Das linguistische Relativitätsprinzip


Seminararbeit, 1999

16 Seiten


Leseprobe


Inhalt

0. Vorbemerkungen

1. Einleitung

2. Whorf und seine spektakuläre These
2.1 Kurzbiografie von Benjamin Lee Whorf
2.2 Darstellung des linguistischen Relativitätsprinzips

3. Begründungsstrukturen bei Benjamin Lee Whorf
Exkurs: Der Plural und das Zählen im SAE und in der Hopi-Sprache

4. „Gibt es ein linguistisches Relativitätsprinzip?“ - Klassische Kritik nach Helmut Gipper

5. Zum Stand der neueren Forschung

6. Literatur

"Die Beziehung zwischen Sprache und Denken zu analysieren ist ein wenig, als versuchte man eine Wolke zu umarmen."

(Ronald Langacker)

0. Vorbemerkung

Die hier vorliegende Hausarbeit folgt den Regelungen der neuen Rechtschreibung.

1. Einleitung

Bekanntlich gibt es auch in der deutschen Lexik Lücken: Gegenstände und Situationen, für die es kein Wort gibt.

Das populärste Beispiel soll dabei als Einstieg für meine Hausarbeit dienen: Wenn ein Mensch genügend gegessen hat, sagt er bekanntlich „Ich bin satt“; und niemand wird bestreiten wollen, dass der Mensch exakt diesen Satz auch denkt.

Wie aber ist es in dem Fall, dass jemand genügend getrunken hat? Für diesen Zustand gibt es im Deutschen kein Wort. Also sagt man: „Ich habe genügend getrunken, jetzt möchte ich nichts mehr trinken“. Die Frage aber ist: Was denkt man in einer solchen Situation? Denkt man auch etwas so Kompliziertes wie „Ich habe genügend getrunken, jetzt möchte ich nichts mehr trinken“? Oder denkt man vielleicht etwas, das es in der Sprache nicht gibt - nennen wir es für einen Moment „sitt“ - denkt man also „Ich bin sitt“?

Oder aber kann man gar nicht denken, wofür es in unserer Sprache kein Wort gibt?

Diese letzte Auffassung wäre die Antwort, die einer extremen Version der These des linguistischen Relativitätsprinzips Benjamin Lee Whorfs entsprechen würde. Dieses linguistische Relativitätsprinzip soll nun im Folgenden dargestellt und besprochen werden.

2. Whorf und seine spektakuläre These

2.1 Kurzbiografie von BENJAMIN LEE WHORF

Da die Biografie des wichtigsten Verfechters des linguistischen Relativitätsprinzips in engerem Zusammenhang mit dessen Forschungsarbeit steht, bietet es sich an, zu Beginn einen kurzen Blick auf die Vita des BENJAMIN LEE WHORF zu werfen:

WHORF wurde 1897 in Winthrop (Massachusetts, USA) geboren und studierte in den Jahren 1914 bis 1918 Chemie am Massachusetts Institute of Technology. Nach Abschluss seines Studiums arbeitete er hauptberuflich als Brandverhütungsingenieur für eine Versicherungsgesellschaft. Von verschiedenen Hochschulen wurden ihm im Folgenden mehrfach Forschungsaufgaben in den Fachrichtungen der Linguistik und der Kulturanthropologie angeboten, die er jedoch stets ausschlug.

1928 traf er zum ersten Mal seinen späteren Lehrer EDWARD SAPIR. (SAPIR begleitete und unterstützte ihn in den folgenden Jahren bei seinen Arbeiten; so wurde das linguistische Relativitätsprinzip auch häufig die „Sapir-Whorf-Hypothese“ genannt).

1930 reiste WHORF schließlich nach Mexiko, wo er - dank seiner intensiven (privat angeeigneten) Kenntnis der Schriftkunst der Azteken und Maya - eine Inschrift fand; infolgedessen schrieb er seine erste Reihe von linguistischen Aufsätzen über Maya- Hieroglyphen.

Als SAPIR 1931 Professor für Anthropologie in Yale wurde, unterzog sich WHORF gerade dem Studium der indianischen Linguistik. 1937 und 1938 dozierte WHORF selbst an dieser Universität.

