Kognitive Verhaltenstherapie einer Patientin mit mittelgradiger depressiver Episode und ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsakzentuierung

Ein Prüfungsfall für die Staatliche Prüfung zur Psychologischen Psychotherapeutin


Examensarbeit, 2020

31 Seiten, Note: 1

Anonym


Leseprobe


Inhalt

Überweisungskontext

Diagnostik und Indikationsstellung
Aktuelle Anamnese
Sozialanamnese, Familienanamnese, Schulanamnese
Psychischer Befund
Störungsanamnese und Behandlungsversuche
Testpsychologische Befunde
Diagnosestellung nach ICD-10
Therapieindikation

Problemanalyse
Makroanalyse
Mikroanalyse

Therapieplanung

Therapieverlauf

Evaluation
Therapieergebnisse
Wirkfaktoren und limitierende Faktoren
Prognose

Kritische Reflexion des Falles

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Überweisungskontext

Die Überweisung, der damals 20-jährigen Abiturientin für eine ambulante Psychotherapie erfolgte durch ihren behandelnden Hausarzt. Auf Anraten und Drängen ihrer Familie habe sich die Patientin aufgrund von Versagensängsten, depressiven Beschwerden sowie andauernden Magen-Darm-Beschwerden schließlich in psychotherapeutische Behandlung begeben.

Diagnostik und Indikationsstellung

Aktuelle Anamnese

Im Aufnahmegespräch berichtete die Patientin von depressiven Symptomen in Form von starker Traurigkeit, häufigem Weinen, Antriebslosigkeit, vermehrtem Grübeln sowie Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen. Sie werte sich selbst ab, zweifle stark an sich, habe sich vermehrt zurückgezogen und bisherige Ressourcen vernachlässigt. Sie leide oftmals an Schuldgefühlen, fühle sich nicht gut genug und erlebe sich als Belastung für ihre Mitmenschen. Sie habe ihre Freude und ihre Kreativität für die Kunstmappe, welche sie aktuell als Vorbereitung für ihr anstehendes Grafikdesignstudium erarbeite, verloren. Eigene Probleme behalte sie für sich und es falle ihr sehr schwer, darüber zu sprechen. Zu der ambulanten Psychotherapie sei sie lediglich auf Wunsch und Drängen ihrer Eltern gekommen.

Bereits seit ihrer Kindheit würden sich die Eltern lautstark streiten, wobei die Patientin den Raum nicht verlassen dürfe, was sie stark belaste. Sie habe oftmals das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und leide an einem Engegefühl in der Brust. Seit ihrem 14. Lebensjahr leide sie an ausgeprägten Magen-Darm-Beschwerden (nach damaligem Kenntnisstand Colitis Ulcerosa) mit häufigen Krämpfen, Schmerzen, andauernden Durchfällen und Appetitverlust, welche sich im Rahmen des starken Leistungsdrucks während der Abiturvorbereitungen in den letzten Monaten verstärkt habe und die Patientin etwa 6kg abgenommen habe. Auch habe sie nach den Abiturprüfungen für etwa 3 bis 4 Wochen an nächtlichen Panikattacken gelitten, woraufhin sie Angst vor dem Einschlafen gehabt habe. Weiterhin berichtete die Patientin von Versagens- und Verlustängsten: Sie habe große Angst davor, dass die Eltern sterben würden oder dass die Patientin verlassen werde und sie alltägliche Aufgaben alleine nicht bewältigen könne. In sozialen Situationen (beispielsweise beim Brötchen kaufen oder beim Telefonieren) sei sie oftmals sehr unsicher und spiele Situationen gedanklich mehrfach im Vorfeld durch, um „das Richtige“ zu tun. Sie habe jederzeit die Sorge, etwas nicht richtig zu machen und infolge dessen Ärger zu bekommen oder abgelehnt zu werden. Ihre Freizeit habe sie bislang mit ihrem Pferd und dem Reitsport verbracht, was ihr viel Freude gebracht habe. Inzwischen setze sie das Reiten jedoch auch massiv unter Druck. Sie habe ihr Selbstvertrauen verloren und habe ausgeprägte Angst, auf Turnieren die geforderte Leistung nicht mehr zu erbringen.

