Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Strukturelle Form
2.1 Aufbau und Struktur
2.2 Der Erzähler
2.3 Die Erzählwelt
3. Das Verhältnis zwischen Kunst und Leben
3.1 Stellung zur Gesellschaft
3.2 Das Selbstverständnis des Künstlers
3.3 Kunst und Exi stenz
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
Kafka selbst beschreibt sein Dasein als ein „schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt“1 2 3. Ein Gefühl, dass er wohl mit vielen Autoren geteilt haben mag. Die Reflexion über das Künstlertum beschäftigte verschiedenste Schriftsteller in der Moderne, wie etwa auch Thomas Mann, um nur ein Beispiel zu nennen, und schlägt sich auch in Kafkas Literatur nieder. Dabei häuft sich diese Thematik in vielen seiner Erzählungen und gerade seine späten Texte, wie auch Erstes Leid, widmen sich der Thematik Kunst. Fragen, wie jener nach der Rechtfertigung der künstlerischen Existenz und der Auseinandersetzung mit der Realität, dem Künstler und seiner Rolle in der Gesellschaft finden hier Raum. Daher stellt eine genauere Aufarbeitung dieser Thematik einen interessanten Untersuchungsgegenstand dar und soll Gegenstand dieser Arbeit sein. Die Erzählung Erstes Leid wird dafür gewählt, da aufgrund ihrer Länge eine detaillierte Analyse gewährleistet werden kann. Die explizite Fragestellung, welche für die hier vorliegende Ausarbeitung als Orientierung dient, lautet: „Wie wird das Verhältnis von Kunst und Leben in der Erzählung Erstes Leid dargestellt?“
Zunächst sei gesagt, dass die Gründe für die Häufung dieser Thematik in Kafkas Geschichten wohl verschiedenen Ursachen geschuldet sein mögen. So können einerseits die Tatsache, dass die Moderne eine Epoche der Umbrüche sowie des industriellen Aufschwungs war und andererseits Ereignisse in Kafkas Biographie als Ursache für die Fokussierung auf das Kunstproblem gesehen werden. Die Erzählungen aus dem Sammelband ein Hungerkünstler sind in einer für Kafka schwierigen Zeit anzusiedeln. Ein labiler Gesundheitszu- stand sowie eine knappe Lebensgrundlage machten ihm zu schaffen.
All seine biographischen Hintergründe aufzuzeigen, würde jedoch schlichtweg den Rahmen dieser Arbeit sprengen und den Fokus auf die geschlossene fiktive Welt nehmen. Bei Kafka scheinen Leben und Werk teils auf eine bestimmte Art und Weise zu verschmelzen.4 Daher erfolgt für die hier vorliegende Thematik des Konfliktes zwischen Kunst und Leben eine Konzentration auf eine thematische und ästhetische Dimension und damit auf den Text. Zwar werden an einigen Stellen ebenfalls den historischen Kontext betreffende Aus- sagen fallen, biographische Fakten werden jedoch außen vor gelassen und keine Berücksichtigung finden.
Bevor allerdings eine detaillierte Betrachtung des Verhältnisses von Kunst und Leben in der Erzählung Erstes Leid vorgenommen werden kann, gilt es eine entsprechende Basis zu schaffen. Das Werk wird in seiner strukturellen Form vorgestellt und ausgewählte Aspekte werden präzisiert. Zu Beginn werden Aufbau und Form der Erzählung genauer umrissen. Inhaltliche Schwerpunkte sowie der Verlauf geben erste Ansatzpunkte und schaffen einen groben Überblick, um später darauf aufbauend in die Tiefe gehen zu können. Auf den Erzähler wird im Weiteren ein detailliertes Augenmerk gelegt, da er eine Einführung in die thematischen Geschehnisse, die Erzählung sowie dargestellte Sachverhalte gibt und damit stets bestimmte Funktionen erfüllt. Er fungiert als Vermittler und wirkt wie eine Art Filter. Nimmt er etwa die Rolle eines menschlichen Beobachters ein, so kann lediglich von den äußeren Verhaltensweisen auf Bewusstseins- oder Seelenzustände geschlossen werden. Tritt er jedoch in einer gottähnlichen Weise auf, so erhält der Leser einen uneingeschränkten Zugang zu jeglichen Informationen. Allein daraus geht die Notwendigkeit einer genaueren Betrachtung des Erzählers hervor. Zum Schluss folgt eine knappe Konturierung der Erzählwelt. Die Einbettung in ein bestimmtes Setting weckt bei dem Leser ebenfalls bestimmte Assoziationen und kann der Erzählung eine bestimmte Form verleihen.
