Sprachwandelsprozesse. Grammatikalisierung von Morphemen


Hausarbeit, 2020

15 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Was ist Grammatikalisierung?
2.1. Definition
2.2. Parameter nach Lehmann
2.3. Phasen der Grammatikalisierung

3. Morphologisierung im Französischen
3.1. Definition Klitisierung und Fusion
3.2. Beispiele für Präfigierung
3.2.1. grand: vom Adjektiv zum Affixoid
3.2.2. sur und sous: zwischen Präposition und Präfix
3.2.3. mal: Adverb oder Präfix?
3.3. Beispiele für Suffigierung
3.3.1. Die Adverbbildung auf - ment
3.3.2. Das französische Futur

4. Fazit

5. Bibliographie

1. Einleitung

Sprache unterliegt einem ständigen Wandel. Dieser ist darauf zurückzuführen, dass wir Sprecher einerseits so ökonomisch wie möglich kommunizieren möchten (Theorie der économie linguistique), andererseits aber auch innovativ die Sprache neu gestalten, indem wir unser Inventar der Ausdrucksmöglichkeiten erweitern. Betrachtet man Sprachwandel sowohl synchron als auch diachron, kann man unterschiedliche Prozesse entdecken.

Diese Arbeit befasst sich mit einem dieser Sprachwandelsprozesse, der Theorie der Grammatikalisierung. Sie beschreibt den Übergang von einem freien, lexikalischen Morphem in ein gebundenes, grammatisches Morphem. Speziell sollen Prozess und Ergebnisse der Grammatikalisierung auf Morphemebene betrachtet werden.

Zunächst soll der Begriff in Kapitel 2 genauer definiert werden, unter anderem durch die Vorstellung der Grammatikalisierungsparameter von Lehmann und anschließend durch die Givón‘sche Einteilung des Prozesses in Phasen. Speziell wird hier in Kapitel 3 die Phase der Morphologisierung herausgegriffen. Zu den jeweiligen Unterthemen Präfigierung und Suffigierung werden Beispiele angeführt, anhand derer (speziell im Kapitel Präfigierung) exemplarisch eine Analyse des Grammatikalisierungsgrades mithilfe der Lehmann’schen Parameter durchgeführt wird. Sie sind so gewählt, dass deutlich wird, dass Grammatikalisierung Morpheme unterschiedlicher Wortarten betreffen kann.

Ziel der Arbeit ist es, einen Überblick über Grammatikalisierung auf Morphemebene zu geben und anhand von Beispielen aus dem Französischen zu illustrieren, dass es ein Kontinuum zwischen freiem Lexem und gebundenem Grammem gibt. Das wird vor allem im Kapitel 3.2. Präfigierung deutlich, da es sich bei den Beispielen hier um modernere Phänomene der Grammatikalisierung handelt, bei denen die Einordnung an der Grammatikalisierungsskala einer genaueren Analyse bedarf.

2. Was ist Grammatikalisierung?

Der Begriff Grammatikalisierung wurde erstmals 1912 vom Linguisten Antoine Meillet in seinem Aufsatz „L’ évolution des formes grammaticales“ (Meillet 1912 1958) eingeführt, um ein Phänomen des Sprachwandels zu beschreiben, dessen Erforschung schon in das 18. Jahrhundert zurückgeht (Klump 2007: 15-24). Grammatikalisierung ist seither fest verankert in der Erforschung von Sprachwandel. In diesem Kapitel soll der Begriff erläutert und durch die Lehmann’schen Parameter genauer eingegrenzt werden. Anschließend wird eine Einteilung des Prozesses in Phasen vorgestellt.

2.1. Definition

Morpheme werden in der Sprachwissenschaft meist in zwei Gruppen eingeteilt. Diejenigen Morpheme, die auf eine außersprachliche Wirklichkeit verweisen, ohne dass sie dazu zwingend einen Kontext benötigen, nennt man lexikalische Morpheme oder Autosemantika. Sie bilden das Lexikon einer Einzelsprache. Morpheme, die diese lexikalischen Morpheme in Relation zueinander bringen, ohne einen Kontext aber an Bedeutung verlieren, werden als grammatikalische Morpheme oder auch Synsemantika bezeichnet. Zu ihnen gehören Präfixe, Suffixe, Infixe, Präpositionen, Postpositionen, Klitika, Auxiliare, Reduplikation, Suppletion, Ablaut und andere (Aufzählung in Bybee und Dahl 1989: 51). Morpheme können nicht nur in grammatische und lexikalische, sondern auch in freie und gebundene Lexeme eingeteilt werden, wobei hier die Tendenz besteht, dass Lexeme eher in freier, Grammeme eher in gebundener Form vorkommen.

