister", "heller Saal" zu "saal der blassen helle", es gibt das "sprocke holz" oder den "saal des gelben gleißes". Im "Rosenfest" des "Algabal" finden sie sogar ein Klanggedicht Georges, in denen nicht Blumen, sondern Klangphänomene mit Hilfe der Worte vermittelt werden. Einige Verse lassen sich "nur noch symphonisch verstehen", in einem A-E-I-Dreiklang, der "an den Flockentanz aufgewirbelter Konfettischnitzel mancher Neoimpressionistisches Bilder erinnert". als Beispiel führen sie das Gedicht "Vogelschau" an. Sie nennen seine Dichtung "sinnlich bestrickend und zugleich eminent dekorativ", gerade wenn sich keine Spur mehr von wiedererkennbar menschlichem oder natürlichem findet.
Die Kunst der Hymnen ist immer zweckfrei und rühmt sich ihrer Sterilität, wobei die hochtrabenden Worte der Bedeutungslosigkeit des Dargestellten unangemessen scheinen. Doch genügt sich in den Gedichten die Sprache selbst. Die Kunst wendet sich vom Leben ab, will nur rein und geheiligt für neue Dichtungen sein; um neue Dichter, nicht neue Helden hervorzubringen.
David interpretiert die Hymnen als Suche des Dichters nach seinem eigenen Stil und der Bestätigung seiner Profession. Sprachlich sind sie Übergang und Übung. "Er hat nur einen einzigen Wunsch: daß ihm schöne Verse gelingen möchten".
"Die Weitschweifigkeit ersetzt er durch äußerste Kürze im Ausdruck, den Pathos durch Genauigkeit."
Äußerlich erscheinen die Hymnen bei ihrer Veröffentlichung mit den gleichen Besonderheiten, wie alle seine anderen Veröffentlichungen. Ein besonderer Zeichensatz, fehlende Interpunktion und vereinfachte Grammatik sind zu erkennen. Die Schrift mit verkürzten Buchstaben, reduzierter Schreibweise und einem hochgesetzten Punkt, der alle Satzzeichen ersetzt, sollte den Lesefluß hemmem. Es sollte größere Konzentration vonnöten sein, seine Gedichte zu lesen. Es sollte keine leichte Dichtung entstehen, sondern sie sollte anstrengend sein, um ihr zu neuer Größe zu verhelfen: "anspruchsvoll und schwer zugänglich" war damit auch das Äußere. Hinsichtlich der Grammatik nahm er Vereinfachungen vor. (Zum Beispiel wird aus wohl wol.)
Ein Hingang
Die grauen buchen sich die hände reichen
Den strand entlang . vom wellendrang beleckt
Dem gelben saatfeld grüne wiesen weichen.
Das Landhaus unter gärten sich verdeckt.
Den jungen dulder vor der windenlaube
Woltätig milde strahlenhand bestreift.
An neues lied noch dämmert ihm ein glaube.
Sein blick ins blaue grenzenlose schweift
Wo schiffe gleiten mit erhobnen schilden.
Wo andre schlafen wehrlos. froh der bucht.
Und weit wo wolken lichte berge bilden
Er seiner wünsche wunderlande sucht..
Der lieben auge starr in tränen schaut:
Schon nahm er scheu das göttliche geschenk
Von leiser trennungswehmut nur betaut.
Der klage bar. des ruhmes ungedenk.
(Hymnen)
Die Pilgerfahrten von 1891 (veröffentlicht 1898) enstehen praktisch in Spanien, Frankreich und Italien, wo er sich häufig aufhält. Er denkt sogar über Exil in Mexiko nach und ist in Versuchung, das Dichten aufzugeben, so groß ist seine Einsamkeit. Aus seinen Gedichten spricht dementsprechend der Wunsch nach Gefährten - nicht nach Jüngern - die mit ihm die neue Dichtung begründen.
Die Kunst entwickelt sich in Georges Darstellungen zu einer Art Religion, deren Heiliger der Künstler ist. Und George folgt ihr mit der ihm eigenen Entschiedenheit:
"Es ist keine Frage, daß jedes geistige Leben eine Entscheidung bedeutet; jedes Werk verlangt persönliche 'Weihe'. George aber führt diese Askese bis zum äußersten. Zunächst dient er seinem Ideal mit einem Fanatismus, der sogar den nachsichtigen Hofmannsthal bald mit Schrecken erfüllen sollte. Er lehnt Kompromisse ab, legt keinen Wert darauf, ein Publikum zu gewinnen, ignoriert die literarische Bewegungen und Zirkel, verachtet die Zeitschriften und beschließt, sein eigener Verleger zu werden."
Das Wissen über die Figur Heliogabalus (um 220) bezog George aus den Arbeiten Mommsens, doch läßt er sich nicht auf deren mythischen Aspekte ein. Selbst die Legendenbildung um den frühen Tod des syrischen Kaisers, er starb mit 18, nach vier Jahren Herrschaft, regte ihn nicht an. Er konzentrierte sich das Bild eines Mannes, in orientalische Seide und mit Edelsteinen übersäte Gewänder gehüllt.
