Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht im Vergeich - Am Beispiel Deutschland und Großbritannien


Vordiplomarbeit, 2000

23 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. WAHLEN UND WAHLSYSTEME
2.1. WAHLEN
2.2. WAHLSYSTEME
2.2.1. MEHRHEITSWAHL
2.2.2. VERHÄLTNISWAHL
2.3. BEWERTUNGSMAßSTÄBE

3. DAS DEUTSCHE WAHLSYSTEM
3.1. HISTORISCHE ENTWICKLUNG
3.2. AUSGESTALTUNG
3.3. PARTEIENSYSTEM UND WÄHLERVERHALTEN
3.4. DISKUSSION

4. DAS WAHLSYSTEM GROßBRITANNIENS
4.1. HISTORISCHE ENTWICKLUNG
4.2. AUSGESTALTUNG
4.3. PARTEIENSYSTEM UND WAHLVERHALTEN
4.4. DISKUSSION

5. ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNG

6. LITERATURLISTE

1. Einleitung

Thema dieser Arbeit ist der Vergleich der beiden Grundtypen von Wahlsystemen, der Verhältniswahl und der Mehrheitswahl, am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland und Großbritanniens. In jeder parlamentarischen Demokratie kommt den Wahlen eine fundamentale Bedeutung zu, da hierdurch die Bevölkerung über die Zusammensetzung des Parlaments entscheidet.

Deutschland und Großbritannien werden in dieser Arbeit als Untersuchungsobjekt vor allem aus zwei Gründen ausgewählt. Erstens handelt es sich um voll entwickelte und reife parlamentarische Demokratien. Zweitens haben ihre jeweiligen Wahlsysteme oft Vorbildcharakter für andere Länder gehabt.

Im 2. Kapitel wird der Begriff der Wahl und ihre Funktionen näher erörtert. Weiterhin werden die theoretischen Eigenschaften der Mehrheitswahl und der Verhältniswahl ausführlich erläutert und ein von Eckhard Jesse entwickelter Kriterienkatalog zur Bewertung von Wahlsystemen vorgestellt, auf den im letzten Teil Bezug genommen wird. Dann erst wird empirisch auf die Wahlsysteme der beiden Beispielländer eingegangen. Es wird untersucht, warum sich beide Länder gerade für ihr Wahlsystem entschieden haben. Anschließend wird die tatsächliche Ausgestaltung der Wahlsysteme ausführlich beschrieben und auf Besonderheiten und Abweichungen gegenüber der Theorie eingegangen. Es wird untersucht, ob und wenn ja, welche Wechselwirkungen zwischen Wahlverhalten und Wahlsystem existieren.

Ziel dieser Hausarbeit ist zum einen, zu untersuchen, inwieweit sich tatsächlich theoretische Aussagen über die Auswirkungen von Wahlsystemen in der Realität treffen lassen. Zum anderen soll versucht werden, beide Wahlsysteme zu vergleichen und letztlich in Anlehnung an Jesse zu bewerten.

Leider kann im Rahmen dieser Arbeit auf einige Faktoren, deren nähere Betrachtung wichtig erscheint, nicht eingegangen werden. Dazu gehört vor allem der institutionelle Aufbau des Regierungssytems und eine intensivere Auseinandersetzung mit der politischen Kultur des jeweiligen Landes. Auch kann auf das Parteiensystem, und hier vor allem auf die innerparteilichen Entscheidungsprozesse, nur am Rande Bezug genommen werden.

2. Wahlen und Wahlsysteme

2.1. Wahlen

Wahlen sind „Verfahren (...) zur Bestellung von repräsentativen Entscheidungs- und herrschaftsausübenden Organen.“1 Sie erfüllen, je nach Art und Organisation des politischen Systems in dem sie durchgeführt werden, eine Vielzahl von unterschiedlichen Funktionen.2 In westlichen Demokratien haben Wahlen drei Hauptfunktionen:3

Wahlen legitimieren das politische System des jeweiligen Landes. Ein hohe Wahlbeteiligung, eine rege Teilnahme am Wahlkampf (als Instrument der Information und Mobilisierung der Wähler) und ein großes Interesse am Ergebnis der Wahl, sind ein Zeichen für Akzeptanz und Vertrauen der Bürger in ihr politisches System.

Eine Wahl ermöglicht eine Partizipation aller wahlberechtigten Bürger. Da in der Regel die große Mehrheit der Bevölkerung politisch inaktiv ist und andere Möglichkeiten der politischen Willensbildung, wie z.B. Parteien, Gewerkschaften oder Demonstrationen, nicht nutzt,4 bieten Wahlen eine einfache und trotzdem effektive Art und Weise der politischen Willensbildung für die gesamte Bevölkerung an.

Die Kontrollfunktion ermöglicht dem Wähler, die bestehende Regierung zu bestätigen oder abzulösen, d.h. der Wähler kontrolliert die Machtausübung.

Obwohl Wahlen an sich einen Vorgang darstellen, der nur für Demokratien notwendig ist, wird auch oft in nicht-demokratischen Staaten (z.B. in Diktaturen) gewählt. Nohlen definiert daher einen „Kanon von normativen Anforderungen an eine kompetitive Wahl in einer liberal-pluralistischen Demokratie“:5

- Freiheit der Wahlbewerbung
- Wettbewerb der Kandidaten, Programme und Positionen
- Chancengleichheit im Bereich der Wahlwerbung
- Geheime Stimmabgabe
- Umsetzung von Wählerstimmen in Mandate muß demokratisch nachvollziehbar sein
- Wahlentscheidung auf Zeit

Dieser Katalog ist im Grunde nichts weiter als die Ausformulierung der folgenden Wahlrechtsgrundsätze:

- Allgemein
- Gleich
- Direkt
- Geheim

Gewisse Einschränkungen dieser Grundsätze, wie z. B. Mindestalter oder Staatsbürgerschaft, sind zwar statthaft, dennoch muß jede Demokratie, die ihren Namen zu Recht tragen will, die oben genannten Anforderungen im ausreichendem Maße erfüllen.

2.2. Wahlsysteme

Ein Wahlsystem (oft auch Wahlrecht im nicht streng juristischen Sinne, so auch im folgenden)6 ist der Modus, mit dem die abgegebenen Stimmen der Wähler in Parlamentsmandate umgesetzt werden.7 Ein Wahlsystem wirkt jedoch nicht nur nach der Wahl, sondern es beeinflußt auch das Wahlverhalten und die politische Kultur des Landes.8

Die Zahl der verschiedenen Wahlsysteme ist fast so groß wie die Zahl der Länder, die Wahlen abhalten. Grundsätzlich besteht in der Forschungsliteratur Einigkeit darüber, daß sich alle Wahlsysteme aus zwei Grundtypen entwickelt haben: Mehrheitswahl und Verhältniswahl. Man kann Wahlsysteme in zwei Dimensionen unterteilen, und zwar in Entscheidungsregel und Repr ä sentationsziel 9 .