Weiterhin habe die Patientin in den letzten Jahren viele belastende Ereignisse erlebt: Vor etwa zwei Jahren sei ihre Großmutter, den sie als ihre beste Freundin bezeichnete, verstorben. Der Vater habe zwei Schlaganfälle erlitten, die Mutter leide an einem Burnout und habe zwei Hörstürze gehabt. Die Patientin mache sich viele Sorgen um ihre Familienmitglieder, die an diversen körperlichen und psychischen Erkrankungen leiden. Der Bruder habe Bandscheibenvorfälle gehabt, der Großvater leide an fortschreitendem Alzheimer, eine Tante väterlicherseits leide an Depressionen und phasenweise an Verfolgungswahn, habe multiple Psychiatrieaufenthalte gehabt und die Mutter und die Großtante hätten früher an Krebs gelitten. Der ältere Bruder (+4 Jahre) sei Ende 2016 für sein Studium ausgezogen, wodurch eine wichtige Bezugsperson der Patientin weggefallen sei und sie sich mehr und mehr alleine gefühlt habe.

Körperlich habe die Patientin eine Schilddrüsenunterfunktion (Medikation: morgens 75µg L-Thyroxin) und leide Colitis Ulcerosa sowie an Rosacea im Gesicht, wofür sie sich schäme.

Sozialanamnese, Familienanamnese, Schulanamnese

Die Patientin sei mit einem älteren Bruder (+4 Jahre) bei ihren Eltern aufgewachsen. Der Vater (Headhunter) habe viel gearbeitet und sei immer wieder für bis zu zwei Wochen beruflich unterwegs gewesen. Den Vater beschreibt die Patientin als „leistungsorientiert, perfektionistisch, hoch intelligent und autoritär“. Zuhause sei er oftmals gereizt gewesen und es habe viele Konflikte mit der Mutter gegeben. Daraufhin hätten sich die Kinder zurückgezogen und der große Bruder habe geweint, woraufhin die Patientin sich bemüht habe, den Bruder zu trösten und zum Lachen zu bringen. Nach den Konflikten habe die Patientin oftmals ihre Mutter weinend vorgefunden und habe sie dann getröstet und aufgemuntert. Die Mutter (Lehrerin) beschreibt die Patientin als „ehrgeizig, intelligent, impulsiv, emotional, aber auch liebevoll“.

Die Patientin sei gerne in den Kindergarten gegangen und dort habe es keine Besonderheiten gegeben. Die zweite Klasse der Grundschule habe die Patientin wiederholen müssen, da sie sehr „verpeilt“ gewesen sei und viel vergessen habe. Durch die Wiederholung der Klasse habe sie die Kontakte zu ihren Freunden und Bekannten aus dem Kindergarten und der Schulklasse verloren. In der neuen Klasse habe sie keinen Anschluss zu den Klassenkameraden gefunden und auch aufgrund von täglichem Vergessen der Hausaufgaben sei sie zum Außenseiter geworden. Sie habe sich jeden Tag aufs Neue vorgenommen, ihre Hausaufgaben zu erledigen, habe dies aber sofort vergessen, sobald sie nach Hause gekommen sei. Auch habe sie häufig vergessene und bereits schimmelnde Pausenbrote in ihrer Tasche gefunden. An manchen Tagen habe die Patientin sogar versäumt, sich morgens umzuziehen und sei im Schlafanzug zur Schule gegangen, woraufhin sie erneut von den Klassenkameraden ausgelacht worden sei. Der ältere Bruder hingegen habe all diese alltäglichen Aufgaben alleine und selbstständig gelöst, wodurch die Patientin bereits in der Kindheit das Gefühl gehabt habe, sich nicht genug anzustrengen. Auch habe sie stets das Gefühl gehabt, dass der Vater den Bruder aufgrund seiner Selbstständigkeit und Gewissenhaftigkeit lieber mochte.

