Ausmaß und die Opfer der Armut im 17. und 18. Jahrhundert


Hausarbeit, 1998

22 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Was ist Armut

3. Ländliche Unterschichten

4. Städtische Unterschichten
4.1 Nach Ansehen und Recht
4.2 Der Preis-Lohn-Vergleich

5.Gesinde

6. Militär

7. Randgruppen

8. Der Einfluß von Krisen auf die Opfer und das Ausmaß der Armut

9. Ausmaß und Opfer der Armut: Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In dieser Hausarbeit soll das Ausmaß und die Opfer der Armut im 17. und 18. Jahrhundert behandelt werden. Vornehmlich werden dabei die städtischen und ländlichen Unterschichten beleuchtet, da diese auch den Großteil der von Armut betroffenen ausmachten. Trotzdem werden Randgruppen und Militär nicht außer acht gelassen, da gerade in den Unterschichten eine soziale Mobilität herrschte, die Arme zu Vaganten machte oder ins Militär trieb, ebenso wie Vaganten - wenn auch selten - seßhaft werden konnten.

Bei dieser Arbeit ergaben sich einige Probleme: Opfer und Ausmaß der Armut lassen sich nicht ohne regionale Spezifizierungen ausmachen. Dies hängt mit einer unterschiedlichen Quellenlage zusammen, hat aber auch Ursachen in unterschiedlichen wirtschaftlichen Situationen (Bevölkerungsdruck, Verkehrsanbindung, Fruchtbarkeit der Böden), die Löhne und Preise verschieden ausfallen lassen. Dennoch versucht diese Arbeit, zu einem für den deutschsprachigen Raum gültigen Ergebnis zu kommen.

Gerade für den ländlichen Raum ist die Quellenlage schwieriger, was sich auch in der Literatur widerspiegelt: Zum Thema "Armut auf dem Lande" findet sich weniger als zur Armut in der Stadt.

2. Was ist Armut?

Die Voraussetzung, das Ausmaß der Armut und deren Opfer im 17. und 18. Jahrhundert zu benennen, liegt in der Definition von Armut. Armut kann definiert werden als ein Mangel an Grundlagen, die ein Leben in einem gewissem Standard nicht ermöglichen. Nicht ausreichende Ernährung, Kleidung, Bildung, Unterkunft, Unterhaltung, Gesundheitsfürsorge, soziale Absicherung und vieles mehr lassen sich hier anführen. Jedoch ist ein Bauer des 17. Jahrhunderts, der im Winter kein frisches Obst und Gemüse zu essen hat, nicht von Armut betroffen, wenn man bei der Betrachtung berücksichtigt, daß er seinen Hunger durch anderen Lebensmitteln stillen kann. Im Winter gab es für den größten Teil der Bevölkerung auch wohlhabender Schichten kein frisches Obst und Gemüse zu essen. Von Armut war demnach der betroffen, der nichts zu essen hatte und vom Hungertod bedroht war. In Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts ist jedoch schon jener von Armut betroffen, der kein Geld hat, um sich mit Obst und Gemüse zu versorgen, um eine ausreichend gesunde Ernährung zu erhalten. Dieses Beispiel deutet auf die Relativität von Armut in einer Gesellschaft hin. Armut kann also relativ definiert werden, wie das obige Beispiel verdeutlicht. Dem gegenübergestellt werden kann die absolute Armutsdefintion. Heute wird diese meist festgelegt als ein Einkommensniveau, welches Ernährung und andere Grundbedürfnisse sichert. Diese Definition gilt aber sicherlich wieder nur für eine bestimmte Gesellschaft und kann nicht für alle Länder, Regionen und Zeiten festgelegt werden. Deshalb gilt in der Sozialpolitik häufig die relative Armutsdefintion. Die Europäische Kommission empfiehlt seit 1972 ihren Mitgliedsländern eine Familie als arm einzustufen, die weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient. Dadurch kann auch der Lebensstandard von Armen steigen. Diese beiden verschiedenen Definitionen sind wichtig für die Frage, ob Armut sich bekämpfen läßt und vor allem wie. Eine Steigerung des Wohlstandes kann bei relativer Armutsdefinition natürlich nicht die Armut verringern. Bei dieser Definition müssen Einkommensunterschiede verringert werden.

Der Übergang von Armut zu "Nicht-Armut" ist fließend und nur schwer zu ziehen. Dazu kommt, daß Wirtschaftskrisen in Form von Ernteausfällen oder persönlichen Krisen eine Bevölkerungsschicht in die Armut treiben konnte, die vor der Krise nicht den Armen zuzurechnen war. Diese Schichten waren also zeitweise von Armut betroffen oder rutschen unwiderruflich in die Armut ab. Diese ständig in Armut lebenden Personen sind von akuter Armut betroffen, während die von Armut bedrohten Menschen der latenten Armut zuzurechnen sind. [1]

Armut, wie oben definiert, traf nun vornehmlich die Unterschichten der Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Der Mangel an Bildung, Geld, Ernährung, Kleidung etc. hatte zur Folge, daß die Unterschichten nur geringen politischen Einfluß, Vermögen oder soziale Ehre hatten und zudem ihre Lebenslage immer unsicher war bzw. eine langfristige Lebensplanung nur schwer möglich war. Definiert man Armut enger, d.h. nur die sind arm, die unterstützt werden ("würdige Arme") kommt man aber auf einen geringen Teil der Bevölkerung, der - natürlich schwankend - um die 10% der Bevölkerung betraf. Diese Zahlen erhält man auch, wenn man Aufstellungen der Zeit zur Anzahl der Armen betrachtet (siehe unten). Aber es müssen alle berücksichtigt werden, die von Armut betroffen waren, also einen Großteil der Unterschicht[2]. Krisen jeglicher Art konnten eine Familie oder einen Menschen schnell in eine lebensbedrohende Situation bringen. Dies zeigen auch die Zahlen für den Anteil der Unterschichten an der Gesamtbevölkerung über die Jahrhunderte hinweg. Da die Grenzen

zwischen den Schichten nicht streng trennbar waren, sondern fließend, verursachte der unterschiedliche Bevölkerungsdruck zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert ein Anwachsen bzw. Kleinerwerden der Unterschichten. Im 15. Jahrhundert waren den Unterschichten etwa 50% der Gesamtbevölkerung zuzurechnen, im 16. Jahrhundert 50 bis 60%, im 17. Jahrhundert 30 bis 40% und im 18. Jahrhundert 50 bis 80%.[3] Um jedoch genauere Zahlen herauszufinden und auch die Opfer der Armut besser präzisieren zu können, ist eine Differenzierung dieser Unterschichten angebracht.

Der größte Teil der Bevölkerung in der frühen Neuzeit lebte auf dem Land, ungefähr 80%. Deshalb soll zunächst ein Blick auf die ländlichen Unterschichten geworfen werden.