2.2.1. Mehrheitswahl

Die Mehrheitswahl ist das wesentlich ältere Wahlsystem und existiert im Prinzip schon seit es Wahlen gibt. Sie hat ihren Ursprung in der Antike und entwickelte sich aus der Personenwahl und dem Prinzip der Einstimmigkeit heraus.10

Es gibt verschiedene Ausformungen: qualifizierte Mehrheitswahl (eine bestimmte Zahl von Stimmen, oft 2/3 Drittel der Stimmen), absolute Mehrheitswahl (mehr als die Hälfte der Stimmen) und relative bzw. einfache Mehrheitswahl. Es können mehrere Wahlgänge notwendig werden.11

Bei der Mehrheitswahl ist es von großer Wichtigkeit, daß die Wahlkreise gleich groß sind, damit der gleiche Z ä hlwert der Stimmen gewährleistet ist. Weiterhin besteht die Gefahr des Gerrymandering, d. h. die Manipulation der Wahlkreisgrenzen (nicht Wahlkreisgrößen), um eine bestimmte Partei zu bevorzugen bzw. zu benachteiligen. Aus der Höhe der zu vergebenden Parlamentsmandate ergibt sich die Anzahl der Wahlkreise. Die einfachste Form der Mehrheitswahl ist die relative Mehrheitswahl. Gewählt ist derjenige Kandidat, der die meisten abgegebenen Stimmen in seinem Wahlkreis auf sich vereinigen kann, die restlichen Stimmen verfallen.

Der relative Mehrheitswahl werden folgende Vorteile und Wirkungen zugesprochen:12

- Verh ü tung der Parteienzersplitterung - Minderheitenparteien haben nur in regionalen Hochburgen eine Chance gewählt zu werden.
- Stabile Regierungen - Ein Mehrheitswahlsystem führt tendenziell zu einem Zweiparteiensystem, und somit zu eindeutigen Mehrheiten.13
- F ö rderung politischer M äß igung - Da die Wählerwanderung der Wechselwähler in der politischen Mitte den Wahlausgang entscheiden beeinflussen, sind die konkurrierenden Parteien gezwungen ihre Programmatik nach diesen Wählern auszurichten.
- F ö rderung des Wechsels in der Regierungsaus ü bung - Schon kleine Wählerwanderungen zwischen den beiden großen Parteien können große Mandatsveränderungen auslösen.
- Personenwahl/Unabh ä ngigkeit des einzelnen Abgeordneten gegen ü ber seiner Partei - Die direkte Abhängigkeit des Abgeordneten von seinem Wahlkreis sorgt für eine engere Beziehung zu seinem Wähler und zu einer größeren Distanz zur Partei.
- Direkte Wahl der Regierung - Bei einem Mehrheitswahlsystem sind in aller Regel keine Koalitionsverhandlungen nach der Wahl nötig.

2.2.2. Verhältniswahl

Die Verhältniswahl reicht ins 18. Jh. zurück und hat seine Wurzeln im Rationalismus und in der (französischem) Aufklärung und ist eng mit dem Aufkommen von politischen Parteien verknüpft. Ihren Siegeszug trat sie nach 1890 und wurde nach dem 1. Weltkrieg in fast allen demokratischen Ländern Europas eingeführt.14 Die Verhältniswahl liegen zwei Grundgedanken zu Grunde. Zum einen soll ein Spiegelbild der Wählerschaft im Parlament entstehen, die es ermöglichen soll, daß sich auch Minderheitenmeinungen artikulieren können. Zum anderen geht es wesentlich stärker um das Prinzip der Gleichheit bzw. Gerechtigkeit. Jede abgegebene Stimme soll in die Mandatsverteilung eingehen. Die Verhältniswahl ermöglicht nicht nur gleichen Z ä hlwert sondern auch gleichen Erfolgswert der Wählerstimmen.15

Bei der Verhältniswahl entscheidet der Anteil der Stimmen die eine Partei bzw. Liste erhält (Entscheidungsregel), das Repräsentationsziel ist hierbei das Abbild der W ä hlerschaft. 16 Der einzelne Wähler gibt seine Stimme für eine Listenverbindung ab. Die abgegebenen Stimmen werden nach einem vor der Wahl festgelegten mathematischen Verfahren in Mandate umgesetzt. Bei geschlossenen Listen hat der Wähler keinen Einfluß auf die Reihenfolge der Kandidaten. Bei offenen Listen kann der Wähler die Reihenfolge bedingt beeinflussen.17

Der reinen Verhältniswahl werden folgende Vorteile zugesprochen:18

- Gerechtigkeit - jede Stimme weist den gleichen Erfolgswert auf, Minderheitengruppen werden in ihrer tatsächlichen Stärke repräsentiert und kein Wähler durch einen Abgeordneten vertreten , den er nicht gewählt hat.
- Spiegelbild der W ä hlerschaft - Es entsteht ein getreues Abbild der in der Wählerschaft herrschenden Präferenzen.
- Keine Wahlkreisgeometrie - Die Wahlergebnisse sind schwerer zu manipulieren.
- Erforderliche Experten - Über die Listen können Parteien notwendige Experten ins Parlament hieven.
- Bessere M ö glichkeiten f ü r neue Parteien - Die Verhältniswahl ermöglicht kleineren bzw. neuen Parteien leichter den Zugang zum Parlament
- Verhinderung extremer politischer Umschw ü nge - Bei der Verhältniswahl ist es außerordentlich selten, daß sich extreme Veränderungen im Parteiensystem sehr schnell im Wahlergebnissen niederschlagen.

2.3. Bewertungsmaßstäbe

Im folgenden wird ein Katalog mit Bewertungsmaßstäben für Wahlsysteme vorgestellt werden. Natürlich hat die Definition, von durchaus normativ zu verstehenden Anforderungen, immer etwas willkürliches, da letztendlich ein gewisser Punkt als gesetzt akzeptiert werden muß. Dies ist aber notwendig, damit ein Vergleich nicht in die Beliebigkeit abrutscht bzw. eine Bewertung überhaupt möglich ist. Der folgende Bewertungskatalog wurde von Eckhard Jesse übernommen, da dieser Katalog den Schwerpunkt darauf legt, Wahlsysteme im allgemeinen zu beurteilen und nicht nach Verhältniswahl und Mehrheitswahl differenziert. Dies ist als sinnvoll anzusehen, da Wahlsysteme im allgemeinen dasselbe Ziel verfolgen, nämlich die sinnvolle Umsetzung von Wählerstimmen in Mandate.

Durch Verständlichkeit und Einfachheit des Wahlsystems wird die legitimierende Wirkung der Wahl noch verstärkt. Man kann sicher gehen, daß der Wähler sich bewußt entschieden hat und daß Ergebnis nicht aus Unkenntnis heraus entstanden, beziehungsweise „verfälscht“19 worden ist.