Die Mutter der Patientin sei in Teilzeit arbeiten gewesen, sodass die Patientin nachmittags nach der Schule meistens in ein leeres Haus gekommen sei. Sie habe sich oftmals alleine und traurig gefühlt und sei neidisch auf die Klassenkameraden gewesen, deren Mütter sie zuhause erwartet hatten. Die Mutter habe immer wieder über Überforderung geklagt, habe ausgeprägte Stimmungsschwankungen erlebt und sei mehrfach „zusammengebrochen“. Gegenüber der Patientin habe sie sich oftmals vorwurfsvoll und anklagend verhalten („Wegen Dir habe ich meine beruflichen Pläne nicht verfolgt und mein Leben vergeudet“). Im Verlauf der Therapie erinnerte sich die Patientin auch an suizidale Äußerungen der Mutter, was sie als Kind zutiefst verängstigt und verunsichert hatte.

Zeitgleich zur Einschulung habe die Patientin begonnen zu reiten. Hier habe sie neue Freunde gefunden, habe sich wohl gefühlt und habe sich immer wieder in ihre „heile Reiterwelt“ zurückgezogen, um die anstrengende, unliebsame Zeit in der Schule zu vergessen. Auch habe sie einen sehr geduldigen Reitlehrer gehabt, der eine Art Vaterrolle für sie einnahm.

Während der Kindergarten- und Grundschulzeit habe der Bruder von der Patientin an depressiven Beschwerden in Form von Traurigkeit und ausgeprägtem Rückzugsverhalten gelitten und habe auch einen Aufenthalt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie absolviert. Auch habe er gehäuft gesundheitliche Probleme gehabt, sodass die Familie mehrfach schnell ins Krankenhaus gemusst habe, um die Bruder behandeln zu lassen.

Aufgrund von Leistungsschwierigkeiten in Mathematik habe der Vater der Patientin Nachhilfe gegeben. Die Patientin habe jedoch starke Ängste vor ihrem Vater gehabt, sodass sie sich nicht habe konzentrieren können. Als der Vater bemerkt habe, dass die Patientin auch nach mehrfachen Wiederholungen die Lösungswege nicht verstanden habe, sei er sehr böse geworden und habe sie angeschrien. Die Patientin habe ihren Vater als sehr unberechenbar erlebt und habe große Angst vor ihm gehabt. Über Ungeschicktheiten der Patientin habe der Vater gelacht und diese oftmals kritisch kommentiert („Du schaffst das eh nicht“). Bis zu ihrem 12. Lebensjahr habe die Patientin bei Rufen ihres Vaters eingenässt. Beispielsweise habe er sie gerufen, damit sie ihm bei etwas im Keller helfen solle. Die Patientin sei in diesen Situationen kurz vor Angst erstarrt, habe eingenässt und habe nicht zum Vater gehen wollen. Die Mutter habe sie dennoch trotz ihres Widerwillens zu dem Vater geschickt, welcher die nasse Hose sowie die Emotionen der Patientin ignorierte und sie anwies, wie sie ihm helfen solle. Erst im Anschluss habe die Mutter der Patientin geholfen, sich umzuziehen. Gesprächsangebote der Mutter habe die Patientin abgelehnt und sich verstärkt zurückgezogen. Auch erinnerte sich die Patientin im Verlauf der Behandlung an aggressives Auftreten des Vaters, was Todesangst in ihr auslöste und sie lediglich durch ihren Großvater „gerettet“ worden sei.