Die zweiteilige Klassifikation der Morpheme in Grammeme und Lexeme ist stark vereinfachend, aber hilfreich, da sie „hervorstechende und intuitiv einleuchtende Grundtypen von Sprachzeichen beschreibt“ (Diewald 1997: 1). Vereinfachend ist sie, weil es einen fließenden Übergang zwischen lexikalischen und grammatischen Morphemen gibt, wie folgendes Beispiel der verschiedenen Bedeutungen von avoir zeigt (Anlehnung an die Beispiele in Diewald 1997: 4):

(1) Léa a un chat.
(2) Léa a à écrire une lettre.
(3) Léa a rigolé.

In (1) besitzt avoir die außersprachliche Bedeutung des Besitzens und ist somit der Gruppe der lexikalischen Morpheme zuzuordnen. In (3) dagegen ist nur noch seine Funktion als Auxiliarverb zur Tempus-Markierung des passé composé zu erkennen, was es uns den grammatischen Morphemen zuordnen lässt.

Die Einordnung des Morphems avoir in (2) dagegen fällt nun schwerer. Mit der Begründung, Léa besitze die Aufgabe, einen Brief zu schreiben, ist eine außersprachliche Bedeutung (die des Besitzens) gefunden, allerdings ist diese nicht so eindeutig wie in (1).

Solche Übergänge geschehen über größere Zeitspannen hinweg, sie sind Merkmale eines Sprachwandelphänomens, durch das Morpheme an lexikalischer Bedeutung verlieren und dabei immer mehr in die Kategorie der grammatischen Morpheme rücken. Man bezeichnet den Prozess des Grammatisch(er) Werdens sowie sein Ergebnis als „Grammatikalisierung“.

Zu beachten ist, dass dieser Sprachwandelsprozess sowohl synchron als auch diachron ablaufen kann. Die ursprüngliche lexikalische Bedeutung kann, wie man im Beispiel in Satz (1) sieht, in gewissen Erscheinungsformen bestehen bleiben, oft geht die außersprachliche Referenz aber gänzlich verloren, was im Laufe dieser Arbeit an mehreren Beispielen deutlich wird.

Um einem Morphem seinen „Grammatikalisierungsgrad“ zuweisen zu können, also um beschreiben zu können, wo auf der Skala zwischen lexikalischem und grammatischem Morphem es steht, hat Lehmann (Lehmann 1995) Parameter eingeführt, die im Folgenden erläutert werden sollen.

2.2. Parameter nach Lehmann

Die Unterscheidung zwischen lexikalischer und grammatischer Bedeutung geschieht nicht nur aufgrund des Grades an außersprachlicher Referenz. Es gibt weitere Kriterien, die die Tendenzen voneinander unterscheiden.

Lehmann (Lehmann 1995) hat ein System entwickelt, durch das sich der Grammatikalisierungsgrad eines Morphems anhand von Parametern bestimmen lässt, welche im Folgenden vorgestellt werden.

Er nimmt eine Zweiteilung in die Relationenachsen vor, indem er die Selektion eines sprachlichen Zeichens auf der paradigmatischen und die Kombination des Morphems auf der syntagmatischen Achse betrachtet.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Die Grammatikalisierungsparameter von Lehmann (Lehmann 2013b)

Zunächst zur paradigmatischen Achse:

Paradigmatizität

Lexikalische Morpheme bilden eine offene Klasse, die ständig sprachliche Zeichen verliert und andere dazugewinnt. Dagegen neigen grammatische Morpheme zu stärkerer Paradigmatisierung, sie bilden eher geschlossene Klassen (Diewald 1997: 3). Mit Grammatikalisierung nimmt also auch die Paradigmatizität zu.

