Der vielseitige Poet und Schriftsteller Peter Rühmkorf schrieb Gedichte, Prosa und Dramen. Nach seinem ersten Märchen "Auf Wiedersehen in Kenilworth" erschien 1983 der Märchenband "Der Hüter des Misthaufens. Aufgeklärte Märchen.".
Die vorliegende Arbeit untersucht im ersten Teil die Entstehungsbedingungen der Märchen. Stoff und Form, so soll gezeigt werden, wurden von Autor bewußt gewählt, um seinem Publikum direkt erreichen zu können, ohne auf den Literaturbetrieb unbedingt angewiesen zu sein.
"Meine Märchen sind Vortragsmärchen, ich habe sie mir selber in den Mund geschrieben."1
so der Autor über sein Buch. Dass diese Aussage wörtlich zu nehmen ist, soll der zweite Teil zeigen. Im weiteren Verlauf werden die Märchen "Zu Golde" und "Blaubarts letzte Reise"genauer betrachtet. Ausserdem wird untersucht, wie der Untertitel "Aufgeklärte Märchen" zu verstehen sein könnte.
Bei Zitaten aus "Der Hüter des Misthaufens" wird die Seitenangabe in Klammern angefügt.
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel
- Bindet die Bauchläden fester
- Der Affe als Mensch
- Rühmkorf als Vortragsonkel
- Mündlicher Erzählstil
- Lautmalerei
- Reime und Alliterationen
- Rhetorische Fragen
- Wertende Aussagen
- Provokative Aussagen
- Imaginäres Publikum
- Moderne Zeiten
- zu Golde
- Märchen im Märchen
- „Aufklärung“ im Märchen
- Aufklärung ohne erhobenen Zeigefinger
- Blaubarts letzte Reise
- Zusammenfassung
- Literaturverzeichnis
- Sekundärliteratur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht die Entstehungsbedingungen der Märchen „Der Hüter des Misthaufens. Aufgeklärte Märchen“ von Peter Rühmkorf. Im ersten Teil werden Stoff und Form der Märchen beleuchtet, um zu zeigen, warum der Autor bewusst diese Form wählte, um sein Publikum direkt zu erreichen, ohne auf den Literaturbetrieb angewiesen zu sein. Der zweite Teil widmet sich der mündlichen Vortragsform der Märchen und analysiert die Märchen „Zu Golde“ und „Blaubarts letzte Reise“ genauer. Ausserdem wird untersucht, wie der Untertitel „Aufgeklärte Märchen“ zu verstehen sein könnte.
- Die Entstehung und Intention der Märchen von Peter Rühmkorf
- Der Einfluss der mündlichen Tradition auf die Form und den Stil der Märchen
- Die Rolle der „Aufklärung“ in den Märchen
- Die Verbindung von klassischer Märchen-Tradition und moderner Gesellschaft
- Die Kritik an gesellschaftlichen Missständen und die Suche nach Hoffnung
Zusammenfassung der Kapitel
Peter Rühmkorf unternahm mit seinen Märchen mehrere Vortragsreisen, um den direkten Kontakt zu seinem Publikum zu suchen. Er wollte keinen passiven Applaus, sondern einen kreativen Austausch. Dies war nicht nur seiner Freude am Vortragen geschuldet, sondern auch seiner kritischen Haltung gegenüber dem Literaturbetrieb. Bereits im Mai 1982 schrieb er an seinen Kollegen Flitz J. Raddatz, dass er sich nach einem anderen Publikum umsehen müsse. Die Märchen sollten auf die Dörfer und Samtgemeinden, in ein „Liliputanland“, das man noch auf eigenen Füssen durchwandern kann, gebracht werden. Das Buch sollte die Literaturkritik nicht interessieren. Doch in einem Brief an Gisela Wand nach der Veröffentlichung der Märchen wird die Ambivalenz seiner Haltung deutlich. Einerseits beschreibt er seine Freude am direkten Kontakt mit dem Publikum, andererseits wird seine Ohnmacht gegenüber den Marktgesetzen deutlich. Rühmkorf gibt zu, dass die Märchen ein Versuch gewesen seien, die anspruchsvolle Literatur mit der auch auf unteren Ebenen unterhaltsamen Popularliteratur zu amalgamieren und die klassisch-romantischen Traditionen noch einmal dem Strom des Vergessens zu entreißen. Dieser Versuch sei jedoch misslungen, nicht etwa, weil es kein interessiertes Publikum gebe, sondern weil „Der Hüter des Misthaufens“ von den Organen der Literaturkritik „übersehen, außen vor belassen, bestreikt“ worden sei. Rühmkorf vergleicht den Literaturbetrieb mit Märchenstädtchen Grünwiesel, es zählten nicht Inhalt und Qualität des Werks, sondern allein eine gute Show, „die nötigen extravaganten Lebensumstände und äffschen Selbstverrenkungen“. Zu solchen aber sei er nicht in der Lage und auch nicht gewillt.