Nach der Grundschule sei das Gymnasium als weiterführende Schule empfohlen worden. Sie habe dasselbe Gymnasium besucht, an dem auch ihre Mutter gelehrt habe, damit die Mutter sie immer mit dem Auto habe mitnehmen können. An der fremden Schule habe sie niemanden gekannt, sei immer „das Lehrerkind“ gewesen und sei auch immer einige Zentimeter kleiner als die Mitschüler gewesen. Die Patientin sei erneut in eine Außenseiterposition geraten und sei immer wieder ausgeschlossen worden. In der achten Klasse habe sie eine gute Freundin gefunden, jedoch seien die beiden Mädchen aufgrund unterschiedlicher Wahlfächer in verschiedene Klassen gekommen. In der zehnten Klasse sei die Patientin durch die Wahl ihrer Schulfächer in einer „Problemklasse“ gelandet, in der viel Alkohol und Drogen konsumiert worden seien. Hieran habe die Patientin nicht partizipiert, wodurch sie erneut in eine Außenseiterposition geraten sei. In der 11. Klasse seien jedoch die Schüler erneut in neue Klassen aufgeteilt worden und die Patientin sei mit der ehemaligen Freundin wieder in eine Klasse gekommen. 2016 habe der Vater infolge beruflicher Überlastung und gesundheitlicher Probleme (Schlaganfälle 2013, 2015) seine Arbeitsstelle gekündigt und sei fortan immer zuhause gewesen. In Folge der Schlaganfälle sei der Vater deutlich reizbarer, lauter und auch viel emotionaler sowie unberechenbarer geworden. Auch sei er aufgrund seiner anhaltenden Arbeitslosigkeit unterfordert und immerzu unzufrieden. Die Patientin versuche, ihm aus dem Weg zu gehen, jedoch fordere er immer wieder, dass die Patientin ihre freie Zeit mit ihm verbringe und ihn „unterhalte“. Zeitgleich zur Kündigung des Vaters habe die Patientin stark ausgeprägte Magen-Darm-Beschwerden in Form von unkontrollierbaren starken Magenkrämpfen und Durchfällen entwickelt. Sie habe viele Lebensmittel nicht vertragen und habe viel abgenommen. Dennoch habe sie sich „zusammengerissen“ und habe sehr viel für ihre Abschlussprüfungen gelernt. Während den Prüfungen habe sie weiterhin an stark ausgeprägten Magen-Darm-Beschwerden gelitten und sei durchweg sehr angespannt und ängstlich gewesen. Eine Woche nach der letzten Abiturprüfung sei die Patientin schließlich „zusammengebrochen“: Sie habe sehr viel geweint, sei ständig traurig gewesen, habe starke Selbstzweifel gehegt und keine Zukunftsperspektive gesehen. Auch verstärkten sich die Magen-Darm-Probleme weiterhin.

Eine Partnerschaft habe die Patientin bislang nicht geführt. Sie habe eine gute Freundin und mehrere Bekannte aus dem Stall und aus der Kunstschule. Im Kontakt mit Unbekannten sei sie zu Beginn oft sehr schüchtern und unsicher. Andere Personen würden jedoch schnell Vertrauen zu ihr fassen und von ihren Problemen erzählen. Über eigene Probleme spreche die Patientin jedoch nicht. Auch fehle ihr der Mut, eigene Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken.

An Ressourcen benennt die Patientin das Reiten und ihr Pferd, ihre Kreativität und Fantasie. Die Patientin wolle nach dem Abitur Grafikdesign studieren und besuche aktuell an zwei Tagen in der Woche zur Vorbereitung sowie zur Erarbeitung einer Bewerbungsmappe eine Kunstschule.

Psychischer Befund

Die Patientin erscheint pünktlich zum Erstgespräch, ist kleingewachsen und schlank, gepflegt und altersadäquat gekleidet. Sie ist wach, bewusstseinsklar und allseits orientiert. Die Patientin tritt zurückhaltend und unsicher, aber freundlich bei spürbarem Leidensdruck in Kontakt. Die Patientin blickt häufig zu Boden und spricht mit leiser Stimme. Sie bemüht sich durchgehend darin, die Fassung zu wahren, bricht aber dennoch mehrmals in Tränen aus. In ihrer Problemschilderung ist sie klar und gut strukturiert. Einschränkungen der Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit und Auffassungsgabe sind im Gespräch nicht beobachtbar. Die Patientin berichtet über subjektiv belastende Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen. Die Stimmungslage ist niedergeschlagen, zeitweise ängstlich und unsicher bei vermehrtem Weinen. Der Antrieb ist vermindert. Es bestehen keine Anhaltspunkte für formale Denkstörungen, Zwänge oder wahnhafte Gedanken. Es sind keine Ich-Störungen oder Sinnestäuschungen eruierbar. Sozialer Rückzug, Unsicherheit im sozialen Kontakt und Schlafstörungen liegen vor. Es besteht aktuell keine Suizidalität. Es liegt keine Eigen- oder Fremdgefährdung vor. Anamnestisch besteht kein Anhalt für ein aktuelles Suchtgeschehen.

