Liter@rische Geselligkeit. Kollektives und kreatives Schreiben im Internet


Seminararbeit, 1997

17 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Kreatives Schreiben und Literarische Geselligkeit
2.1 Inspiration durch Transpiration? Merkmale des kreativen Schreibens
2.2 Literarische Geselligkeit und kollektives Schreiben

3 Liter@rische Geselligkeit Projekte kollektiven Schreibens im Internet
3.1 Beim Bäcker
3.2 Mittwochs in Cyberia
3.3 Spielzeugland
3.4 Storyweb

4 Zusammenfassung der Ergebnisse

5 Literatur

6 Internetadressen

1 Einleitung

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist das kreative Schreiben im Internet. Das Internet expandiert mit zunehmender Geschwindigkeit, es entwickelt und verändert sich ständig, und die Schrift ist in diesem neuen Medium keineswegs vom Aussterben bedroht. Im World Wide Web (abgekürzt: www) befinden sich zahllose Seiten zum Thema Literatur; mit relativ geringem technischen und finanziellen Aufwand kann jeder auf diesem Wege eigene Texte oder die anderer Autoren veröffentlichen. Geschrieben wird also viel im Internet. Die naheliegende Vermutung, daßdort auch kreativ geschrieben wird, ist schnell bestätigt: die Eingabe des Suchwortes ÄKreatives Schreibenı in ein Schlagwortsuchprogramm wie Excite_, liefert beispielsweise etwa 35.000 Treffer. Angesichts dieses nicht zu überblickenden Angebotes leuchtet ein, daßdiese Arbeit nur einen winzigen Bruchteil dessen darstellen kann, was im Internet als kreatives Schreiben dargestellt wird und daßdie Auswahl dieses Bruchteiles höchst willkürlich sein mußund keinesfalls als repräsentativ angesehen werden kann._ Aber es ist ein Anfang. In diesem Sinne werde ich in meiner Arbeit versuchen, Erkenntnisse über das klassische kreative Schreiben auf Schreibprojekte im Internet zu übertragen, um unter anderem die Frage zu beantworten, ob diese überhaupt zum kreativen Schreiben gezählt werden können. Zu Beginn der Untersuchung werden in groben Zügen die Begriffe Äkreatives Schreibenı, Äliterarische Geselligkeitı und Äkollektives Schreibenı vorgestellt und einige ihrer Merkmale herausgearbeitet. Da ich zum kreativen Schreiben im Internet keine Literatur gefunden habe, berufe ich mich dabei auf Autoren des klassischen kreativen Schreibens, wie zum Beispiel Mattenklott, Spinner und Brenner.

Bei den Recherchen im Internet hat sich gezeigt, daßdort unter den Schreibprojekten das kollektive Schreiben besonders verbreitet ist. Daher habe ich vier dieser Projekte ausgewählt, die kurz vorgestellt werden und auf die die zuvor ermittelten Merkmale des kreativen und des kollektiven Schreibens projiziert werden sollen.

Für die Auswahl der zu analysierenden Projekte aus dem großen Angebot des World Wide Web habe ich mich auf deutschsprachige Internetseiten beschränkt. Die vier vorgestellten Projekte habe ich mithilfe von Schlagwort- oder Volltextsuchprogrammen, in der Hauptsache aber über Hyperlinks auf den Internetseiten bereits entdeckter Schreibprojekte oder Literaturmagazine gefunden. Bei dieser Recherche zeigte sich, daßauf eine relativ geringe Zahl von Projekten von vielen verschiedenen Seiten verwiesen wird. Das ist in diesem kurzlebigen Medium eine gewisse Garantie für Qualität und vor allem längerfristiges Bestehen der Seiten und weist darauf hin, daßdie dort zu findenden Angebote auch genutzt werden, sich auf den Seiten also genügend Material zur Bearbeitung findet. So schränkte sich die Zahl der in Frage kommenden www-Projekte zunehmend ein.

Auf die Besonderheiten des Schreibens am Computer soll hier nicht eingegangen werden, auch nicht auf den Schreibprozeßbeim Schreiben im Internet, denn die auf den hier untersuchten Seiten veröffentlichten Texte können durchaus ganz konventionell mit Feder und Papier entstanden sein, bevor sie in den Rechner getippt wurden. In der Verwendung auf das Internet bezogener Fachausdrücke versuche ich mich so weit wie möglich zurückzuhalten und gehe auch nicht in einem eigenen Kapitel auf die Besonderheiten des Mediums ein. Die Geläufigkeit von Ausdrücken wie ÄWorld Wide Webı, ÄWebsiteı, Äe-mailı, ÄHyperlinkı, ÄHypertextı et cetera, deren Gebrauch sich leider nicht ganz vermeiden läßt, setze ich voraus.

2 Kreatives Schreiben und Literarische Geselligkeit

In den folgenden beiden Unterkapiteln sollen einige Merkmale des kreativen Schreibens, der literarischen Geselligkeit und des kollektiven Schreibens zusammengetragen werden, nicht zuletzt um damit festzulegen, in welchem Sinn diese Ausdrücke im Rahmen dieser Arbeit Verwendung finden. Kreatives Schreiben wird in vielen verschiedenen Ausrichtungen und mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen betrieben, die ein sehr weites Spektrum abdecken und hier nicht alle vorgestellt werden können. Ich werde auch nicht näher auf den Begriff ÄKreativitätı eingehen, da der Terminus Äkreatives Schreibenı bereits ausreichend gefestigt und beschrieben ist und für eine Beschreibung nicht in seine Bestandteile zerlegt werden muß. Ausgehend von der Betrachtung des kreativen Schreibens als einer methodischen Form des Schreibens und der Vermittlung von Schreibkompetenz werden einige grundlegende Merkmale beschrieben, die verschiedene Autoren übereinstimmend als charakteristisch für das kreative Schreiben erachten. Aus einem dieser Merkmale ergeben sich die in ähnlicher Weise erfolgenden Beschreibungen der literarischen Geselligkeit und des kollektiven Schreibens.

