Inhaltsverzeichnis
Wortlaut Rede 4
Intuitives Erfassen
Situationskontext
Persönlicher Kontext
Geschichtlicher Kontext
Gesellschaftlicher Kontext
Sprechersituation
Aufbau der Rede
Einstieg
5.2 Hauptteil
5.3 Schlußteil
6 Quantitative Aspekte
6.1 Nominalstil
6.2 Wortbildungsaspekt
6.3 Satzlängen
6.4 Satzkonstruktionen
6.5 Phonostilistik
7 Funktion und Zweckmäßigkeit
7.1 Erfassen des Redeganzen
7.2 Tempora
7.3 Abstrakta und Definitionen
7.4 Radio als Medium
7.5 Angemessenheit
7.6 Klarheit
7.7 Politstil
7.8 Redeschmuck
7.8.1 ornatus difficilis
7.8.2 ornatus facilis
8 Zusammenfassung
9 Bibliographie
Wortlaut Rede 4
x1
Ansprache in einer Schulfunksendung des Nordwestdeutschen Rundfunks am 2. Juni 1946.
(1) meine lieben schülerinnen und schüler.
(2) die großen modernen kulturländer sind alle von der politik der demokratie geformt.
(3) es ist eine demokratie, die vertreten wird durch das parlament in der deutschen bundesrepublik also durch den deutschen bundestag.
(4) das parlament ist die wurzel, aus der die regierung entspringt.
(5) das parlament ist aber auch die einrichtung, die die regierung kontrolliert, ihr tun lobt oder tadelt, ihr unterlassen durch taten, die sie selbst auslöst, überbrücken will.
(6) die regierung ist nicht der staat, die opposition ist nicht der staat, aber regierung und opposition zusammen, das ist der staat.
(7) die demokratie ist eben darauf angewiesen, daß nicht einseitige
machtpolitisch gesetzte handlungen das schicksal des volkes bestimmen.
(8) die demokratie lebt davon, daß man miteinander redet, daß man geistig und politisch auch miteinander kämpft.
(9) was nun aus dem zusammenwirken, aus dem gegeneinander und miteinander entsteht, das ist die politik des staates.
(10) die regierung hat die initiative in den meisten fällen, den, denn sie hat die macht im.
(11) aber die regierung hat dieses recht, probleme anzurühren und der lösung näherzubringen nicht allein.
(12) dies parlament und im parlamentent jeder teil des parlamentes, also
auch und gerade die opposition können ihre ideen und vorschläge in die
debatte werfen, und wenn sie im parlament dafür eine mehrheit bekommen auch einmal über die regierung siegen, zumindestens die tätigkeit der regierung sehr stark anregen.
(13) es wäre falsch und es wäre eine schwache und in ihrem kern nicht gute opposition, wenn sie immer darauf warten würde, was die regierung sagt, um dann das von der regierung gesagte einfach zu verneinen.
(14) eine opposition muß aus sich, aus ihrer erkenntnis und ihrem willen heraus vorschläge machen und auch gesetzesentwürfe einbringen.
(15) eine opposition, die so handelt, ist der antreiber für die regierung und ist der große kontrolleur, der es verhütet daß die regierung von ihrer macht ungerechtfertigten oder leichtfertigen gebrauch macht.
(16) keine moderne demokratie kann die opposition, ihre antreiberfunktion, ihre gegensätzliche geistige haltung, die reibung zwischen regierung und opposition entbehren, denn ohne diese reibung kämen wir in einen zustand passiven erleidens der einen, und aktiven aber unkontrollierten tun und handelns der andern.
(17) und ich glaube die moderne demokratie schöpft gerade aus der freiheit, in der diese gegensätze ausgetragen werden ihre stärkste kraft und wir haben als volk und als staat diese kräfte nötig.
(18) und in diesem sinne müßt ihr begreifen, die notwendigkeit der opposition müßt ihr begreifen, daß die interessen der menschen verschiedene sind und ihre politischen und geistigen anschauungen sehr voneinander abweichen, müßt ihr verstehen daß der kampf in den regeln der ordnung und mit dem ziel einer friedlichen zusammenarbeit nach dem kampf ein unentbehrlicher bestandteil des modernen staates ist.
Intuitives Erfassen
Offensichtlich handelt es sich bei der "Rede 4" um eine politische Rede.
Sie ist vordergründig, um nicht zu sagen fade und in unangenehmer Weise belehrend.