Störungsanamnese und Behandlungsversuche

Die Patientin sei in ihrer Kindheit schon immer sehr ängstlich und unsicher gewesen und habe kaum Selbstvertrauen gehabt. Sie habe sich vor Gewittern und vor dem Alleinsein sehr gefürchtet. Dies sei jedoch von den Eltern nicht ernst genommen worden und oftmals sei die Patientin ermahnt („Reiß dich zusammen.“) oder nicht beachtet worden. So habe die Patientin versucht, die Ängste mit einer Fröhlichkeit und Unbeschwertheit zu überspielen. Bei ihren Verwandschaft sei sie durch ihre Fröhlichkeit beliebt gewesen und habe hierdurch Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommen.

Bereits als Kind habe die Patientin die Emotionen ihrer Mitmenschen und vor allem ihrer Familie stark mitgefühlt und habe durch die Krankheit des Bruders sowie die emotionalen Einbrüche der Mutter oftmals stark mitgelitten. Sie habe infolge dessen versucht, die Familienmitglieder aufzuheitern und eine tröstende Rolle einzunehmen. Bei Konflikten zwischen den Eltern habe sie zuerst versucht, den Bruder abzulenken, um dann die weinende Mutter zu trösten, während der Vater kühl, distanziert und ablehnend auf die Familienmitglieder reagiert habe. Bezüglich der emotionalen und teilweise auch vorwurfsvollen Stimmungseinbrüche ihrer Mutter habe sich die Patientin sehr schuldig gefühlt und habe versucht, „alles wieder in Ordnung zu bringen“, indem sie beispielsweise das Haus aufgeräumt habe. Auch habe der Bruder aufgrund seines körperlichen und seelischen Zustandes vermehrt Aufmerksamkeit von den Eltern bekommen, woraufhin sich die Patientin vermehrt zurückgezogen und eigene Bedürfnisse immer mehr für sich behalten habe, wodurch sie sich oftmals sehr einsam gefühlt habe.

In der Grundschule habe sich die Patientin zurückgezogen und habe versucht, mit einem Lachen ihre Traurigkeit zu verstecken, wenn sie die Pausen allein verbracht habe oder nicht zu Kindergeburtstagen eingeladen gewesen sei. In Kontakten mit den Mitschülern habe sie sich unsicher gefühlt und bezüglich ihrer Leistungen in der Schule habe sie sich immer minderwertig gefühlt und sich selbst abgelehnt.

Durch ihren leistungsorientierten, sachlichen, intelligenten Vater habe sie immer wieder vermittelt bekommen, dass sie nicht gut genug sei („Du machst nicht genug. Du bist nicht gut genug. Du musst dich mehr anstrengen“). Auf Rufen des Vaters sei die Patientin trotz ihres ausgeprägten Widerwillens und des Einnässens zu ihrem Vater geschickt worden, wodurch autonomes Handeln der Patientin immer wieder begrenzt und unterbunden wurde.

Zu der Zeit, in der die Patientin vermehrt Schwierigkeiten in ihrem Pferdestall gehabt habe, habe sie sich auch oftmals traurig und allein gefühlt und habe sich vermehrt zurückgezogen. Mit einem Wechsel des Stalls hätten sich die affektiven Beschwerden jedoch gebessert.