Im zweiten Teil erfolgt die Analyse in Hinblick auf das Thema. Die Erkenntnisse des ersten Teils dienen dabei als Basis. Zunächst wird die Stellung des Künstlers zur Gesellschaft betrachtet. Im Rahmen dessen treten Fragen auf, inwiefern dieser als ein Teil von ihr gesehen werden kann und wie er von außen wahrgenommen wird. Ist klar geworden, wie der Künstler in das große Ganze eingebettet ist, wird er als Individuum fokussiert. Das Selbstverständnis des Künstlers genauer auszuführen, ist damit Interesse des zweiten Analyseaspektes. An dieser Stelle werden bereits grundlegende Aspekte des letzten und wohl wichtigsten Punktes ,Kunst und Existenz‘ angerissen. Hier erfolgt eine symbiotische Betrachtung der bereits gewonnenen Erkenntnisse. Künstler, Gesellschaft sowie die Kunst an sich werden in Verhältnis zueinander gesetzt und damit der Konflikt zwischen Kunst und Leben umrissen. Im Fazit folgen noch einmal eine kurze Zusammenfassung sowie eine explizite Beantwortung der anfänglichen Fragestellung. Des Weiteren wird Auskunft über die Anknüpfung an weitere Forschungsgebiete gegeben.
2. Strukturelle Form
2.1 Aufbau und Struktur
In diesem ersten Teil wird ein genaueres Augenmerk auf die Erzählstruktur gelegt, die einen Überblick verleiht und einen möglichen Verlauf der Handlung herausstellt. Durch diesen Überblick wird es ermöglicht, im Allgemeinen den Aufbau, die Akzentuierungen und die gestalterischen Besonderheiten in der Handlung festzustellen.
Obwohl Erstes Leid sich in fünf Abschnitte gliedern lässt, herrscht in der Forschung weitestgehend Einigkeit über die inhaltliche Gliederung in drei Teile. So sprechen Auerochs und Engel für den ersten Teil etwa von der „Beschreibung eines Zustandes“5 und auch Vollmehr formuliert diesen als „einleitendes und grundlegendes Existenzporträt des Trapezkünstlers“6 7. Wirft man nun einen genaueren Blick auf den Text, können die ersten beiden Abschnitte ohne jeden Zweifel inhaltlich zusammengefasst werden. Es ist von seinen „geringen Bedürfnissen“ (EL, 352), seinem eingeschränkten menschlichen Verkehr und davon, dass er „Tag und Nacht auf dem Trapez blieb“ (EL, 352) die Rede. Die Lebensweise und die Gewohnheiten des Trapezkünstlers werden auf facettenreiche Weise umrissen.
In den zwei darauffolgenden Abschnitten werden nun die mit den „unvermeidlichen Reisen“ (EL, 353) verbundenen Leiden des Artisten beschrieben. Für diese muss er seine gewohnte Umgebung verlassen und ist auf der Suche nach „irgendeinem Ersatz seiner sonstigen Lebensweise“ (EL, 353). Auch diese beiden Abschnitte, in denen sich langsam eine Krise anbahnt, können inhaltlich bedenkenlos zusammengefasst werden.
Im letzten Abschnitt kommt es nun zu dem abzusehenden Zusammenbruch des Artisten. „Nur diese eine Stange in den Händen - wie kann ich denn leben!“ (EL, 354). Der Künstler steht vor einem existentiellen Konflikt, welcher letzten Endes in der Erzählung nicht aufgelöst wird.