3. Ländliche Unterschichten

Zu ländlichen Unterschicht lassen sich die Menschen rechnen, die unterhalb der Bauernschaft standen. Von der Bauernschaft trennten sie aber nicht der Besitz grundsätzlich oder alleine, sie hatten teilweise eigenes Land, sondern Rechte in der Gemeinde, wie beispielsweise die Nutzung der Allmende. Innerhalb dieser Unterschicht gab es die sogenannten "Kötter", "Köbler" oder "Seldner", die ihren Haupterwerb in der Landwirtschaft hatten. War der Landbesitz kleiner, dann mußten diese "Häusler", "Büdner", "Brinksitzer", "Einlieger" oder "Inwohner" verstärkt durch oft saisonal bedingten Zuerwerb ihr Auskommen sichern. Die Größe des Landbesitzes legte also zu einem gewissen Teil das Einkommen fest. Ganz ohne Land standen oft die "Tagelöhner", "Heuerlinge" oder "Hofgänger" da, die - wie der Name schon andeutet - bei einem Bauern zeitlich begrenzt unter Vertrag standen. Aber oft stellte diese Art der Tätigkeit einen Zuverdienst für die dar, deren Land nicht ausreichte zur Ernährung der Familie. Bei dieser Form der Arbeit war Mobilität bei den Arbeitenden gefragt, nicht nur was die Zeit anging, sondern auch was die Region anging.[4]

Bei diesem Zuverdienst der Kleinbauern und dem Haupterwerb sogenannter Landloser spielten immer stärker das Handwerk bzw. das Verlagswesen und Manufakturen eine Rolle. Um 1800 gab es noch sehr wenige Manufakturen, die mit 20 bis 30 Arbeitern ohne Maschinen Waffen, Keramik, Drahtprodukte, Federschmuck und anderes herstellten. In Bayern waren etwa 1400 Personen um 1790 in Manufakturen tätig, während es 84000 Meister, Lehrlinge und Gesellen gab. So war die Heimarbeit im Textilbereich weitaus bedeutender. Oft bedeutete die steigendeZahl der Heimarbeit einen Ausweg aus der Armut.[5] Um 1800 reichte eine Ackerfläche von 4 ha im Westen und 8 ha im Osten Deutschlands, um eine Familie von dem Land zu ernähren. Dazu gehörte dann aber auch noch ein Gespann und ein Pflug. Der regionale Unterschied kommt durch die Qualität des Bodens, die Art des Anbaus und die Intensität der Bearbeitung zustande. Demnach läßt sich auch eine Höchstgrenze ausmachen, die eine Familie bewirtschaften kann. Diese lag im allgemeinen zwischen 20 und 30 ha, ließ sich jedoch durch Gesinde, welches eingestellt wurde, nach oben verschieben. Lag der Besitz unter der oben angegebenen Untergrenze, mußte ein Zuverdienst das Überleben der Familie sichern. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Kleinbauern, die sie zu Armen machen konnte, hatten Kleinbauern aufgrund ihres Besitzes noch ein - wenn auch geringes - Ansehen im Gegensatz zu den Landlosen. Letztere waren auch immer wieder gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, um in der Ferne den Unterhalt verdienen zu können. Deshalb bedeutete schon ein kleiner Besitz wie eine Hütte ein Prestige, was von einem Umherziehenden ohne Besitz unterschied.[6]

Für die Landbevölkerung war gerade auch die Steuerbelastung ein Problem. Nur ein Drittel bis ein Fünftel der Böden war bäuerlicher Eigenbesitz, der Rest wurde zum Großteil in Form von Erblehen vom Grundherren an die Bauern abgegeben, die im Gegenzug Natural- und Geldabgaben dafür leisten mußten. Dazu kam noch der Zehnt, der zunächst für die Geistlichkeit bestimmt war, im 17. und 18. Jahrhundert aber auch weltlichen Gutsherren zugute kam. Dazu kam ein Bevölkerungszuwachs im 18. Jahrhundert, der die Erblehen durch Erbteilung immer kleiner werden ließ, aber auch - wie im mittleren Neckarraum - in einigen Dörfern junge Menschen auf das Handwerk übergehen ließ, weshalb hier auch wirtschaftliche Not wegen Überbesetzung einsetzte.[7]

Ein weiteres Beispiel erläutert das Ausmaß der Armut in der Schweiz, für die Region "Freie Ämter".[8] Demnach ergibt sich für die Kirchengemeinde Muri mit elf Dörfern bei einer Gesamtbewohnerzahl von 2686 ein prozentualer Anteil der Armen von 15,1% für das Ende des 18. Jahrhunderts. Für das Amt Interlaken ergibt sich ein Armenanteil 18,9%, in Fruttingen und Saanen 16%. Für das 17. und 18. Jahrhundert vermehrte sich der Stand der "Tauner", d.h. der Kleinbauern, deren Anbaufläche immer kleiner wurde und nicht mehr zum Ernähren einer Familie reichte, so daß die Zahl der Armen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stieg. Die oben angeführten Zahlen faßte 1793 der Amtmann Joseph Lorenz Müller auf Geheiß des Abtes von Muri an, weshalb vagabundierende Arme und von der Armut Betroffene, die aber nicht unterstützungswürdig waren, außen vor blieben. Also auch hier ist der Wert von 15,1% ein unterer Grenzwert. Dazu kommt, daß die Zahl der von Armut bedrohten weitaus höher lag und in Krisenzeiten sicherlich die Armut mehr Menschen betraf.

Auf dem Land waren also gerade Kleinbesitzer, Landhandwerker, Tagelöhner und Heimarbeiter von Armut betroffen, ebenso das Gesinde welches in Höfen und auf den Feldern arbeitete (siehe Punkt 5.). Insgesamt kann man davon ausgehen, daß den Unterschichten die Hälfte der auf dem Land Wohnenden zuzuordnen waren und diese eben auch von Armut betroffen waren. [9]