Rühmkorf forderte bei seinen öffentlichen Vorträgen Einspruch, er wollte das aktive Mitdenken seiner Zuhörer provozieren. Damit knüpfe er an die mündliche Tradition des Volksmärchens an. Das Charakteristische am Volksmärchen ist, dass es sich durch die mündliche Überlieferung von Mal zu Mal verändert. Zwar sind Rühmkorfs Märchen natürlich Kunstmärchen, festgeschrieben und in dieser Hinsicht unveränderlich. Auf seinen Vortragsreisen versuchte er dennoch, das Element der Veränderbarkeit zu erhalten. Gelegentlich liess er den Schluss eines Märchens weg und die Zuhörer selber zu Ende konstruieren. Die Freude an der Kreativität und dem Widerspruchsgeist seines Publikums wird spürbar, wenn er an Gisela Wand schreibt: „Sie glauben ja gar nicht, was sich auchsene Kindsköppe alles zu und gegen jede Sitte und Ordnung herauszulesen trauen! Manchmal kann solch ein fruchtbar ins Phantasieren geratener Verein sogar bessere, schönere, interessantere oder plausiblere Lösungen finden als der mit Einsicht und Überblick auch nur begrenzt gesegnete Autor.“ Hier deutet sich bereits an, was der Autor mit seinen aufgeklärten Märchen bezweckt haben könnte: das „Phantasieren“ „gegen jede Sitte und Ordnung“ anzuregen, Lust zu machen auf Hinterfragen, Einspruch und Widerstand mit Hilfe der Fantasie. Er selbst ist dabei jedoch nur derjenige, der den Stein ins Rollen bringt. Rühmkorf sah sich nicht in der Rolle des Lehrmeisters, auch seine Lösungen seien schließlich nicht immer der Weisheit letzter Schluss. So könnte auch das Motto der aufgeklärten Märchen gedeutet werden: Die Rechtsformel „in dubio pro reo“, also „im Zweifel für den Angeklagten“ heißt damit umgemünzt „im Zweifel für das Publikum“. Im Zweifelsfall kann sich der Zuhörer/Leser den Sinn, das Motto oder gar die Lehre des Märchens selber zusammenreimen. Und ein Zweifel liegt bei Rühmkorfs Märchen des öfteren vor. Der Autor erhebt keinen Anspruch auf Allwissenheit.
Beim Vortrag ist die konkrete Beteiligung des Publikums recht leicht zu realisieren. Rühmkorf kann direkt auf eingehende Fragen stellen, zum Erzählen auffordern. Ganz anders ist das natürlich bei der einsamen Lektüre der Märchen auf dem heimischen Sofa. Rühmkorf verzichtet aber nicht auf den direkten Einfluss, den er beim Vortrag to face auf das Publikum nehmen kann. Durch stilistische Mittel erzeugt er den Eindruck von Mündlichkeit in den Märchen. Dies erreicht er durch einen auktorialen Erzähler, der stets präsent bleibt und niemals hinter die eigentliche Geschichte zurücktritt. Der Leser hat das Gefühl, die Geschichte erzählt zu bekommen. Der Erzähler kommentiert, stellt rhetorische Fragen, provoziert, stellt Gemeinsamkeit her im imaginären Publikum. Einige stilistische Mittel:
Dieses Mittel kommt sehr häufig vor. Der Erzähler bildet die Geräusche von beispielsweise einem Auto oder von Feuer nach. Dies erzeugt einen starken Eindruck von Mündlichkeit.
Nicht nur nehmen in den Märchen kurze Gedichte oder Sprüche wichtige Rollen ein (Ointemann und Schindemann. Die Last, die Lust und die List). Sehr oft reimen sich auch mitten im Text einige Wörter oder durch Alliterationen. An Gisela Wand schrieb er: „Meine Anklänge- und Widerhalltheorien sind mehr als mar dies - sie haben mit Hörpraxis und öffentlichen Singproben zu tun.“ Mit dieser Aussage bezieht sich Rühmkorf sicher auf sein Buch „Agar agar- zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerv-en.“ Rühmkorf hat also versucht, in den Märchen seine Reimtheorien in die Tat umzusetzen.