Mit 14 Jahren habe sie vermehrt an Magen-Darm-Beschwerden gelitten. Zeitgleich sei der Bruder ausgezogen, der Vater sei arbeitslos und unzufrieden zuhause gewesen, die Eltern hätten sich vermehrt lautstark gestritten und die Patientin habe sich auf ihre Abschlussprüfungen vorbereitet. Sie sei bei mehreren ärztlichen Untersuchungen gewesen, allerdings habe es keinen organischen Befund gegeben, welcher die Magenbeschwerden erklärt habe. Sie habe versucht, sich weiter „zusammenzureißen und zu funktionieren“ und sei schließlich nach den Abschlussprüfungen mit affektiven Beschwerden dekompensiert. Aufgrund intensiven Drängens ihrer Familie habe die Patientin Unterstützung bei ihrem Hausarzt gesucht. Der Hausarzt habe die Anmeldung in unserer Institutsambulanz sowie eine stationäre psychosomatische Akutbehandlung in unserem Haus veranlasst. Im August reiste die Patientin zur Aufnahme der stationären Akutbehandlung an, aber brach die stationäre Behandlung direkt nach der Anreise wieder ab, da sie völlig verunsichert gewesen sei und ihr „alles zu viel“ gewesen sei. Die Aufnahme einer ambulanten psychotherapeutischen Einzelbehandlung verfolgte die Patientin jedoch weiter motiviert und engagiert.

Die Patientin hat keine fachärztliche Anbindung, keine psychopharmakologische Medikation und bislang keine ambulante oder stationäre Psychotherapie absolviert.

Testpsychologische Befunde

- Im Klinisch Psychologischen Diagnosesystem 38 (KPD-38 von der Forschungsstelle für Psychotherapie, Universitätsklinikum Heidelberg) konnten deutlich erhöhte Belastungswerte (PR: Prozentrang) auf den Skalen Körperbezogene (PR = 99) sowie Psychische Beeinträchtigung (PR = 97), Handlungskompetenz (PR = 99), Soziale Probleme (PR = 92), Lebenszufriedenheit (PR = 93) und hinsichtlich des Gesamtwertes (PR = 99) abgebildet werden, was die hohe Symptombelastung sowie den hohen Leidensdruck der Patientin verdeutlichte.
- Das Beck-Depressions-Inventar (BDI-II; Selbstbeurteilungsinstrument zur Erfassung des Schweregrads einer depressiven Symptomatik von A.T. Beck) ergab bei Aufnahme einen Summenscore von 22, was auf eine „mittelgradige“ Ausprägung depressiver Symptome (20-28) hinweist.
- Beim Persönlichkeits-Stil und Störungsinventar handelt es sich um ein Persönlichkeitsinventar, mit dem die relative Ausprägung von Persönlichkeitsstilen erfasst wird (PSSI von J. Kuhl und M. Kazén). Dieses ergab überdurchschnittliche Ausprägungen hinsichtlich der Skalen eigenwillig-paranoid (PR = 99), zurückhaltend-schizoid (PR =96), ahnungsvoll-schizotypisch (PR =91), selbstkritisch-selbstunsicher (PR =86), hilfsbereit-selbstlos (PR =100) und optimistisch-rhapsodisch (PR =97). Hinsichtlich der Skala selbstbehauptend-antisozial (PR = 2) ergab sich eine unterdurchschnittliche Ausprägung.
- Beim Freiburger Persönlichkeitsinventar handelt es sich um ein Persönlichkeitsinventar zum Assessment von Persönlichkeitsmerkmalen (FPI-R von J. Fahrenberg, R. Hampel und H. Selg). Dieses ergab eine erhöhte soziale Orientierung (Stanine = 7), erhöhte Beanspruchung (Stanine =7), erhöhte körperliche Beschwerden (Stanine = 9) und eine erhöhte Emotionalität (Stanine =8) sowie geringe Aggressivität (Stanine = 2) und sehr geringe Offenheit (Stanine = 1). Die restlichen Skalen wiesen unter Berücksichtigung des Geschlechts und des Alters durchschnittliche Ausprägungen auf.