4. Städtische Unterschichten

4.1 Nach Ansehen und Recht

In der frühen Neuzeit lag der Anteil der Unterschichten an der Bevölkerung wohl kaum unter dem Wert von 50%. Dabei kann man die Regel aufstellen, daß sich mit der Größe der Stadt auch der Anteil der Unterschichten vergrößert. Für den Großteil der Unterschichten in der Stadt machte sich wie auch auf dem Land das Fehlen von Rechten bemerkbar. Nur durch Bürgerrechte konnte man sich als Handwerker niederlassen oder auch Armenfürsorge erhalten, wenn man als "ehrlicher Armer" anerkannt war. Diese Rechte wurden auch nur selten von den zuständigen Gremien verliehen, um die Gruppe der Bürger nicht zu groß werden zu lassen und den ökonomischen Druck durch neue Bürger einzuschränken. In diesem Zusammenhang spielten die Zünfte eine wichtige Rolle. Als Vereinigungen zur Vertretung der eigenen Interessen aber auch zur sozialen Absicherung waren sie gegründet worden. Um die Konkurrenz in den eigenen Reihen nicht zu groß werden zu lassen, grenzten sie sich auch nach unten durch Wanderpflicht, Meisterstück, Vermögensnachweise und Aufnahmegebühren ab. Dadurch waren vor allem Gesellen im 16. und 18. Jahrhundert wegen des hohen Bevölkerungsdruckes daran gehindert, Meister zu werden. Sie machten in den meisten Städten einen Anteil von einem Fünftel der Bevölkerung aus. Um sich gegen die Ausgrenzung zu wehren, gründeten die Gesellen Bruderschaften oder Gesellenschaften, um ihre Interessen zu vertreten und gegenseitig füreinander einzutreten. Innerhalb der Unterschichten standen die Gesellen oft besser da, aber wenn zu viele Arbeitskräfte in ihrem Beruf tätig waren oder eine Familie gegründet werden sollte, waren die Gesellen wieder stark von der Armut bedroht. Wo die Tätigkeit in ihrem Beruf nicht genug zum Leben einbrachte, kamen Nebentätigkeiten hinzu, wie Heimarbeit, Überwechseln zum Militär oder Absinken ins Vagantentum.[10]

Gerade aber bei der Hamburger Einteilung in neun Vermögens-Steuerklassen wird noch eine weitere Einteilung deutlich, die neben den bisher vorgegebenen (nach Vermögen und/oder Einkommen) noch einen weiteren Aspekt miteinbezieht, den des Ansehens. Da diese Kategorisierung von den Bürgern, bzw. den damaligen Politikern selber vorgenommen wurde, verdeutlicht sie eben das Ansehen bestimmter Berufsgruppen aus der Zeit heraus. Nach der ersten Klasse folgten demnach all diejenigen, die sich Wagen und Pferde zum fortkommen hielten und nicht schon der ersten Klasse zugeordnet waren. Danach kamen die Politiker, die auch verantwortlich für diese Ordnung zeichneten, aber auch Professoren, Graduierte und Kapitäne. Zur vierten Klasse zählte man Prediger auf dem Lande, nicht-graduierte Advokaten und Ärzte, die übrigen Kaufleute und wohlhabende Einzelhändler, Brauer, Wirte, Maler Buchhalter und Perückenmacher. In der fünften Klasse nun folgten die weiteren Einzelhändler, Brauer, Wirte, Buchhalter, Müller, Friseure, Fuhrleute und Ackerbürger mit eigenem Gehöft. In der sechsten Klasse folgten Handwerksmeister, Musikanten, Fechtmeister, Lehrer, Leichen- und Hochzeitbitter und die weiteren Fuhrleute. In der siebten Klasse wurden Handlungsgehilfen, Haushälter, Bäcker- und Brauknechte sowie Meister-Knechte zusammengefaßt, gefolgt von Handwerksgesellen allgemein, Handlungsdienern, Tagelöhnern, Arbeitsleuten, Gärtnern und Kätnern in der achten Klasse. Die letzte Klasse bildeten die Mägde und Diener, Ammen und Kutscher, Matrosen, Handwerksjungen sowie die Personen, die einer anderen Gruppe nicht zugeordnet werden konnten. Daß bei dieser Rangordnung Ansehen eine erhebliche Rolle spielte, bezeugt die Tatsache, daß sowohl die Handwerker als auch die Kaufleute durchaus so unterschiedlich verdienten, daß man nicht sagen konnte, wer der höheren Klasse zuzuordnen wäre. Trotzdem standen die Kaufleute höher. Auch bleibt außen vor, daß durchaus auch Meister von der Armut betroffen waren.[11]

4.2 Der Preis-Lohn-Vergleich

Diese scheinbaren Nachteile einer Abgrenzung der Unterschichten nach Recht und Ansehen können durch wirtschaftliche ergänzt werden. Die Vermögenslage von Familien kann man z.B. anhand der Steuerbücher feststellen und somit auch erkennen, welche Familien einen Lebensstandard hatten, der ausreichend war. Im Oberdeutschland des 15./16. Jahrhunderts ließe sich zum Beispiel ein Vermögenswert von 100 Gulden Grenzwert zwischen Mittel- und Unterschicht ausmachen. In den Reichsstädten verfügten 50-70% der steuerlich erfaßten Personen über weniger Vermögen. Rechnet man die nicht versteuerten und nicht verbürgerten Stadtbewohner noch hinzu, kommt man auf einen noch größeren Anteil der Unterschichten an den Bewohnern der Stadt. Doch mit der Definition der Unterschichten nach dem 100-Gulden-Kriterium fallen dieser Schicht auch eine Reihe Handwerks-Meister zuteil, wie der Berufszweige Weingärtner, Gärtner, Weber, Schuhflicker, Korbmacher oder Bader. [12]

Neben dem Vermögen ist aber auch das Einkommen ein Indikator für Armut, wenn sich der Grundbedarf einer Familie ermitteln läßt, der nötig ist, um zu überleben und somit nicht der Armut zugeordnet zu werden. Das methodische Problem dabei ist jedoch: Was ist eben der Grundbedarf einer Familie, aus dem ein Warenkorb und dann ein Mindestverdienst für ein Jahr ermittelt werden kann? Sodann stellt sich die Frage, wie das Einkommen genau ermittelt werden kann, da die Arbeit häufig sehr unregelmäßig war. Im Sommer war die Nachfrage nach Beschäftigung im Allgemeinen höher als im Winter, jedoch war die wirtschaftliche Nachfrage im Handwerk immer wichtig, da bei zu geringer Nachfrage die Beschäftigung sofort - unabhängig von der Jahreszeit - zurückgeschraubt wurde, mit der Folge, daß es zu Einkommenseinbußen kam. Hinzu kommt, daß das Einkommen gerade der Unterschichten aus den unterschiedlichsten Tätigkeiten kam, dazuhin noch Einkünfte aus der Arbeit der anderen Familienmitglieder hinzukamen. Schwer ist es auch, Naturallohn mit in die Berechnung einzubeziehen, z.B. Kost und Logis. Nicht zu vergessen ist auch, daß gerade das Preis- und Lohnniveau regional sehr unterschiedlich ist, was ein Kriterium in Form einer Zahl wieder schwieriger macht. [13]

Als Beispiel für die Berechnung einer Einkunftsgrenze als Armutsuntergrenze soll eine Kalkulation herangezogen werden, die eine Armenanstalt in Hamburg durchführte. Demnach bedurfte es einer vierköpfigen Familie pro Woche: 21kg Brot, 27 kg Kartoffeln, 1 Pfund Butter, 30g Tee, 1 ½ Pfund Zucker, Milch, Salz und ein Pfund Seife. Als weitere Ausgaben wurden beziffert die Ausgaben für Licht 9 bis 10 Mark im Jahr, für Feuerung 39 Mark im Jahr, und für Miete 15 Mark im Jahr. Ausgenommen von dieser Rechnung waren also Fisch, Fleisch oder Kleidung. Nach dieser Rechnung war der Familienbedarf 1792 also bei 370 Mark Banco oder umgerechnet 180 Talern. Zu beachten ist noch eine enorme Teuerung für die folgenden Jahre, sodaß dieser Bedarf im Jahre 1800 schon 625 Mark Banco betragen haben muß. In Berlin lag das Preisniveau bei dem von Hamburg. In kleineren Städten kam eine Familie mit weniger Geld aus. In Stuttgart z. B. brauchte man 125-130 Taler.