2.1 Inspiration durch Transpiration Merkmale des kreativen Schreibens

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, also keinesfalls im Sinne einer Definition, sollen in diesem Kapitel einige grundlegende Merkmale des kreativen Schreibens erfaßt werden. Wie bereits gesagt, fasse ich das kreative Schreiben als eine methodische Form des Schreibens auf, die das Schreiben erleichtern und verbessern, die Möglichkeiten des Schreibenden erweitern, ihm als "Stützung des Ausdrucksbedürfnisses"_ dienen und Schreibblockaden lösen, wenn nicht gar verhindern soll.

Häufig wird genannt, daßbeim kreativen Schreiben nicht der fertige Text im Vordergrund steht, sondern "die Teilhandlungen des Schreibens in den Blick kommen müssen"_.

Für die einzelnen Schritte auf diesem Weg zum fertigen Text, "vom Sammeln der Ideen über den Entwurf und die erste Niederschrift bis zur Überarbeitung"_, stellt das kreative Schreiben eine große Zahl von Gehhilfen bereit. Eine davon ist die Anregung der Phantasie durch die Arbeit mit Regeln und Hindernissen. Die Schreibhürden werden beispielsweise in Form von zunächst unharmonischem oder widersprüchlichem Material aufgestellt und bilden auf diese Weise starke Reize, mit deren Hilfe der Einstieg in das Schreiben oder die Überwindung von Schreibblockaden erleichtert werden soll._ Auf die Bedeutung dieser Beschränkungen in Form von Vorgaben und Regeln, die die Phantasie eben nicht einengen, sondern sie aktivieren, Brenner spricht hier von der "Spannung zwischen Spontaneität und Beschränkungen"_, weisen neben Fritzsche_ auch Mosler und Herholz hin. Letztere merken zusätzlich an, daßdas vorgegebene Regelwerk durchaus flexibel gehandhabt werden sollte._ Ein weiteres Charakteristikum des kreativen Schreibens sieht Spinner in der bewußten Nutzung literarischer Techniken, die das kreative Schreiben durch die Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten und Einsichten auch für den Literaturunterricht in der Schule brauchbar macht._

Vielleicht ist jede Art zu schreiben kreativ im Sinne von Äschöpferischı. Das, was hier unter dem Terminus Äkreatives Schreibenı als Verfahren verstanden wird, zeichnet sich aber durch die bewußte Nutzung und vor allem die Vermittlung von Techniken aus, die die unterschiedlichsten Phasen des Schreibprozesses unterstützen und fördern. Sehr pointiert äußert sich Umberto Eco in seiner Nachschrift zum >Namen der Rose< zu Inspiration und Handwerk beim Schreiben:

"Wenn ein Autor behauptet, er habe im Rausch der Inspiration geschrieben, lügt er. Genie ist zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration. [...] Wenn ein Schriftsteller (oder Künstler im allgemeinen) sagt, er habe gearbeitet, ohne an die Verfahrensregeln zu denken, meint er damit nur, daßer gearbeitet hat, ohne zu wissen, daßer die Regeln kannte."_

Diese Regeln, das Handwerk, vermittelt das kreative Schreiben und eventuell können damit latent vorhandene Talente geweckt werden. Es läßt sich also durchaus von Inspiration durch Transpiration sprechen.

Daraus resultiert, daßjeder das kreative Schreiben betreiben kann, aber nicht, daßjeder mit diesen literarischen Gehhilfen entstandene Text veröffentlicht werden sollte._ In diesem Zusammenhang fordert Gerd Mattenklott die "Aufwertung des Schreibens gegenüber dem Geschriebenen": "Ein Freund der Literatur mußkein ebensolcher des hemmungslosen, des wildgewordenen Schreibens sein. Ich bin es. Doch liebe ich das Geschriebene eher selten, vor allem, wenn es nicht gekonnt ist."_. Er folgert daraus, daßan die Texte von Amateuren, auch wenn sie (beispielsweise in Anthologien) veröffentlicht werden, nicht die gleichen Maßstäbe angelegt werden sollten wie an die Texte von erfahrenen und professionellen Autoren. Auch Brenner führt an, daßallein die handwerklichen Fähigkeiten des Schreibens noch keinen Dichter machen: "der Abstand zwischen ÒDichter" und schreibendem Laien reduzierte sich ja wohl erst dann entscheidend, wenn der Laie in der Lage wäre, Schreibverfahren laufend neu zu generieren und nicht nur bereits bestehende und vielfach genutzte selbst noch einmal anzuwenden"_.

Auf diese Einschränkung aufbauend, die auch bei der Bewertung der Internetprojekte berücksichtigt werden soll, werde ich im folgenden Kapitel über einen weiteren zentralen Aspekt des kreativen Schreibens, das gemeinsame Schreiben, zum kollektiven Schreiben im Internet überleiten.

2.2 Literarische Geselligkeit und kollektives Schreiben

Wenn es auch mit den oben angeführten Verfahren des kreativen Schreibens möglich ist, für sich alleine zu schreiben, so ist doch für Spinner das Schreiben in der Gruppe, die literarische Geselligkeit, untrennbar mit seinem Begriff des kreativen Schreibens verknüpft._ Wichtig ist dabei der Wechsel zwischen Lesen und Schreiben, beziehungsweise zwischen Zuhören und Vorlesen, zwischen der Textproduktion und der Auseinandersetzung mit den Texten und der Kritik anderer.