Algabal baut sich unter Wasser ein einsames Reich. Er zieht sich dorthin zurück und übt nur auf diesem Gebiet seine Macht aus. Er verachtet die Menschen bis zum äußersten und trauert wegen einer kurzen unglücklichen Liebe. Diesen Gesamtzustand will er unbedingt erhalten "weil er anfangs vom Leben zu viel erwartete, zerstört er es später mit Leidenschaft" Er selber hat alle menschlichen Regungen in sich abgetötet, er ist in der Entsagung bis an die Grenze gegangen und beginnt sich selbst zu verachten. Algabal gibt sich Orgien hin, verübt Mord und begeht Sakrilegien. Dies befriedigt ihn alles nicht, er wird in seiner Ohnmacht immer barbarischer seinen Untertanen gegenüber. David: "Die deutsche Literatur bietet kein eindeutigeres Beispiel für das, was man Ästhetizismus nennt"
Becher am boden.
Lose geschmeide.
Frauen dirnen
Schlanke schenken
Müde sich senken.
Ledig die lende
Busen und hüfte.
Um die stirnen
Der kränze rest
Schläfernder broden
Traufender düfte.
Weinkönig scheide!
Aller ende
Ende das fest!
Rosen regnen
Purpurne satte
Die liebkosen?
Weisse matte
Euch zu laben?
Malvenrote.
Gelbe toto
Manen-küsse
Euch zu segnen.
Auf die schleusen
Und aus reusen
Regnen rosen.
Güsse flüsse
Die begraben.
(Algabal)
Die Drei B ü cher von 1895 fallen in die Phase der Beklemmung, die mit der Fertigstellung des Algabals 1892 begann. Die Themen sind jetzt Melancholie, Sammlung und Hoffnungslosigkeit. Ansonsten enthält das Buch kein Bekenntnis, es betrachtet eine Seele lediglich mehrere Spiegelungen ihrer selbst. Die Gedichte bewegen sich an der Oberfläche und haben Naivität und Heiterkeit im Ton. David beurteilt sie als zu berechnet und damit unentschlüsselbar. Er bezeichnet sie als "geistige Maskarade, die nicht bekennen will".
Das Jahr der Seele ist das letzte Werk, das man deutlich der l'art pour l'art-Phase Georges zurechnen kann. Mit ihm schließt George die depressive Zeit ab, richtet sich aber noch einmal ganz auf die Vergangenheit. Es ist eine sehr persönliche Lyrik, eine Dichtung des Herzens, die dem Anlaß des Gedichtes Rechnung trägt. Es ist eine beherrschte Kunst, eine Kunst des Einsamen, der zu einsamer Lektüre auffordert. George ist in den Gedichten leidenschaftlich auf der Suche nach seinem Ich, beobachtet seine eigene Entwicklung und schreibt daher ein letztes Mal nur für sich.
Entstanden sind sie zwischen 1892 und der Veröffentlichung 1897.
b) der George-Kreis
Der Gedanke, einen Kreis zu gründen, dessen Zentrum George sein sollte, kam ihm selbst mit Beginn der oben beschriebenen neuen Schaffensphase, also ab 1899, zur Zeit des Teppich des Lebens. Bis dato hatte er Kunst um der Kunst willen betrieben, in seinen Werken wurde immer wieder deutlich, es "verharrt die Literatur in ihrer Distanz nicht nur zum Leben der Gesellschaft, sondern zum Leben schlechthin". Jetzt wurde diese Distanz langsam aufgebrochen, es sollten neue Dichter herangezogen werden, die nicht nur der Kunst, sondern - dies erst später - dem Leben zu neuer Größe verhelfen sollen.
In der fünften Folge der Blätter für die Kunst findet sich weiterhin die Vorstellung, daß sich eine Gemeinschaft bilden wird, für die die Kunst und die Forderungen des Geistes höchste Werte sind. Gleichzeitig läßt sich der Versuch beobachten, eine Nationalliteratur zu definieren und einen eigenen deutschen Stil hervorzurufen, ohne aber Anspruch auf politische Betätigung zu erheben. Dazu paßt die Formulierung Davids: "Ein wahrer deutscher Stil ist soviel wert wie zehn eroberte Provinzen"
Dahinter steht der Gedanke, daß die neue Literatur nur aus einer Gemeinschaft heraus geboren werden kann. Gegliedert soll sie sein, mit Stefan George als dem hervorgehobenen Mittelpunkt, um den sich hierarchisch konzentrisch Kreise anlagern. Es ist aber nicht nur Treffpunkt, sondern "er wird zu einer Schule, zur Wiege eines neuen Stils". Eine freie Schriftstellervereinigung will zu einer bündisch organisierten pädagogischen Provinz werden.
Insgesamt sieht es Kluncker als gerechtfertigt an, den George-Kreis als eine Dichterschule anzusehen, deren Mitglieder sich durch die Übernahme einheitlicher stilistischer wie inhaltlicher Elemente den Vorstellungen Georges anschlossen. Der Kreis sollte letztendlich auch die Mittlerfunktion zwischen dem Dichter und der Gesellschaft übernehmen, um der Ausbildung neuer Konventionen Vorschub zu leisten. Denn: "George suchte sich zum Protagonisten der 'neuen Kunst' zu machen". Wie Kluncker abschließend bemerkt, hat der Kreis die Mittlerfunktion "allenfalls im ideologischen und weltanschaulichen Bereich erfüllt", doch gingen von ihm "wenig literarhistorisch bedeutsame Einflüsse aus".
