Das Ziel dieser wissenschaftlichen Arbeit besteht darin, Goethes Gedicht "Die Metamorphose der Pflanzen" eingehend zu analysieren und zu interpretieren. Goethe beschreibt in diesem Gedicht das Wachstum und die Entwicklung von Pflanzen und verwendet dabei eine lyrische Ich-Du-Beziehung, um das innere Geheimnis der Welt zu offenbaren.
Das lyrische Ich beobachtet und beschreibt das Werden einer einzelnen Pflanze, vom Keim bis zur Vollendung, und erkennt dabei den natürlichen Kreislauf des Lebens. Es richtet sich an das lyrische Du, um dieses Verständnis der "ewigen Gesetze" der Natur zu vermitteln.
Besonders interessant ist die Interpretation im Kontext von Goethes Beziehung zu Charlotte von Stein, an die das Gedicht gerichtet ist. Es wird angenommen, dass Goethe sich mit dem lyrischen Ich und Charlotte von Stein mit dem lyrischen Du identifiziert.
In dem Gedicht "Die Metamorphose der Pflanzen beschreibt Goethe das Wachstum der Pflanzen. Das lyrische Ich wendet sich dabei an ein lyrisches Du, dem es das innerste Geheimnis der Welt offenbaren will. Dazu beobachtet es das Werden einer einzelnen Pflanze sehr genau. Es beschreibt, wie ein Keim sich zur Vollendung entwickelt, um dann selber Keime zu erzeugen. Daraus erkennt das lyrische Ich den ewigen natürlichen Kreislauf des Entstehens, Wachsens und Lebenspendens. Im Folgenden richtet es sich wieder an das lyrische Du, das die "ewigen Gesetze" nun überall erkennen können soll. Als weiteres Beispiel für den Weg vom Keim zur Vollendung führt das lyrische ich seine Beziehung zum lyrischen Du an, das sich von der Bekanntschaft bis zur Liebe entwickelt hat und kurz vor der Vollendung steht.
Da Goethe dieses Gedicht an Charlotte von Stein geschrieben hat, ist anzunehmen, daß er sich selbst mit dem lyrischen Ich und Charlotte von Stein mit dem lyrischen Du identifiziert. Von diesem Ausgangspunkt sind zwei Interpretationen möglich.
Eine Möglichkeit ist, das Gedicht isoliert auf die Beziehung zwischen Goethe und von Stein zu beziehen, so wie es das lyrische Ich von Zeile 71 bis 80 nahelegt. Es erscheint sinnvoll, nur die Zeilen 1 mit 70 in die Interpretation mit einzubeziehen, da man das Ende des Gedicht als eine Art "Gebrauchsanweisung" betrachten könnte. Vers 71 bis 75 sind als einzige im Imperfekt geschrieben, was ihnen ein besondere Bedeutung gibt. Die Begriffe "Keim", "entsprießen", "Blüten" und "Frucht" kommen auch vorher häufig vor. Deshalb kann man den letzten Abschnitt als Hinweis auf Goethes Aussageintention sehen. Außerdem sollte die Tatsache beachtet werden, daß Goethes Italienreise auch durch Differenzen mit Charlotte begründet war.
Setzt man im Abschnitt von Zeile 1 bis 8 den "Garten" mit Charlottes Gefühls- und Gedankenwelt gleich, kann man darauf schließen, daß sie sich nach Goethes Meinung nicht über ihre Gefühle im klaren ist. Sie versucht, sie zu benennen, aber ein Gedanke wird immer von einem anderen verscheucht. Er glaubt aber, daß sie, wenn sie dahinter sieht, ein klares Bild bekommen kann, das heißt das Rätsel lösen kann.
Geht man nun von Zeile 71 bis 80 aus, so muß in der beschriebenen Entwicklung der Pflanze eine Parallele zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Goethe und von Stein vorhanden sein. In Zeile 11 und 12 wäre der Moment des Kennenlernens zu erkennen. Die Freundschaft beginnt sich zu entwickeln, sobald sie in das Leben entlassen worden ist, das heißt, sobald die Möglichkeit dazu gegeben ist. Zeile 13 bis 22 stellte die langsame Gewöhnung aneinander dar, während der die Freundschaft noch jung ist. Aber schon in dieser kurzen Bekanntschaft liegt eine große Kraft, die es der Freundschaft ermöglicht, die Kindheit zu verlassen und sich weiterzuentwickeln. Die eigentliche Freundschaft würde von Vers 23 bis 32 beschrieben. Sie wächst, breitet sich aus und differenziert sich. So scheint sie bereits vollendet zu sein, da sie frei und kraftvoll ist. Kraft ist für die Beziehung zwischen zwei Menschen jedoch nicht alles. In Zeile 33 bis 49 könnte man schließlich die Entwicklung der Liebe erkennen, die sie vollendet. Nun entwickeln sich die feineren Bindungen, während sich die Blätter, das könnte gemeinsam erlebtes und erfahrenes sein, um die sich ausbildende Liebe anordnen.