Fragen, die ein Erzähler beim Vortrag direkt ans Publikum richten könnte, tauchen im Text als rhetorische Fragen auf. Sie unterbrechen den Erzähl- oder viel mehr Lesefluss und regen den Leser an, sie selbst zu beantworten.
Der Erzähler kommentiert und bewertet Figuren und Handlung. Damit übt er natürlich einen Einfluss auf den Leser aus.
Aussagen sind manchmal absichtlich (oft auch in ironischem Tonfall) so formuliert, dass sie beim Leser auf Widerstand treffen müssen. Sie provozieren und regen zum Widerspruch an.
Der Erzähler spricht einem imaginären Publikum an und benutzt sehr häufig „Ihr“, „Euch“ oder „uns“. Die persönliche Ansprache erzeugt für den Leser das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein. Mit seinem vertraulichen Ton erzeugt der Erzähler Nähe.
Der Erzählstil in „Der Hüter des Misthaufens“ versucht, einen mündlichen Vortrag nachzubilden. Der stets dominante Erzähler führt durch die Geschichten und lässt den Leser nicht unbeeinflusst. Gerade durch das erzeugte Gefühl von Vertrautheit und Nähe wirken wertende Aussagen „manipulierend“ auf den Leser. Der Erzähler nimmt in gewisser Weise den Leser an die Hand und öffnet seinen Schülern/seinem Schüler die Augen über gewisse Zustände der Welt.
Nicht in einem weit entfernten Märchenland sind Rühmkorfs Erzählungen angesiedelt. Der Autor hat sie durch verschiedene Bemerkungen in zeitliche und räumliche Nähe zum Leser gerückt. Die Märchen verlieren dadurch einen Teil ihrer weltentfernten Unschuld. Märchenfiguren lassen „BodetY Luft Raketen“ (S. 33) steigen, spielen in der „Norddeutsche[n] Klassenlotterie“ (S. 136), sind „Mitglied des Schützenvereins und des Gemeinderats“ (S. 215). Sie fahren Auto, lesen Zeitung und hören Rundfunk.
Denn auch wie modern die Umgebung auch sein mag, manche grossen Fragen ändern sich nie. „Zu Golde“ ist eine Variation auf das häufige Märchenthema vom Mann, der sein Glück machen will. Es wird Bezug auf Wilhelm Hauffs „Das kalte Herz“ und Adelbert von Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ genommen, wenngleich die Handlung in Zeiten der freien Marktwirtschaft und der Börse verlegt wird. Diese Kunstmärchen sollen deshalb bei der Interpretation von „Zu Golde“ berücksichtigt werden.
Die Geschichte beginnt im Gasthof „Zum letzten Tropfen“. Die recht wunderliche Gepflogenheit in diesem Lokal, dass nämlich der letzte Gast die Zeche für alle bezahlt, gibt dem Leser bereits den Hinweis, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zu geht. Ausserdem deutet dieses Prinzip bereits voraus sowohl auf das System der Börse wie auf das Kartenspiel im weiteren Verlauf der Geschichte: Was für die einen Gewinn bedeutet, kann für den „Verlierer“ den Ruin zur Folge haben.
Peter Friese erinnert durch das Motiv seiner Unzufriedenheit an die Märchenfiguren Peter Munk und Peter Schlemihl. Friese brütet, „wie man an das Glück herankommen könne“ (S. 136). Peter Munk „war mit seinem Stand als Kohlenbrenner unzufrieden“ und auch Peter Schlemihl sah mit Bedauern auf die Gesellschaft aus reichen Leuten hohen Standes.
Herr Vormundsen rettet Peter Friese aus der Verlegenheit und bezahlt seine Zeche. Welche Rolle er genau spielt, bleibt undurchsichtig, jedenfalls ist er kein gewöhnlicher Gast. Er beginnt ein Gespräch und kommt sofort auf das Thema Glück zu sprechen, also über genau das, worüber Friese gerade sinniert. Dies deutet seine Klugheit an. Er gibt sich sehr zuvorkommend und verständnisvoll, dabei gibt er Friese zu verstehen, dass er ihn für etwas Besonderes hält.