Dazu der Dichter nach der siebten Folge der Blätter: "wol hat sich der kleine kreis einer geistigen und künstlerischen gesellschaft erweitert die sich verbunden fühlt durch ein besonderes lebensgefühl. doch liegt uns der gedanke einer verbreitung der kunst in die massen noch ebenso fern wie vorher"
Günter Heintz sieht es zwar ähnlich, daß außerhalb des George-Kreises die dichtungsgeschichtliche Bedeutung Georges zu vernachlässigen ist, schreibt aber, daß die "Entwicklung nachmaliger deutscher Poesie durch ihn als eine conditio sine qua non hindurchlaufen mußte und hindurchlief". Dies weist er in den Anfängen von Oskar Loerkes und Gottfried Benn nach, aber auch in der Beeinflussung von Rilke und Walter Benjamin.
c) Blätter für die Kunst
"Der Name dieser veröffentlichung sagt schon zum teil was sie sein soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheiden.
Sie will die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen fühlweise und mache - eine kunst für die kunst - und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang."
1892 konnte George einige befreundete gleichaltrige Dichter für das Projekt einer eigenen Zeitschrift gewinnen. 200 Exemplare hatte die erste Auflage der "Blätter für die Kunst", der Schlußband schon über 2000. Dieser erschien 1919.
Kluncker macht deutlich, daß die Zeitschrift "nicht so sehr an eine rezeptive Leserschaft, denn an potentielle Beiträger" gerichtet war. Die Herausgeber selber formulierten es so, daß es eine nicht öffentliche Publikation für "einen geschlossenen von den mitgliedern geladenen leserkreis" sei.
Es kamen ausgesprochen viele junge Dichter zu Wort, die teilweise ihr Debut feiern konnten. Dies hatte seine Gründe in der Auffassung Georges, die Jugendphase könne "gipfel und vollendung" eines Lebens und nicht nur die Vorstufe zu einer kommenden größeren Reife sein. Die Teilnehmer der Blätter durften außerdem kein literarisches Vorleben haben, sie durften noch in keiner anderen Zeitschrift veröffentlicht haben, um sie nicht mit fremden Gruppierungen in Verbindung bringen zu können. Auch sollten sie später möglichst nur bei George weiterveröffentlichen, wenigstens die Lyrik exklusiv den Blättern vorbehalten, um ein von der verpönten Tagesschreiberei abzuhebenden Niveau festhalten zu können. Inhaltlich liefen die Blätter mit dem Werden Georges oft nicht parallel, sie ließen sehr viel früher den Wunsch nach einer bündischen Organisation zur Begründung eines neuen deutschen Stils durchscheinen und äußerten sich pro-national.
In der Einleitung zu den Blättern für die Kunst heißt es programmatisch: "Einfach liegt was wir teils erstreben teils verewigten: eine kunst frei von jedem dienst: über dem leben nachdem sie das leben durchdrungen hat" und bis zur Jahrhundertwende sind die Autoren dieser Maxime weitgehend treu geblieben.
Kluncker weist auf die Wiedersprüche hin, die es zwischen Konzept und Wirklichkeit bei der Arbeit in den Blättern gab. So führt er an, daß zwar jede gesellschaftliche Relevanz der Dichtung abgelehnt wurde, wenn sie denn aber eintraf, wurde sie selbstverständlich hingenommen. Außerdem wurde Literaturkritik wahrgenommen und auf negative Rezensionen mit üblicher Schärfe reagiert.
d) zentrale Thesen zu George
Form und Inhalt
Wuthenow bietet eine Erklärung für die Entwicklung von Thematik und Ausdruck der Dichtung der Jahrhundertwende an, die den frühen George in vielerlei Hinsicht abbildet: "... so daß die Kunst als 'Lüge' zum Gedicht, der ennui und der Verzweiflung in einer verfinsterten, entleerten Welt zum Gegenstand wird, ohne daß noch einmal Trost und Rettung verhießen würden." Das bedeutet aber auch, daß Abschied genommen wird von der Innerlichkeitsdichtung und statt dessen Themen, Beschreibungen eines Phänomens im Mittelpunkt der Arbeit stehen. "Der Dichter spricht nicht von seinen Gefühlen, sondern von den fiktiven des Hörers oder des Lesers".
Wie kann er mit dieser neuen Aufgabe, mit diesen unmenschlichen Themen seine verlorengegangene Identität wiedererlangen? Wuthenow: "Einzig in der Form, die er hervorbringt, scheint er noch als ein Subjekt faßbar zu sein, in seiner Perspektive, seiner Handschrift ...". Deshalb ist für Wuthenow die Literatur der Jahrhundertwende (die des Ästhetizismus würde er sagen) eine "Manifestation der 'Künstlichkeit'", also die Rückkehr zu einem handwerklich und an der Form perfektionierenden Künstlers, der alles Schöne nicht mehr aus der Natur, sondern aus seinem planenden und berechnenden Geist bezieht, der "entschlossene Stilwille" ist entscheidend.