Für Weimar um 1820 läßt sich anführen, daß von den 2715 steuerlich erfaßten Haushalten 1475 ein jährliches Einkommen von weniger als 100 Talern hatten, was für Weimar als Armutsgrenze angenommen werden kann. Es lebten also über 54 % der Menschen in Armut, darunter fast alle Handwerksgesellen, Tagelöhner, Dienstboten und Mägde.

Aber auch die relative Armut wird deutlich, wenn man sich die Verdienste einiger Personen im württembergischen Calw anschaut. Der Teilhaber einer Manufaktur erhielt dort um 1800 zwischen 2000 und 2500 Gulden, ein hoher Beamter 3000 Gulden. Ein Weber verdiente nicht mehr als 75 Gulden jährlich, bei nur wenigen hundert Gulden Vermögen. Andererseits gab es nur wenige, die von ihrem Vermögen leben konnten. In Berlin zählte man im Jahr 1713 20 Personen, die lediglich von ihrem Vermögen lebten, 1784 jedoch schon 1507 und 1801 schon 2165, was eine Verschärfung der relativen Armut andeutet. Armut wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert zum Massenphänomen.[14]

Grafik 1 Zeigt die Verteilung der Einkommen von Handwerksmeistern und -gesellen, wobei darauf hinzuweisen ist, das der Übergang fließend ist, mit einer enormen Konzentration im unteren Einkommensbereich. Den größten Teil der insgesamt 885 steuerpflichtigen Meister und Gesellen macht die unterste Verdienstgruppe mit 484 Personen aus. Über die Hälfte der Handwerksmeister und -gesellen lebten also in Armut. Davon waren 107 Personen Handwerksmeister und 377 Gesellen bzw. Gehilfen. Die in Armut lebenden Handwerksmeister waren meistens Weber, Nadler, Gärtner, Schuster, Korbmacher, Dachdecker oder Knopfmacher. In der zweiten Kategorie der 100 bis 200 Taler Verdienenden treten 51 Gesellen auf und 217 Handwerksmeister, die vornehmlich Schuhmacher und Schneider waren. In den nachfolgenden Kategorien höheren Verdienstes gibt es keine Gesellen oder Gehilfen mehr, was verdeutlicht, daß diese Gruppe verstärkt unter Armut zu leiden hatte. In der dritten Einkommenskategorie (200-300 Taler) die 85 Handwerksmeister umfaßt, waren hauptsächlich Bäcker, Fleischer, Schuster und Schneider vertreten, in der vierten mit insgesamt 21 Meistern dominierten Bäcker, Goldschmiede und Kupferstecher. In den letzten drei Kategorien mit insgesamt elf Meistern sind ein Müller, zwei Bäcker, zwei Fleischer, ein Gerber, ein Buchdrucker, ein Seifensieder, ein Schriftgießer, ein Kupferstecher und ein Steingraveur zu nennen.[15]

Grafik 1: Verteilung der steuerpflichtigen Handwerksmeister und -gesellen auf Einkommensklassen in Weimar 1820: Auf der X-Achse ist das jährliche Einkommen in Talern aufgeführt, die Y-Achse beschreibt die Anzahl der Steuerpflichtigen.[16]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein weiterer Blick auf das Vermögen in Grafik 2 ergänzt die Erkenntnisse aus Grafik 1: mit fließenden Übergängen zwischen den hohen und den niedrigen Werten und einer starken Konzentration im unteren Bereich. Als Basis dient hier die Reichsstadt Isny mit 1500 Einwohnern und rund 400 steuerpflichtigen Personen, meist die Familienvorstände. Auch hier ist wieder zu berücksichtigen, daß die Zahl der Armen höher liegt als die Statistik andeutet, da Gesellen, Mägde, Dienstboten als zu ihrem Herren gehörig nicht erwähnt sind.

Vermögenslose und "Arme" mit einem Vermögen unter 300 Gulden machen 44,4% der steuerpflichtigen in Isny aus. Unter die Vermögenslosen fielen die Beisassen, die kein Bürgerrecht hatten. Das Vermögen der Armen bestand zum Großteil aus Liegenschaften, also Häuschen oder Hütten und einem kleinen Stück Land. Ein drittes Beispiel neben Weimar und Isny soll verdeutlichen, daß die Armen in anderen Städten zwar nicht ärmer, die Reichen aber oft wohlhabender waren. So z. B. in Hamburg, wo seit dem siebenjährigen Krieg ein ungemeiner Aufschwung eingesetzt hatte, der Vermögen in Form von Schiffen, Verlagen oder Manufakturen ansammelte, natürlich neben Wohnhäusern, Villen und der dazugehörigen Ausstattung. 1770 faßte die oberste von neun Vermögensklassen diejenigen zusammen, die mehr als 20000 Mark Banco, also mehr als 10000 Taler besassen. Ebenso wie in Bremen gab es aber durchaus Vermögen die in die Millionenhöhe gingen.

Grafik 2: Vermögen von rund 400 Einwohnern der Reichsstadt Isny im Jahr 1798 als Anteil aller Steuerpflichtigen in Prozent: Auf der X-Achse sind die Vermögensgruppen in Gulden abgezeichnet, auf der Y-Achse die Prozentzahl.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein Preis-Lohn-Vergleich über den Zeitraum von 1750 bis 1860 in Deutschland verdeutlicht die Preis- Lohnentwicklung für die Übergangsperiode zum Industriezeitalter, in der es auch zu einem Bevölkerungsanstieg im Vergleich zu den Jahrzehnten davor kam. Demnach stiegen die Löhne von 1750 bis 1820 zunächst mäßig stetig, dann (ab 1800) schneller an, während die Preise für Agrarerzeugnisse ab 1890 sprunghaft um ein Mehrfaches anstiegen als die Löhne, das sich erst ab 1830 normalisierte. Für die Jahre dazwischen bedeutete dies ein Ansteigen der Armut.[17] Berücksichtigt werden muß bei dieser Entwicklung ein regionales Preis- und Lohngefälle für Deutschland von West nach Ost und von Norden nach Süden mit Ausnahme der Großstädte Berlin, München, Köln, Frankfurt/Main und Leipzig, die deutlich über dem Niveau der Region lagen. Durch die Umrechnung der Löhne in die Kaufkraft für Roggen läßt sich ein "Kornlohn" festlegen, der ein Maß der Lebenshaltungskosten darstellt. Daraus kann man eine Einstufung treffen, welcher Wochenlohn wie bewertet werden kann. Bei einem Verdienst von 15 bis 24 kg Roggen kann man von einem Hungerlohn sprechen, bis 50 kg ist er noch "sehr dürftig", zwischen 50 und 60 "dürftig", zwischen 60 und 90 kg "kümmerlich" bzw.