"Die Geselligkeit bedeutet nicht nur, daßdie Schreibenden sich jemandem mitteilen können, sondern leitet auch dazu an, sich hörend und antwortend auf andere einzulassen. [...] Narzißtische Selbstbespiegelung und Therapieerwartungen sind durchaus Gefahren, die mit dem Konzept des kreativen Schreibens verbunden sind."_

In der literarischen Geselligkeit sieht Spinner eine Chance, diesen Gefahren durch eine "begrenzte, gleichwohl intensive Gemeinsamkeit unter Fremden"_ entgegenzuwirken. Es ist aber nicht nur das Regulativ der begrenzten Gemeinsamkeit, das in den Schreibgruppen hergestellt wird, sondern auch eine begrenzte àffentlichkeit, ein kleines überschaubares Publikum, dem selbstverfaßte Texte vorgelegt werden und das zu deren Entstehung beiträgt. Da diese àffentlichkeit begrenzt ist, ergibt sich noch kein Widerspruch zu der am Ende des letzten Kapitels gemachten Einschränkung bezüglich der Veröffentlichung von Texten des kreativen Schreibens. Dieser Widerspruch kann sich aber einstellen, sobald das kreative Schreiben im Internet installiert wird. Denn dort ist das Publikum keine kleine überschaubare Gruppe mehr._ Theoretisch steht der Zugang und damit die Teilnahme an derartigen Unternehmungen sämtlichen Benutzern des Internet offen. Dahinter ließe sich eine Demokratisierung der Literatur vermuten, wie sie beispielsweise Gundel Mattenklott sich wünscht und fordert, daß"die Mauern, die die Literaturproduzenten von ihren Konsumenten trennen, ... geschleift werden"_. Andererseits bildet sich auch im Internet eine Art Abgeschlossenheit heraus, denn in dem riesigen Angebot des www können sich viele Projekte verstecken, die nur durch Zufall zu finden sind. Größere Projekte, die einen hohen Bekanntheitsgrad erreichen und entsprechend stark genutzt werden, müssen, um ein angestrebtes Niveau zu halten oder um nicht zuzuwuchern, wiederum auswählen, was sie veröffentlichen, wie es in ähnlicher Form in Lektoraten und Redaktionen geschieht, die Gundel Mattenklott wohl meint, wenn sie von den "hochmütigen Verwalter[n] des Kulturbetriebs"_ schreibt.

Zur literarischen Geselligkeit gehört neben dem Verfassen und Besprechen individueller Texte auch die gemeinsame Arbeit an einem Text und die Mehrzahl der von mir im Internet entdeckten Schreibprojekte sind Versuche kollektiven Schreibens. Kollektives Schreiben hat es natürlich schon lange vor dem Internet gegeben, es fand jedoch entweder in bereits bestehenden Gruppen literarischer Amateure als eine von vielen Formen der literarischen Geselligkeit statt oder es wurde als literarisches Experiment organisiert, mit professionellen Schriftstellern als Autoren. In seiner Übersicht über Versuche der kollektiven Textproduktion im zwanzigsten Jahrhundert merkt Richard Albrecht an, daßdiese Unternehmungen größtenteils in Vergessenheit geraten sind. Albrecht _hält die von ihm dargestellten Beispiele kollektiver Textproduktion für "literarisch wenig ambitioniert", genau daraus resultiert seiner Ansicht nach aber eine dem gemeinsamen Schreiben innewohnende Spannung zwischen den Polen "kollektiv-kreative Textarbeit als wichtiges und anregendes Moment von literarischer Arbeit und Textproduktion einerseits, literarisch relativ bedeutungslose Ergebnisse und Werke andererseits", die für die Fortführung solcher Experimente fruchtbar sein könnte._ DaßWidersprüche und daraus resultierende Reibung wichtige Bestandteile des kreativen Schreibens sind, wurde bereits herausgestellt.

Basierend auf einem Artikel von Gundel Mattenklott "Im Labyrinth der Begegnungen. Die Entstehung eines Gruppenromans" stelle ich nun einige Regeln für Projekte des kollektiven Schreibens auf, die ebenfalls bei der Analyse der Internetprojekte hilfreich sein werden, aber keineswegs zwingend erforderlich sind, um von kollektivem Schreiben reden zu können.

Auch beim gemeinsamen Schreiben gilt der Grundsatz, daßder Prozeßder Textherstellung mindestens so wichtig ist wie das Endprodukt._ Vorbedingung für den Beginn der Arbeit an einem umfangreichen Text ist die Vertrautheit der Gruppenmitglieder miteinander._ In jeder Phase der Entstehung des gemeinsamen Textes, wann immer erforderlich, sollten die Autoren durch einen "flexible[n], aber Sicherheit versprechende[n] Rahmen ...: die Spielregel"_ und durch miteinander abgesprochene Vorgaben unterstützt werden. Angestrebt ist dabei ein labiles Gleichgewicht zwischen den Polen "Regel, Plan und Verabredung auf der einen Seite, Zufall, individuelle Initiative und Überraschung auf der anderen"_. Uneinheitlichkeiten des Textes, beispielsweise wechselnde Erzählperspektiven, Schreibstile, Zeiten oder widersprüchliche Charakterisierung der Figuren werden nicht bloßtoleriert, sondern sind erwünscht. Die Uneindeutigkeit der Figuren verschafft ihnen Lebendigkeit und läßt sie nicht zu Schablonen verkommen._ Um die Unordnung nicht überhand nehmen zu lassen sollten allerdings nicht so viele Romanfiguren im Text auftauchen, wie Autoren vorhanden sind._

Die von den Autoren individuell verfaßten Romanstücke werden zum ganzen Text zusammenmontiert, wobei auch Zeitungsauschnitte, Bilder und weiteres heterogenes Material eingebaut werden können._

Gundel Mattenklott weist noch auf einen besonderen sozialen Aspekt hin, der ihr bei der Arbeit mit ihrer Gruppe aufgefallen ist. Es fanden dort zwei Arten der Kommunikation unter den Teilnehmern des Romanprojektes statt, einmal die direkte mündliche und dann eine indirekte über die Texte beziehungsweise die Romanfiguren, wobei dem Geschriebenen aufgrund seiner Verbindlichkeit ein ganz besonderer Status eingeräumt wird. "Selbst bei noch so großer Annäherung an die Rede ist das Geschriebene vom Alltagsgeplauder wesentlich unterschieden durch eine sprachliche Dichte, die auch als emotionale Intensität empfunden wird."_

Bevor ich zum Hauptteil der Arbeit übergehe, fasse ich die wichtigsten Aussagen dieses Kapitels noch einmal knapp zusammen.