Es geht George, nach der These Ruprechts, nicht um eine Abbildung der Wirklichkeit, sondern um Ausdrucksfindung aus der neuen Haltung heraus. Die neuen Empfindungen, die des dekadenten ästhetisierten Lebens am Ende des Jahrhunderts, sollen auch in der Einheit von Inhalt und Form zum tragen kommen. Ruprecht: "Er (...) fordert darüber hinaus die strenge Form, die er nicht als äußere Gestalt, sondern als Wesen und Inbegriff der Dichtung versteht."
Wenn Musil ein wichtiges Element der dekadenten Phase in seinen Werken benutzt, die Innerlichkeit, die sich in der psychologischen Beobachtungs- und Erklärungsweise wiederfindet, dann tut er dies innerhalb der naturalistischen Tradition der Wirklichkeitsbeschreibung. George bezeichnet all dies als "berichterstatterei" und bemüht sich nicht um eine genaue Erläuterung des Décadencephänomens mit psychologischen Vermittlungshilfen, sondern um die "Transposition des Gegenständlichen auf die Ebene des Symbols". Die als wahr empfundene Vergänglichkeit und Leere (Décadence) wird über Wort und Form symbolisiert und einem gleich-empfindenden Leserkreis zugänglich gemacht. Er gestaltet "unmittelbar im Wort, in der Sprache die 'geistige Welt'"
"Aller Inhalt ist das bloße Mittel, um rein ästhetische Werte zu bilden", sagte Georg Simmel über den frühen George.
Antrieb
Farkas beschreibt den Antrieb der Literaten der Zeit mit der Entgegensetzung von Kunst und Leben. "Einerseits Auflösung der gestalterischen Kräfte in der Kunst, andererseits [...] Sinnverlust des menschlichen Daseins", in diesem Leerraum befand sich auch ein Stefan George zu Beginn seiner Entwicklung, in der Erfahrung eines sich auflösenden Wertesystems.
Auf Stefan George trifft ganz besonders zu, was Ralph-Rainer-Wuthenow in seinem Aufsatz Der Europ ä ische Ä sthetizismus zum Aspekt des Dichters als Subjekt um 1900 schreibt: Der Dichter sei "entpoesiert (...) gleichsam subjektlos" geworden und "in allem gegenwärtig, allem gleich nah (...), ohne ihm anteilnehmend vertraut zu werden."
Hier findet sich eine Grundthese Wuthenows wieder. "Entpoetisiert" meint, daß der Dichter nicht mehr der Emotionen nach außen tragende Genialist ist, er schreibt keine Erlebnis- und Empfindungsdichtung mehr. Der Grund dafür findet sich in der nicht mehr zu differenzierenden Nähe zu Dingen, in dem Fehlen von gültigen Normen allgemein. Die simple Frage nach der Schönheit eines Dings wird außerdem fast unmöglich zu beantworten, da ein von Valéry konstatierter "allzu aufgeklärte[r] Eifer" immer mehr Wissen angehäuft hat und Dinge derartig hinterfragen läßt, daß sie zersetzt werden und deshalb schön nicht mehr sein können - das Leben wird sinnlich unerfahrbar, nur noch gedanklich erforscht. Da dem Dichter die Bewertung der auf ihn einstürmenden Eindrücke unmöglich gemacht worden ist, ihm demnach sein Arbeitsfeld, die geordnete Abbildung der empfundenen Welt, genommen ist, ist der Dichter "subjektlos" geworden. Wuthenow: "Die Welt [...] erscheint in solcher Entwicklung als entheiligt, entgöttert, schließlich sogar dem Untergange preisgegeben, so daß sich [...] damit der Verlust der bisherigen Kunstwelt und der bis dahin noch gültigen Horizonte ankündigt." In dem bisherigen Verständnis positive Themen können nicht mehr Gegenstand einer Lyrik sein, deren Autor erfaßt hat, daß die Welt, so wie sie bisher auf unzähligen Seiten beschworen wurde, mit Liebe, Schmerz, schönen Eindrücken und handfester Kritik, nicht mehr existiert. Solche Werke würden lächerlich wirken, angesichts der abhanden gekommenen allgemeinen Lebens-Basis.
Die Sprache wirkt dadurch immer gekünstelter, wenn die hochtrabenden Worte auf die gewollte Bedeutungslosigkeit des Dargestellten treffen. David zu den Hymnen: "Es gibt in ihnen so etwas wie einen Exzeß im Sprachlichen, eine für sie charakteristische Mischung von Feierlichkeit im Ton und Leichtigkeit in den Themen."
Exklusivität
Die Dichtung des frühen George verachtet die Teilnahme der Masse an der Kunst und findet deshalb ihren Ausdruck in Gedichten, die nur wenigen zugänglich gemacht wurden. Auf soziale Wirksamkeit kam es dieser Lyrik wenig an.