"knapp" und erst ab 90 kg "ausreichend".[18] Für die Gesellen läßt sich ein durchschnittlicher Tageslohn in kg Roggen von 8,7kg errechnen, im Mittel von acht Städten für die Jahre 1771 bis 1780. Nach der oben aufgeführten Wertung ist dieser mit "dürftig" oder sogar "sehr dürftig" zu beschreiben, was erneut belegt, daß Gesellen von Armut betroffen waren. Im regionalen Unterschied ergibt sich für Emden im selben Zeitraum ein durchschnittlicher Kornlohn von 10,9kg, für Leipzig von 8,6kg, für Göttingen und Warmbrunn jeweils 6,2kg. Aber auch die Löhne anderer Berufsgruppen lassen sich in Kornlöhne umrechnen, beispielsweise der städtischen Tagelöhner, für die sich im Zeitraum 1771 bis 1780 6,3 kg Roggen Tageslohn ergeben, wie auch für Stadtschreiber in Göttingen, für die sich ein Wert von 9,6kg ergibt und Setzer in Halle, die 7,5 kg Roggen pro Tag verdienten. All diese Werte deuten auf ihre Gefährdung durch Armut hin, bzw. ihr Leben, welches sie in Armut führen mußten. Diese Löhne fielen für die nächsten zehn Jahre auch noch, so daß sich ihre Not vergrößerte. In den nordwestdeutschen Städten und Berlin sorgte ein agrarisches Hinterland für eine gute Getreideversorgung, die auch die Löhne höher ausfallen ließ. Für die süddeutschen Städte trifft das oben angegebene Mittel zu. Unter dem Durchschnitt waren die Löhne in den Städten Karlsruhe, Augsburg, Speyer und Würzburg wie auch in den verkehrsungünstig gelegenen sächsischen und schlesischen Höhenlagen.[19] Im Mittel von neun deutschen Städten kann man auch den Jahresbedarf in Talern für den Zeitraum 1771 bis 1780 für eine fünfköpfige Familie ermitteln, der zwischen 85 und 105 Talern lag. Der Gesellenlohn im Baugewerbe lag im selben Zeitraum bei 60 bis 120 Talern. [20]

Die verschiedenen Möglichkeiten, Unterschichten zu definieren - über die wirtschaftliche Situation (Vermögen und/oder Einkommen, Preis-Lohn-Vergleich), Ansehen und Recht - deuten schon an, wie schwer es ist, Unterschichten abzugrenzen und Opfer und Ausmaß der Armut aufzuzeigen.[21] Dennoch ergeben die bisherigen Beispiele für die Stadt ein Bild davon, wer arm war, oder von Armut zeitweise betroffen war: Dies waren die Manufaktur- und Heimarbeiter, Tagelöhner, Handlanger, Boten, die meisten Gesellen (eben auch verhairatete) und Dienstboten dann, wenn ihre Herrschaft in Schwierigkeiten kam, oder sie des Alters wegen gekündigt wurden. Aber auch ein gutes Drittel der Handwerksmeister waren von Armut betroffen und dabei gerade folgende Branchen: Weber, Nadler, Korbmacher, Knopfmacher, Scherenschleifer, Schlächter, Schuster und Schneider.[22] Das Beispiel Weimar verdeutlicht, daß über 50% der Bevölkerung nach dem Einkommen bemessen von Armut betroffen war, zu einem ähnlichen Wert kommt man, wenn man das Vermögen der Bewohner von Isny betrachtet, demnach ungefähr 45% der Menschen von Armut betroffen waren. Saalfelds Untersuchungen unterstützen diese Zahlen.

Zu anderen Ergebnissen kommt z. B. Etienne Francois für die rheinischen Städte Mainz, Bonn und Koblenz.[23] Seinen Berechnungen nach sind 26% der Haushalte und 36% der Bevölkerung den Unterschichten zuzuordnen. Er ordnet hauptsächlich Tagelöhner, Fuhrleute (incl. Schiffer, aufgrund ihres Bürgerrechtes jedoch nur teilweise zur Unterschicht gehörig), alleinstehende Frauen und Dienstboten den Unterschichten zu. Grund hierfür ist eine andere Vorgehensweise bei der Definition von Unterschichten, demnach jeder der Unterschicht zuzuordnen war, der nicht heiraten konnte, da ihm für eine Familiengründung das Geld fehlte und er eine Familie auch nicht ernähren konnte. Trotzdem ermittelt er die Armut auch über einen Lohn-Preis-Vergleich, weshalb es nahe liegt, daß wir es hier mit einem regionalen Unterschied zu tun haben, oder aber der Warenkorb bzw. der Lohn für den Lohn-Preis-Vergleich anders ermittelt wurde oder sich tatsächlich anders zusammensetzte.

5. Gesinde

Gesinde machte auf dem Land wie auch in der Stadt einen großen Teil der Unterschichten aus. Der Anteil des Gesindes an der neuzeitlichen Gesellschaft machte ein Fünftel bis ein Viertel aus, je nach Region wie auch nach Stadt oder Land. Gerade in den Städten war der Anteil der Frauen am Gesinde mit 75-80% enorm hoch. Der Prozentsatz war niedriger in wohlhabenden Städten und auf dem Land, wenn in der Landwirtschaft Knechte angeheuert wurden.

Die Tätigkeit des Gesindes begann schon im Alter von 12 bis 14 Jahren und wurde oft nur zum Überbrücken der Zeit bis zur eigenen Familiengründung genutzt. Gleichwohl gab es auch Dienstboten, die für ihr ganzes Leben in einem Haus tätig waren, wenngleich sie auch oft entlassen wurden, sobald sie nicht mehr arbeitsfähig waren und dadurch der Armut preisgegeben waren.