Folgt man diesem Gedankengang weiter, kann man aus Vers 50 bis 54 die Gegenseitigkeit der Gefühle schließen, von der Goethe wohl ausgeht. In diesem Abschnitt ist die Zweisamkeit und die Vertrautheit sehr deutlich dargestellt. Schwierig wird die Interpretation des folgenden Teiles von Zeile 55 bis 62. Es ist bekannt, daß die Beziehung zwischen von Stein und Goethe auf platonischer Ebene war. Das Vorkommen des Hochzeitsgottes und des Ringbegriffes, wenn auch in anderer Absicht gebraucht, wecken dennoch Gedanken an Hochzeitsvorstellungen. Möglicherweise ist dahinter Goethes Wunsch versteckt, Charlotte von Stein nicht mehr mit ihrem Mann teilen zu müssen. Auch könnte ein Verlangen nach gemeinsamen Kindern, welche die Kette fortsetzen, versteckt sein.
Vers 63 bis 70 stellte wieder einen Bezug auf den ersten Abschnitt dar. Nach dem Goethe von Stein die Entwicklung ihrer Liebe beschrieben hat, hofft er, daß sie sie nun überall erkennen können wird. Sowohl in sich selbst wie auch in der sie umgebenden Welt.
Von Zeile 77 bis 80 könnte man in der Folge seine Bitte erkennen, gemeinsam mit ihm den absoluten Gleichklang und die Vollendung zu suchen. Möglicherweise waren die Differenzen, derentwegen Goethe nach Italien fuhr, in unterschiedlichen Erwartungen an ihre Beziehungen begründet, die er nun von Palermo aus angleichen wollte.
Die andere Möglichkeit ist, daß Goethe seine eigene Entwicklung beschreibt, die er mit Charlottes Hilfe durchlaufen hat. Als er sie mit 26 Jahren kennenlernte, war sein Wissen über die Gesellschaft und deren Erwartungen noch sehr beschränkt. Sie schulte seinen Geist und sein Verhalten.
Zeile 1 bis 8 stellte in diesem Zusammenhang seinen Horizont zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens dar. In seinem Kopf schwirren viele verschiedene Ideen, die aber noch in keinem tieferen Zusammenhang stehen. Ausgedrückt wird das durch das "Blumengewühl" und die Suche nach dem "geheimen Gesetz".
Die Entwicklung der Pflanze, von Vers 9 bis 49, bedeutete das Reifen von Goethes Geist während der folgenden Zeit. Zu Anfang entfaltet er sich langsam, wobei seine spätere Kraft schon in ihm ruht. Wie der Sproß der Pflanze bildet er sich immer schneller aus um dann die Vollendung zu erreichen. Wichtig erscheint der Ausdruck "stufenweise geführt" in Zeile 10. Hier wird darauf hingedeutet, daß diese Entwicklung nicht aus sich heraus abläuft, sondern der Unterstützung von außen bedarf. Auch das "Licht" in Zeile 13 ist ein Zeichen dafür. Vielleicht kann man Charlotte als diese Licht sehen. Die Natur, die in Zeile 33 die schnelle Entwicklung des Sprößlings in andere Bahnen lenkt, könnte ebenfalls von Stein darstellen. Sie scheint Goethes Geist jedoch unterschätzt zu haben, da er von ihrem Staunen über die Bewegungen der Blume (Zeile 47/48), das heißt seines Geistes berichtet.
In Zeile 50 bis 58 ließe sich nun die geistige Verbindung der beiden herauslesen. Die Vereinigung ihrer Geister ist eine sehr Fruchtbare, da sofort "schwellen unzählige Keime", das heißt, neue Ideen entstehen.