Diagnosestellung nach ICD-10

Folgende Diagnosen wurden gestellt:

- Mittelgradige depressive Episode ohne somatisches Syndrom (F32.10)
- Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung (Z73.1)

Nach den diagnostischen Leitlinien des ICD-10 sind hinsichtlich der depressiven Episode folgende Kriterien erfüllt: Die Patientin litt seit mehr als zwei Wochen an depressiven Symptomen. In der Anamnese waren keine Symptome von hypo-/manischen Episoden, kein Abusus psychotroper Substanzen und keine organische psychische Störung ersichtlich. Seit Monaten litt die Patientin an anhaltender depressiver Stimmung in einem für die Patientin ungewöhnlichen Ausmaß über die meiste Zeit des Tages hinweg. Weiterhin litt die Patientin unter Interessen- und Freudeverlust, vermindertem Antrieb, Verlust des Selbstwertgefühles und des Selbstvertrauens, Selbstvorwürfen, Schuldgefühlen und Insuffizienzgefühlen. Sie klagte über ein vermindertes Konzentrationsvermögen, Unentschlossenheit sowie einen Appetitverlust mit ausgeprägten Magen-Darm-Beschwerden und daraus resultierend einem Gewichtsverlust von 6kg. Die Stimmungseinbrüche, welche die Patientin bei der Wiederholung der zweiten Klasse und auch während ihres 14. Lebensjahres berichtete, erfüllen die Kriterien einer depressiven Episode nicht. Aus diesem Grund wurde davon abgesehen, die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung zu vergeben.

Die Patientin erfüllt zudem einige Kriterien der ängstlich-vermeidenden und der abhängigen Persönlichkeitsstörung: Die Patientin ist der Überzeugung, sozial unbeholfen und minderwertig im Vergleich mit anderen Personen zu sein. Auch leidet sie an einer übertriebenen Sorge, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden. In persönlichen Kontakt tritt Die Patientin nur, wenn die Sicherheit besteht, gemocht zu werden. Darüber hinaus ordnet sie ihre eigenen Bedürfnisse unter die Bedürfnisse anderer Personen (ihren Eltern), zu denen sie eine Abhängigkeit empfindet. Sie hat eine mangelnde Bereitschaft zur Äußerung selbst angemessener Ansprüche gegenüber Personen, von denen sie abhängig ist. Auch beschäftigt sie sich häufig mit der Furcht, verlassen zu werden und auf sich selbst angewiesen zu sein. Die beschriebenen ängstlichen Züge der Patientin bestehen seit der Kindheit und waren somit vor Erstauftreten der depressiven Symptomatik bereits vorhanden. Die Erfahrungs- und Verhaltensmuster der Patientin betreffen sowohl kognitive, als auch zwischenmenschliche Aspekte im Leben der Patientin und lösen persönlichen Leidensdruck aus. Insgesamt weichen sie jedoch nicht deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben ab. Und die Abweichung ist nicht so stark ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in persönlichen und sozialen Situationen unflexibel oder unangepasst ist. Vor dem Hintergrund einiger nichtzutreffender diagnostischer Kriterien sowie des jungen Alters der Patientin wird von der Vergabe einer Persönlichkeitsstörung abgesehen. Die abhängigen Tendenzen der Patientin und die Verlustängste verstärkten sich erst im Rahmen der depressiven Störung und sind somit differenzialdiagnostisch hier einzuordnen. Die anamnestisch berichteten Panikattacken im Anschluss an die Abiturprüfungen dauerten etwa drei bis vier Wochen an und sind differentialdiagnostisch als sekundäre Folge der Depression einzuordnen.