Vormundsens Verhalten erinnert an das von Hauffs Holländamichel und Chamissos Mann im grauen Rock. Auch diese verhalten sich sehr freundlich, wenigstens bis der angestrebte Handel abgeschlossen ist. Während jedoch Munk und Schlemihl mehr oder weniger unbedacht in die Falle stolpern, ist sich Peter Friese der Gefahr durchaus bewusst. Er kennt die Geschichten seiner Vorgänger, auch König Midas. Er bietet Vormundsen gar gleich als erstes, wenn auch indirekt und etwas zögerlich, seine Seele an. Hatten es die übermächtigen Geschäftspartner in den anderen Märchen alle in Prinzip auf die Seele ihrer Klienten abgesehen, ist Vormundsen daran aber nicht interessiert.
Interessant ist auch, dass Vormundsen zunächst nur abstrakt von Glück spricht, wenn er auch bereits Worte wie „rücksichtslos“, „Geschäft“ und „Eigentum“ (S. 141) in den Mund nimmt. Die Beziehung Glück-Geld stellt Friese selber her. Vormundsen hebt währenddessen „bedenkenreich die mächtige Katerbraue“ (S. 142). Peter Friese tritt mit der Vorstellung, allein Reichtum könne ihn glücklich machen, in die Fußstapfen seiner Vorgänger, deren Wünsche er noch als töricht abtut. Das Ende des Märchens lässt darauf hin, dass es Peters fehlgeleiteter Wunsch ist, der ihm sein Unglück bringt. Erst das Ende wirft auch ein anderes Licht auf Vormundsen. Hierin unterscheidet sich Rühmkorfs Version stark von „Das kalte Herz“ und „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“. Dort werden die Kategorien Gut/Böse eindeutig gekennzeichnet, zumindest für den Leser. Holländamichel und der Mann im grauen Rock sind teuflisch, das Glücksmännlein ist streng, dennoch gut. In Rühmkorfs Version kommt es für den Leser am Ende genauso überraschend wie für Peter Friese, dass Vormundsen nicht auf sein Recht pocht. Die Wertung Gut/Böse ist nicht so zu verteilen. Der Leser erhält dabei genau so eine Lektion wie der Protagonist Friese.
Erneut eine Parallele: Vormundsen wird als „der Graugestromte“ (S. 139) bezeichnet. Doch zunächst chronologisch. Für Peter Friese folgt jetzt eine gewisse Zeit des Wohlstandes, er handelt an der Börse. Erzählerkommentare deuten schon an, dass seine Gewinne dabei stets mit dem Verlust anderer Spekulanten zusammenhängen. Aber genau wie bei seinen Vorgängern hält dieses unsichere Glück nicht all zu lange. Peter muss zu Vormundsen, um ein Pfand einzulösen.
Die Szene im Wirtshaus erscheint ganz anders, wenn das Ende bekannt ist. Die wunderliche Gesellschaft hat im Grunde eine Statistenrolle in einer Lehrstunde für Peter Friese, denn später wird deutlich, dass sie mit Vormundsen unter einer Decke steckt. Der Leser gewinnt den Eindruck, Friese wurde eine Lektion erteilt, wenn auch mit grossem Risiko für ihn, dabei sein Leben zu lassen. Von Vormundsen angestachelt will er mit den anderen Pokern und sie mit gezinkten Karten hereinlegen, diesmal mit dem Wissen, dass sein Gewinn mit dem Ruin der anderen untrennbar verknüpft ist. An der Börse ist dies eine abstrakte, aber reale Wahrheit, wie Vormundsen die Augen öffnet. Bei diesem Pokerspiel aber sind Gewinn und Verlust geradezu greifbar. Friese wirft bewusst Bedenken und Mitleid über Bord. Wie ein Neuling an der Börse wird er jedoch selbst über den Tisch gezogen, weil er nicht richtig auf die Regeln achtet.
Als Peter Friese im letzten Moment das Wort „Gnade“ über die Lippen kommt, löst sich die Situation auf. Die ganze Gesellschaft steckt unter einer Decke und Vormundsen beglückwünscht ihn beinahe, dass er noch rechtzeitig das „richtige Lösungswort“ (S. 184) gefunden habe. An der Börse würde dieses vermutlich kein Gehör finden, in der freien Marktwirtschaft erscheint es geradezu fehl am Platz, aber zumindest im Märchen findet es Gehör und ist fähig, den Lauf der Dinge zu ändern. Warum aber war ausgerechnet Halbamtlin dafür die richtige Adresse? Vielleicht, weil er der eigentliche Gewinner des Spiels war. Oder weil er der Einzige war, der mit Friese Mitleid hatte. Oder weil er der Schwächste war. Oder, oder, oder. Die genauen Zusammenhänge sind sowohl für Peter Friese als auch für den Leser alles andere als klar. Einer der oben erwähnten über den sich der Leser selber den Kopf zerbrechen kann und wohl auch soll.