Aus heutiger Sicht wirkt sie recht einfallslos und aufgesetzt, zumal der demokratische Usus uns längst erfasst hat, als unabdingbar erachtet und selbstverständlich hingenommen wird.
Allgemeinhin ist politisches Vokabular partiell ideomatisiert(x2) und wird zudem oft als schillernde Platitüde gebraucht.
Immer etwas diabolisch schrillt es vom Rednerpult wie Phrase und Doktrin.
1946 wird dieser Eindruck kaum anders gewesen sein, obwohl eine Diktatur (für die Zonen der Westalliierten) überwunden war und sich neue, ungeahnte Perspektiven und Möglichkeiten eröffneten.
Schumacher illustriert den Idealtypus westlicher Demokratievorstellungen mit nebulösen, aber durchaus imposanten Worten wie "Politik", "Staat", "Demokratie", "Opposition".
Dagegen währe nichts einzuwenden, schließlich hat jede Sache ihre Bezeichnung und Periphrasen und Mogelpackungen(x3) können daran nichts ändern. Im Grunde sind diese Worte und ihr Gebrauch für politische Belange adäquat, denn nichts könnte das Wesen der Politik sicherer erfassen, als ein abstruses Vokabular.
Was bleibt ist ein seltsames Gefühl, ein Gefühl wie: Du brauchst mir nichts erzählen.
Andererseits bemerke ich auch, wie gerade die Emphase des Schlußsatzes selbst heute noch einen gewißen Eindruck auf mich machen kann:
"in diesem sinne m üß t ihr begreifen (...)"
Man muß begreifen, sich immer wieder klarmachen worin die Unterschiede zwischen einer Diktatur und einer Demokratie bestehen, welche Gedanken sich daran anknüpfen, was für eine Genugtuung die Demokratie angesichts einer Diktatur sein kann und welche Aufgabe die Opposition hat.
Situationskontext
Persönlicher Kontext
Unser Text der "Rede 4" stammt aus einer Ansprache, die Kurt Schumacher am 2. Juni 1946 in einer Schulfunksendung des Nordwestdeutschen Rundfunks hielt.
Der 51jährige Schumacher, der nach Kriegsverletzung und jahrelanger Folter im Konzentrationslager unter schweren körperlichen Behinderungen litt, verfolgte das Programm eines einheitlichen, sozialistischen Deutschlands und war am 9. Mai, also etwa einen Monat vorher zum Vorsitzenden der SPD gewählt worden.(x4)
Geschichtlicher Kontext
Der II. Weltkrieg war verloren, die Desillusionierung dauerte an, Trümmer wurden weggeräumt, man dachte an Zukunft.
Gesellschaftlicher Kontext
Auch der Parteivorsitzende Schumacher mag daran gedacht haben, denn er wandte sich an Schüler, an junge Menschen, deren Erziehung zwar von der faschistischen Diktatur geprägt war, die freilich nichtsdestoweniger als Jugend die Zukunft verkörperten.
Es galt, diese Jugend auf das Kommende einzustimmen und es galt ihr Interesse zu wecken und bestenfalls ihr Interesse an der SPD.(x5)
Sprechersituation
Eine weitere Besonderheit des Kontextes ist die Sprechersituation im Radio. In Rundfunkübertragungen wird eine breite, anonyme Hörerschaft angesprochen, diese aber ganz individuell.
Die Möglichkeit von sofortigem "feed back" verbaler oder nonverbaler Art, wie es beispielsweise bei Reden mit Blick- und auditivem Kontakt zu einem anwesenden Publikum der Fall ist, besteht zunächst nicht.
Fernerhin wird für Radioübertragungen verbaler Stil empfohlen, wobei die Verben im Satz im vorderen Teil positioniert werden sollten, damit man schnell weiß worum es sich handelt. Sehr wichtig ist auch Redundanz. Wiederholen, viel wiederholen und möglichst nicht mit Synonymen arbeiten; Begriffe sind ausreichend zu erklären. Hauptsätze mit maximal einem Nebensatz sind von Vorteil. (x6)
Aufbau der Rede
Einstieg
Kurt Schumacher wählt einen Einstieg "in medias res" (Direkttechnik). Er spricht seine Zielgruppe an: "meine lieben schülerinnen und schüler" und kommt ohne Umschweife zur Sache.