Wählbarkeit

Durch den Sprachwandelsprozess nimmt des Weiteren die Wählbarkeit eines Morphems in seiner Umgebung ab. Am Beispiel der synchron ablaufenden Grammatikalisierung des Verbes avoir wird deutlich, dass ein Ersetzen durch bedeutungsgleiche Wörter, wie zum Beispiel posséder, in der Bildung des passé composé nicht mehr möglich ist, die Verwendung des Auxillars avoir ist hier obligatorisch geworden.

Integrität

Ein grammatikalisiertes Morphem verliert, wie in der Definition schon erwähnt, an außersprachlicher Referenz. Mit diesem Bedeutungsverlust geht häufig auch eine Verkürzung auf der Ausdrucksseite einher. Lehmann bezeichnet diese Abnahme als Verlust an Integrität des Morphems.

Auf der syntagmatischen Achse wird analysiert, wie sich durch Grammatikalisierung die Position eines Morphems im Syntagma verändert:

Fügungsenge

Die Fügungsenge oder syntagmatische Kohäsion eines Morphems nimmt mit steigendem Grammatikalisierungsgrad zu. Ein Morphem, das einem Grammatikalisierungsprozess unterworfen wird, kann vom freistehenden Zeichen vom Klitikon zum Affix bis hin zu einer phonologischen Eigenschaft des vor-/nachstehenden Trägers werden.

Stellungsfreiheit

Ein sprachliches Zeichen kann durch Grammatikalisierung an Stellungsfreiheit verlieren, indem es im Syntagma eine feste Position erhält.

Skopus

Der sechste Parameter Skopus ist ebenfalls ein Parameter, dessen Abnahme für Grammatikalisierung spricht. Der Skopus eines Morphems ist seine semantische Reichweite, und diese nimmt mit steigendem Grammatikalisierungsgrad ab.

2.3. Phasen der Grammatikalisierung

Zeichen, die grammatikalisiert werden, durchlaufen ähnliche Pfade ((Hopper und Traugott 1993: 99) "Once grammaticalization has set in, there are certain likely paths along which it proceeds" ), wobei diese Pfade nur als Tendenzen und nicht als zwingende Verlaufsrichtung zu betrachten sind.

Grammatikalisierung findet sowohl auf Ausdrucks- als auch auf Inhaltsebene statt, allerdings beginnt sie nach Brinton ( [Brinton 1988: 161f., 237] zitiert nach (Diewald 1997: 11)) auf der Inhaltsseite und ist „zunächst formal nicht sichtbar“ (Diewald 1998: 11). Obiges, in der Definition von Grammatikalisierung verwendetes Beispiel der verschiedenen Erscheinungsformen von avoir verdeutlicht dies: Während ein inhaltlicher Unterschied erkennbar ist, gibt es keine Veränderung auf formaler Seite.

Givón (Givón 1979) benennet im Prozess vier Phasen, die typischerweise durchlaufen werden können.

In der ersten Stufe werden aus freien Diskursstrukturen syntaktische Strukturen. Die freie Anordnung von sprachlichen Zeichen, begründet in aktuellen Kommunikationsbedürfnissen (Diewald 1997: 11), wird syntaktischen Strukturen unterworfen.

Die der Syntaktisierung folgende Stufe bezeichnet Givón als Morphologisierung. Aus syntaktisch geordneten, freien sprachlichen Zeichen werden gebundene Morpheme. Im folgenden Kapitel sollen Teilprozesse und Beispiele aus der Phase der Morphologisierung aufgegriffen werden. Ergebnis der Morphologisierung ist eine stärkere Bindung bis hin zur Affixbildung eines sprachlichen Zeichens an ein anderes.

Der Morphologisierung folgt die Phase der phonologischen Abschwächung, das heißt ein Morphem wird weniger stark betont, diese Abschwächung kann laut Givón im Schwund des sprachlichen Zeichens enden.

Folgende Skala dient als Überblick über die Stufen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 : Grammatikalisierungsskala nach Givón (eigene Darstellung)

3. Morphologisierung im Französischen

Zur Betrachtung des Grammatikalisierungsprozesses auf Morphemebene soll ein genauerer Blick auf die Phase der Morphologisierung geworfen werden. Diese Phase lässt sich in zwei Teilprozesse zerlegen, den der Klitisierung und den der Fusion. Diese werden zunächst definiert sowie der Begriff des Affixoids eingeführt. Außerdem sollen einige Beispiele aus dem Französischen belegen, dass es im Prozess der Fusion ein Kontinuum zwischen Komposition und Derivation gibt.