Im engeren Sinne der Linguistik zeichnete sich WHORF durch seine Forschungen auf dem Gebiet der uto-aztekischen Sprachen und vor allem des Hopi aus. Seine Bedeutung liegt allerdings auf den Gebieten der Metalinguistik und Sprachphilosophie, auf denen sich auch diese Hausarbeit bewegt.

1941 erlagt WHORF einer langwierigen Krankheit.

2.2 Darstellung des linguistischen Relativitätsprinzips

Die Grundthese des Benjamin Lee Whorf nennt er selbst „das linguistische Relativitätsprinzip“, welches besagt, dass nicht alle Menschen, die die gleichen Sachverhalte betrachten und der gleichen physischen Realtität gegenüberstehen, zu einem gleichen Weltbild kommen, es sei denn, ihre Sprachen seien sich in irgendeiner Form ähnlich. Diese These gründet im Wesentlichen auf folgender Überlegung:

Die Welt ist so, wie sie sich uns darstellt, ein gewaltiger Strom von unterschiedlichsten Eindrücken („kaleidoskopartiger Strom“), denen der menschliche Verstand organisierend gegenübertreten muss. Diese Organisationsarbeit leistet aber - nach Whorf - weitestgehend die Sprache, die wiederum ihrerseits an einen ganz bestimmten Sprachkodex gebunden ist, der für jede Sprachgemeinschaft verschieden ist, in jeweils dieser aber apodiktisch gelten muss. Da der Sprache also eine organisierende Qualität zukommt, stellt Whorf in einer der zentralen Stellen in seinem wichtigsten Werk, „Language, Thought and Reality“, fest:

„Das linguistische System ist [also] nicht nur ein reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken, sondern formt selbst die Gedanken... Die Formulierung von Gedanken ist selbst kein unabhängiger Vorgang, der im alten Sinn des Wortes rational wäre, sondern wird von der jeweiligen Grammatik beeinflußt. Daher ist er für verschiedene Grammatiken mehr oder weniger verschieden. (...)“1

(aus Benjamin Lee Whorf: „Sprache - Denken - Wirklichkeit“, Reinbek 1963, S.108ff.)

Die These von der sprachlichen Relativität jagte in den vierziger und fünfziger Jahren vielen Angst und Schrecken, nicht nur in linguistischen Kreisen. Sie sagt in ihrer populären Fassung, die sich schnell bis in die weitere Öffentlichkeit herumsprach: Wir können nur das denken, was uns unsere Sprache erlaubt. Unser Denken wird von unserer Sprache geformt; und da unsere Sprachen - wie jeder leicht einsehen kann - sehr verschieden voneinander sind, ist wirkliche Verständigung zwischen Sprechern verschiedener Sprachen nicht möglich; verschiedene Sprachen machen Menschen unüberbrückbar fremd.

Die zahlreichen sprachlichen Ungenauigkeiten, derer sich Whorf (allein in dem oben zitierten Absatz: „beeinflußt“, „mehr oder weniger“) bedient, haben in der fachlichen Diskussion schnell dazu geführt, dass man seine These in zwei Versionen (und sämtlichen dazwischenliegenden Formen) besprochen hat:

Die schwache Version. Die Sprache beeinflusst, erleichtert das Denken; verschiedene Sprachen beeinflussen es in ihrer jeweils eigenen Weise, so dass die Verschiedenheit der Sprache auch zur Verschiedenheit der Denkstile beiträgt (sprachliche Relativität). Die starke Version. Alles und jedes Denken ist von der Sprache abhängig, wird von der Sprache bestimmt; jeder ist an die Konventionen seiner Sprache gefesselt (Sprachdeterminismus).2

(in Anlehnung an Dieter E. Zimmer: „So kommt der Mensch zur Sprache“, Zürich 1986)

An diesen Bezeichnungen der „starken“ und „schwachen Version“ möchte ich mich im weiteren Verlauf weiter orientieren.

3. Begründungsstrukturen bei Benjamin Lee Whorf

Im Begründungszusammenhang für seine aufsehenerregende These betont Whorf zunächst, dass sich alle den ständigen und niemals aufhörenden Einfluss der Sprache auf unser alltägliches Leben vergegenwärtigen sollten und so zu der Erkenntnis gelangen müssten, dass die Sprache selbst die alltäglichsten Phänomene bestimme.