Die Geschichte thematisiert die moderne Welt der ungreifbaren, gesichtslosen Handelszentrale Börse. Die parallele Darstellung der Börse und des unheimlichen Kartenspiels führen Peter Friese genauso wie dem Leser die normalerweise unsichtbaren, abstrakten Vorgänge sichtbar vor Augen. Beide erhalten eine Lektion. Andererseits zeigt die Geschichte gerade durch die Gemeinsamkeiten mit den Märchen von Chamisso und Hauff, dass blinde und die kopflose Gier der Menschen nach Geld scheinbar zeitlose, immer aktuelle Themen der menschlichen Geschichte sind.
Sowohl „Das kalte Herz“ als auch die Geschichte von Peter Schlemihl liefert eine Version des richtigen Wegs, sein Glück zu finden. Munk findet bescheidenen Wohlstand, als er mit dem zufrieden ist was er hat. Schlemihl bleibt zwar ausgestossen, findet aber einen Lebensinhalt in seiner Kunst. Diese Wege werden durch die Erzähler deutlich als positiv gekennzeichnet. In Rühmkorfs Version dagegen ist kein Königsweg für ein glückliches Leben zu finden, sie endet offen, obwohl für den Leser noch viele Fragen sind. Der offene Schluss ist charakteristisch für viele Märchen in „Der Hüter des Misthaufens“. Dies rückt die Geschichten in die Gegenwart und in die Realität, in der auch keine Geschichte und kein Lebensabschnitt einen „wahren“ Schluss hat. Weil die Problematik nicht vollständig aufgelöst wird, wie es etwa im Volksmärchen der Fall ist, ist der Leser sich seiner eigenen Gedanken zu machen.
Rühmkorfs Märchen stehen nicht unabhängig von ihren Vorgängern. Häufig wird die Gattung Märchen in den Geschichten thematisiert. Die Formeln am Anfang und am Ende traditioneller Volksmärchen schaffen bei den mündlich überlieferten Geschichten so etwas wie Kontinuität und Sicherheit. Die Schlussformel „… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich und zufrieden“ (oder in ähnlicher Form) signalisiert den glücklichen Ausgang der Geschichte und sichert das Bestehen der positiven Situation. Sie bedeutet dem Zuhörer das eindeutige Ende der Geschichte. Diese Formel verändert Rühmkorf ironisch am Ende der Märchen „Dintemann und Schindemann“ und „Ein Blumenmärchen“. Der erstgenannte endet mit einem Mord und einer ungewissen Zukunft, im zweiten verhungert der „Held“ des Märchens schon recht frühzeitig (ebenfalls eher untypisch). Zum Trost bleibt einzig, dass es den Knieknietern zur Strafe für ihre Intoleranz schlecht ergeht. Die Formel für ein glückliches Ende wird verkehrt. Dies signalisiert, dass hier eben nicht alle Geschichten märchenhaft ausgehen.
Auch sonst kommt der Bezug auf die Gattung Märchen in „Der Hüter des Misthaufens“ häufig vor. Peter Friese kennt seine berühmten Vorgänger und Namensvettern Peter Munk und Peter Schlemihl. Daraus zieht er Konsequenzen für seinen eigenen Wunsch. Das Märchen von Ti Gong spielt in Dschinnistan, jenem Märchenland, in dem auch Wielands Feen und Geistermännchen spielten. „Saumässig zugeschnitten“ wurde in Rühmkorfs Bearbeitung von Rotkäppchen nicht nur der Wolfspelz, sondern im wahrsten Sinne auch die traditionellen Fassungen des Märchens. Auch Ärmchen kennt ihren Pappenheimer schon aus der Märchenlektüre (was ihr das Leben rettet): „meint wohl, wir wären aus Dummsdolf und hätten noch nie ein Märchenbuch gelesen.“ (S. 117). Stets wird deutlich, der Erzähler dichtet nicht aus dem hohlen Bauch heraus. Es gibt eine Vorgeschichte, eine Märchen-Geschichtsschreibung, die auch die Märchenfiguren kennen. Ausserdem ist an dieser Stelle noch das Metamärchen „Fortsetzung“ zu nennen.