Das kreative Schreiben ist bewußt methodisches Schreiben und die Vermittlung dafür erforderlicher Techniken. Der Vorgang des Schreibens ist mindestens ebenso wichtig wie der Text, der am Ende dabei herauskommt. Die verschiedenen Phasen dieses Schreibvorganges werden jeweils durch angemessene Techniken unterstützt, beispielsweise in Form von Regeln oder Hindernissen, die festgefahrene Ideen zu lösen und in neue Bahnen zu lenken helfen.

Das kreative Schreiben nutzt und vermittelt auch literarische Techniken, erhebt aber nie den Anspruch einen sicheren Weg zu erfolgreicher professioneller Schriftstellerei darzustellen, was mit der Wichtigkeit des Schreibprozesses gegenüber dem Geschriebenen korrespondiert.

Ein wichtiges Merkmal des kreativen Schreibens ist die Möglichkeit, es gemeinsam mit anderen zu betreiben. In dieser literarischen Geselligkeit ist der Wechsel zwischen Schreiben und Lesen, Kritisieren und Kritisiert werden, aber auch dem spielerischen Umgang mit Sprache von zentraler Bedeutung. In literarischer Geselligkeit werden nicht nur individuell geschriebene Texte besprochen, sondern auch gemeinsam Texte verfaßt. Für dieses kollektive Schreiben sollen hier einige Regeln als gültig aber großzügig zu gebrauchen angesehen werden. Der Schreibprozeßist so wichtig wie das Endprodukt. Die Teilnehmer eines kollektiven Schreibunternehmens sollten sich bereits kennen. Die Autoren werden locker angeleitet und, wann immer nötig, durch Spielregeln unterstützt, wobei das Gleichgewicht zwischen Vorschrift und Neuerfindung labil bleiben sollte. Uneinheitlichkeiten im kollektiven Text sind erwünscht. Wird eine Erzählung geschrieben, sollte die Zahl der Figuren begrenzt werden, damit die Geschichte nicht unübersichtlich wird.

3 Liter@rische Geselligkeit Projekte kollektiven Schreibens im Internet

In diesem Abschnitt werden vier kollektive Schreibprojekte im Internet in den wichtigsten Zügen vorgestellt und mittels der oben zusammengestellten Kriterien für kreatives und kollektives Schreiben bewertet. Einige Anmerkungen, die für alle hier untersuchten Projekte gültig sind, sollen vorab gemacht werden.

Die im letzten Abschnitt angesprochene Vertrautheit unter den Autoren eines Kollektivtextes kann natürlich bei den Teilnehmern eines solchen Projektes im Internet auch bestehen oder sich einstellen, ist aber im Allgemeinen keine Voraussetzung für das Mitschreiben. Ich habe darauf verzichtet, bei den Autoren und Organisatoren der Seiten nach dem Entstehungsprozeßder Projekte und den Ansprüchen daran nachzufragen und lediglich die Information genutzt, die auf den jeweiligen Internet-Seiten zur Verfügung stand. Im Folgenden sollen die Texte nicht auf literarische Qualität untersucht, sondern lediglich vorgestellt und beschrieben werden.

3.1 Beim Bäcker

"Beim Bäcker ist eine Geschichte zum Thema Sex, die zu einer gemeinsamen Fortsetzungsstory angewachsen ist. Du kannst an der Geschichte weiterschreiben und dabei Charaktere, die schon vorhanden sind, weiterentwickeln."_

Das ist alles an Information und explizit genannten Regeln für das erste der hier vorgestellten Internet-Schreibprojekte. Zur Zeit besteht es aus fünfundzwanzig kurzen Kapiteln von sechzehn Autoren. Neue Beiträge sind als e-mail an die Organisatorin zu schicken, die auswählt, welche Texte in die Geschichte aufgenommen werden. Das erste Kapitel, Beim Bäcker ist eine Szene in einer Bäckerei, in der die namenlose Ich-Erzählerin drei kleinen Mädchen, die nicht genug Geld bei sich haben, drei Lutscher ausgibt und sie sich plötzlich eingestehen muß: "Manche Kinder machten einfach Lust auf eigene.", auch wenn sie vorher noch gedacht hatte: "Nicht jeder reagiert auf kleine Kinder automatisch mit einem Hausbau- und Kinderkrieg-Reflex." Diese "spontan aufkeimenden Muttergefühle" wecken in ihr eine kurze erotische Phantasie: "Am besten sollte ich direkt hinübergehen zu diesem muskulösen und attraktiv verschwitzten jungen Mann in dem blauen Overall und ihn fragen, ob er mir den kleinen Gefallen tut." Aus Rücksicht auf die anderen Kunden begnügt sie sich aber mit dem Kauf eines eigenen Lutschers und verläßt, leicht enttäuscht, "den Laden mit einer steril verpackten pinkfarbenen Kugel auf einem Stiel. Irgendwie ist es nicht dasselbe. Sie macht mich nicht so glücklich wie die Kinder."_