Insgesamt kann man von einer drei-Akte-Struktur sprechen. Zu Beginn folgt eine Einleitung, gefolgt vom Hauptteil und beendet vom Schluss. Allerdings wird der sich im Hauptteil anbahnende Konflikt in diesem Fall nicht gelöst, sondern steigert sich im letzten Teil sogar noch und erreicht dort seinen Höhepunkt. Vollmehr spricht in diesem Zusammenohang von einer „Abwärtsbewegung“ . Für die Analyse und die zum Schluss folgende Interpretation ist dies ein nicht zu unterschätzender Faktor.
Um eine genauere Vorstellung davon zu erlangen, wie die Geschehnisse im Detail dargestellt werden und welche Kernthemen damit möglicherweise in den Vordergrund treten, folgt im Weiteren eine genauere Darstellung des Auftretens des Erzählers.
2.2 Der Erzähler
Der Erzähler ist als ein Medium zu betrachten, da die Art der Vermittlung an ihn gekoppelt ist. Die Art und Weise wie er im Text auftritt und spürbar wird, bestimmt auch, welche Informationen dem Leser zu Teil werden und welches Bild von dargestellten Ereignissen sowie Personen sich abzeichnet.8 9 Aus dieser simplen Tatsache geht bereits die Notwendigkeit hervor, den in Erstes Leid auftretenden Erzähler genauer zu betrachten. Durch ihn werden die Kernaspekte der Erzählung auf eine bestimmte Weise umrissen, was für die im zweiten Teil folgende Analyse Aufschluss über grundlegende Anhaltspunkte geben kann. Zunächst lässt sich festhalten, dass es sich um einen extradiegetischen-heterodiegetischen Erzähler handelt, welcher etwas Vergangenes erzählt. Er ist kein Teil der erzählten Welt und gibt die Handlung von außen betrachtet wieder. Dabei erfolgt an einigen Stellen eine relativ neutrale Schilderung, welche durch Begrifflichkeiten wie „bekanntlich“ (EL, 352) oder aber „freilich“ (EL, 352) impliziert, dass es sich um offensichtliche und allgemeingültige Tatsachen handelt. Auffällig ist, dass solch verallgemeinerbare Ausdrücke stets in Zusammenhang mit dem Trapezkünstler auftreten. Auch das Gespräch zwischen Trapezkünstler und Impresario wird relativ neutral und scheinbar unbeteiligt wiedergegeben, sogar die wörtliche Rede kommt an dieser Stelle zum Einsatz.10
Der Erzähler ist darüber hinaus allerdings auch in der Lage, Gründe für das Handeln bzw. Benehmen des Trapezkünstlers zu nennen. Er habe sein Leben „zuerst aus dem Streben nach Vervollkommnung, später aus tyrannisch gewordener Gewohnheit“ (EL, 352) derart eingerichtet. An dieser Stelle bleibt trotz dessen offen, ob seine Aussagen auf einer Deutung des Verhaltens des Trapezkünstlers beruhen oder aber einen flüchtigen Einblick in dessen gedankliches Innenleben geben. Im weiteren Verlauf fallen jedoch immer wieder gefühlsbetonte Begrifflichkeiten und es ist von den für die Nerven des Trapezkünstlers zerstörenden Reisen11 12 oder von den „schönsten Augenblicke[n] im Leben des Impresario“ (EL 353) die Rede. Festzuhalten ist, dass der Erzähler insgesamt einen tieferen Einblick in das Innenleben des Impresario als in das des Trapezkünstlers gewährt. Besonders deutlich wird dies in der Schlussszene, als der Erzähler eine detaillierte Beschreibung über die Gedankenwelt des Impresario gibt und davon berichtet, was dieser zu sehen glaubte. Insgesamt muss also von einer Nullfokalisierung gesprochen werden, die allerdings nicht durchgehend transparent wird. Das Erzählte befindet sich überwiegend im narrativen Modus und wird dadurch mit Distanz vermittelt. Der Eindruck, es sei eine Art Bericht, wird erzeugt.