Ähnlich wie der Begriff „Märchen“ kommt auch der Begriff „Aufklärung“ ungewöhnlich oft vor. Die jeweiligen Zusammenhänge belegen die Aufklärung aber nicht mit positiven Werten:
Die Gesellschafter aus „aufgeklärten Passadena“ (S. 19) glauben nicht an Elfen, bauen aber eine Beobachtungsstation für unbekannte Flugobjekte.
„Was ein Feuerteufel ist, das weiss natürlich jeder mündige Bürger im Kreis Herzogtum Lauenburg“ (S. 222), aber an eine Fee mag keiner glauben.
Märchenfiguren im Kontakt mit dem Wunderbaren:
Aufgeklärt heisst in diesen Zusammenhängen wohl eher abgeklärt. Wenn die „Aufklärung“ namentlich in den Märchen vorkommt, dann im Sinne einer nüchternen Rationalität, die nicht an Wunder glaubt. Rühmkorf nutzt den Begriff ironisch. Die betreffenden Figuren verhalten sich eben nicht aufgeklärt (also: bedienen sich nicht ohne Anleitung eigenen Verstandes), sondern rein rationalistisch und technikgläubig. Wunder ziehen sie nicht in Betracht, auch wenn sie fast mit der Nase darauf stossen. Märchen können diese Selbstgerechtigkeit der Wissenschaftler, Rechner und bornierten Bürger entlarven, denn hier geschehen Wunder ganz selbstverständlich.
Rühmkorfs Märchen spielen nicht in der zeitentfernten Welt der Volksmärchen, in der jeder ganz natürlich mit dem Wunderbaren umgeht. Sie spielen in einer aufgeklärten, abgeklärten Welt, die der unseren nicht all zu fern ist. Denkt man über die Aufklärung nach:
Gegen diese „gestandene“ Aufklärung gehen Märchen an.
Das Märchen der Aufklärung ist es, für märchenhaftes Geschehen meistens eine natürliche Erklärung zu bieten und stets eine nützliche Lehre zu vermitteln. Das Wunderbare darf vorkommen, „zumal wenn ein allegorischer Verstand darunter verborgen liegt, den ein jeder leicht finden kann“, und „wenn deutlich wird, der Poet damit im Sinne gehabt“ habe.
So leicht sich aus den Märchen von Peter Rühmkorf allerdings keine Lehre herauslesen lässt. Andererseits kann man das aussermärchenhafte bessernde und belehrende Wollen auch nicht völlig von der Hand weisen. Schon am Beispiel „Zu Golde“ wurde klar. Der Erzähler führt gute und schlechte Beispiele vor und meistens erhalten, nach traditionellen Märchen-Regeln, die Guten ihren verdienten Lohn und die Schlechten ihre verdiente Strafe: Die unverbesserlichen Calcateraner erhalten ihren Stiefel zurück, die Knieknieter werden geknechtet, Katapunktus muss sich selbst verraten und Carcavecchia lässt das Gedenken an seinen Mord nicht mehr los. Hans Dummann dagegen bekommt den Stiefel-Schatz und Candida zur Frau.
Am deutlichsten wird die aussermärchenhafte Tendenz in „Fortsetzung“. In diesem Märchen von einem Märchen schafft es eine Geschichte, eine Staatsordnung umzukrempeln. Selbst der Henker des Landes wird durch sie aufgeklärt und er ist bereit, den Wünschen und Phantasien Taten folgen zu lassen, freiwillig gibt er die Macht aus der Hand.
Wie nicht nur Kunstmärchen der Aufklärung (z.B. die von Christoph Martin Wieland) haben auch Volksmärchen stets didaktische Wirkung. Nur eben keine platte, plakative Lehre. Offensichtliche pädagogische Lehrsätze zerstören nämlich den Zauber des Märchens. Bruno Bettelheim betont, „dass es falsch ist, Märchen mit didaktischen Absichten zu erzählen. Wird ein Märchen mit einem anderen Zweck als dem, die Phantasie des Kindes zu erweitern, erzählt, so ist es nichts anderes als eine moralische Erzählung, eine Fabel oder ein sonstiges didaktisches Mittel, das höchstens das Bewusstsein des Kindes anspricht, während gerade die unmittelbare Einwirkung auf das Unterbewusstsein des Kindes einer seiner größten Vorzüge ist.“ Ein „echtes“ Märchen dagegen mache Mut und Hoffnung. Bettelheims Ausführungen muss man dabei gewiss nicht auf Kinder beschränken. Der folgende Vergleich des Märchens „Blaubarts letzte Reise“ mit seinen literarischen Vorgängern soll deutlich machen, inwiefern Rühmkorfs Version in der Lage ist, Mut und Hoffnung zu machen, ohne schulmeisterlich zu belehren.