Es muß eine sinnvolle Zuordnung von Stimmen und Mandaten gewährleistet sein, d.h. die Umsetzung von Stimmen in Mandaten muß dem Wähler „einleuchten“20 und (demokratisch) nachvollziehbar sein. Auch darf der Wählerwille nicht verfälscht werden.

Die Chance eines Regierungswechsels muß vorhanden sein. Das Wahlrecht darf nicht so strukturiert sein, daß die Vorherrschaft einer Partei auf absehbare Zeit zementiert wird.

Die Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit ist sicherzustellen, damit ein Land nicht von einer schwachen beziehungsweise zerstrittenen Führung regiert wird.

Die Repräsentation der verschiedenen politischen Richtungen in einem Land muß in ausreichendem Maße Rechnung getragen werden, um der Legitimations- und Integrationsfunktion einer Wahl genüge zu tun.

Nicht zuletzt ist auch die traditionelle Verankerung im Bewußtsein der Bevölkerung ein Wert als solcher. Denn das Volk sollte seinem Wahlsystem Vertrauen und Akzeptanz entgegenbringen und seine Ergebnissen als legitim anerkennen.

Es ist nicht zu sagen welche der vorangegangenen Kriterien Priorität genießen sollten. Manche behindern sich gegenseitig, wie z.B. Repräsentation der politischen Richtung und eine regierungsfähige Mehrheit. Auch ist schwer zu sagen, was überhaupt eine ausreichende Repräsentation der verschiedenen politischen Richtung ist. Es darf auf keinen Fall bedeuten, daß ein Mehrheitswahlsystem dem per se nicht genüge tut.

Grundsätzlich gilt für die Bewertung von Wahlsystemen folgendes Zitat von Emil Hübner:

"Vor- und Nachteile der verschiedenen Wahlsysteme im luftleeren Raum zu erörtern, ist unmöglich. Daß es ein Wahlsystem gäbe, das allen Anforderungen entspräche, das nur Vorteile besitze -ein Wahlsystem, das man als das bestmögliche überall und zu jeder Zeit bezeichnen könne-, wird nur noch von wenigen Autoren behautet. Neben der Sozialstruktur, den 'historischen Vorbelastungen' (E. Fraenkel) des jeweiligen Regierungssystems, neben der Struktur der Parteien sind die Art des jeweiligen Regierungssystems, die Frage, ob eine plebiszitäre oder repräsentative Demokratie angestrebt wird, sowie das Problem der politischen Willensbildung unbedingte Voraussetzung dafür, daß man mit einiger Objektivität Vor- und Nachteile sowie Wirkungen des einzelnen Wahlsystem in der konkreten historischen Situation erörtern kann."

3. Das Deutsche Wahlsystem

3.1. Historische Entwicklung

Die Wahlen zum Reichstag im Deutschen Kaiserreich wurden nach dem Prinzip der absoluten Mehrheitswahl abgehalten. Auf Reichsebene galt das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für alle Männer über 25 Jahre. Das größte Manko dieses Wahlsystems war, daß die Wahlkreisgrenzen der Bevölkerungsentwicklung nie angepasst worden sind. Die starken Migrationsbewegungen vom Lande in die Stadt verstärkte die Bildung von Disparitäten.21

So wurde die SPD schon bei der Wahl von 1890 stimmstärkste, aber erst 1912 mandatsstärkste Partei.22 Aufgrund der großen Unzufriedenheit mit dem bestehenden Wahlrecht nahm die SPD die Einführung der Verhältniswahl als Programmpunkt auf.23

Nach dem 1. Weltkrieg wurde in Deutschland die Verhältniswahl eingeführt. Das Prinzip der Proportionalität erhielt sogar Verfassungsrang.24 Das Wahlsystem der Weimarer Republik kannte keine Sperrklause und besaß sogar eine Reststimmenverwertung auf Reichsebene. Dieses, überaus auf Gleichheit angelegte, Wahlrecht führte zu einer starken Parteizersplitterung. Es wird oft argumentiert, daß die Parteienzersplitterung (und somit letztlich die Verhältniswahl) den Untergang der Weimarer Republik herbeiführte. Diese Sicht ist viel zu einseitig. Zum einen lag die Schuld bei den Parteien selber, die sich als nicht koalitionswillig erwiesen, zum anderen gibt es noch wesentlich mehr Ursachen die zur Machtergreifung Hitlers führten.25

Die Verfassung der Bundesrepublik läßt offen, welches Wahlsystem Anwendung finden soll, es legt lediglich die Wahlrechtsgrundsätze (GG Art. 38) fest, das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Bei den Beratungen des Parlamentarischen setzte sich nur die CDU/CSU- Fraktion für ein mehrheitsbildendes Wahlsystem ein. Die SPD hielt, trotz der schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik, an der Verhältniswahl fest. Auch die kleineren Parteien setzten sich für ein Verhältniswahlsystem ein, da sie sich ansonsten in ihrer Existenz gefährdet sahen.26 Man einigte sich auf ein "nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl."27 Obwohl das Bundeswahlgesetz nur vorläufigen Charakter haben sollte,28 ist es, bis auf kleinere Modifikationen, bis heute im Wesentlichen unverändert in Kraft.29

3.2. Ausgestaltung

Jeder Wähler hat zwei Stimmen. Die Hälfte der Sitze (328) werden mit relativer Mehrheit vergeben. Mit der Erststimme stimmt der Wähler für einen Kandidaten (der in aller Regel von einer Partei aufgestellt ist, obwohl auch unabhängige Kandidaturen zugelassen sind) in seinem Wahlkreis. Der Sinn dieser Direktkandidaten ist es, dem Bürger zu ermöglichen, einen Kandidaten zu wählen, zu dem er einen persönlichen Bezug hat. Die für die erste Stimme relevanten Wahlkreise werden vom Gesetzgeber eingeteilt. Das Bundeswahlgesetz schreibt die Anpassung der entsprechenden Wahlkreise vor, wenn sich ihre Bevölkerungszahl um mehr als ein Drittel nach oben oder unten von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise entfernt hat. Zur Wahlkreiseinteilung spricht die Wahlkommission dem Gesetzgeber Empfehlungen aus.

Über die eigentliche Mandatsverteilung im Bundestag entscheidet die Zweitstimme.

Mit der Zweitstimme wird die Landesliste einer Partei gewählt. Es handelt sich dabei um eine starre Liste, daher werden die Kandidaten in der auf der Liste vorgegebenen Reihenfolge gewählt. Der Wähler hat keine Möglichkeit auf dieser Liste zu panaschieren oder zu kumulieren. Die Landeslisten einer Partei werden zu einer einheitlichen Bundesliste zusammengefaßt, solange dem Bundeswahlleiter gegenüber nicht anderes erklärt wird. Bei der Zweitstimme gibt es eine Sperrklausel. Listen, die nicht mindestens 5 % der Zweitstimmen erlangen, werden nicht berücksichtigt. Diese Stimmen verfallen, es sei denn, daß drei Kandidaten, die dieser Liste angehören, erhalten Direktmandate über die Erststimmen (Grundmandatsregel).