3.1. Definition Klitisierung und Fusion

Klitika sind Einheiten, die sich formal verhalten wie freie Morpheme, sich phonologisch aber an ein nahestehendes anderes Wort anlehnen. In der Anlehnung an ein folgendes Wort wird von einem Proklitikon gesprochen, in der Anlehnung an ein vorausgehendes vom Enklitikon. Das Wort, an das sich das Klitikon anlehnt, wird als Träger bezeichnet. Beispiele für Proklitika sind im Französischen Artikel und Pronomina, die Negationspartikel pas und personne dagegen sind typische Enklitika. - ist der erste Schritt der Morphologisierung. Ein freies Morphem wird durch etwa schnelles Sprechtempo oder schwache Betonung (Diewald 1997: 12) als Proklitikon oder Enklitikon an einen Träger angelehnt. Im nächsten Schritt kann das Klitikon zu einem Affix seines Trägers werden, man spricht von Fusion.

Die Fusion eines Klitikons mit seinem Träger ist ein langer Prozess. In diesem Prozess existiert irgendwann eine Form, die sowohl Eigenschaften eines freien Lexems als auch die eines gebundenen Grammems besitzt: das Affixoid oder auch Halbaffix. Der Begriff wird unter anderem helfen, das Kontinuum zwischen Komposition und Derivation in der Fusion von Morphemen zu verstehen.

Die folgenden Kapitel sollen zunächst einige Beispiele der Präfigierung und anschließend aus dem Prozess der Suffigierung aufzeigen.

3.2. Beispiele für Präfigierung

Die Herausbildung von Präfixen aus Adjektiven, Präpositionen oder Adverbien ist exemplarisch für die Grammatikalisierungsforschung.

Betrachtet man Wörter wie grand -mère, sur production oder mal heureusement, kann man die gebundenen, hier fett gedruckten Morpheme nicht mehr eindeutig ihren ursprünglichen Wortarten zuordnen, sie sind dadurch aber auch nicht automatisch Präfixe. Wo entlang der Grammatikalisierungsskala sie einzuordnen sind, lässt sich anhand der Lehmann‘schen Parameter illustrieren.

3.2.1. grand: vom Adjektiv zum Affixoid

Während ein Kompositum ein Wort ist, das aus zwei ursprünglich freien Lexemen gebildet wird, ist ein Derivat ein solches, das aus einem freien Lexem und einem oder mehreren gebundenen Morphemen (Affixen) besteht Nun soll das Adjektiv grand(e) betrachtet werden. Dazu werden seine Verwendung in den Wörtern grande surface und grand-mère verglichen .

Zunächst ist formal nicht sichtbar, dass es sich bei grande surface um ein Kompositum handelt, da grande als Adjektiv eine Oberfläche (surface) als groß definiert. Allerdings wird grande surface in LaRousse unter „Expressions“ als magasin exploité en libre-service angeführt, also einen großflächigen Supermarkt1. Somit ist grande surface als Kompositum einzuordnen. Hat grande aber schon den Präfix-Status erreicht, dass grande surface als Derivat zu bezeichnen ist? Wie steht es um seinen Status in grand-mère ?

Vergleicht man die Verwendungen des Adjektivs in beiden Kontexten miteinander, fällt Folgendes auf:

In grande surface ist es frei wählbar, so gibt es zum Beispiel auch die Verwendung des Begriffs moyenne surface oder auch petite surface2 , um kleinere Supermärkte zu beschreiben. In grand-mère dagegen ist es fest verankert. Auch die Integrität von grand variiert je nach Kontext : In grande surface wird es weiblich angeglichen und der semantische Wert des Adjektivs ist (auch durch den Gegensatz zu moyenne) klar. In grand-mère nimmt es an formaler und semantischer Integrität ab, da es nicht weiblich angeglichen wird und die heutige Bedeutung für grand(e) ‚groß‘ nicht mit dem Wort grand-mère ‚Großmutter‘ zusammenpasst.