Ein Vorzug dieses Verfahrens ist die Zeitersparnis. Natürlich ist das für eine Ansprache über das Radio von Belang, denn es ist davon auszugehen, daß die Bereitschaft der Zuhörer Informationen über einen längeren Zeitraum aktiv aufzunehmen vergleichbar geringer ist, als bei anderen Kommunikationsformen.
Hauptteil
Beginnen wir mit der Gedankengliederung (dispositio). Sie zielt auf den Schlußteil der Rede mit der etwas pathetisch wirkenden Aufforderung: "ihr müßt".
Argument dafür ist die Aussage im 6. Satz: "die regierung ist nicht der staat". Wer dann? Regierung und Opposition zusammen. Folgerichtig ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Opposition und eine Verantwortlichkeit dieser.
Der Rest des Hauptteils ist dann die Darlegung der Funktionsweise einer idealen Demokratie und (nicht zu vergessen) ein kleines Bekenntnis; Satz 17: "und ich glaube (...)"
Schlußteil
Der 18. Satz ist ein Appell: "und in diesem sinne m üß t ihr begreifen, die notwendigkeit der opposition m üß t ihr begreifen, daßdie interessen der menschen verschiedene
sind und ihre politischen und geistigen anschauungen sehr voneinander abweichen, m üß t ihr verstehen, daßder kampf in den regeln der ordnung und mit dem ziel einer friedlichen zusammenarbeit nach dem kampf ein unentbehrlicher bestandteil des modernen staates ist."
An dieser Stelle "kippt" die Rede vom docere zum movere.
Die Jugend, die vor allen Dingen die Verfahrensweisen einer faschistischen Diktatur kannte, sollte verstehen, was an dem neuen System anders ist. Verstehen bedeutet in diesem Zusammenhang auch: sich für Neues öffnen.
Quantitative Aspekte
Nominalstil
Der Gesamttext beläuft sich auf einen Umfang von 339 Wörtern von denen ca. 25% Substantive, ca. 10% Verben und ca. 6% Adjektive sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Daraus läßt sich entnehmen, daß der Text im Nominalstil gehalten ist und sich demnach auf recht abstrakter, fast wissenschaftlich zu nennender Ebene bewegt. Der Vorteil eines mit Nomina angereicherten Textes besteht möglicherweise darin, "daßer klarer gegliedert wird und dadurchübersichtlicher erscheint".(x7)
Wortbildungsaspekt
Die markanten Aspekte wurden bereits in "6.1 Nominalstil" erfaßt. Der Vollständigkeit halber sei jedoch noch erwähnt, daß ein nicht geringer Teil der Wortstämme durch nominalisierendes Umsetzen verbaler Prädikationen bzw. prädikativer Syntagmen transpositioniert worden ist.
Satzlängen
Der Medianwert eines Satzes aus unserem Text beläuft sich auf 27 Worte. Damit käme die Abfassung einer wissenschaftlichen Darbietung sehr nahe, denn diese würde sich nach Auskunft U. Piepers zwischen 25 und 28 Worten pro Satz bewegen.(x8)
Im Verlaufe der Rede strafft sich der Spannungsbogen in tendentiell zumehmenden Satzlängen und die Anforderungen an die Zuhörerschaft wachsen an.
Das folgende Diagramm veranschaulicht den Nexus von Satzumfang(x9) und Satzposition im Redetext.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Man beachte diese Tatsache! Die Anforderung (Oder sollte man besser Forderung sagen?) steigt an. Es ist interessant diesen Fakt in Verbindung mit dem Ziel der Rede zu sehen: Es geht ein Appell an die deutsche Nachkriegsjugend, ein Appell, der Interesse wecken und in gewisser Weise auch zur Teilnahme(x10) am politischen Geschehen ermuntern soll: "und in diesem sinne m üß t ihr begreifen" Schumacher fordert, er erhebt Anspruch.
Satzkonstruktionen
Alle Sätze im Redetext sind entweder Aussage- oder Aufforderungssätze.
Bis auf die Anrede (Satz 1) und die Sätze 6 und 10, die Satzverbindungen, also HS/HS sind, handelt es sich bei allen Sätzen um Satzgefüge (HS und mindestens einen NS). Dieser Stil ist hypotaktisch zu nennen.
Nebensätze sind abhängig von den Hauptsätzen und beziehen sich auf diese. Daher sind sie gut geeignet Beziehungen und Dependenzen darzustellen.
Phonostilistik
Es wurden keine phonostilistischen Auffälligkeiten im Redetext gefunden.