Die Sitzverteilung erfolgt in vier Schritten:30

1. Ermittlung der Ausgangszahl

Von den 656 zu verteilenden Sitzen des Bundestages werden diejenigen Direktmandate abgezogen, die von folgenden Bewerbern gewonnen wurden:

- Bewerber ohne Parteibindung
- Bewerber, deren Partei wegen Unterschreiten der 5% Sperrklausel von der verhältnismäßigen Verteilung der Sitze ausgeschlossen sind
- Bewerber, deren Partei keine Landesliste eingereicht hat

2 Verteilung der Sitze im Wahlgebiet

Die so ermittelten Sitze werden nach dem Proportionsverfahren Hare/Niemeyer31 gemäß dem von den Parteien errungenen Zweitstimmen auf die Listen bzw. Listenverbindung der Parteien verteilt, wobei die Sperrklausel von 5% berücksichtigt wird.

3 Verteilung der Sitze auf Landeslisten

Die einer jeden Landesliste zustehenden Sitze werden nach dem Hare/Niemayer-Verfahren auf die einzelnen Glieder der Bundesliste (also die Landeslisten) entsprechend den in den einzelnen Bundesländern erreichten Zweitstimmen verteilt. Dieser Schritt entfällt für Parteien, die keine Listenverbindung eingegangen oder nur regional angetreten sind.

4 Vergabe der Sitze an die Listenbewerber

Von der so ermittelten Zahl der Sitze, welche die Parteien in jedem Bundesland zu beanspruchen haben, werden die von ihnen dort direkt gewonnenen Mandate abgezogen. Die verbleibende Zahl an Sitzen wird auf die Listenbewerber in der Listenrangfolge vergeben, wobei bereits direkt gewählte Bewerber übergangen werden.

Da die Stärke, in der eine Partei im Bundestag vertreten ist, nur durch die Anzahl der Zeitstimmen bestimmt wird, ist das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland ihrem Wesen nach ein Verhältniswahlsystem. Daran ändert auch die 5%-Klausel, die eine Zersplitterung des Parteiensystems verhindern soll, nichts.32 Eine Sperrklausel verstößt an sich gegen das Repräsentationsprinzip der reinen Verhältniswahl. Denn die Stimmen, die für Parteien abgegeben werden, die unterhalb dieser ‚ H ü rde ‘ bleiben, verfallen. Somit haben sie keinerlei Erfolgswert.33

Die Sperrklausel wird aber vom Bundesverfassungsgericht als gerade noch vereinbar mit dem Prinzip der Verhältniswahl angesehen. Dieses Urteil wurde damit begründet, daß „die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems wichtiger ist“, als das reine Proporzprinzip.

Wenn eine Partei mehr Wahlkreise direkt gewinnt als ihnen nach ihrem Zweitsstimmenanteil zukommen, entstehen Überhangmandate. Da man keinem Kandidaten, der in seinen Wahlkreis gewählt worden ist, sein Mandat vorenthalten kann, wird die Zahl der Sitze im Bundestag um die Anzahl dieser Abgeordneten vergrößert.34

Die Überhangmandate stellen ein gewisses Problem dar, denn große Parteien werden in diesem Fall den kleineren Parteien bevorzugt. Da, in aller Regel, nur große Parteien Direktmandate gewinnen, brauchen sie im Schnitt weniger Zweitstimmen pro Mandat als kleinere Parteien.35

Anderseits ermöglicht die Regelung der Direktmandat auch den Einzug von kleineren Parteien in den Bundestag, die weniger als 5% der Zweitstimmen erhalten, wie z.B. die PDS.

3.3. Parteiensystem und Wählerverhalten

Zwischen 1949 bis 1963 entwickelte sich unter dem Wahlverfahren ein Dreiparteiensystem. Es kam weder zu einem Zweiparteiensystem noch zu einer Parteienzersplitterung. Weiterhin veränderte sich das Wahlverhalten der Bürger. Die CDU/CSU und die SPD entwickelten sich zu Volksparteien und konkurrierten somit besonders um neue Wählerschichten in der Mitte. Mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag bei der Wahl von 1983 setzte ein Dekonzentrierungsprozeß ein, aus dem sich kurze Zeit später ein Vierparteiensystem entwickelte, mit zwei ideologisch konträren Lagern.36 Insgesamt betrachtet sind in der BRD bei sämtlichen Wahlen entgegen den Befürchtungen von Kritikern der Verhältniswahl stets stabile Mehrheiten zustande gekommen. Weiterhin ist es zu mehreren Regierungswechseln gekommen, die ein Wahlverfahren unter anderem ermöglichen soll.

Von der Sperrklausel geht die stärkste konzentrierende Wirkung auf das Parteiensystem aus. Auch wenn sie dem Prinzip der Verhältniswahl, die ja gleichen Z ä hlwert und Erfolgswert verlangt schadet, fördert sie die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems, ohne das Prinzip der gerechten Repräsentation zu sehr einzuschränken.

Allerdings ist der Hauptgrund für das stabile Parteiensystem weniger im Wahlsystem als im veränderten Wählerverhalten zu suchen. Das deutsche Parteiensystem kannte bis 1983, vereinfacht gesprochen, nur zwei Konfliktdimensionen: "den sozial-ökonomischen Konflikt (CDU/CSU und FDP versus SPD) sowie den zwischen traditionell-religiösen und individuell- säkularen Wertorientierungen (SPD und FDP versus CDU/CSU).37 Die beiden Großparteien verstanden sich als Volksparteien und versuchten nicht ihr Wählerpotential einzugrenzen sondern in die Mitte hin zu erweitern. Dies korrespondierte mit dem Phänomen des Zerfalls der "getrennten politischen-sozialen Milieus" und einem "Drift zur Mitte" der meisten Wähler.38

Die stärkste Veränderungen erfuhr das Parteiensystem der BRD mit dem Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag und mit der Deutschen Wiedervereinigung. Doch die Grünen haben sich fast vollständig in das "Zweilagersystem" (CDU/CSU und FDP versus SPD und GRÜNE) integrieren können.39 Die PDS scheint bis jetzt, zumindestens auf Bundesebene, kaum Auswirkungen auf das existierende Parteiensystem gehabt zu haben.40

Zusammenfassend ist zu sagen, daß das gegenwärtige Parteiensystem durch eine "verringerte Bindung der Wähler an die Parteien charakterisiert"ist.41 Die Zahl der Wechselwähler und Nichtwähler steigt beständig Zudem kommt eine Erosion der "politischen-sozialen" Milieus und ein unwichtiger werden der alten42 "Cleavevages"