Dadurch schließt sich der Ring (Zeile 59), weil Goethes geistige Entwicklung zur Vollendung gebracht worden ist. Aus der Verbindung zwischen Charlotte und ihm geht jedoch sofort ein neuer Ring aus neuen Ideen hervor, so daß sie die Welt um sich herum ebenso beleben können wie sich selbst (Zeile 60 - 63).
Der Abschnitt von Zeile 63 bis 70 wäre wieder ein Rückbezug auf den ersten Teil, mit dem Unterschied, daß Charlotte ihn jetzt verstehen kann, weil das "Blumengewühl" sortiert ist. Von Zeile 71 bis 76 beschreibt Goethe die Auswirkungen, die Charlottes Erziehung auf ihr Verhältnis hatte und erinnert sie daran, daß eine ähnliche Entwicklung durchlaufen ist, wie er selbst. In den letzten vier Zeilen zeigt er, daß er auf eine Vollendung ihrer Beziehung in absoluter Harmonie und Schönheit hofft.
Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, könnte man die Entwicklung der Pflanze mit dem Werden einer Idee oder eines Gedankens gleichsetzen. Goethe ging bei seinen Theorien grundsätzlich vom Kleinen aus, um dann auf das Große zu schließen. Das Blumengewühl in Zeile 2 bezeichnete so die vielen verschiedenen Ideen, die mit einander abgestimmt werden müssen. Dazu wird ein einzelner Gedanke ausgeführt.
Wie eine Pflanze keimt er zuerst im Unterbewußten und wird dann vom Verstand, dem "Licht" (Zeile13), gefördert. Bis Zeile 33 wird aus der schemenhaften Idee, dem schlafenden Samen, ein klarer Gedanke.
In dem Abschnitt bis Zeile 49 wird er ausgeformt und detaillierter. Wie die Pflanze erst jetzt ihre Blüte zeigt, wird nun die Tragweite der kleinen Idee deutlich. In Zeile 50 bis 56 könnte man in diesem Zusammenhang die Abstimmung und Vereinigung dieser neuen Idee mit anderen, bereits entwickelten sehen, da die Verbindung verschiedener Ideen zu einer großen Theorie durchaus mit einer lebenslangen Bindung zweier Lebewesen verglichen werden kann. Aus dieser Verbindung entstehen sofort wieder neue Ideen, die die "Kette der ewigen Kräfte" verlängern können (Zeile 59 - 61), so daß ihre belebende Wirkung überallhin kommen kann (Zeile 62).
Auch bei dieser Interpretation muß von der Wendung Goethes zumindest an ein lyrisches Du, wahrscheinlich jedoch wieder an Charlotte von Stein ausgegangen werden. Die Erläuterungen richten sich an jemanden, der zu Beginn des Gedichts noch nicht fähig ist, seinen Gedankengängen zu folgen. Von Zeile 63 bis 71 spricht er diesen Gegenüber direkt an, um zu erfahren, ob seine Erklärung verstanden worden ist. Das lyrische Du soll nun seine Gedanken verstehen und nachvollziehen können; das "Gewimmel" nicht mehr verwirrend sein.
Der direkte Bezug auf das lyrische Du beziehungsweise Charlotte von Stein von Zeile 71 bis 76 erklärt sich aus den folgenden vier Zeilen: Jetzt, da sie seine Art zu denken kennt, ist es ihnen möglich, die höchste Stufe der Liebe, die höhere Welt (Zeile 80), zu erreichen. Dazu erinnert er sie an den Weg, den ihre Beziehung bisher genommen hat.
Es gibt sehr viele verschiedene Möglichkeiten, "Die Metamorphose der Pflanzen" zu interpretieren. Grund dafür ist, daß die Entwicklung einer Pflanze genauso verläuft, wie die vieler anderer Dinge auch. Vielleicht ist es gerade bei diesem Gedicht jedoch günstig, es so aufzufassen wie es geschrieben ist: eine Beschreibung der momentanen Situation und des momentanen Aufenthaltsortes, gerichtet an eine geliebte Frau, die sich in weiter Ferne aufhält. Meiner Meinung nach ist es in diesem Fall verständlich, daß Goethe, während er das Wachstum einer Pflanze beobachtet und bedenkt, sich auch über seine Beziehung zu ihr Gedanken macht. Besonders weil er sich nicht in wahrem Einvernehmen von ihr verabschiedet hat.
- Arbeit zitieren
- Lena Schwaiger (Autor:in), 1999, Goethe, Johann Wolfgang von - Die Metamorphose der Pflanzen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95474