Gleich die nächsten drei Beiträge, abwechselnd von einem männlichen Teilnehmer und der Autorin der Eröffnungsgeschichte, Carola Heine, verfaßt, können als gutes Beispiel für die angesprochene indirekte Kommunikation zwischen den Autoren dienen. Ein Diskussionsforum, in dem die Autoren via e-mail direkt miteinander kommunizieren können, gibt es hier übrigens nicht. Der Autor des zweiten Teils, Neben dem Bäcker, greift die Figur des jungen Mannes im Blaumann auf und beschreibt die Situation aus dessen Perspektive. Er arbeitet auf einer Baustelle vor der Bäckerei und als er während einer Zigarettenpause im Laden eine Frau entdeckt, die ihm gefällt, überkommt ihn eine ähnliche erotische Phantasie, wie im ersten Teil die Erzählerin. Der dritte Teil, Auf dem Weg vom Bäcker, stellt eine Replik auf diesen zweiten Teil dar. Die Ich-Erzählerin kommt aus der Bäckerei und wird beim Anblick des Bauarbeiters, das wahre Objekt ihrer Begierde sitzt nämlich in der Bäckerei, aus ihrer "sanft-wilden erotischen Stimmung" gerissen:

"Der Steinzeitmensch in Reinkultur glotzte in die Baeckerei und ich musste ihn bitten, aus dem Weg zu gehen, damit ich mit den Bueroschuhen nicht in den Zementschlamm treten musste. Natuerlich, es war schon ziemlich warm, aber er roch nach ALTEM Schweiss und ich haette ihm beinahe die Hand gegeben "Herzlichen Glueckwunsch, Sie koennten sich als Verhuetungsmittel patentieren lassen, bei Ihnen vergeht einem echt alles"." _

Die Schärfe des Tons läßt vermuten, daßaus Heines Sicht der Autor des zweiten Kapitels, Herbert Hertramph, ihrer Ich-Erzählerin zu nahe getreten ist und sie ihrer Figur mit der Konstruktion und Richtigstellung eines Mißverständnisses wieder Freiraum verschaffen will.

In einem vierten Teil, Neben dem Bäcker II_, versucht Hertramph zwar noch, die Ehre seines Bauarbeiters wiederherzustellen, indem er ihn sich als ehemaligen Universitätsprofessor vorstellen läßt, dessen Karriere durch eine politische Intrige zunichte gemacht wurde, dessen Frau bei einem Unfall ums Leben gekommen war und der zwei Kinder zu versorgen hatte, aber danach gibt es keine Beiträge mehr von ihm. Nicht nur als Beispiel der Kommunikation zwischen den Autoren über ihre Klischees und Vorstellungen können die eben beschriebenen Wendungen der Geschichte beschrieben werden. Ebenso sind sie ein Indiz für die mögliche Ergiebigkeit der oben genannten Uneinheitlichkeiten, die sich einstellen, wenn mehrere Autoren an einem Text schreiben.

Eine Fortsetzungsgeschichte ist Beim Bäcker nicht in dem Sinne, daßein begonnener Handlungsfaden konsequent weitergesponnen wird, was die Spielregeln übrigens auch nicht fordern. Vielmehr greifen neue Beiträge Motive oder Ideen der bestehenden Geschichten auf, beschreiben eine Szene einfach aus einer anderen Perspektive, in zwei Fällen gar aus der eines Hundes oder eines Brötchens, oder bauen sie in eine eigenständige Geschichte ein, die durch diese Berührungspunkte mit den anderen synchronisiert wird. Die schon fertigen Geschichten dienen den Autoren als Baukasten, aus dem sie sich bedienen, ohne immer Rücksicht auf die Richtigkeit der kausalen wie zeitlichen Anschlüsse zu nehmen. Die Autoren, die mehrere Beiträge abgeliefert und neue Felder für das Geschichtenmosaik erschlossen haben, beschränken sich auf die Pflege ihrer eigenen Figuren und Handlungsstränge. Was nach Gundel Mattenklott ebenfalls zu kollektiven Schreibprojekten gehören sollte, die Reflektion über die eigene Rolle als Autor in Bezug auf den Text, findet sich zunächst als Teil des Beitrages einer Autorin, die so den Schreibvorgang selbst zum möglichen Thema macht:

"Sollte dies nicht ein Gemeinschaftsprojekt sein? Sollte ich nicht an den toughen Notarzt, an den rassigen farbigen Lover, an die kleine Yolanda denken? War ich nicht dazu verpflichtet, sie alle in meine Fortsetzung einzubinden? Unfug, sagte ich mir. Das war meine Runde. Sollten die anderen schauen, wo sie blieben."_

In einem ganzen Kapitel, dem zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit vorletzten, wird diese Idee fortgesetzt. Die Autorin führt die Figur eines Engels ein, der eine Bilanz aller bisherigen Ereignisse zieht und mögliche Fortsetzungen plant._

3.2 Mittwochs in Cyberia

Mittwochs in Cyberia_ war eine von mehreren Kollektivgeschichten im Rahmen des Internetprojektes Webfehler_ und ist die einzige, die weitergeführt wird. Zur Zeit besteht sie aus achtzehn, von sieben Autoren geschriebenen Kapiteln. Explizite Regeln und Vorgaben, die sich konkret auf Stil, Perspektive, Handlung oder Fortgang der einzelnen Geschichten beziehen, gibt es nicht. Die Texte sollen per e-mail eingesandt werden und nicht länger sein als zwei Seiten.