Zur fehlenden Angleichung gibt es allerdings ein Argument, das nicht in der Grammatikalisierung liegt: Das lateinische grandis entstammt der zweiten Klasse lateinischer Adjektive, welche im Weiblichen sowie im Männlichen die gleiche Form hatten . Allerdings könnte man hier anführen, dass das Beibehalten dieser nicht angeglichenen Form im modernen Französisch wiederum für einen Verlust an Integrität spricht.

Vergleicht man die unterschiedlichen Verwendungen noch bezüglich ihrer Stellungsfreiheit, zeigt sich, dass beispielsweise Syntagmen wie une surface qui est grande oder une mère qui est grande eine andere außersprachliche Referenz mit sich bringen, was dafür spricht, dass grand in beiden Fällen gleichzeitig mit der Integrität auch an Stellungsfeiheit verloren hat. Van Goethem führt an, dass, solange grand(e) noch als freies Lexem existiert, es nicht als Präfix zu klassifizieren ist, es allerdings aufgrund seines höheren Grades an Grammatizität im Wort grand-mère in diesem Kontext als Affixoid einzuordnen ist. Im Kompositum grande surface erfüllt es zu wenige Parameter, um als Affixoid eingestuft zu werden

3.2.2. sur und sous: zwischen Präposition und Präfix

Betrachtet werden nun die Präpositionen sur und sous in gebundenen Kontexten. Ihre Paradigmatizität ist hoch, da beide Präpositionen mit sowohl Adjektiven, Nomen als auch Verben verbunden werden können: Beispiele sind sursaturé und sous-développé, surpeuplement und sous-emploi, suréstimer und sous-évaluer. Was die semantische Integrität der Morpheme betrifft, ist es hilfreich, die außersprachliche Referenz des derivierten Wortes mit der Referenz seines Ursprungs zu vergleichen, denn wenn sie sich ähneln, spricht das für eine geringe semantische Integrität von sur und sous. Tatsächlich ähnelt die Mehrheit der mit sur und sous gebildeten Worte ihrem Wortstamm (Amiot 2004: 72), die oben genannten Beispiele dienen hier als eine Auswahl. Der Inhalt, der von sur und sous bleibt, ist der einer Steigerung/ Bewertung. Nicht nur die hohe Paradigmatizität und die relativ niedrige semantische Integrität, auch die Fügungsenge von sur und sous sprechen dafür, dass es sich hier um Präfixe handelt (Amiot 2004: 72).

3.2.3. mal: Adverb oder Präfix?

Als letztes Beispiel für Präfigierung dient die Verwendung des Adverbs mal in Kontexten wie malheureusement, malnutrition, maltraiter, oder malodorante. Im Internet finden sich Quellen, die mal in bestimmten Kontexten Präfix-Status zuschreiben3, das Wörterbuch LaRousse allerdings führt beispielsweise nur an, mal könne als Komposition mit einem Partizip Adjektive oder Substantive formen4. Die außersprachliche Bedeutung des Adverbs ist d’une manière mauvaise oder auch d’une fa çon contraire à la morale 4. In Fusionen mit anderen Morphemen kann man noch allgemeiner die Bedeutung en termes défavorables hinzufügen (Delbecque 2006: 90). Allerdings gibt es Kontexte, in denen eine andere, weniger außersprachliche Bedeutung treffender ist: die Funktion der Verneinung. Hier liegt der entscheidende Aspekt in der Frage, ob es sich beim konkreten Beispiel um eine Derivation oder eine Komposition handelt. Sobald ein aus mal und einem Lexem entstandenes Wort die Verneinung des Lexems selbst ist, hat mal nämlich nicht nur an semantischer Integrität, sondern auch an Stellungsfreiheit und Wählbarkeit verloren. Hierfür sollen exemplarisch die Derivationen malhonnêteté und malheureusement den Kompositionen maltraiter und malodorant gegenübergestellt werden.

Genannte Fusionen sind zunächst durch die Bedeutung von mal voneinander abzugrenzen. Während malhonnêteté als Antonym von honnêteté und malheureusement als Antonym von heureusement fungieren, lassen sich maltraiter als ‚schlecht behandeln/ misshandeln‘ und malodorant als ‚schlecht riechend/ stinkend‘ übersetzen, der semantische Inhalt ist also nur in letzteren Beispielen noch stark erhalten.