Rechtlich unterstanden Dienstboten dem Hausherren, was ihnen ein gewisses Maß an Sicherheit bot. Die Gesindeordnungen, ab dem 16. Jahrhundert erlassen, legten oft für ein Territorium restriktiv das Lohnniveau fest, was den Grund- und Gutsherren zugute kam. Dort, wo Gesinde keinen Vertrag über ein Jahr oder länger erhielt, kam es oft zu saisonaler Bettelei, da die Arbeitskräfte im Herbst nach der Ernte entlassen wurden. In der Not zogen sie oft umher und rutschten so ins Vagantentum oder in die Kleinkriminalität ab. [24]

6. Militär

Seit dem 16. Jahrhundert hatte sich die Stellung eines Soldaten vom Landsknecht zum Söldner des 18. Jahrhunderts deutlich verändert. Dazu gehörte ein eigener Rechtsstatus, niedriger Lohn und ein geringes Ansehen. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Anzahl der Soldaten in den deutschen Staaten ohne die Habsburger Monarchie auf 2% der Bevölkerung angestiegen, in Preußen war diese Zahl noch höher. Rekrutiert wurde oft gerade bei denen, die ein niedriges Einkommen hatten und sich eine Verbesserung ihrer Lage beim Militär erhofften. Damit waren jedoch die Gefahren verbunden, getötet zu werden oder als Invalide aus einem Krieg zurückzukehren und dann keinen Beruf mehr ausüben zu können. Gerade nach dem 30jährigen Krieg waren die Dörfer und Städte von umherziehenden Soldatenbanden bedroht, die ohne Verdienst raubten und plünderten und sich kaum sozial integrieren ließen. Das lange Dienstverhältnis und die eigenen Regeln des Militärs machten die Soldaten zu Außenseitern,gerade was auch ihre Möglichkeiten zur Familiengründung angeht. Der niedrige Sold verhinderte diese sehr häufig, dennoch hatten rund ein Drittel eine Frau.[25]

Die schwierige wirtschaftliche Situation führte dazu - wie in Berlin und Potsdam -, daß Soldaten neben ihrem Dienst auch noch andere Arbeiten verrichteten. Pro Monat bekamen sie oft nur 2 Taler ausbezahlt, wovon Brot, Bier und das Reinigen der Wäsche bezahlt werden mußte. Bei starker Teuerung wurde den Soldaten Kommißbrot ausgegeben, wie 1714, 1719, und 1736-1738. Tagelöhnerei und Arbeit in einem gelernten Handwerk halfen hier aus, was durch Beurlaubungen begünstigt wurde. Hauptsächlich als Handlanger im Baugewerbe, als Handwerksgesellen oder als ungelernte Arbeiter im Wollgewerbe waren die Soldaten Preußens tätig. Fiel der Haupternährer der Familie aus, so waren die sogenannten Soldatenwitwen und -waisen auf Unterstützung angewiesen. 1717 machte dieser Teil der Bevölkerung einen großen Teil der Berliner Armen aus. Auch hier macht sich wieder deutlich, daß gerade Frauen sehr viel stärker von Armut bedroht waren als Männer. Die Zahl der "Soldatenarmen" stieg in Berlin in den Jahren bis 1737. In diesem Jahr waren 255 Frauen und 106 Männer als "Soldatenarme" registriert.[26]

7. Randgruppen

Eine Minderheit, die auch von Armut betroffen war, wenngleich auch zahlenmäßig gering, waren Randgruppen, die sozial nicht integriert waren. Darunter fielen Bettler, Vaganten, Räuber, Juden, Unehrliche und Zigeuner.

Bei Vaganten und Bettlern, die in Normalzeiten nicht mehr als 3-4% der Bevölkerung ausmachten, lassen sich verschiedene Motive entdecken. Es gab Personen, die mobil waren um eine neue Stelle zu finden oder auch nur Gelegenheitsarbeiten verrichten wollten und sich nach gewisser Zeit wieder niederlassen konnten. Ursache konnten hier auch Krisen oder Kriege sein. Einige glitten dabei in lebenslanges Umherziehen ab, wobei Vaganten hauptsählich junge Männer waren. Der Übergang zu Betrug und Kriminalität war fließend. Dennoch war die Gruppe der Räuber oder Gauner sehr gering. In Südwest- und Westdeutschland gab es eine Reihe von Banden, da die Herrschergewalt hier nicht so stark war. Zu dieser Gruppe stießen sehr oft ehemalige Soldaten oder Personen aus geächteten Berufen wie Schinder und Abdecker. Diese zählten auch zu den Unehrlichen aufgrund ihres Berufes, wie auch Henker oder Scharfrichter, Nachtwächter, Totengräber, Bader, Chirurgen und Prostituierte. Unehrlichkeit konnte aber auch durch ein Verbrechen einen Menschen treffen. Unehrlichkeit war jedoch nicht immer mit wirtschaftlichem Notstand verbunden, aber die Randstellung ließ diese Berufsgruppen eher umherziehen.

Juden litten ebenfalls unter einem besonderen Rechtsstatus und waren seit Jahrhunderten eine verfolgte Randgruppe. Die Ursachen dafür sind nur schwer kurz zusammen zufassen, weshalb an dieser Stelle auch darauf verzichtet werden soll. Durch begrenzte Niederlassungschancen waren Juden wirtschaftlich eingeschränkt und auch gezwungen, in bestimmten Gebieten bzw. Vierteln zu siedeln. Dazu kamen Hausier- und Betteljuden, die wie Trödeljuden vagierten und unter bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen lebten. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Pogrome und Verfolgungen, die Juden trafen, ebenso wie die Zigeuner. Dennoch war diese Bevölkerungsgruppe im Deutschland des 17. Jahrhunderts sehr klein. Sie fielen auf durch ihre Stammes-, Sippen und Familienverbände, ihre Sprache und das Umherziehen.[27]

8. Der Einfluß von Krisen auf die Opfer und das Ausmaß der Armut

Der Preis-Lohn-Vergleich und seine zeitliche Entwicklung deuteten schon an, daß die Unterschichten des 17. und 18. Jahrhunderts besonders in Krisenzeiten zu Opfern der Armut wurden. Verteuerung der Lebensmittel wegen schlechter Ernten ließ sie hungern und die Familie konnte nicht mehr ausreichend ernährt werden. Die Menschen wurden anfällig für Seuchen, an denen sie dann starben oder sie verhungerten einfach. Eine solche Krise prägte die Jahre 1771/72, die hier beispielhaft näher erläutert werden soll. Der Bericht des Garnwarenhändlers Ulrich Bräker "Der arme Mann in Toggenburg" schildert die Not während dieser Krise in seinem Schweizer Heimatort:

"Ich hatte fünf Kinder und keinen Verdienst, ein bißchen Gespunst ausgenommen. Bei meinem Händelchen büßt ich von Woche zu Woche mehr ein... Mein kleiner Vorrat von Erdäpfeln und anderem Gemüs´ aus meinem Gärtchen, das mir die Diebe übriggelassen, war aufgezehrt, ich mußte mich also Tag für Tag aus der Mühle verproviantieren; das kostete am End´ der Woche eine hübsche Hand voll Münze nur für Rotmehl und Rauchbrot... Die Not stieg um diese Zeit (Winter 1770) so hoch, daß viele eigentlich blutarme Menschen kaum den Frühling erwarten mochten, wo sie Wurzeln und Kräuter finden konnten. Auch ich kochte allerhand dergleichen, und hätte meine jungen Vögel noch lieber mit frischem Laub genährt, als es einem meiner erbarmungswürdigen Landsmänner nachgemacht, dem ich mit eigenen Augen zusah, wie er mit seinen Kindern von einem verreckten Pferd einen ganzen Sack voll Fleisch abhackte, woran sich schon mehrere Tage Hunde und Vögel satt gefressen hatten..."[28]