Im Abschluss ist festzuhalten, dass der Erzähler als eine vornehmlich vermittelnde Instanz auftritt. Dabei stellt er vermeintlich unbeteiligt die Situation sowie den Kontakt zwischen dem Impresario und dem Trapezkünstler dar. Das Gefühlsleben des Trapezkünstlers bleibt allerdings weitestgehend verschlossen. Sein Leben wird, gespickt durch zahlreiche Details aus der direkten Umwelt, geschildert. Durch die erzählerische Instanz und Beschreibung der Gespräche zwischen Impresario und Trapezkünstler wird eine Art von Beziehung zwischen diesen deutlich. Durch die scheinbar passive Rolle des Erzählers gibt dieser jedoch keine direkten Aussagen bezüglich der Beschaffenheit dieses Verhältnisses. Allerdings lassen sich durch die recht ausführliche Beschreibung als außenstehende Person verschiedene Deutungen aus dem Benehmen des Trapezkünstlers, den Gedanken und dem Verhalten des Impresarios sowie der Darstellung der äußeren Umstände gewinnen.
Für den Analyseteil ist nun vor allem wichtig, dass hier keine Reduktion auf die Sicht des Künstlers erfolgt. Durch die Art des Erzählens ist es möglich, Schlüsse aus zwei Perspektiven zu ziehen. Einerseits aus der Sicht des Trapezkünstlers und andererseits aus jener des Impresarios. Dabei stellt die Art der Beschaffenheit der Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren ebenfalls einen Kernaspekt dar. Es kommt die Frage auf, welche Funktion der Impresario im Text erfüllt und inwiefern diese auf den Trapezkünstler bezogen ist, da dieser als Hauptfigur der Erzählung gelten kann. Ein Gedanke in diesem Zusammenhang könnte etwa sein, dass der Impresario als eine Art Gegenpol zum Künstler fungiert und damit die Außenwelt bzw. Gesellschaft repräsentiert. Dieser Gedanke wird im Analyseteil genauer erläutert. Damit werden einerseits die Stellung zur Gesellschaft und andererseits das Selbstverständnis des Künstlers als zu analysierende Kernaspekte dargestellt. Auf Basis dessen wird der Konflikt zwischen Kunst und Leben genauer skizziert.
Da in diesem Part deutlich geworden ist, dass die Entscheidung, wie der Erzähler auftritt, nicht zufällig fällt und die Erzählung auf eine gewisse Weise konturiert, soll in einem letzten Schritt vor der Analyse die Erzählwelt genauer betrachtet werden. Diese wird äußerst detailreich beschrieben und scheint ebenfalls einen gewissen Zweck zu erfüllen und gezielte Assoziationen zu wecken.
2.3 Die Erzählwelt
Ob der Leser in der Erzählung nun auf eine malerische Frühlingslandschaft oder eine düstere Winterlandschaft stößt, beide Szenerien wecken in diesem bestimmte Assoziationen. Mit der Erzählwelt wird eine Atmosphäre geschaffen, welche die Handlung in eine Hülle von Vorstellungen einbettet. So herrscht auch in der Forschung Einigkeit darüber, dass Kafka das Varieté als Ort der Handlung nicht aus reiner Willkür heraus gewählt habe. Vollmehr etwa hebt hervor, dass Kafka selbst von diesem modernen, publikumsorientierten Kunstbetrieb fasziniert gewesen sei. Auch Auerochs und Engel sprechen von einer thematischen Konzentration in Hinblick auf die Erzählwelt und der Besonderheit, dass der Künstler eine performative Kunst ausüben würde.13 14 So wird die Erzählung Erstes Leid von Kafka direkt mit den Worten „Ein Trapezkünstler - bekanntlich ist diese hoch in den Kuppeln der großen Varietébühnen ausgeübte Kunst eine der schwierigsten unter allen, Menschen erreichbaren“ (EL, 352) eingeleitet.