Damit geht auch die Stellungsfreiheit einher: In malhonnêteté und malheureusement ist das Morphem fest verankert, während für maltraiter das Äquivalent traiter mal oder für malodorant mal odorant durchaus denkbar wäre.

Zuletzt wird der Parameter der Wählbarkeit betrachtet. Auch hier ist eine Ersetzbarkeit von mal nur in maltraiter (z.B. traiter qn/qc d’une manière mauvaise) und in malodorant (z.B. de mauvaise odeur) möglich.

Aufgrund dieser Argumente ist mal kontextabhängig als Präfix in Derivationen oder als Lexem in Kompositionen einzuordnen: Als Präfix, wenn es ein Verneinen der Bedeutung des Trägers ist und als Lexem sonst.

3.3. Beispiele für Suffigierung

Im Französischen ist Präfigierung nur in Form von Derivation möglich, Suffigierung dagegen kann sowohl Derivation als auch Flexion bedeuten. Mit der romanischen Adverbbildung auf - ment soll zuerst ein klassisches Beispiel der Grammatikalisierung zum Derivationssuffix angeführt werden. Anschließend soll das französische synthetische Futur exemplarisch aufzeigen, wie aus der Konjugation des Verbes avoir die Flexionsaffixe des Futurs entstanden. Über eine Vorstellung der Beispiele soll hier nicht hinausgegangen werden, da sie sehr prominent in der Grammatikalisierungsforschung sind.

3.3.1. Die Adverbbildung auf - ment

Dass die Mehrheit der französischen Adverbien mit dem Suffix - ment gebilet wird, geht ins Vulgärlatein zurück und ist beispielhaft für eine abgeschlossene Morphologisierung. Das Suffix geht auf eine Periphrase im Vulgärlatein zurück, die das Adjektiv als Attribut mit dem Nomen mens verknüpft. Das ursprünglich autonome Lexem mens lässt sich übersetzen mit ‚Geist/Sinn‘ (Lehmann 2013a). Im Ablativ war die Formulierung dann zum Beispiel stricta mente ‚strengen Sinns‘. Erste Belege für die frühe Fusion von mente mit einem Adjektiv finden sich u.a. in den Reichenauer Glossen, in denen zum Beispiel das Adverb solamente als Ablösung von singulariter auftaucht (Klump 2007: 149f.).

3.3.2. Das französische Futur

Als weiters Beispiel für Suffigierung im Französischen dient das Paradigma der Endungen des synthetischen Futurs. Die Suffixe -ai, -as, -a, -ons, -ez, und -ont ähneln den Formen im avoir -Paradigma, denn das Futur entstammt einer Periphrase aus dem Vulgärlatein: Die Kombination eines Verbes im Infinitiv mit habere ‚haben‘ in der finiten Form wurde zum Beispiel so verwendet: cantare habeo ‚habe zu singen‘ . Die Periphrase ist nicht nur fusioniert und das Hilfsverb zum Flexionssuffix geworden, auch ist die obligative modale Komponente verloren gegangen und es ist lediglich der Zukunftsaspekt geblieben (Lehmann 2013a).

4. Fazit

Diese Arbeit hatte zum Ziel, einen Überblick über Grammatikalisierung auf Morphemebene geben.

Dazu diente zunächst das Beispiel der semantisch verschiedenen Erscheinungsformen von avoir, anhand dessen das Phänomen des Grammatisch(er) Werdens eines ursprünglich autonomen Lexems deutlich wurde und dem eine genauere Definition des Begriffs Grammatikalisierung folgte.

Die Einteilung der Grammatikalisierung in Phasen nach den Bezeichnungen von Givón erlaubte eine Einordnung des Begriffes Morphologisierung, auf die sich das dritte Kapitel stützte. Hier war die Verwendung der Lehmann‘schen Parameter nun hilfreich, um Beispiele jeglicher Wortarten an einer Grammatikalisierungsskala einordnen zu können. Der Schwerpunkt dieser Analysen lag auf der Präfigierung, da es sich bei den Beispielen hier um modernere, noch wenig untersuchte Phänomene handelt. Den Resultaten ist gemeinsam, dass sie zeigen, dass es zwischen der Einordnung eines Morphems als lexikalisch autonom oder grammatikalisch gebunden ein Kontinuum gibt und die Bestimmung, so zeigen vor allem die Morpheme mal und grand(e), häufig kontextabhängig geschieht.