Im Vergleich zum Impressionismus wird "weniger das Genießerische als das Exklusive und Artistische" betont. Die beschriebenen Eindrücke waren dadurch weniger ein Spiegelbild denn ein "neoimpressionistisches 'Gebilde'", das bewußt künstlich gehalten war. Wenn derart stark auf die "kunsttötenden Beimischungen der Wirklichkeit" verzichtet wurde, wurde die Lyrik zur reinen Äußerlichkeit, unter der die Inhalte nur für Eingeweihte verborgen sind oder bis zur Bedeutungslosigkeit verschwinden: "durch diese Stilisierungstendenz sank das Thematische oft zu völliger Bedeutungslosigkeit herab oder wurde so verrätselt, daß man es nur noch als metaphorisches Substrat erfassen kann."
In der zweiten Folge der Blätter für die Kunst spricht George explizit aus, daß jedem Werk eine tiefere Meinung zugrunde liegt, die sich über die Symbole entschlüsseln läßt: "Sinnbildliches sehen ist die natürliche folge geistiger reife und tiefe" heißt es dort. Hier findet sich der Gedanke belegt, daß nur eingeweihte und gebildete Menschen die Lyrik Georges und seiner Gefolgschaft wirklich verstehen können und sie auch nur für diese gebildete Künstlerschicht geschrieben wurde.
Den Grund für diese Distanz, für die soziale Beziehungslosigkeit, den Rückzug aus der Öffentlichkeit, läßt sich zum kleinen Teil darin finden, daß der Lyrikband als kulturelles Luxusgut angesehen wurde, mit dem sich Adel und Großbourgeoisie schmückten. Indem sie als Mäzene auftraten und Künstler unterstützen, lag ihnen die Besonderheit der Arbeit ihrer Schützlinge und ihrer Werke am Herzen. Wenn sie auch nicht direkt Einfluß nahmen, so ermöglichten sie erst das zurückgezogene, dekadente Leben.
L'art pour l'art
Den Ausgangsanspruch faßt David wie folgt zusammen:
"Kunst ist weniger Nachahmung der Natur als Darstellung des Seelenlebens. Es handelt sich weniger darum, die Wirklichkeit zu reproduzieren als sie zu 'verdichten' und zu 'steigern'. Natur und Leben bedeuten nur Knechtschaft und Zwang, die Kunst wird dagegen als Schöpfung und Befreiung definiert."
Die Dichtung als die imaginierte Zufluchtswelt wird bei George früh thematisiert. In den Hymnen werden Traumstädte und Elfenreigen aufgebaut, die "eher sinnlicher Orient als griechische Klarheit" sind. Diese Welt verlangt Askese und Verzicht, so daß der Dichter zu der Entscheidung zwischen Leben und Poesie genötigt wird - letztere wird dann einziger Lebenszweck und Sinn und Ziel allen Handelns. Das machen die Hymnen immer wieder deutlich.
Zu George speziell merkt Wuthenow an, daß in seinen Gedichten deutlich wird, daß er Dinge nicht beschreibt, sondern über ihre Umschreibung in der Lyrik sein ästhetisches Wahrnehmen deutlich werden zu lassen und zu vermitteln sucht . Seine Wahrnehmungen sind nicht die der allgemeinen Aufnahme von Eindrücken, sondern werden "in Hinblick auf sein dichterisches Verfahren" erfahren, sie werden dem Diktat des Dichters unterworfen. Sie sind nicht mehr natürlich wiedergegeben, sondern Zutaten zu einem Ausdruckswerk, dessen Inhalt durch das Weltbild des Autors geprägt ist und zu dessen Form sie vor allem beitragen. Nach Wuthenow ist George "ein hervorragendes Beispiel [...] für die Art, wie ein moderner Dichter im (also neben dem) Leben steht."
Bei George findet sich demnach nichts Naturalistisches wieder, Gesellschaft soll nicht abgebildet werden, sondern "alles staatliche und gesellschaftliche" soll ausgeblendet bleiben. Ruprecht ist der Ansicht, daß George die "absolute Autonomie" des Kunstwerks anstrebt, indem das Ziel der neuen Bewegung wie folgt beschrieben wird: "Sie will die geistige kunst auf grund der neuen fühlweise und mache - eine kunst für die kunst". Sein Wirken richtet sich demnach nicht auf die Gesellschaft allgemein, sondern auf die Gesellschaft oder Welt der Kunst. In den Frühwerken Georges, wie den Hymnen rühmt sich George der Sterilität der Verse und verkündet immer wieder deren Zweckfreiheit. David nennt sie "eine herrlich eitel-nichtige 'Luxuskunst'"
Hermann/Hamand weisen in ihrer Stilkunst um 1900 die Auswirkungen nach. Daran, daß offensichtlich hinter den großen Worten keine neuartige Thematik stand, machen sie deutlich: Es sollte dadurch auf den rein ästhetischen Charakter der Kunst verwiesen werden: Die Kunst für die Kunst.
David versucht zu veranschaulichen, welche Schwierigkeiten mit der Einstellung, die Kunst nur um ihrer selbst zu betreiben erwuchsen.