Ulrich Bräker schildert die Not in seinem Schweizer Heimatort, für den ein Begriff verwendet werden kann, der auch auf eine Reihe andere deutschsprachige Gebiete zutrifft: "gewerblich durchsetzte Kleinbauerngebiete"[29]. Damit wird darauf hingewiesen, daß hier die Landwirtschaft nur einen Teil des Verdienstes ausmachte, den anderen Teil machten Tätigkeiten im Bereich der Textilproduktion oder Hilfstätigkeiten im Fuhrgewerbe oder Handwerk aus, wie auch schon oben ausgeführt. Eine solche Krise, welche die Lebensmittelpreise steigen ließ, wirkte sich aber auch auf das Handwerk in der Stadt aus, wie ein Bericht von 1771 aus süddeutschen Städten andeutet:

"Die Meister feiern, die Gesellen bekommen ihren Abschied. Die Lehrjungen gehen spazieren. Die Arbeiter stehen müßig. Die Werkstätten liegen still. Die Handwerker sehen sich um nach Arbeit und die Professionen nach Verlegern. Die Kaufleute suchen neue Freunde, weil sie von den alten viele verloren haben..."[30]

Die Ursache dafür lag in der Teuerung der Lebensmittel, durch die Kaufkraft der Städter verloren ging. Als Beispiel für die Teuerung in Krisenzeiten soll hier Göttingen dienen, das ungefähr 9000 Einwohner zählte. 1770 wurde nur die Hälfte der Roggen- und Weizenmengen auf dem Markt zum Verkauf angeboten, wie in den fünf Jahren zuvor. Der Preis für Roggen betrug im Jahr 1772 das 3,1fache vom Preis der Jahre 1765-69. Daß dies die Menschen schwer traf und Armut hervorrief, läßt sich an der Zahl der Eheschließungen ablesen. Eine Ehe bedeutete eine hohe wirtschaftliche Belastungen, da sodann Kinder ernährt werden mußten, ebenso wurde die Unterkunft teurer. Im den frühen 1770er Jahren ging die Zahl der Eheschließungen deshalb um mehr als die Hälfte im Vergleich zu den Vorjahren zurück. Man konnte sich eine Ehe nicht mehr "leisten". Die Zahl normalisiert sich wieder in den folgenden Jahren, in denen auch der Preis für Getreide runterging. Diese Krise veranlaßte die Stadtherren von Göttingen Räume für ein "Werkhaus" anzumieten, um dem Problem der übermäßigen Bettelei Herr zu werden. Es wurde auch Getreide aus fernen Gebieten gekauft, um die Armen zu ernähren.[31]

Das Ausmaß der Krise läßt sich am Arch-Diakonat Gars ausmachen, nördlich von München gelegen. Dort starben in den 1760er Jahren jährlich ungefähr 1650 Menschen, bei einer gleichbleibenden Bevölkerungszahl von 49 bis 50000. 1771/1772 stieg diese Zahl auf 3360, was mehr als eine Verdoppelung bedeutet. Das diese hohen Opferzahlen auch eine Entvölkerung von Regionen bedeuten konnte, zeigt das Beispiel Kursachsen. In den 1760er Jahren starben jährlich 47 bis 57000 Menschen, wobei etwa 9000 bis 12000 mehr geboren wurden. 1772 betrug die Zahl der Toten rund 112000, der Neugeborenen 46000. Ab 1774 stellte sich das alte Verhältnis wieder ein, aber insgesamt hatte die Region 6% ihrer Bevölkerung verloren. [32]

Die Krisen trafen nur selten die Gutsbesitzer und großen Bauern, die sogar aus den höheren Preisen Profit zogen, da die Grundrente stieg, sowie auch die Preise der Höfe und Güter. Von dieser Sicherheit profitierte auch das Gesinde, die Knechte und einige Tagelöhner, da sie ihre Arbeit behielten, solange es den Bauern gut ging. Sobald jedoch Nahrung dazugekauft werden mußte, trafen die hohen Preise in der Krise die Menschen. 70 bis 80 % der Bauern konnten keine Überschüsse erwirtschaften, wobei die hohen Abgaben zwischen 26 und 40% eine starke Belastung darstellten.

Inwiefern die Krisen die Stadt trafen zeigt auch das Beispiel Berlin aus dem Jahre 1800, in dem nach Erntekrisen Nahrungsmittelknappheit herrschte. Der König von Preußen reagierte hierauf mit Karten, die den stark verbilligten Bezug von Kommißbrot ermöglichten. Als unterstützungswürdig wurden demnach rund 10000 Personen anerkannt, die sich aus 1000 bekannten Almosenempfängern, 5000 bis 6000 Textilarbeitern , 2000 Handwerkern, Krämern und kleinen Selbständigen sowie 1500 Boten und Kopisten zusammensetzte. Mit ihren Familien waren die 30000 bis 40000 Menschen, die von Armut betroffen waren , also 20-25% der damaligen Zivilbevölkerung von 150000. Diese Zahl ist aber wohl eher die untere Grenze , wenn man die Zahl der Armen feststellen will.

9. Ausmaß und Opfer der Armut: Zusammenfassung

Als grobes Fazit dieser Arbeit läßt sich festhalten, daß mit regionalen und zeitlichen Schwankungen rund die Hälfte der Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert von Armut betroffen war.[33] Auffällig dabei ist, daß noch nicht einmal ein großes Gefälle von Stadt zu Land auszumachen ist. Tendenziell belegen die Beispiele für die Schweiz jedoch, daß die Unterschichten sicherlich 50% der Bevölkerung umfaßt haben mögen, jedoch nicht alle direkt von Armut betroffen waren.[34] Ein klares Ergebnis bleibt hier schwierig und Schätzungen spielen beim Ergebnis eine Rolle. Grund für dieses Ergebnis sind die schwierigere Quellenlage. So bleibt man auf technische Überlegungen angewiesen, nach denen man das Auskommen für eine Familie errechnet und wieviel Land sie zum Anbau dieses Bedarfes braucht. Diese Grenze liegt - wie oben aufgeführt - zwischen 4 und 8ha. Um zu überleben, mußten alle mit weniger Land dazuverdienen.