Die Adverbbildung auf - ment und die französische synthetische Futurbildung zeigen als zwei prominente Beispiele für Grammatikalisierung die abgeschlossene Morphologisierung in Form von Suffigierung auf.

5. Bibliographie

Brinton, Laurel J. 1988. The Development of English aspectual systems. Aspectualizers and post-verbal particles. Cambridge: Cambridge University Press

Bybee, Joan L.; Dahl, Östen. 1989. The creation of tense and aspect systems in the languages of the world. In: Studies in Language 13-1. 51–103.

Delbecque, Nicole. 2006. Linguistique cognitive. Comprendre comment fonctionne le langage. Bruxelles: DeBoeck.

Diewald, Gabriele. 1997. Grammatikalisierung. Eine Einführung in Sein und Werden grammatischer Formen. Berlin: De Gruyter.

Givón, Talmy. 1979. On Understanding Grammar. New York: Academic Press.

Hopper, Paul J.; Traugott, Elizabeth Closs. 1993. Grammaticalization. Cambridge: Cambridge University Press

Huchon, Mireille. 2002. Histoire de la langue française. Pairs: Le Livre de Poche Klump, Andre. 2007. Trajectoires du changement linguistique. Zum Phänomen der Grammatikalisierung im Französischen. Stuttgart: Ibidem-Verlag.

Lehmann, Christian. 2013a. Linguistics. Sprachen. Indo-european languages. Romanische Sprachgeschichte. Ch. 14.1. Hg. v. Universität Erfurt. Erfurt. Online verfügbar unter https://www.christianlehmann.eu/ling/sprachen/indogermania/RomGesch/, zuletzt aktualisiert am 11.09.13, zuletzt geprüft am 09.04.20.

Lehmann, Christian. 2013b: Linguistics. Sprachwandel. Ch. 6.2. Hg. v. Universität Erfurt. Erfurt. Online verfügbar unter https://www.christianlehmann.eu/ling/wandel/, zuletzt aktualisiert am 11.09.13, zuletzt geprüft am 09.04.20.

Lehmann, Christian. 1995. Thoughts on grammaticalization. Rev. and expanded version, 1. publ. ed. München i.e. Unterschleissheim: LINCOM Europa.

Meillet, Antoine. 1912 1958. L'évolution des formes grammaticales. In Antoine Meillet, Linguistique historique et linguistique générale. 130-148 (Erstfassung in Rivista di scienzia 12 no. 26, 6). van Goethem, Kristel. 2008. Oud-leerling versus ancien élève: A Comparative Study of Adjectives Grammaticalizing into Prefixes in Dutch and French. Morphology 18 (1). 27–49.

[...]


1 (Stand 09.04.20: https://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/surface/75694/locution?q=grande+surface#175607)

2 Die Begriffe sind in Online-Enzyklopädien wie Journal du net (Stand 09.04.20: https://www.journaldunet.fr/business/dictionnaire-du-marketing/1197973-gms-grande-et-moyenne-surface-definition-traduction-et-synonymes-de-l-acronyme/) oder Rachat du Crédit (Stand 09.04.20: https://www.rachatducredit.com/grande-moyenne-surface-gms-definition) zu finden, aber auch in der Zeitung wird bspw. moyenne surface verwendet (Stand 09.04. 20: https://actu.fr/hauts-de-france/poix-de-picardie_80630/une-moyenne-surface-attendue-poix-picardie-somme_21542426.html)

3 so zum Beispiel https://www.francaisfacile.com/exercices/exercice-francais-2/exercice-francais-95675.php oder https://www.jerevise.fr/prefixes.html, beide Stand 09.04.20

4 https://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/mal/48788, Stand 09.04. 20

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Sprachwandelsprozesse. Grammatikalisierung von Morphemen
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
15
Katalognummer
V950539
ISBN (eBook)
9783346289797
ISBN (Buch)
9783346289803
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grammatikalisierung, Suffigierung, Präfigierung, Adverbbildung, Sprachwandel
Arbeit zitieren
Nina Rogler (Autor:in), 2020, Sprachwandelsprozesse. Grammatikalisierung von Morphemen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/950539

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