"Sie suchen in der Geschichte, um sich selbst darzustellen, die unruhigen Epochen, in denen, da der Glaube und die Gesellschaftsstruktur zerstört waren und die Zukunft undurchdringlich blieb, nur noch die Hoffnungslosigkeit Platz hatte, die sich nun aber mit den Farben des Herbstes schmückte. Auf den Trümmern der Werte kann man nur noch seinem eigenen Sterben zusehen. Die Kunst, die nirgends 'engagiert' ist, findet auf schmerzliche Weise ihre Daseinsberechtigung in ihrer Nutzlosigkeit selbst. Die Kunst wird der einzige Stützpunkt sein, außer ihr bleiben keine Regel und keine Tugend bestehen, die nicht in Zweifel gezogen werden könnten." In diese Situation hineinbegeben haben sich Literaten wie George, weil sie sich selber im Widerspruch zur Gegenwart empfanden und nicht sahen, wie sie sich gegenseitig dienen könnten. Ihrem Verständnis nach konnte es eine Befruchtung in keine der beiden Richtungen geben. Das Reich der Befreiung (s.o.) wurde deshalb als die gute Seite des Daseins gepflegt.
Karlhans Kluncker, ein Schüler Georges in der zweiten Generation, der von seinem Lehrer sagt, daß "der Gesamtkomplex George zum vielleicht gewichtigsten und vielseitigsten Phänomen der Geistesgeschichte im ersten Drittel des Jahrhunderts" geworden ist und durch ihn den "großen Klassiker der Moderne" die Erneuerung der Dichtersprache nach 1900 zu verdanken ist. Die These einer frühen l'art pour l'art- Einstellung Georges lehnt er ab und betont den Wunsch des Dichters, schon früh eine "geistige Allianz" und eine "heilsame Diktatur über das deutsche Schrifttum" zu errichten.
VII. Zusammenfassende Schlußbetrachtung
"Auch wenn der Autor des Algabal und des Jahres der Seele nach 1897 nichts mehr geschrieben hätte, wäre ihm bereits ein Platz unter den großen Lyrikern sicher gewesen." Aus diesem Satz Claude Davids klingt eine Mischung aus Wehmut und Stolz hervor. Stolz, was der von ihm ohne Zweifel verehrte George alles bewegt hat, wie kontrovers seine Werke diskutiert werden und Wehmut, daß er seine einzigartige Leistung im Frühwerk durch aus heutiger Sicht rückschrittliche Stellungnahmen für eine nationale und völkische Dichtung begraben hat. David hat sich alle Mühe gegeben, die frühen Aufsätze zu reinigen und frisch poliert zu präsentieren. Er geht dabei schon übermäßig vorsichtig mit seinem Schützling um, redet alle Vorzeichen für das spätere Schaffen klein. Die frühe Periode läßt er ganz für sich alleine stehen, ganz unbefleckt. Und erst der Umschwung zeigt die andere Seite Georges, David begleitet ihn mit einem mit einem feinen Seufzer, gut hörbar für uns Leser.
Den Wandel beschreiben Hermann/Hamand auch, jedoch ohne die David eigene rührende Nähe zum Objekt der Diskussion. Ihre These von der Stilkunst stützend, betonen sie beim späten George überdeutlich seine Arbeit für einen deutschen Stil, einen, der alle Lebensbereiche umschließt. Dieser ist aber nicht verspielt-harmlos, wie es mit der Vokabel Jugendstil suggeriert würde, sondern er ist präfaschistoid. Den frühen George sezieren sie mit gleicher Akribie und kommen zu einem ebenso angemessenen Urteil: Er ist ein Vertreter des stilisierten Impressionismus. Damit haben sie mehrere Merkmale der Georgedichtung zu fassen bekommen, die andere unter den (Kategorisierungs-) Tisch fallen lassen. Die stilistischen Elemente betont keiner außer ihnen derart deutlich, die Künstlichkeit des Ausdrucks, die gesuchte Wortwahl, die Neologismen, die besondere Typographie - bei der Beschreibung der Entwicklung einer repressiven Stilkunst nur zu erwarten. Andere Autoren wie Fischer oder Koppen, die sich darum bemühen, die Literatur zwischen 1890 und 1900-1910 begrifflich zu fassen, wehren sich gegen die Ansicht, es habe stilistische Gemeinsamkeiten gegeben. Für sie sind es die veränderten Inhalte, die die Literatur (sie beziehen es eher auf die Prosa) im Vergleich zum Naturalismus abgrenzen, die Form blieb fast unverändert.
Die Debatte wird lebhaft geführt, wie die Literatur der Jahrhundertwende einzuschätzen und zu benennen ist, selbst über den Inhalt der verwendeten Begrifflichkeiten herrscht Uneinigkeit. Die Wissenschaftler zeigen ihre beiden Seiten am gleichen Thema. Fischer in der Begriffsunsicherheit hinsichtlich der Epochenbezeichnung und Hamann/Hermand in der politischen Ausrichtung ihrer Forschungen. Mahnende Worte im Westen wie im Osten. Hier gegen die unheilvollen Anlagen der nahenden Stilkunst und dort gegen das Individualistische der Literatur, gegen die Verantwortungslosigkeit des Künstlers einem Staat gegenüber.