Rühmkorfs Bearbeitung des Blaubart-Märchens soll hier mit der von Charles Perrault verglichen werden. Dessen erklärtes Ziel ist es, seine Leser durch seine Märchen nach klassischem Muster zu belehren und zu unterhalten. In seinem Vorwort zur ersten gemeinsamen Ausgabe der „Contes en vers“ von 1695 betont er, dass „jene Nichtigkeiten [seine Märchen, d.V.] gar keine solchen Nichtigkeiten sind, sondern eine nutzbringende Moral enthalten, und dass die heitere Erzählung, die ihre Hülle abgibt, nur die hat, sie angenehme Weise in ihren Geist hineinzugeleiten, auf eine Weise, die zugleich Belehrung und Unterhaltung bietet.“
Nach Bruno Bettelheim wären Perraults Geschichten streng genommen also gar keine Märchen, sondern eher Lehrstücke, da sie schon nach der Intention des Autors eine explizite Moral vermitteln sollen. Damit die Moral der Geschichten auch keinem Leser entgeht, hat Perrault sie kurz und pointiert am Ende jedes Märchens zusammengefasst.
Perraults Blaubart ist ein gefährlicher, undurchsichtiger und grausamer Mann. Er stellt seine neue Ehefrau auf eine Probe und stellt eine Falle, in die sie ihre übermächtige, unbändige Neugierde lockt. Was wäre geschehen, wenn die junge Frau der Versuchung widerstanden hätte? Die Frage stellt sich nicht, auf die weibliche Neugierde kann sich Blaubart verlassen.
Rühmkorfs Märchen Blaubart beginnt schon deutlich früher als sein Vorgänger. Die blaue Färbung des Bartes erhält eine Erklärung, sie rührt „vom jahrelangen Studieren in lichtlosen Bibliotheksräumen“ (S. 110), ausserdem „schossen die aus der Bahn gebrachten Triebe dem jungen Bengel Tropf-un-Tropfen in den Bart“ (S. 112). Beides eine Folge des strengen Erziehungsstils, den Blaubarts Mutter führt. Rühmkorf entzaubert Perraults bedrohliche Gestalt, Blaubart wird geschildert als armer Wicht unter der Fuchtel einer übermächtigen Mutter. Seine verkorkste Beziehung zur Sexualität (ebenfalls geprägt durch seine Mutter) trägt Teil dazu bei, dass die Falle, die sich seine Mutter zur Probe für Blaubarts Ehefrauen ausgedacht hat, bei ihm auf Zustimmung stösst.
Perraults weibliche Hauptfigur wird nicht namentlich benannt, sie hebt sich auch sonst nicht wesentlich von Vorgängerinnen ab. Einzig hat sie das Glück, zwei mutige und starke Brüder zu haben, die sie retten.
Rühmkorfs Annchen aus Calvados dagegen hat deutlich individuelle Züge. Mit ihrem Witz, Einfallsreichtum und Mut stellt sie die ganze Handlung auf den Kopf. Sie richtet an ihren Ehemann die naheliegende Frage, was denn so geheimnisvolles in dem verbotenen Zimmer sei. Als sie dann ihrerseits Blaubart oder vielmehr dessen Mutter eine Falle stellt, verkehrt sie die Rollen. So schlau ist Annchen durch die Lektüre von Märchenbüchern. Dies ist eine der Stellen, an denen in „Der Hüter des Misthaufens“ die Gattung Märchen thematisiert wird (siehe Kapitel 2.3.2).
Perraults Blaubart ist zwar ein grausamer und unerbittlicher Mörder. Dennoch steht hier völlig ausser Frage, dass seine junge Ehefrau ungehorsam war, schuldig ist und Bestrafung verdient, weil sie seinen Befehl missachtet hat. Die dämonische Figur des Blaubart und seine verbrecherischen Frauenmorde werden nicht weiter hinterfragt. Perrault warnt in der Moral am Schluss ausdrücklich die werten Damen, sich vor der Neugier zu hüten und nicht etwa gefährlichen Heiratsschwindlern zu begegnen. Da hilft es wenig, wenn er in einer zweiten Moral augenzwinkernd versichert, dass es solche grausamen Ehemanner in der heutigen Zeit natürlich nicht mehr gebe.