Funktion und Zweckmäßigkeit
Erfassen des Redeganzen
Nach aristotelischem Schema gehört die Ansprache der Schulfunksendung des Nordwestdeutschen Rundfunks zur Beratungsrede (genus deliberativum), denn sie ist vor einer Versammlung gehalten und auf Zukünftiges gerichtet.(x11)
Sie will belehren (docere) und hat also eine überwiegende Darstellungsfunktion. Was für die Zöglinge gezeigt werden soll, ist die Funktionsweise der bundesdeutschen Demokratie.
Zentrale Gedanken der "inventio" könnte man überschreiben mit: Demokratie, Parlament, Regierung, Staat, Opposition und Politik. Ihre Konstellationen und Kräfte sollen artikuliert werden. Explizit wird gesagt, daß man begreifen muß und implizit ergeht der Appell: Beteiligt euch an der Demokratie, tut was für´s Vaterland und die SPD- Opposition.(x12)
Tempora
Der Gesamttext ist in Präsens gehalten, was lebendiger wirkt und die Sachlichkeit mildert.
Abstrakta und Definitionen
Die häufige Verwendung von Abstrakta scheint gut geeignet Vorstellungen, Eigenschaften, Zustände, Vorgänge und Beziehungen auszudrücken.(x13)
Sie korrespondieren gut mit den neun definitorisch gebrauchten Formen von sein (2., 3., 4., 5., 6., 7., 15. und 18. Satz).
Radio als Medium
Das Medium Radio verlangt eindeutig verbalen Stil und ebenfalls, anders als bei Schumachers Redetext, Hauptsätze mit maximal einem Nebensatz.(x14)
Wenn man davon ausgehen kann, daß Politstil, wie es in unserem Beispiel der Fall ist, einem wissenschaftlichen Redestil, sehr nahe kommt, dann ist der Nominalstil sicher auch für Rundfunkübertragungen vertretbar, denn es handelt sich eindeutig um eine politische Ansprache, also um O- Ton.(x15) Außerdem ist zu bedenken, daß auch die Rezeption von Rundfunkübertragungen gewissen Wandlungen unterworfen ist. Man kann daher nicht von den heutigen Rezeptionsgewohnheiten auf die im Jahre 1946 schließen. Möglicherweise war damals die Zuhörerschaft den Anforderungen eines nominal dominierten Textes besser gewachsen, als die heutige.
Angemessenheit
Die Rede sollte belehren, Konstellationen darstellen. Genau dieser Absicht wird mit der gewählten Nominalform, den Definitionen und dem hypotaktischen Stil Genüge getragen.
In diesem Sinne kann man durchaus von Angemessenheit(x16) sprechen.
Klarheit
Von Klarheit(x17) der Rede ist wegen des Gegenstandes und der Darstellungsweise (Politstil) nicht zu sprechen. Vertrakte Abstrakta und verzwackte Abstrusa überzweigen sich und sind von politischer Sprache dickicht umwuchert. Diese Tatsache kann nur sehr bedingt durch eine hohe Redundanz(x18) ausgeglichen werden.
Politstil
Schumacher redet nicht salopp, nicht umgangssprachlich, kein Amtsdeutsch und nicht wissenschaftlich; er ringt trotz hoher Redundanz(x19), trotz dadurch erreichter Emotionalität um Sachlichkeit und spricht, wie er es gewohnt ist, in einer Art Politsil.(x20)
Damit erfüllt er die Erwartungsnorm und stellt sich als Politiker dar.
Redeschmuck
Ein, wenn nicht der Unterschied zum wissenschaftlichen Redestil besteht beim Politstil darin, daß nicht mit Redeschmuck gespart wird.
ornatus difficilis
Schwerer Schmuck(x21) (ornatus difficilis):
Im 4. Satz findet sich eine Metapher, die veranschaulichende Funktionen erfüllt : "das parlament ist die wurzel, aus der die regierung entspringt."
Als anschaulich oder evident(x22) können weiterhin gelten : "in die debatte werfen" (12. Satz) und "reibung" "zwischen regierung und opposition" (16. Satz).
Weiterhin sind allegorische Wendungen sind recht dominant: "die demokratie ist (...) darauf angewiesen" (Satz 7 ); "die demokratie lebt" ( Satz 8); "die regierung hat die initiative in den meisten fällen" (Satz 10); "die regierung hat dieses recht" (Satz 13); "parlament" und (...) die "opposition" können ihre "ideen und vorschläge (...)" (Satz 12).