Für die Stadt ist die Quellenlage wesentlich besser. Hier geben die Hamburger Einteilung nach Vermögens-Steuerklassen Auskunft über die Struktur der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Steuerlisten über Einkommen und Besitz in anderen Städten verdichten hier das Bild, daß die Hälfte der Bevölkerung in den Städten von Armut betroffen waren. Über die Jahrzehnte hinweg ließe sich eine Lohn-Preis-Entwicklung zusammenstellen, um so auch noch genaue zeitliche Schwankungen auszumachen, die in Krisenzeiten viele Menschen in die Armut stürzten. Saalfelds Untersuchung umfaßte die Jahre 1750 bis 1860. Dennoch kann man Krisen auch an Aktionen in der Armenfürsorge ablesen, wie z. B. bei den Brotausgaben für preußische Soldaten in einigen Jahren.[35] In den Städten sind die Opfer der Armut hauptsächlich die angehörigen der Unterschicht gewesen, also Tagelöhner, Handlanger, Fuhrleute, Gesellen etc. Wichtig ist jedoch, daß verstärkt Frauen unter den Opfern der Armut waren. In der Stadt zeigte sich aber, daß auch Handwerksmeister von Armut betroffen waren, wobei bestimmte, stärker betroffene Berufszweige auszumachen sind (siehe oben). Randgruppen spielen beim Ausmaß der Armut keine so große Rolle, da ihre Anzahl nie große Teile der Bevölkerung ausmachte. Dennoch sind sie für die Betrachtung wichtig, wenn man die Opfer der Armut feststellen möchte.

Literaturverzeichnis

- Abel, Wilhelm: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 1972.
- Fischer, Wolfram: Armut in der Geschichte, in: Armut in Deutschland, Historisch-Politische Tage 1995, Bremen 1996, S.25-39.
- Francois, Etienne: Unterschichten und Armut in rheinischen Residenzstädten des 18. Jahrhunderts, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 62 (1975), Heft 4, S.433-464.
- Hippel, Wolfgang von: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit, München 1995.
- Kocka, Jürgen: Weder Stand noch Klasse, Bonn 1990.
- Mooser, Josef: Unterschichten in Deutschland 1770-1820, in: Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, hergb. von Helmut Berding, Etienne Francois und Hans-Peter Ullmann, Frankfurt/Main 1989, S.317-338.
- Saalfeld, Diedrich: Einkommensverhältnisse und Lebenshaltungskosten städtischer Populationen in Deutschland in der Übergangsperiode zum Industriezeitalter, in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im saekularen Wandel, Festschrift für Wilhelm Abel zum 70. Geburtstag, Hannover 1974, S.417-443.
- Sauer, Paul: Not und Armut in den Dörfern des Mittleren Neckarraumes in vorindustrieller Zeit, in: Zeitschrift für württembergische Landeskunde 41 (1982), S. 131-149.
- Schaer, Friedrich-Wilhelm: Die ländlichen Unterschichten zwischen Weser und Ems vor der Industrialisierung - ein Forschungsproblem, in: Niedersächsisches Jahrbuch 50 (1978), S. 44-69.
- Schultz, Helga: Berlin 1650-1800, Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1987.

[...]


1 Vgl. Fischer, Wolfram: Armut in der Geschichte, in: Armut in Deutschland, Historisch-Politische Tage 1995, Bremen 1996, S. 25-39.

2 Vgl. Kocka, Jürgen: Weder Stand noch Klasse, Bonn 1990, S.123.

3 Vgl. Hippel, W. von: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit, München 1995, S. 14f.

4 Vgl. ebenda, S. 15-17.

5 Vgl. Kocka, Jürgen: Weder Stand noch Klasse, Bonn 1990, S.91ff.

6 Vgl. Kocka, Jürgen: Weder Stand noch Klasse, Bonn 1990, S.87ff.

7 Vgl. Sauer, Paul: Not und Armut in den Dörfern des Mittleren Neckarraums in vorindustrieller Zeit, in: Zeitschrift für württembergische Landeskunde 41 (1982), S. 131-149.

8 Vgl. Dubler, Anne-Marie: Armen- und Bettlerwesen in der gemeinen Herrschaft "Freie Ämter", Basel 1970.

9 Vgl. Kocka, a.a.O., S. 134.

10 Vgl. Hippel, a.a.O., S.19.

11 Vgl. Kocka, a.a.O., S.116-123.

12 Vgl. Hippel, a.a.O., S. 18f.

13 Vgl. Kocka, a.a.O., S. 128f.

14 Vgl. Kocka, a.a.O., S. 116-117.

15 Vgl. Kocka, a.a.O., S. 118.

16 Vgl. Kocka, a.a.O., S. 118.

17 Vgl. Saalfeld, Diedrich: Lebensstandard in Deutschland 1750-1860, in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel, Festschrift für Wilhelm Abel zum 70. Geburtstag (Hrgb. Ingomar Bog, Günter Franz, Karl-Heinrich Kaufhold, Hermann Kellenbenz, Wolfgang Zorn), Göttingen 1974, Band II, S. 417-443.

18 Vgl. Saalfeld, a.a.O., S.420.

19 Vgl. Saalfeld, a.a.O., S.419-422.

20 Vgl. Saalfeld, a.a.O., S. 428.

21 Vgl. Francois, Etienne: Unterschichten und Armut in rheinischen Residenzstädten des 18. Jahrhunderts, in: Vierteljahreshefte für Sozial - und Wirtschaftsgeschichte, 62. Band, Heft 4 (1975), S.433-464 zugrunde gelegt oder auch bei: Mooser, Josef: Unterschichten in Deutschland 1770-1820, in: Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, hrgb. Von Helmut Berding, Etienne Francois, und Hans-Peter Ullmann, Frankfurt/Main 1989, S.317-338.

22 Vgl. Kocka, a.a.O., S. 134.

23 Vgl. Francois, Etienne: Unterschichten und Armut in rheinischen Residenzstädten des 18. Jahrhunderts, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 62. Band, Heft 4 (1975), S. 433-464.

24 Vgl. Hippel, a.a.O., S. 23-25.

25 Vgl. Hippel, a.a.O., S.28-31.

26 Vgl. Schultz, Helga: Berlin 1650-1800, Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1987, S.104ff.

27 Vgl. Hippel, a.a.O., S. 32ff.

28 Vgl. Abel, Wilhelm: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, Göttingen 1972, S.49f.

29 Vgl. ebenda, S.50.

30 Vgl. ebenda, S.50f.

31 Vgl. ebenda, S.46-54.

32 Vgl. Kocka, a.a.O., S. 125f.

33 Zu diesem Schluß kommt auch Kocka für die Zeit um 1800. Vgl. Kocka: a.a.O.

34 Vgl. Dubler, a.a.O.

35 Vgl. Schultz, a.a.O., S.104ff

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Ausmaß und die Opfer der Armut im 17. und 18. Jahrhundert
Hochschule
Freie Universität Berlin
Autor
Jahr
1998
Seiten
22
Katalognummer
V95141
ISBN (eBook)
9783638078207
Dateigröße
397 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ausmaß, Opfer, Armut, Jahrhundert
Arbeit zitieren
Christoph Prößl (Autor:in), 1998, Ausmaß und die Opfer der Armut im 17. und 18. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95141

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