Mittwochs in Cyberia ist schon viel eher eine Fortsetzungsgeschichte als Beim Bäcker. Im ersten Teil wird durch einen Er-Erzähler die Internet-begeisterte Protagonistin vorgestellt, der im zweiten Teil eine andere Autorin - ebenfalls in Er-Perspektive - eine Stelle als Einkäuferin eines Stahlunternehmens gibt. Im dritten Teil wird ein Journalist eingeführt, der die Protagonistin bei Recherchen für eine Reportage über Karrierefrauen kennenlernt. Im weiteren, wie in Beim Bäcker linear angelegten, Verlauf der Geschichte funkt es zwischen den beiden, während neu dazugekommene Autoren einige zuvor am Rande erwähnte Figuren übernehmen und in die zunehmend spannende Handlung verwickeln. Die Geschichte wird ohne allzu grobe kausale oder zeitliche Uneinheitlichkeiten vorangetrieben und weiterentwickelt. Interessant, aber nur spekulativ zu beantworten, ist die Frage, wie es hier zu dieser Stetigkeit der Erzählung kommt, die sich bei Beim Bäcker nicht eingestellt hat. Ein Diskussionsforum gibt es auch auf den Seiten dieses Projektes nicht, ein solcher Austausch könnte aber durchaus per e-mail stattfinden. Nicht auszuschließen ist, daßdie Autoren sich aus anderen gemeinsamen Schreibunternehmen im Internet kennen, wodurch die bereits angesprochene Vertrautheit ins Spiel käme. Vermutlich ist es das geglückte Zusammenspiel zwischen dem durch bestehende Kapitel vorgegebenen und vorhersehbar scheinenden Handlungsverlauf und den unvorhergesehenen Richtungsänderungen und Neuerfindungen der verschiedenen Autoren, das dazu führt, daßMittwochs in Cyberia einen so geschlossenen Eindruck macht. Auch die im Vergleich zu Beim Bäcker geringe Zahl an Figuren trägt dazu bei, die Geschichte in einem überschaubaren Rahmen zu halten. In Mittwochs in Cyberia werden die Figuren übrigens nicht ausschließlich von ihren Erfindern gepflegt. Jedes Kapitel hat eine Hauptfigur und beispielsweise für die Figur der Stahleinkäuferin haben bisher drei Autorinnen geschrieben. Darin kann genauso eine Form der indirekten Kommunikation zwischen den Autoren gesehen werden, wie in der Tatsache, daßdie Übernahme und Weiterentwicklung einer Figur von einem anderen Autor nicht mit einer Gegendarstellung beantwortet wird.

3.3 Spielzeugland

Die Macher des Projektes Spielzeugland_, in der auf ihrer Internetseite einsehbarenPresseerklärung bezeichnen sie es als virtuelle Novelle haben sich sehr viel vorgenommen. In ihrer Einleitung schreiben sie, mit "diesem bisher einzigartigen multimedialen Projekt" eine "neue Ära der Literatur" einleiten zu wollen. Ob ein Unternehmen dieser Art im www zur Zeit der Gründung von Spielzeugland wirklich noch nicht vertreten war, ist fast unmöglich nachzuprüfen, darf aber getrost angezweifelt werden, da die zugrunde liegende Idee keineswegs neu ist. Alle Besucher der Seiten werden eingeladen, per e-mail ihre Beiträge an die Initiatoren senden, die sie redaktionell bearbeiten und die Seiten monatlich aktualisieren. Spielregeln gibt es auch hier sehr wenige: "Das, was da ist, wird gelesen/betrachtet/gehört und nach eigenem Dafürhalten fortgesetzt, weitergesponnen oder belassen." Einzige Vorgabe ist, daßalle Einsendungen "einen sichtbaren Bezug zu den Personen oder zur Handlung von SPIELZEUGLAND haben" sollen. Es werden allerdings einige Möglichkeiten genannt, wie die Beiträge an das Bestehende anknüpfen können, beispielsweise "als Einschub oder als Fortsetzung, mit Link oder ohne". In Spielzeugland sollen neben Geschriebenem auch Fotos, Bilder, Musikbeiträge, Videosequenzen und anderes Collagenmaterial eingebunden werden. So würden "die bisherigen Grenzen von Lesen und Schreiben ... überschritten", und "Schrift und Musik, Text und Graphik, Sprache und Animation, Wort und Game" gingen eine neue Verbindung ein_. Natürlich ist das ein interessanter Ansatz, bloßneu ist er nicht. Mit Collagentechnik wird in der Literatur schon lange gearbeitet,_ die Installation von Tönen und stehenden oder bewegten Bilder in literarische Texte ist da nicht als grundlegende Neuerung anzusehen, sondern eine reine Konsequenz aus den technischen Möglichkeiten. Mittlerweile gibt es schon einiges an Literatur auf CD-Rom, die davon regen Gebrauch macht. Von einer "neuen Ära der Literatur" zu sprechen ist vor diesem Hintergrund sehr vermessen.

Im Unterschied zu Beim Bäcker ist Spielzeugland nicht als linearer Text angelegt. Es existiert zwar ein Inhaltsverzeichnis, dort sind allerdings nicht alle Kapitel eingetragen. In den einzelnen Beiträgen finden sich immer wieder Hyperlinks, die zu einem anderen Text führen, der wiederum mit Verweisen bestückt ist. So ist die Reihenfolge der Lektüre nicht rein durch den Text vorgegeben sondern vom Leser abhängig. Der Inhalt sei hier knapp skizziert. Hauptpersonen sind drei Mitglieder einer Wohngemeinschaft aus deren persönlichen Geschichten, Träumen und Beziehungen das Textgeflecht aufgebaut wird. Eingewoben sind auch Gedichte, beispielsweise Goethes "Zauberlehrling" oder Rilkes "Der Panther" und Hinweise auf Romane wie Don Quijote oder Die Bibliothek von Babel. Viele der Beiträge weisen große assoziative Sprünge auf, die vielleicht nicht jeder Leser nachvollziehen kann, genau das erzeugt aber die oben genannte Reibung, die viel Anregung zum Weiterphantasieren bietet und so liegt in diesem Fall das Gewicht in der Waagschale zwischen Plan und Spontaneität weit auf der Seite der letzteren. Ein Plan, eine Richtung in die die Geschichte laufen soll, ist nicht vorgegeben und hat sich auch noch nicht herausgebildet. Trotzdem und obwohl dieses Textgebilde sehr viele Figuren enthält, macht es keinen wirren Eindruck, was darauf zurückzuführen ist, daßdie Lektüre selbst in assoziativen Sprüngen erfolgt. Da die meisten Kapitel nicht mit dem Namen des Verfassers gekennzeichnet sind, läßt sich über eine eventuelle indirekte Kommunikation nichts sagen. Ein Diskussionsforum für alle Teilnehmer existiert auch hier nicht. Die bereits oben angesprochene Einbindung von Ton- und Bildmaterial hat bisher in sehr begrenztem Maße stattgefunden, lediglich stehende Bilder sind eingefügt, akustische Beiträge fehlen vollkommen.