"Die künstlerische Anlage wird auf diese Weise aus dem Bereich des Wahnsinns und des Verbrechens auf die Ebene der Neurasthenie verlagert ... Das Ergebnis dieser dekadenten Hinfälligkeit ist der Mythos vom 'kranken Künstler', mit dem man auch die fragwürdigsten Produkte zu legitimieren versucht. Kunst zu schaffen wird nicht als eine Aufgabe oder Verpflichtung empfunden, sondern als ein leidendes Tändeln, das nur auf den individuellen Genuß abgestimmt ist"
Das einzig Amüsante daran ist, daß heute allenthalben ganzen Bevölkerungsgruppen vorgehalten wird, sie würden nur an sich denken und zu wenig an die Gemeinschaft, wie immer sie sich nennt. Individueller Genuß ist selten erwünscht. "[Man] benutzt die Spekulation mit dem Tode als einen Vorwand, sich der Forderungen der Realität entziehen zu können" - es ist, als ob die Furcht der DDR-Genossen vor einer neuen Décadence aus jeder Silbe spricht.
War demnach sogar die zweckfreie Kunst, etwa das ästhetizistischste Werk des deutschsprachigen Raumes, der Algabal, politisch wirksam? Mehr vielleicht als George dies wünschte, ganz anders vor allem, wenn es denn verstanden wurde. Aber vielleicht war es gerade die Mehrdeutigkeit, die verschlüsselte Ausdrucksweise die George Machthabern suspekt erscheinen ließ.
Kurt Böttcher rechnet George einer bürgerlichen "Lyrik der 'reinen' Innerlichkeit" zu, wohingegen Hermann/Hamand dies gerade nicht als das markante Zeichen seiner Dichtung sehen. In ihren Augen steht er damit in der Tradition der Naturalisten, die "Inhalte werden weiterhin der ästhetischen Empfindungswelt des Impressionismus entnommen.", in der Ost-Ausgabe heißen sie auch "impressionistische Ästheten". Koppen, Fischer oder Wuthenow sehen diese Inhalte wie Begegnungen, Eindrücke oder Gefühle nur als Anlaß, als Stimulanz für den eigentlichen Ausdruck der Gedichte. Die Anlässe der Gedichte werden völlig unwichtig angesichts der überwältigenden Sprache, die das Erlebnis ganz kleinlich erscheinen läßt. Die Dichtung hat keine Funktion mehr, in dem Sinne, daß sie Leben verändern möchte. Wenn dies so ist, dann kann sie auch nicht übermitteln wollen, dann geschehen die Verfeinerungen nur um der Reime, um des Stils und um der Ausweitung des Möglichkeitsspielraumes in der Kunst willen.
Claude David rechnet George zu denen, die als erste versuchen, "der Dichtung Wert und Sinn zu verleihen" und dazu symbolistische Methoden in die deutsche Lyrik importieren. Scheinbar eine gänzlich andere Ansicht, doch es meint das gleiche: Der Dichtung wird Wert und Sinn verliehen, aber nur innerhalb ihres abgeschlossenen Lebensraums.
Und doch stand die Literatur der Zeit in engem Kontakt zu den Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie ist ein Ausdruck ihrer Zeit und nur über diesen Umweg zu verstehen. Sie ist nicht autonome Kunst aus der Richtung gesehen, daß sie keine Informationen aufnehme, sie ist nur insofern autonomistisch, als daß sie nicht wirken möchte.
Ohne Décadence und Endzeitstimmung ist auch George nicht denkbar, selbst wenn er das Fin-de-siècle-Gefühl nicht zu seinem Thema macht, es findet sich in seinem gesamten Thematiken wieder: Suche, Aufbruch, Abschied, Untergang. Sicher auch aus seiner ganz persönlichen Lage gespeist, durch seine Umgebung bestimmt begünstigt. Im Algabal kommt George der Décadence am nächsten, sie ist auf jeder Seite spürbar. Die Künstlichkeit steckt schon im Aufbau der Handlung, der Kaiser, der sich in sein abgeschlossenes Reich zurückzieht und seine Umgebung völlig kontrolliert. Eine Kunst der ganz Wenigen sollte es sein. Das ist bei George auf beiden Seiten ablesbar: Die auserlesenen Figuren über die er schreibt und, was eigentlich gemeint ist, der ganz besondere Stil, die besondere Metaphorik und die Wortwahl, die den Zugang zu seinen Gedichten zu einer anspruchsvollen Arbeit machen. Im Algabal bezieht er sich sogar auf klassische Décadence-Bilder: Der grausame Herrscher, sentimentlos wie ein lebensabgewandter Mensch nur sein kann, scheint seine Untertanen zu belohnen, indem er ihnen Rosen schenkt. Er schenkt in seinem Überfluß derart viele, daß sie darunter ersticken. Und er erschrickt nicht bei dem Anblick der Toten, er lacht. Hieraus läßt sich keine Programmatik ableiten. Das Dekadente war niemals wirklich Lösung, sondern immer Ausdruck seiner Zeit und Suche nach neuem Halt.