Therapieindikation

Die geschilderten depressiven Beschwerden vor dem Hintergrund ängstlich-vermeidender Persönlichkeitszüge ergeben eine Indikation für eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung. Bei einer mittelgradigen Ausprägung depressiver Symptome wird eine alleinige Psychotherapie gleichwertig zu einer medikamentösen Therapie empfohlen (vgl. S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression). Da die Patientin eine medikamentöse Therapie ablehnte, war eine ambulante Psychotherapie indiziert. Insgesamt war von einer ausreichend günstigen Prognose für eine ambulante Psychotherapie auszugehen: Die Patientin zeigte eine hohe Krankheitseinsicht und auch ein gutes Krankheitsverständnis und war motiviert, sich im Rahmen einer ambulanten Psychotherapie mit ihren Problemen auseinanderzusetzen. Sie berichtete von einem großen Leidensdruck und konnte einen präzisen Therapieauftrag formulieren. Innerhalb der probatorischen Sitzungen konnte bereits eine tragfähige therapeutische Beziehung aufgebaut werden, sodass 60 Sitzungen Einzelpsychotherapie à 50 Minuten nach EBM 35425 beantragt und genehmigt wurden.

Problemanalyse

Makroanalyse

Hinsichtlich der Entstehung der depressiven Störung ist eine zugrundeliegende genetische Prädisposition zu benennen (siehe Familienanamnese). Weiterhin sind persönlichkeitsstrukturelle Besonderheiten (erhöhte Ängstlichkeit und Unsicherheit, Harmoniestreben und hohe Anpassungsneigung, Introversion) zu nennen.

Das familiäre Umfeld der Patientin war geprägt von der emotional belasteten, überforderten Mutter sowie von permanenter Gereiztheit, unberechenbaren Wutausbrüchen sowie übersteigerten Leistungsansprüche des Vaters, welche zu ausgeprägter Angst sowie zu Einnässen seitens der Patientin führten. Aufgrund der Arbeitstätigkeit der Mutter und der beruflichen Abwesenheit des Vaters war die Patientin oft alleine. Es kam zu einem Mangel an verstärkenden positiven Erfahrungen und Aktivitäten und die Grundbedürfnisse nach Bindung und Selbstwert nach Grawe konnten nicht befriedigt werden. Für eigene Gefühle war zwischen der emotionalen Mutter, der kranken Bruder sowie dem zornigen Vater kein Raum gewesen, sodass die Patientin lernte, zu „funktionieren“ und eigene Emotionen und Bedürfnisse zurückzustellen. Stattdessen nahm sie oftmals eine tröstende Rolle in der Familie ein. Hierdurch erlebte sie sich als selbstwirksam und erhielt eine positive Rückmeldung. Im Sinne klassischer Konditionierung verstärkte sich dieses Verhalten und die Patientin entwickelte eine übersteigerte Verantwortungs- und Kontrollübernahme. Auch entwickelte sie übersteigerte Ansprüche an ihr Anpassungsvermögen bei daraus resultierenden unzureichenden Fertigkeiten, sich von den Bedürfnissen anderer adäquat abzugrenzen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Kognitive Verhaltenstherapie einer Patientin mit mittelgradiger depressiver Episode und ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsakzentuierung
Untertitel
Ein Prüfungsfall für die Staatliche Prüfung zur Psychologischen Psychotherapeutin
Veranstaltung
Psychologische Psychotherapie
Note
1
Jahr
2020
Seiten
31
Katalognummer
V955803
ISBN (eBook)
9783346296504
ISBN (Buch)
9783346296511
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychologische Psychotherapie, psychologischer Psychotherapeut, psychologische Psychotherapeutin, Staatexamen, Approbation, Approbationsprüfung, Fallvorstellung, Prüfungsfall, Behandlungsfall, Psychologie, Psychotherapie, Verhaltenstherapie, kognitive Verhaltenstherapie, Depression, Depressive Störung, Prüfung, KVT, VT, mittelgradige Episode, Therapie, Soziale Phobie, Soziophobie, Soziale Angst, Sozialangst, ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung, selbstunsichere Persönlichkeitsakzentuierung, ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung, selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Kognitive Verhaltenstherapie einer Patientin mit mittelgradiger depressiver Episode und ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsakzentuierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/955803

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