Im 13. Satz wartet die "opposition". Im 14. "erkennt" sie und "macht Vorschläge", damit sie im 15. "handeln" kann.
Die Demokratie "entbehrt" im 16. und "schöpft" im 17. Satz.
ornatus facilis
Auch der "ornatus facilis"(x23), der leichte Schmuck ist in angemessener Weise vertreten:
Vier Anaphern finden sich insgesamt im Text. (Satz 4 und 5: "das parlament"; Satz 7 und 8 : "die demokratie "; Satz 14 und 15: "eine opposition"; Satz 17 und 18: "und")
Im 6. Satz ein Parallelismus: "die regierung ist nicht der staat, die opposition ist nicht der staat"
Funktion: Die Anapher und die Epipher sind aufgrund der Repetition einprägsam.
Bliebe eine Ausklammerung im 11. Satz, mit der "probleme anzurühren" und "nicht allein" besonders hervorgehoben werden.
Weiter mit Parenthesen und Nachträgen:
Parenthesen:
Satz 5 - "die sie selbst auslöst"
Satz 12 - "also auch und gerade die opposition"(x24) Satz 15 - "die so handelt"
Satz 16 - "ihre antreiberfunktion, ihre gegensätzliche geistige haltung" Satz 17 - "in der diese gegensätze ausgetragen werden"
Satz 18 - "die notwendigkeit m üß t ihr begreifen" Nachträge:
Satz 6 - "das ist der staat"
Satz 12 - "zumindestens die tätigkeit der regierung sehr stark anregen"
Nachträge, Parenthesen und hypotaktischer Stil geben dem Text seine besondere Struktur und Prägung.
Funktion: Drücken Komplexität der Zusammenhänge aus.
Auffällig ist noch, daß "modern" als eine Art Epitheta -ornans Verwendung fand (Sätze 2, 17 und 18). Möglicherweise handelt es sich hierbei um ein Lieblingsephiteta.
Zusammenfassung
Wir haben nun den Redetext mehrfach erfaßt, ihn in Kontexten fixiert, anschließend analysiert, statistisch behandelt, zerlegt, geprüft und beschrieben.
Nun stehen wir vor der Aufgabe das, was an Buchstabengewirr und Versatzstücken übriggeblieben ist zusammenzufassen und erneut zu ordnen.
Erinnern wir uns: Kurt Schumacher hielt die Ansprache im Radio mit der Vorstellung, daß vor allen Dingen Schülerinnen und Schüler zuhören würden. Er versuchte alles, was er an Ideellem (Ideologischem?) über das neue System zu sagen hatte, sehr einfach zu sagen, jdeoch versuchte er es ohne von seinem Nominalstil abzusehen.
Dadurch erhielt die Rede zwar eine klare Gliederung, wirkte aber, von zunehmenden Satzlängen "beschwert", eher fordernd, dementsprechend autoritär und obwohl man nicht böswillig sein möchte, kann man durchaus einen Zug von Demagogie in ihr ausmachen.
Letzteres ließe sich gleichermaßen am Vokabular ersehen, von dem das Wort "Kampf" und "kämpfen" wahrscheinlich das am meisten vorbelastete und vorgeprägte sein dürfte.
Dagegen ließe sich wiederum halten, daß die Jugend gerade dadurch besser verstehen würde worum es gehen soll und was von ihr erwartet wird.
Nicht nur die "message" selbst, sondern ebenso die Art wie sie mit dem Vortragstext korrespondiert ist ambivalent zu sehen.
Der Text gibt darum ein gutes Beispiel in welchem Spannungsfeld sich auch eine "moderne demokratie"(x25) bewegt und verändert.
Fußnoten
(1) Der Wortlaut der Rede wurde in die Arbeit übernommen, weil keine andere Quelle als ein schlecht kopierter Zettel zur Verfügung stand und die Erfahrung zeigt, daß bei der Einsichtnahme in die Arbeit Quellen des Öfteren nicht zur Hand sind.
(2) Man denke nur an das Wort "Minister", das im Lateinischen noch "Diener" bedeutet oder an "Demokratie" was im grch./lat. Volksherrschaft bedeutet und heute eher mit Parteienklüngelei gleichgesetzt wird. Die Liste ließe sich fortführen...
(3) Zum Beispiel Umschreibung eines gängigen Ausdrucks durch ein anders motiviertes Wort, das natürlich auch andere Assoziationsfelder öffnet.