Es war nur ein Teilbereich in der deutschen Literatenszene, ein elitärer zudem, der quasi von oben wirkte, der überhaupt dieser Strömung zugerechnet werden kann. Es kommt überhaupt nur zu dem Versuch der Gleichsetzung, weil sie die folgenreichste und innovativste Strömung war. Zu vergessen sind nicht die "volkshaft-monumentale" und die werkbetont-sachliche Strömung bzw. Phase, wie sie Hoffacker oder Hermann/Hamand nennen. Insofern ist es richtig, daß Rasch betont, es könne nicht zu einer Bezeichnung wie klassische oder barocke Dichtung kommen. Es ist gerade ein Ausdruck der Zeit, daß es vielfältige Bemühungen gab, neue Wege zu gehen oder alte wiederzubeleben - die Suche nach dem Stil ist die Basis der Vielfalt.
Es ist eine in sich abgeschlossenen Epoche, die mit dem Teppich des Lebens oder inmitten der langen Schaffenspause nach der Jahrhundertwende endet. Dies ist der George, der Hamann/Hermand als stilisierten Impressionisten bezeichnen - nur einige Jahre später zeigt er ein anderes Gesicht. Ein Gesicht, das sich nur schwer in die Tradition der ästhetizistischen Literatur Deutschlands einordnen läßt. Hier folgt ein Schnitt, der George auch von der auf die als letzter Stützpunkt erfahrenen Kunst, die um ihrer selbst willen betrieben und gesteigert wird und die im Zeichen der Décadence steht, trennt.
Damit steht George am Wendepunkt zwischen den literarischen Strömungen, er ist einer, der in beiden Welten heimisch wurde. Er kann deshalb aber auch zum Endpunkt einer Betrachtung der literarischen Décadence herhalten, selbst wenn noch so große Literaten wie die Manns nach ihm wirkten, dekadente Themen aufgriffen und ein dekadentes Zeitalter ironisierend beschrieben, als deren Teil sie sich empfanden. Nach Stefan George beginnt trotz dem ein Neues: Das Völkische nimmt Raum ein und wird mit seinen nationalen Gedanken zur breiten Strömung des ausgehenden Wilhelminischen Reiches und der Weltkriegsziegszeit.
"Man ist es satt, immer nur Ausklang, Spätling zu sein. Der Wille regt sich, vorwärts zu zeigen, statt zurück, Anfang zu sein (...)."Ernst Stadler (1906). Zu diesem Zeitpunkt hat George schon seine Jünger um sich geschaart.
V. Literaturangaben
Primärliteratur
Stefan George, Gesamt-Ausgabe der Werke, endgültige Fassung, erschienen bei Georg Bondi Berlin o.J.: Band 2: Hymnen / Pilgerfahrten / Algabal. Band 3: Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte. Der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten ("Die drei Bücher"). Band 4: Das Jahr der Seele.
Georg Simmel, Das Individuum und die Freiheit, Berlin 1984
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, in: Das Hauptwerk Band 4, nymphenburger (Nach dem Text der Kröner-Ausgabe), München 1990
Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, Reclam 1992
Sekundärliteratur:
Christa Bürger: Naturalismus, Ästhetizismus. Frankfurt am Main 1979
Wolfdietrich Rasch: Die literarische Décadence um 1900. München 1986
Günter Heintz: Stefan George, Studien zu seiner künstlerischen Wirkung. Stuttgart 1986
Volkmar Hansen: Thomas Mann. Stuttgart 1984
Rudolf Walter: Nietzsche - Jugendstil - H.Mann, Zur geistigen Situation der Jahrhundertwende. München 1976
Dieter Kafitz: Décadence in Deutschland, Beiträge zur Erforschung der Romanliteratur um die Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1987
Karlhans Kluncker: Das geheime Deutschland, Über Stefan George und seinen Kreis. Bonn 1985
Michael Worbs: Nervenkunst, Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt 1983
Claude David: Stefan George, Sein dichterisches Werk. München 1967
Hans Joachim Piechotta: Die literarische Moderne in Europa Band 1. Opladen 1994
Jens Malte Fischer: Fin de siècle, Kommentar zu einer Epoche. München 1978
Hannes Böhringer: Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende, Georg Simmel. Frankfurt am Main, 1976
Metzler Literaturgeschichte. Stuttgart 1992
Peter Sprengler, Literatur im Kaiserreich, Studien zur Moderne. Berlin 1993
Richard Hamann/Jost Hermand: Impressionismus. Ost-Berlin 1960
Richard Hamann/Jost Hermand: Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart Band 4, Stilkunst um 1900. Darmstadt 1977
Reinhard Farkas: Hermann Bahr, Prophet der Moderne, Tagebücher 1888-1904, Wien 1987
Jost Hermand: Literarisches Leben im Kaiserreich 1871-1918. Stuttgart 1982
Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus, Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin, New York 1973
Jürgen Schutte/Peter Sprengler: Die Berliner Moderne 1885-1914. Stuttgart 1987
Erich Ruprecht/Dieter Baüsch: Jahrhundertwende, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890-1910. Stuttgart 1970/1981
Kurt Böttcher und H.J.Geerts, Jahrhundertende, Kurze Geschichte der deutschen Literatur, Volkseigener Verlag Berlin 1983.
Jens Malte Fischer: Décadence, in :Propyläen Geschichte der Literatur Band 5 (1830- 1914)
Hans-Peter Bayerdörfer, Karl-Otto Konrady und Helmut Schanze, Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter, Tübingen 1978
Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1953
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