3.4. Diskussion

Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre entbrannte eine große Kontroverse um das deutsche Wahlrecht. Vor allem die CDU/CSU, flankiert von vielen Stimmen aus der Wissenschaft, setzte sich für ein "mehrheitsbildendes" Wahlsystem. Sie erhoffte sich dadurch, zum einen von der FDP als Koalitionspartner unabhängig zu werden, zum anderen glaubte sie bei einem relativen Mehrheitswahlrecht einen strukturellen Vorteil zu besitzen. Diese Diskussion fand auch in der Öffentlichkeit großen Widerhall, da man, gerade in der Zeit der großen Koalition, daran zweifelte, daß das herrschende Wahlsystem einen Regierungswechsel aus eigener Kraft ermöglicht.43

Über die Gerechtigkeit im deutschen Wahlsystem kann man geteilter Meinung sein. Zum einen gehen durch die Sperrklausel ein nicht unbedeutender Teil der Stimmen verloren. Zum anderen haben die beiden großen Parteien durch die Überhangmandate, die seit der Wiedervereinigung verstärkt entstehen, gegenüber den kleinen Parteien einen gewissen Vorteil, da sie rechnerisch weniger Zweitstimmen pro Mandat brauchen.44

Dennoch bewegen sich die Verzerrungen noch in einem vertretbaren Rahmen. Gleiches gilt für das spiegelbildliche Abbilden der W ä hlerschaft im Parlament, diese geschieht nicht uneingeschränkt. Einerseits aufgrund der Sperrklausel, anderseits dadurch, daß es innerhalb der Parteien und Fraktionen zu einer starken Interessenaggregierung kommt, bei der ein Teil der Wählerpräferenzen zwangsläufig verloren geht.

Das Merkmal des leichten Zugangs f ü r neue Parteien zum Parlament erfüllt das deutsche Wahlrecht trotz der Sperrklausel sehr gut. Die Integration der Grünen in den 80er Jahren, aber auch die Existenz der PDS, als ostdeutsche Regionalpartei, zeigen, daß das herrschende Wahlsystem die nötige Flexibilität aufweist, um zukunftsfähig zu sein. Auch gab es in der BRD bisher keine extremen politischen Umschw ü nge, die meisten Parteien orientieren sich zur Mitte hin. Dies wird allerdings um den Preis erkauft, daß das deutsche Regierungssystem als nicht besonders reformfreudig gilt.

4. Das Wahlsystem Großbritanniens

4.1. Historische Entwicklung

Die Britische Geschichte ist durch den Umstand gekennzeichnet, daß sie keine Brüche aufweist, sondern sich vielmehr "evolutionär" entwickelte.45 Gleiches gilt für das Wahlrecht. Durch die beginnende Industrialisierung entstand eine neue Klasse, das Bürgertum, welches seinem neuen Gewicht angemessene Repräsentation verlangte.46 Da die Grundlagen des Parlaments bis weit in das Mittelalter zurück reichen, es galt schon immer das relative Mehrheitswahlrecht, aber keine Reformen vorgenommen worden sind, herrschten große Mißstände. Nicht nur im Oberhaus (House of Lords) sonder auch im Unterhaus (House of Commons) dominierte "eine exklusive Schicht größtenteils Adliger."47 Da die Wahlkreise nicht angepasst worden, hielten "rund 180 Personen die Nomination -von der Wahl kann hier keinesfalls gesprochen werden- von ca. 350 Abgeordneten in der Hand."48 Weitere 160 Parlamentsmitglieder wurden aus Wahlkreisen mit weniger als 100 Wahlberechtigten entsandt. Die schnell wachsenden Industriestädte, wie Birmingham oder Manchester, hatten oft keine Vertreter. Insgesamt waren nur 450.000 Menschen wahlberechtigt, bei einer Bevölkerung von 24 Millionen.

Die "Great Reform Bill" von 1832 gab dem wachsenden Druck nach und änderte die gröbsten Mißstände. Die Zahl der Wahlberechtigten wurde von 5% auf 7% der Bevölkerung erhöht, und die meisten Wahlkreisen ohne Wähler ("rotten boroughs") wurden aufgelöst. Über die Bewertung der "Great Reform Bill" kann man geteilter Meinung sein. Die direkten Konsequenzen waren nicht allzu umwälzend. Das Bedeutende war vielmehr, daß diese Reform eine Initialzündung darstellte. Es stellte sich das Bewußtsein ein, daß das Wahlrecht veränderbar ist.49 Davon wurde in der folgenden Zeit weidlich Gebrauch gemacht. Im folgenden werden die wichtigsten Stationen nachgezeichnet:50

- 1867 "Representation of the People Act" - erweiterte das Wahlrecht vor allem für die Stadtbevölkerung
- 1872 "Ballot Act" führte das geheime Stimmrecht ein
- 1884/85 wurde das Wahlrecht auch für die Landbevölkerung ausgeweitet und erstmals annähernd gleich große Wahlkreise gebildet
- 1918 fiel die Notwendigkeit des Besitznachweises weg und es wurde ein partielles Frauenwahlrecht eingeführt
- 1928 folgte das allgemeine und gleiche Frauenwahlrecht

Erst seit 1948 kann man in Großbritannien von einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht sprechen, denn zu diesem Zeitpunkt wurden die letzten Reste des Pluralwahlrechts für Akademiker und Geschäftsbesitzer aufgehoben. In Großbritannien verstand man unter der Demokratisierung der Wahl die Verbesserung des geltenden Wahlrechts und nicht so sehr die Suche nach einem neuen Wahlsystem, wie es in Kontinentaleuropa während dieses Zeitraumes geschah, sondern in erster Linie die vorsichtige Demokratisierung des Bestehenden.51

4.2. Ausgestaltung

Das britische Wahlsystem ist sehr einfach nachzuvollziehen. Es gilt das relative Mehrheitswahlrecht in Ein-Mann-Wahlkreisen. Das Land ist in 635 Wahlkreise (also soviel wie es zu vergebende Mandate gibt) eingeteilt. Die durchschnittliche Wahlkreisgröße beträgt 63.500 Wähler. Für die, bei einer Mehrheitswahl besonders wichtigen Wahlkreiseinteilung, ist eine unabhängige Boundary Commission verantwortlich.52 Eine Besonderheit des britischen Wahlsystems ist, daß das Ende der Legislaturperiode nicht von vornherein feststeht. Vielmehr ist gesetzlich nur vorgeschrieben, daß die Wahl innerhalb von 5 Jahren stattfinden muß. Der Termin kann vom Parlament frei gewählt werden. Oft wird dieser Umstand von der Regierung ausgenutzt, indem der Wahltermin auf einen, für sie vorteilhaften , Zeitpunkt gelegt wird. Dieser Umstand bringt es mit sich, daß die Dauer der Wahlkämpfe extrem kurz ist.53

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1; Quelle: Hübner, Emil (1998): "Das politische System GB," München, S. 99.