Jedoch tritt an dieser Stelle die Frage auf - welche Besonderheiten bringt die Welt des Varietés mit sich? Welche Assoziationen werden in Bezug auf die damit verbundenen Künstlerfiguren geweckt und wie stehen diese im Verhältnis zu ihrem Publikum? Im Folgenden erfolgt ein kurzer Umriss dessen, um anschließend einen Transfer auf den Text und der damit einhergehenden Analyse leisten zu können.
Im 19. Jahrhundert entstand mit den Wanderzirkussen eine profitorientierte Massenunterhaltung. So war auch das Varieté um 1900 in seiner vollen Blütezeit. Zwar weist es viele Berührungspunkte mit dem Zirkus auf, bezog sich jedoch überwiegend auf die darstellende Kunst zur Unterhaltung und war damit vorrangig eine Bühnenkunst. Die Kunst ließ sich sowohl sozial sowie auch körperlich als niedere Kunst beschreiben, eine Kunst der einfachen Leute. Allerdings wurde damit auch dem einfachen Volk eine Bühne geboten und die Artisten übten auf ihr Publikum eine große Faszination und Begeisterung aus. Das Varieté galt in der Öffentlichkeit als phantastische Gegenwelt des Alltags, der Kluft zwischen schönem Sein und hartem Existenzkampf in einer sich geschlossenen Welt. Die Künstler waren für die starke Körperbezogenheit ihrer ausgeübten Künste bekannt, ihrem Streben nach Perfektion.15 „Und indem der Zirkusartist die Grenzen des körperlich Möglichen immer weiter hinaustreibt, [...] befragt er beständig die Natur des Menschen“16.
Ein deutliches Bild zeichnet sich ab. Das Varieté gilt als ein Ort des Magischen und Wundersamen, ein Ort, der das Publikum einlädt, sich verzaubern zu lassen. Die Künstlerinnen werden mit Ehrfurcht für ihre Künste und Körperbeherrschung bewundert, gar als eine Art sonderbare Gestalten wahr genommen, die sich in einer anderen Sphäre befinden. Doch während für das Publikum das Varieté eine zeitlich begrenzte Unterhaltung darstellt, stellt es für die Künstlerinnen ihr Leben, eine gar in sich geschlossene Welt dar. Die Existenz jener Figuren ist an ihr Können und das Austesten ihrer Grenzen gebunden. Auch benötigen die Künstlerinnen einen Platz zum Ausüben ihrer Kunst und sind damit sogar auf eine gewisse Weise an das Varieté und damit auch das Publikum gebunden.
Für das Publikum dient die Kunst dem Amüsement, für den Künstler bildet sie die Grundlage seiner Existenz. Ein nicht unerheblicher Faktor, der in der Analyse Aufschluss über die Figur des Trapezkünstlers geben kann.
3. Das Verhältnis zwischen Kunst und Leben
3.1 Stellung zur Gesellschaft
In der Erzählung wird keine konkrete Situation benannt, in welcher der Trapezkünstler bei einer Vorstellung oder einer anderen Art von Interaktion mit seinem Publikum in Kontakt tritt. Über die in Erstes Leid auftretenden Figuren lässt sich jedoch eine Verbindung zur Außenwelt herstellen und auf die Gesellschaft abstrahieren. Es zeichnen sich einerseits kurze Erwähnungen bezüglich des Kontaktes mit beiläufigen und einmalig erwähnten Fi- guren und ein intensiverer mit dem Impresario ab. Beides soll im Folgenden Berücksichtigung finden. Um die allgemeine Stellung des Trapezkünstlers zur Gesellschaft herauszuarbeiten, wird vorerst der Lebensraum des Artisten genauer betrachtet. Anschließend wird der Kontakt zu den Randfiguren genauer analysiert. Für eine detailreichere Betrachtung dient die Figur des Impresarios. Indes wird ebenfalls stets darauf geachtet, in welcher Umgebung sich die jeweiligen Figuren befinden und an welcher Stelle sich Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede auftun.