(4) Nach: Brepols n. v., Turnhout: Chronik der Deutschen, Gütersloh/München 1995. S.942
(5) Letzteres läßt sich natürlich im Text selbst nicht nachweisen, ist jedoch naheliegend, da Kurt Schuhmacher immer als Kurt Schuhmacher und damit als Politiker und SPD- Vorsitzender spricht.
(6) Nach: Arnold, B. P.: ABC des Hörfunks, Leipzig 1991. S. 63 ff Diesbezüglich ist zu bemerken, daß besagte Empfehlung einer modernen Konstruktionsweise entspricht und damals noch nicht zur Geltung kommen konnte.
(7) Pieper, U.: Über die Aussagekraft statistischer Methoden für die linguistische Stilanalyse, Tübingen 1979. S. 28
(8) Nach: Pieper, U.: Über die Aussagekraft statistischer Methoden für die linguistische Stilanalyse, Tübingen 1979. Tabelle S. 41
(9) "Die Satzlänge ist eines derältesten Kriterien, die zur Textdifferenzierung, jedoch auch zur Kennzeichnung von Individualstilen verwendet worden sind." In: Pieper, U.: Über die Aussagekraft statistischer Methoden für die linguistische Stilanalyse, Tübingen 1979. S.26
(10) teilnehmen: lat. "interesse"
(11) Obschon in Präsens gehalten, verweist das "müßt ihr" des 18. Satzes mit seiner Appellfunktion auf zukünftiges Geschehen.
(12) Zu jener Zeit war die SPD Oppositionspartei, daher möglicherweise auch die spezielle Gewichtung des Widerparts in Schumachers Rede.
(13) Nach: Pieper, U.: Über die Aussagekraft statistischer Methoden für die linguistische Stilanalyse, Tübingen 1979. S.28
(14) Vergleich: Arnold, B. P.: ABC des Hörfunks, Leipzig 1991. S. 65
(15) O- Ton: fachspezifischer Ausdruck für Originalton. Dieser bietet einen besonderen Rezeptionsanreiz.
(16) Angemessenheit spielt in der rhetorischen und poetischen Theorie eine zentrale Rolle. Vergleich: Plett, H. F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 1991. S.23
(17)Vergleich: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 1991. S.26
(18) Siehe "7. 7 Politstil"
(19) Allein das Wort "regierung" erscheint dreizehn mal, "opposition" neun mal, "parlament" und "demokratie" je sechs mal im Text.
(20) Der Begriff Politstil wird an dieser Stelle vom Verfasser der Arbeit eingeführt, da keine adäquate Bezeichnung derartiger Texte in der Literatur zu finden war, er es aber für nötig erachtet einen prägnanten Ausdruck zu verwenden. Gerechtfertigt wird diese Eigenwilligkeit dadurch, daß die Arbeit am konkreten Redestil des Einzeltextes eine Voraussetzung für die stiltypologische Einordnung ist. (Nach: Michel, G.: Einführung in die Methodik der Stiluntersuchung, Berlin 1968. S. 50 f.)
(21) Plett, H. F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 1991. S. 26
(22) Plett, H. F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 1991. S. 27
(23) Plett, H. F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 1991. S. 26
(24) "und gerade" ist als Parenthese in der Parenthese enthalten.
(25) Zitat: Schumacher.
Bibliographie
Arnold, B. P.: ABC des Hörfunks, Leipzig 1991.
Brepols n. v., Turnhout: Chronik der Deutschen, Gütersloh/München 1995.
Erben, J.: Einführung in die deutsche Wortbildungslehre, Berlin 1993.
Fleischer, W., Michel, G., Starke, G. (HG): Stilistik der deutschen Gegenwardssprache
Fricke, H., Zymner, R.: Einübung in die Literaturwissenschaft, Paderborn 1993.
Göttert, K. H.: Einführung in die Rhetorik, Paderborn 1994.
Michel, G. (HG): Einführung in die Methodik der Stiluntersuchung, Berlin 1968.
Schippan, T.: Lexikologie der deutschen Gegenwardssprache, Tübingen 1992.
Sowinski, B.:Deutsche Stilistik, Frankfurt am Main 1991.
Pieper, U.: Über die Aussagekraft statistischer Methoden für die linguistische Stilanalyse, Tübingen 1979.
Plett, H. F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 1991.
- Arbeit zitieren
- Matthias Werner (Autor:in), 1995, Kurt Schumacher: Analyse einer Ansprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95595