3.4 Storyweb

Das Storyweb_ist ebenfalls ein nicht linear zu lesendes Netzwerk sich aufeinander beziehender Texte, im Gegensatz zu Spielzeugland soll hier nur schriftliches Material veröffentlicht werden. Regeln gibt es auch hier sehr wenige. Jeder neue Beitrag sollte von einem bereits bestehenden angeregt sein. Ausgangspunkt des Gebildes war ein Text, den der Initiator selbst verfaßt hatte. In der Einleitung begründet er sein Projekt mit seiner Unzufriedenheit über andere Literaturprojekte im www: "Diese Experimente fand ich doch immer enttäuschend, weil sie entweder Spiele ohne allzuviel Tiefgang sind, oder versucht wird, alte literarische Formen, wie eben den Roman, an das neue Medium anzupassen. Aber ein Roman ist eben ein Roman, und das, was einen Roman ausmacht, ist unter anderem, daßer von einer Person verfaßt ist."_ Die letzte Behauptung ist natürlich ebenso fragwürdig wie sie tautologisch eingeleitet wird und soll hier nicht weiter diskutiert werden.

Abweichend von den Reglements der anderen vorgestellten Schreibprojekte müssen neue Beiträge nicht an den Initiator geschickt werden, um in das Storyweb eingefügt zu werden. Wer eine eigene Seite im www betreibt, kann seinen Text dort plazieren und den Betreiber des Storyweb, oder den der Seite auf der sich der anregende Text befindet um Installation eines Links zum neuen Beitrag bitten. Eine Art redaktioneller Kontrolle findet so auch hier statt, aber sie ist nicht mehr auf eine Person begrenzt, sondern liegt in der Verantwortung aller Teilnehmer. Das Storyweb zeichnet sich vor den anderen hier vorgestellten Schreibprojekten dadurch aus, daßdie indirekte Kommunikation zwischen den Autoren eindeutig im Vordergrund steht. Da nicht beabsichtigt ist, eine gemeinsame Geschichte oder einen Roman zu verfassen, geht es vielmehr darum, ganz verschiedene Sichtweisen und Interpretationen eines angesprochenen Gedankens durch möglicherweise völlig unterschiedliche Textsorten zusammenzubringen.

4 Zusammenfassung der Ergebnisse

In dieser Arbeit wurden zunächst ausschnittartig einige Merkmale des kreativen Schreibens, der literarischen Geselligkeit und des kollektiven Schreibens vorgestellt und anschließend auf vier Internet - Schreibprojekte übertragen. Damit wurde für einen begrenzten Bereich des kreativen Schreibens belegt, daßsich dessen Eigenschaften auch auf Schreibaktivitäten im Internet beziehen lassen. Zum Abschlußder Arbeit will ich die im engen Rahmen dieser Untersuchung ausgemachten Überschneidungspunkte zwischen dem klassischen kreativen und kollektiven Schreiben und den hier untersuchten Schreibprojekten noch einmal zusammenfassen und kommentieren, aber auch auf ihre Abweichungen voneinander hinweisen.

Von meinem grundlegenden Ansatz ausgehend, das kreative Schreiben als bewußt methodische Form des Schreibens und der Vermittlung von Schreibkompetenz anzusehen, kann keinem der hier betrachteten Schreibprojekte das Prädikat kreatives Schreiben verliehen werden. Die Initiatorin der Kollektivgeschichte Mittwochs in Cyberia zeigt zwar als einzige ein derartiges Sendungsbewußtsein, indem sie schreibt, daßsie auf ihrem "Abenteuerspielplatz für Worte, Schreiberlinge und Leseratten" jedem "der Spaßam geschriebenen Wort hat" eine Chance zur Veröffentlichung seiner Texte bieten wollte, denn sie "habe schon einige Male miterleben duerfen, wie jemand aus holperigen Anfaengen heraus nachher richtig gut und unterhaltsam schreiben lernte"_. Die Erfüllung dieses Anspruches beschränkt sich allerdings darauf, daßpotentielle Autoren nicht durch hohe Anforderungen an ihre Texte eingeschüchtert oder abgeschreckt werden. Eine Betreuung der Teilnehmer, eine wie auch immer geartete Anleitung und Hilfestellung beim Schreiben findet nicht statt, eine besondere Bedeutung des individuellen Schreibprozesses kann demzufolge nicht gesehen werden. Die Regeln, nach denen geschrieben wird, sind überall auf ein Minimum beschränkt; ein bewußter Umgang mit oder die Vermittlung von literarischen Techniken fällt nicht auf.

Dennoch besitzen alle Veranstaltungen Merkmale der literarischen Geselligkeit und des kollektiven Schreibens im Sinne von spielerischer Textarbeit mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten. Beim Storyweb steht die indirekte Kommunikation im Vordergrund, die in der Kollektivgeschichte Beim Bäcker nur einmal sehr deutlich hervortritt. Eine Möglichkeit der direkten Kommunikation in einem Diskussionsforum ist in keinem der analysierten Projekte programmiert. Das labile Gleichgewicht zwischen Plan und Spontaneität und die daraus resultierende reizvolle Uneinheitlichkeit sind überall vorhanden, meist mit dem Schwerpunkt auf der Spontaneität.