Das britische Wahlsystem führte dazu, daß in der Vergangenheit immer eine Partei eine absolute Mehrheit an Sitzen bekam, obwohl nie eine Partei nie in der Lage war landesweit eine absolute Mehrheit an Stimmen zu erlangen (siehe Abbildung). Dies kann zu der merkwürdigen anmutenden Situation führen, daß , wie bei der Wahl von 1951, eine Partei landesweit weniger Stimmen bekommt als eine konkurrierende und dennoch die Parlamentsmehrheit gewinnt. Dieses Phänomen wird als critical bias bezeichnet.54 Doch dieser Umstand führte nicht zu einer Diskussion über eine Reform des Wahlsystems. Es wurde vielmehr als selbstverständliche Eigenheit der britischen Verhältnisse hingenommen und mit dem Satz "Democracy does not consist of counting noses" kommentiert.55

4.3. Parteiensystem und Wahlverhalten

In der Zeit von 1945 bestand das britische Parteiensystem im Prinzip nur aus zwei Parteien. Die Tories auf der einen und Labour auf der anderen Seite. Es hatte sich ein Zweiparteiensystem mit alternierendem Regierungswechsel und Schattenkabinett etabliert. Das sogenannte Westminster Modell funktionierte "schulbuchmäßig."56 Die Hauptmerkmale hierfür waren zum einen die Tatsache, daß die durchschnittliche Kandidatenzahl pro Wahlkreis bei unter 3 Kandidaten lag.57 Zum anderen lag die kumulierte Anzahl der Stimmen der beiden großen Parteien fast durchweg über 90%.58 Der Grund dafür war, daß Großbritannien nach 2. Weltkrieg eine klare Cleavagestruktur aufwies. Die working class mit Labour auf der einen Seite und die middle/upper class mit den Tories auf der anderen.59 Class war die Polarisationsgrenze, es gab keine cross cutting cleavages, die diesen Gegensatz aufbrachen.60

Seit den 70er Jahren lassen mehrere Veränderungen fraglich erscheinen, ob man noch von einem 2-Parteiensystem sprechen kann. Die Veränderungen im einzelnen sind:61

- sinkende Stimmenanteile des Parteienduopols von Labour und Tories von über 90% auf 70%
- eine ständige Abschwächung der Identifikation der Bürger mit diesem Parteienduopol
- sinkende Mitgliederzahlen der beiden großen Parteien
- schon in den 70er Jahren wachsende Erfolge der walisischen und schottischen Regionalparteien

Es ist vielmehr so, daß das bestehende Wahlsystem verhindert dem geänderten Wahlinteresse der Bürger Rechnung zu tragen.

4.4. Diskussion

Schon seit langem schwelt in Großbritannien die Diskussion um die Einführung eines Verhältniswahlsystems. Vor allem die Liberalen drängen sehr stark darauf das herrschende Wahlrecht zu ändern. Sind sie doch diejenige Partei, die am meisten darunter leidet, da ihre Anhängerschaft im ganzen Land verteilt ist. Jedoch nicht nur die Liberalen sprechen sich für eine Änderung in diese Richtung aus. Schon seit 20 Jahren existiert, laut Meinungsumfragen, eine Mehrheit in der britischen Bevölkerung für die Einführung des Verhältniswahlrechts.62 Der letzte Stand der Debatte ist die Einberufung einer Kommission zur Reform des Wahlrechts durch Premierminister Tony Blair.

Es läßt sich zwar keine Parteienzersplitterung in Großbritannien feststellen, dennoch gibt es verstärkten Zulauf zu Regionalparteien, da wohl weder Labour noch die Tories in der Lage waren alle Interessen zu integrieren. Dies führt dazu, daß es in Zukunft zu Problem der "hung majority" kommen kann und somit der große Vorteil der Mehrheitswahl, nämlich die Bildung einer stabile Regierung, schwieriger zu verwirklichen sein wird. Weiterhin zeigt sich, daß die Regierungen in der Vergangenheit nicht immer so stabil waren wie es den Anschien hatte.63

Ebenso ist der andere große Vorteil der Mehrheitswahl, die F ö rderung der politischen M äß igung, in Großbritannien nicht so ausgeprägt, wie es die Theorie vermuten läßt. So zeigte sich in der Amtszeit von Magret Thatcher, daß es durch aus zu einer Extremisierung der Parteien kommen kann und die Wählermitte uninteressant wird.64 Die direkte Wahl der Regierung bei der relativen Mehrheitswahl findet nur dann statt, wenn es sich um ein Zweiparteiensystem handelt. Dies hat in der Vergangenheit bisher funktioniert, doch ist es fraglich, ob dies in der Zukunft so bleibt. Die F ö rderung des politischen Wechsels in der Regierungsaus ü bung wird zum einen eingeschränkt durch einen strukturellen Vorteil für die Tories ("critical bias"). Zum anderen wird sie durch eine "tradition of adversary politics," d. h., daß die Oppositionspartei aus einem Automatismus heraus die Arbeit der Regierung blockiert, erkauft.65

5. Abschließende Betrachtung

Beide Wahlsysteme haben in den letzten 50 Jahren bewiesen, daß sie in der Lage sind regierungsf ä hige Mehrheiten zu erzeugen. Weiterhin haben sie gezeigt, daß sie in ausreichendem Maße die Chance eines Machtwechsels einräumen. Das größte Manko des deutschen, im Gegensatz zum britischen, Wahlrechts ist seine mangelnde Verständlichkeit. Eine neuere Untersuchung belegt, daß ein nicht zu vernachlässigender Teil der Wählerschaft, aufgrund von Mißverständnissen, entgegen ihrer Absicht die falsche Partei wählt.66 Hier besteht meines Erachtens Handlungsbedarf. Auch ist die sinnvolle Zuordnung Stimmen und Mandaten bei der deutschen Verhältniswahl arithmetisch nicht so "sauber" wie bei der relativen Mehrheitswahl.67

Dafür greift das britische Mehrheitswahlrecht, im Gegensatz zur deutschen Verhältniswahl, bei der Repr ä sentation der verschiedenen politischen Richtungen zu kurz und ist viel zu inflexibel. Man könnte sogar sagen, daß es in diesem Punkt einen gravierenden Mangel aufweist. Die relative Mehrheitswahl ist bei einem Zweiparteiensystem sehr sinnvoll, jedoch ist Großbritannien, nicht zuletzt aufgrund des geänderter Wahlverhaltens bzw. einer sich verändernden Parteienidentifikation, eben nicht mehr das Zweiparteiensystem, das es in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg war.