Der Lebensraum des Trapezkünstlers befindet sich „hoch in den Kuppeln der großen Varietébühnen“ (EL, 352). „Sein menschlicher Verkehr war eingeschränkt“ (EL, 352) und er blieb „Tag und Nacht auf dem Trapez“ (EL, 352). Der Trapezkünstler befindet sich beinahe unentwegt in dieser Höhe und verlässt sie nicht einmal zu sonstigen Programmnummern, seinen geringen Bedürfnissen wird durch die Diener entsprochen. Dabei stellt eine Strickleiter die einzige Verbindung zur Außenwelt dar. Jedoch wird diese von dem Trapezkünstler lediglich für „die unvermeidlichen Reisen von Ort zur Ort“ (EL, 353) genutzt, welche ihm widerstreben und auf welchen er „die Fahrt oben im Gepäcknetz zubrachte“ (EL, 353).
An den allgemeinen Lebensumständen des Trapezkünstlers wird bereits durch den räumlichen Abstand zu dem normalen Umfeld eine Diskrepanz zu den anderen Figuren deutlich. Kafka arbeitet hier mit einer eindeutigen Tiefen- und Höhenmetaphorik, welche sogar abseits des natürlichen Lebensraumes des Trapezkünstlers gewahrt wird. Der Artist befindet sich in einer eigenen Sphäre, in welche nur selten jemand anderes eindringt. Auch widerstrebt es dem Künstler eindeutig, sich aus seiner eigenen Welt hinaus zu begeben. Dies geschieht lediglich, wenn es zwingend notwendig ist. Weshalb jedoch durch die Raumsemantik eine solche Distanz zwischen dem Artist und den anderen Figuren besteht, bleibt an dieser Stelle offen und es können lediglich Mutmaßungen angestellt werden. In einem nächsten Schritt werden daher genauer die Figuren betrachtet, zu denen der Trapezkünstler in Kontakt tritt.
[...]
1 Franz Kafka, zitiert nach: Monika Schmitz-Emans: Franz Kafka. Epoche - Werk - Wirkung. München 2010, S. 59.
2 Vgl. Marie Luise Bonner: Das Künstlerproblem in Franz Kafkas Erzählungen. Eine vergleichende Studie zur Entwicklung des Problemkreises in der deutschsprachigen Literatur. Kalifornien 1979, S. 8.
3 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Franz Kafka. Epoche - Werk - Wirkung. München 2010, S. 22ff.
4 Vgl. Oliver Jahraus: Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate. Stuttgart 2006, S. 451.
5 Bernd Auerochs/Manfred Engel: Kafka-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2010, S.320.
6 Hartmut Vollmehr: „ Die Verzweiflung des Artisten: Franz Kafkas Erzählung 'Erstes Leid' - eine Parabel künstlerischer Grenzerfahrungen“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998). S. 126-147, hier S. 134.
7 Vgl. Franz Kafka: „Erstes Leid“. In: Ders.: Die Erzählungen. Hg. v. Roger Hermes. 4., durchges. Aufl. Frankfurt a. M. 2011. S. 352-355, hier S. 352.
8 Vollmehr: „Die Verzweiflung des Artisten“, S. 134.
9 Michael Bamberg: „Identität in Erzählung und im Erzählen: Versuch einer Bestimmung der Besonderheit des narrativen Diskurses für die sprachliche Verfassung von Identität“. In: Journal für Psychologie 7 (1999). S. 43-55, hier S. 45.
10 Vgl. Kafka: „Erstes Leid“, S. 353f.
11 Vgl. Kafka: „Erstes Leid“, S. 353.
12 Vgl. Kafka: „Erstes Leid“, S. 354f.
13 Vgl. Vollmehr: „Die Verzweiflung des Artisten“, S. 135.
14 Vgl. Auerochs/Engel: „Kafka-Handbuch“, S. 319.
15 Vgl. Ernst Günther: „Varieté“. In: Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Stuttgart 2003. S. 460-465, hier S. 460ff.
16 Dietmar Winkler: „Zirkus“. In: Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Stuttgart 2003. S. 526-529, hier S. 526.