Im Internet kann allen Unkenrufen zum Trotz eine Chance gesehen werden, die allgemeine Schreibkultur zu beleben, denn sein Hauptkanal zum Austausch von Information ist die Schrift, die erweitert wird durch die besonderen Möglichkeiten des Mediums, Texte aus mehr als nur Schrift aufzubauen und sie miteinander über Hyperlinks zu verknüpfen. Doch die Möglichkeiten, sich einfach nur passiv, bloßklickend und schauend darin zu bewegen sind zu umfangreich als daßerwartet werden könnte, daßeine signifikante Zahl von Menschen durch das Internet zum Schreiben kommen. Um das zu ändern, müssen Anreize zur Aktivität geschaffen werden, die stärker sind als die der hier analysierten Unternehmungen. Irgendwo unter den 35.000 Einträgen zum Stichwort Äkreatives Schreibenı gibt es sie wahrscheinlich schon.

5. Literatur

Albrecht, Richard: Vom "Roman der XII" (1909) zum Kollektivroman "Wir lassen uns nicht verschaukeln" (1978). Hinweis auf literarische Gemeinschaftsproduktionen in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Diskussion Deutsch 84, 1985, S. 436 - 445.

Brenner, Gerd: Kreatives Schreiben. Ein Leitfaden für die Praxis. Frankfurt/M 1990.

Eco, Umberto: Nachschrift zum >Namen der Rose<. München 1986.

Fritzsche, Joachim: Schreibwerkstatt. Geschichten und Gedichte: Schreibaufgaben, -übungen, -spiele. Stuttgart 1989.

Fröchling, Jürgen: Kreatives Schreiben und Individuum. In: Ermert, Karl/ Bütow, Thomas (Hrsg.): Was bewegt die Schreibbewegung? Kreatives Schreiben - Selbstversuche mit Literatur. Rehberg-Loccum 1990 (Loccumer Protokolle 63/1989), S. 15 - 29.

Gesing, Fritz: Kreativ schreiben. Handwerk und Techniken des Erzählens. Köln 1994.

Lodemann, Jürgen: Im Durcheinandertal neben der Leine. In: Ermert, Karl/ Bütow, Thomas (Hrsg.): Was bewegt die Schreibbewegung? Kreatives Schreiben - Selbstversuche mit Literatur. Rehberg-Loccum 1990 (Loccumer Protokolle 63/1989), S. 70 - 75.

Mattenklott, Gerd: Der Leser als Autor. Der Anschlag auf den Berufsschriftsteller durch die aktuelle Schreibbewegung. In Mattenklott / Pickerodt (Hrsg.): Literatur der siebziger Jahre. Berlin 1985, S. 101 - 112.

Mattenklott, Gundel: Im Labyrinth der Begegnungen. Die Entstehung eines Gruppenromans. In: Neue Sammlung 24/3 1984, S.262-280.

Mattenklott, Gundel: Literarische Geselligkeit - Schreiben in der Schule. Stuttgart 1979.

Mattenklott, Gundel: Wem gehört die Literatur? Die Schreibbewegung und die Literatur - ein Problem: In: Ermert, Karl/ Bütow, Thomas (Hrsg.): Was bewegt die Schreibbewegung? Kreatives Schreiben - Selbstversuche mit Literatur. Rehberg-Loccum 1990 (Loccumer Protokolle 63/1989), S. 76 - 85.

Mosler, Bettina/ Herholz, Gerd: Die Musenkußmischmaschine. 120 Schreibspiele für Schulen und Schreibwerkstätten. Essen 1991.

vom Scheidt, Jürgen: Kreatives Schreiben. Texte als Wege zu sich selbst und zu anderen. Frankfurt 1989.

Werder, Lutz von: Einführung in das Kreative Schreiben. Milow 1996.

6 Internetadressen

Neben den in der Arbeit besprochenen Projekten sind hier noch die Adressen einiger weiterer interessanter Internetseiten zum Thema angegeben.

Schreibprojekte

Die imaginäre Bibliothek (http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/home.html)

Die Suche nach dem Tiefseefisch (http://www.preisler.de/hornischer/comic_f.html GVOON (http://www.gvoon.de/art/lit/index.html)

Materialien für den Deutschunterricht (http://w3.restena.lu/al/deutsch/deutschlast.html)

Never ending story (http://www.familie.de/schule/never.hbs?x=151819)

Oliver Broeker - Kettengeschichte (http://www.gmd.de/People/Oliver.Broeker/gmdserver/HTML/Kettengeschichte.html)

Poesiemeister - Wettbewerb (http://www.in-chemnitz.de/~gg/poesie.html)

Storyweb (http://ourworld.compuserve.com/homepages/Poetry_Machine/wasist.htm)

Transient mismatch press - Literatur (sic) printed in cyberspace (http://www.he.net/~tmp/)

Webfehler (http://members.aol.com/melody001/web2.htm)

http://ourworld.compuserve.com/homepages/CKlinger/back.htm

Suchmaschinen

Excite (http://www.excite.com)

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Liter@rische Geselligkeit. Kollektives und kreatives Schreiben im Internet
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Veranstaltung
Proseminar "Kreatives Schreiben"
Autor
Jahr
1997
Seiten
17
Katalognummer
V95221
ISBN (eBook)
9783638079006
Dateigröße
415 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Liter@rische, Geselligkeit, Kollektives, Schreiben, Internet, Proseminar, Kreatives, Schreiben
Arbeit zitieren
Florian Rieger (Autor:in), 1997, Liter@rische Geselligkeit. Kollektives und kreatives Schreiben im Internet, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95221

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