Es stellt sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des britischen Wahlrechts. Die ständige Debatte um eine Veränderung des Wahlrechts läßt den Schluß zu, daß die traditionelle Verankerung des herrschenden Wahlsystems in Großbritannien langsam bröckelt. Dies würde den Zweifel an der Zukunftsfähigkeit weiter erhärten. Denn was nutzt ein in sich noch so korrektes Wahlsystem, wenn es bei weiten Teilen der Bevölkerung Unzufriedenheit auslöst. Der Hauptteil dieser Arbeit hat gezeigt, daß in der Realität Wahlsysteme nur bedingt ihren theoretischen Eigenschaften entsprechen. Zu groß sind andere Einflußfaktoren, wie Geschichte, politische Kultur, institutioneller Aufbau des Regierungssystems, Wahlverhalten oder Parteienwesen. Auch zeigte sich, daß Wahlsysteme nur bedingt Einfluß auf die langfristige politische Entwicklung haben.

Abschließend komme ich zu dem Schluß, daß mittelfristig die Einführung eines Verhältniswahlsystems für Großbritannien empfehlenswert ist. Großbritannien ist als Staat und Demokratie reif und entwickelt genug, um den Interessenpluralismus auch im Parlament zuzulassen. Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland zeigt, daß die Verhältniswahl nicht zwangsläufig zu Instabiltät und Parteienzersplitterung führt. Es ist im Gegenteil sogar vorstellbar, daß es dadurch gelingt, die nach nationaler Unabhängigkeit strebenden Parteien besser einzubinden und somit ihre Bestrebungen zu dämpfen.

6. Literaturliste

- Adamski, Heiner

„Überhangmandate und Grundmandate“

in: „Gegenwartskunde - Zeitschrift für Gesellschaft, Politik und Erziehung,“ Heft 2/97.

- Bredthauer, R ü diger

"Das Wahlsystem als Objekt von Politik und Wissenschaft"

Meisenheim an der Glan, 1973.

- Birch, Anthony

"The British System of Government"

Cambridge, 1998.

- Fendrich, Martin

„Paradoxien des Bundestags-Wahlsystem“

in: “Spektrum der Wissenschaft,“ Heft 2/99.

- Duverger, Maurice

"Duverger's Law: Forty Years Later"

in: Grofman, B./ Lijphart, A. [Hg.] "Electoral Laws"

New York," 1986

- Hansard Society

"The Report of the Commission on Electoral Reform"

London, 1976.

- H ü bner, Emil

"Wahlsysteme und ihre möglichen Wirkungen unter spezieller Berücksichtigung der Bundesrepublik Deutschland"

München, 1968.

- H ü bner, Emil/ M ü nch, Ursula

"Das politische System Großbritanniens"

München, 1998.

- Jesse, Eckhard

„Wahlen - BRD im Vergleich“

Berlin, 1988.

- Jesse, Eckhard

„Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform“

Düsseldorf, 1983.

- Karsting, Lars

"Großbritannien"

in: Steffani, Winfried [Hg.]:

"Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG"

Opladen, 1991.

- Nicolaus, Helmut

„Die unzulässige Rechtfertigung der Überhangmandate“

in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3/96.

- Nohlen, Dieter

„Wahlsysteme der Welt“

München, 1976.

- Nohlen, Dieter

„Wahlrecht und Parteiensystem“

Opladen, 1989.

- Nohlen, Dieter

"Wahlsysteme"

in: Nohlen, Dieter [Hg.]:

"Wörterbuch Staat und Politik"

München. 1991

· Rohe, Karsten

"Parteien und Parteiensystem"

in: Kastendiek, Hans/ Rohe, Karl/ Volle, Angelika [Hg.]

"Großbritannien"

Frankfurt, 1995.

· Rudzio, Wolfgang

"Das politische System der Bundesrepublik Deutschland"

Opladen, 1996.

· Schreiber, Wolfgang

"Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestags"

Köln, 1986.

· Schmitt-Beck, R ü diger

„Denn sie wissen nicht, was sie tun...,“

in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3/93.

· Woyke, Wichard

„Stichwort: Wahlen“

Opladen, 1994.

· Ohne Verfasser

"Aspects of Britain"

Ohne Ort,1997.

[...]


1 Meyer's Taschenlexikon

2 Für einen ausführlichen Funktionskatalog Vgl. Nohlen, Dieter (1989): „Wahlrecht und Parteiensystem,“ Opladen, S. 25.

3 Jesse, Eckhard (1988): „Wahlen - BRD im Vergleich,“ Berlin, S. 15.

4 Nohlen, Dieter (1989): „Wahlrecht und Parteiensystem,“ Opladen, S. 21.

5 Nohlen, Dieter (1989): „Wahlrecht und Parteiensystem,“ Opladen, S. 19. Siehe da für die Unterscheidung zw. kompetitiven, semi-kompetitiven und nicht kompetitiven Wahlen.

6 Bredthauer, Rüdiger (1973): "Das Wahlsystem als Objekt von Politik und Wissenschaft," Meisenheim, S.11.

7 Nohlen, Dieter (1991): "Wahlsysteme," S. 777, in: Nohlen, Dieter [Hg.]: "Wörterbuch Staat und Politik," München.

8 Jesse, Eckhard (1983): "Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform," Düsseldorf, S.15.

9 Nohlen, Dieter (1989): „Wahlrecht und Parteiensystem,“ Opladen, S.106. Diese Unterscheidung ist vor allem wichtig, wenn man unterschiedliche Wahlsysteme klassifizieren möchte. Auf die große Schwierigkeit, wie man Wahlsystem klassifiziert wird in dieser Arbeit nicht eingegangen, da diese Erörterung den Rahmen bei weitem sprengen würde.

10 Hübner, Emil (1968): "Wahlsysteme," München, S. 13.

11 Hübner, Emil (1968): "Wahlsysteme," München, S. 12.

12 Woyke, Wichard (1994): "Stichwort: Wahlen," Opladen, S. 36.

13 Das sog. "Duverger'sche Gesetz" wonach eine relative Mehrheitswahl automatisch zu einem Zweiparteiensystem führt gilt als nicht mehr haltbar, und wurde von Duverger selbst modifiziert. Vgl. Duverger, Maurice (1986): "Duverger's Law: Forty Years Later," in: Grofman, B./ Lijphart, A. [Hg.]: "Electoral Laws," New York," S.69-85.