Der Gang von Rühmkorfs Märchen dreht diese Wertvorstellung um: Annchens Neugierde ist nicht verwerflich, sondern der listige Trick von Blaubart und seiner Mutter. Diese Umwertung geschieht auch durch die Zeichnung der Figuren. Blaubart ist zwar gefährlich, aber nicht dämonisch. Annchen ist zwar in Gefahr, sie hat aber selbst genügend Kraft, Wissen und Ausdauer, die Situation zu meistern. Aus Perraults starken Brüdern, ein Dragoner und ein Musketier, macht Rühmkorf einen verlotterten, angedunkelten Haufen. Wollen Winzafest friem, für die Rettung ihrer Schwester wären sie eher nicht mehr in der Lage gewesen. Die biedere Moral der Perraultschen Version wird völlig aus den Angeln gehoben. Wie es Bettelheim für ein echtes Märchen fordert, kann diese Geschichte Kindern oder auch Erwachsenen Mut und Vertrauen in die eigenen Kräfte geben, eben gerade dadurch, dass sie nicht belehrt, sondern unterhaltsam Witz und Phantasie fördert.
In Perraults Märchen wird Blaubart zuletzt erschlagen. Auch in Rühmkorfs Märchen stirbt Blaubart, jedoch nur symbolisch. Als er seine Mutter mit eigener Hand ersticht, in dem Glauben, seine neue Ehefrau sich zu haben, stirbt das, was ihn als Blaubart ausmacht. Durch seine Mutter zum Blaubart gemacht, „erlöst“ ihn nur deren Tod. Wie schon „Zu Golde“ hat auch dieses Märchen ein offenes Ende. Viele Fragen bleiben ungeklärt: Was passiert mit dem Mann, der einst Blaubart war? Was machen Annchen und ihre Brüder? Im Volksmärchen haben Geschichten einen klaren Anfang (Es war einmal…) und einen klaren Schluss (… und wenn sie nicht gestorben sind…). Auch hier holt dieses Stilmittel das Märchen aus einem unbestimmten Märchenland heraus und setzt es näher in die Gegenwart. Wie im wirklichen Leben hat diese Geschichte eine Vorgeschichte (Blaubarts Kindheit) und in Prinzip gar kein Ende.
Rühmkorfs aufgeklärte Märchen üben an Missständen der modernen Welt ebenso wie an scheinbar unveränderlichen Wesenszügen des Menschen. Typisch ist dabei der lockere, unterhaltsame Ton. Oft ironisch, selten bitter, entlarven die Geschichten missliche Zustände, die so nicht nur in den Märchen vorkommen, sondern auch in der realen Welt zu finden sind. Aufklärung geschieht, indem der Erzähler Dinge vor Augen führt, nicht indem er schulmeisterlich belehrt. Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielt der erwähnte offene Schluss. Viele der Märchen in „Der Hüter des Misthaufens“ enden nicht mit geordneten Verhältnissen, sondern lassen den Leser mit offenen Fragen zurück. Peter Rühmkorf: „ich habe der immer präsenten Lust am Abstimmendeln und dem Vergnügen am Fetzenziehen das zwar aussichtslose, aber mit den Jahren immer heftiger werdende Verlangen nach Positivität entgegengestellt.“
Bei aller Kritik bleibt dennoch die Hoffnung auf Besserung der Menschen lebendig. Das Märchen „Fortsetzung“ zeigt, wenigstens im Märchen kann sie sich gelegentlich erfüllen.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die Märchen von Peter Rühmkorf, die „Aufklärung“ im Märchen, die mündliche Tradition des Erzählens, die Kritik am Literaturbetrieb und die Verbindung von klassischer Märchen-Tradition und moderner Gesellschaft. Der Text analysiert die Entstehung und Intention der Märchen, die Rolle der „Aufklärung“ in den Märchen und die Kritik an gesellschaftlichen Missständen. Ausserdem werden die Märchen „Zu Golde“ und „Blaubarts letzte Reise“ im Detail betrachtet.
- Quote paper
- Andrea Geiss (Author), 2001, Der Hüter des Misthaufens. Aufgeklärte Märchen von Peter Rühmkorf, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9518
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