14 Hübner, Emil (1968): "Wahlsysteme," München, S. 19.

15 Hübner, Emil (1968): "Wahlsysteme," München, S. 15ff.

16 Nohlen, Dieter (1989): „Wahlrecht und Parteiensystem,“ Opladen, S. 106.

17 Hübner, Emil (1968): "Wahlsysteme," München, S.21f.

18 Woyke, Wichard (1994): "Stichwort: Wahlen," Opladen, S. 38.

19 Jesse, Eckhard (1983): „Wahlrecht zw. Kontinuität und Reform,“ Düsseldorf, S. 46.

20 Jesse, Eckhard (1983): "Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform," Düsseldorf, S. 47.

21 Woyke, Wichard (1994): "Stichwort: Wahlen," Opladen, S. 44.

22 Jesse, Eckhard (1988): „Wahlen - BRD im Vergleich,“ Berlin, S. 49.

23 Hübner, Emil (1968): "Wahlsysteme," München, S. 19.

24 Woyke, Wichard (1994): "Stichwort: Wahlen," Opladen, S. 45.

25 Jesse, Eckhard (1988): „Wahlen - BRD im Vergleich,“ Berlin, S. 53.

26 Bredthauer, Rüdiger (1973): "Das Wahlsystem als Objekt von Politik und Wissenschaft," Meisenheim, S. 30.

27 BWahlG. §1, zitiert nach Schreiber, Wolfgang (1986): "Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestags," Köln, 1986.

28 Bredthauer, Rüdiger (1973): "Das Wahlsystem als Objekt von Politik und Wissenschaft," Meisenheim, S.20.

29 Rudzio, Wolfgang (1996): "Das politische System der BRD," Opladen, S. 183.

30 Woyke, Wichard (1994): „Stichwort: Wahlen,“ Opladen, 1994, S. 63.

31 Bei diesem Verfahren werden die abgegebenen gültigen Stimmen mit der Zahl der zu vergebenden Mandate multipliziert und das Resultat durch die Zahl der insgesamt abgegebenen Stimmen geteilt. Die Parteien erhalten mindestens so viele Mandate, wie ganze Zahlen entstehen. Da danach in aller Regel noch nicht alle Sitze verteilt sind, werden nach der Höhe des Zahlenbruchteils vergeben; dadurch bevorzugt das Hare/Niemayer-Verfahren tendenziell kleinere Parteien.

32 Jesse, Eckhard (1988): „Wahlen - BRD im Vergleich,“ Berlin, S.62.

33 Nohlen, Dieter (1989): „Wahlrecht und Parteiensystem,“ Opladen, S. 201f.

34 In der Literatur wurde auf das Problem der Überhangmandate bis zur Bundestagswahl 1994 kaum näher eingegangen, da die Zahl dieser Mandate bis zur Wiedervereinigung sehr gering war und sie keinerlei Einfluß hatten. Nohlen, 1989 S. 210 Doch seit der Wiedervereinigung spielen sie eine größerer Rolle, und wurden sogar Gegenstand Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, daß aber die größere Zahl der Überhangmandate mit dem Repräsentationsgedanken des geltenden Wahlrecht vereinbar ist. 2 BvF 1/95 vom 10. April 1997

35 Adamski, Heiner (1997): „Überhangmandate und Grundmandate,“ in: „Gegenwartskunde,“ S. 209f.

36 Nohlen, Dieter (1989): „Wahlrecht und Parteiensystem,“ Opladen, S. 194ff.

37 Rudzio, Wolfgang (1996): "Das politische System der BRD," Opladen, S. 139.

38 Rudzio, Wolfgang (1996): "Das politische System der BRD," Opladen, S. 140.

39 Rudzio, Wolfgang (1996): "Das politische System der BRD," Opladen, S. 142.

40 Rudzio, Wolfgang (1996): "Das politische System der BRD," Opladen, S. 142.

41 Rudzio, Wolfgang (1996): "Das politische System der BRD," Opladen, S. 144.

42 Rudzio, Wolfgang (1996): "Das politische System der BRD," Opladen, S. 196.

43 Jesse, Eckhard (1983): "Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform," Düsseldorf, S. 131.

44 Nicolaus, Helmut (1996): „Die unzulässige Rechtfertigung der Überhangmandate,“ in ZParl 3/96, S. 396ff.

45 Hübner, Emil (1998): "Das politische System GB," München, S. 27.

46 Hübner, Emil (1968): "Wahlsysteme," München, S. 16.

47 Jesse, Eckhard (1988): „Wahlen - BRD im Vergleich,“ Berlin, S.37.

48 Hübner, Emil (1968): "Wahlsysteme," München, S.16.

49 Hübner, Emil (1998): "Das politische System GB," München, S. 95f.

50 Hübner, Emil (1998): "Das politische System GB," München, S. 96f.

51 Hübner, Emil (1968): "Wahlsysteme," München, S16.

52 Hübner, Emil (1998): "Das politische System GB," München, S. 97.

53 Ohne Verfasser (1997): "Aspects of Britain," o. O., S. 22.

54 Nohlen, Dieter (1978): "Wahlsysteme der Welt," München, S.105.

55 Hübner, Emil (1998): "Das politische System GB," München, S. 101.

56 Hübner, Emil (1998): "Das politische System GB," München, S. 80.

57 Nohlen, Dieter (1978): "Wahlsysteme der Welt," München, S. 103.

58 Nohlen, Dieter (1978): "Wahlsysteme der Welt," München, S. 105.

59 Rohe, Karsten (1995): "Parteien und Parteiensystem," in: Kastendiek, Hans/ Rohe, Karl/ Volle, Angelika [Hg.]: "Großbritannien," Frankfurt, S. 219.

60 Nohlen, Dieter (1978): "Wahlsysteme der Welt," München, S. 102.

61 Karsting, Lars (1991): "Großbritannien," in: Steffani, Winfried [Hg.]: Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, Opladen, S. 389.

62 Birch, Anthony (1998): "The British System of Government," Cambridge, S. 98f.

63 Hansard Society (1976): "The Report of the Commission on Electoral Reform," London, S. 22.

64 Hübner 1998 S. 103 und Report S. 22

65 Hansard Society (1976): "The Report of the Commission on Electoral Reform," London, S. 22.

66 Schmitt-Beck, Rüdiger: „Denn sie wissen nicht, was sie tun...,“ in: ZParl, 3/93.

67 Vergleiche Fendrich, Marin: „Paradoxien des Bundestags-Wahlsystems,“ in: Spektrum der Wissenschaft, 2/99, für einen ausführlichen Bericht über Paradoxien und logische Sprünge beim deutschen Wahlsystem.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht im Vergeich - Am Beispiel Deutschland und Großbritannien
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Vordiplom
Note
1,5
Autor
Jahr
2000
Seiten
23
Katalognummer
V95095
ISBN (eBook)
9783638077743
Dateigröße
393 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine Mischung zw. Theorie der Wahl und Empirie in GB und der BRD. Nachfragen und kritische Anregungen sind sehr willkommen
Schlagworte
Verhältniswahlrecht, Mehrheitswahlrecht, Vergeich, Beispiel, Deutschland, Großbritannien, Vordiplom
Arbeit zitieren
Lhachimi, Stefan (Autor:in), 2000, Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht im Vergeich - Am Beispiel Deutschland und Großbritannien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95095

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