Hierzu versteht er es, immer wieder geschickt Beispiele aus seinem offensichtlich reichen Erfahrungsschatz als Versicherungsingenieur anzubringen, beispielsweise dass sich jeder in der Anwesenheit von Benzintonnen vorsichtig verhalten würde (so würde niemand ohne böse Absicht eine brennende Zigarette wegwerfen) - dagegen sei in einem ganzen Lager von Benzintonnen, das mit der Aufschrift "Leere Benzintonnen" versehen ist, eine Vielzahl von unvorsichtigen Menschen zu beobachten, da das Adjektiv "leer" - so Whorf - ohne besondere zusätzliche Instruktionen immer Abwesenheit von Gefahr suggeriere.

Daraus lässt sich vermuten, dass der Schlüssel zum Verständnis menschlichen Verhaltens oft in den Analogien der sprachlichen Formulierungen zu finden ist. Whorf drängt sich (fast zwangsläufig) der Verdacht auf, dass der Zwang, den die großen grammatischen Kategorien (Numerus, Genus, Tempora, Modus Verbi u.ä.) ausüben, noch viel weiter reiche als der Einfluss einzelner Wörter (wie eben am Beispiel "leer" erläutert).

Um dies zu untersuchen, bediente er sich einer exotischen Sprache, der von ihm genauer untersuchten Sprache der Hopi-Indianer (siehe 1.1).

Diese Untersuchung entwickelte sich zusehends zu einem Vergleich zwischen der HopiSprache und den europäischen Sprachen, die er in einer Durchschnittssprache SAE (Standard Averige European - "Standarddurchschnittseuropäisch") zusammenfasste; in den Vergleich baute Whorf die Beweisführungen für seine These ein.

Solche Beweisführungen sollen im Folgenden anhand des Pluralgebrauches exemplarisch vorgeführt werden:

Exkurs: Der Plural und das Zählen im SAE und in der Hopisprache.

Im SAE werden der Plural und die Kardinalzahlen für wirkliche und imaginäre, also für wahrnehmbare räumliche Anhäufungen und für metaphorische Anhäufungen verwendet. Zum Beispiel sagen wir sowohl "zehn Mann" (die räumlich wahrnehmbar sind) als auch "zehn

Tage" (obwohl die nicht Gegenstand einer Erfahrung sein können; das kann nur ein Tag, nämlich der heutige).

Hierzu schreibt Whorf:

"Woher stammt das geistige Modell dazu? (...) Es stammt aus der Tatsache, daß unsere Sprache zwei verschiedene Situationen zusammenwirft, aber nur ein Strukturschema für beide hat. Sprechen wir (...) davon, daß irgend etwas soundso viele ‚Male' geschieht, dann tun wir dasselbe wie bei den "Tagen": Zyklische Sequenzen fassen wir mit dem imaginären Plural.

In der Erfahrung, vor aller Sprache, ist aber eine Gleichheit zyklischer Folgen mit Aggregaten nicht eindeutig gegeben, denn sonst wäre sie in allen Sprachen zu finden, und das ist nicht der Fall."

(aus Benjamin Lee Whorf: "Sprache - Denken - Wirklichkeit", Reinbek 1963)

Eine der Sprachen, in der man keine gleiche Behandlung von Zyklen und Aggregaten vorzufindet, ist die Hopi-Sprache:

Hier werden der Plural und die Kardinalzahlen nur für Dinge, die eine gegenständliche Gruppe bilden oder bilden können, benutzt. Im Hopi heißt es nicht "Sie blieben zehn Tage", sondern "Sie blieben bis zum elften Tag". Statt "Zehn Tage sind mehr als neun" sagt man "Der zehnte Tag ist später als der neunte." So wir eine Zeitspanne (alleine diese Bezeichnung verrät unsere Denkweise...) als eine Länge auffassen, begreift der Hopi-Indianer sie als eine Relation des Späterseins zwischen zwei Ereignissen.

So scheint Whorfs These, die Sprache bestimme das Denken, zunächst bestätigt: Der Hopi sagt "Der zehnte Tag ist später als der neunte." und denkt - seiner Sprache folgend - die Zeit nicht linear.

Von solcherlei "Beweisen" (stets im Vergleich zwischen SAE und der Hopi-Sprache) wimmeln die Ausführungen Whorfs. Eine der wohl zentralsten Überlegungen ist dabei die folgende:

Das Englische (und mit ihm fast alle europäischen Sprachen) teilt die meisten Wörter in zwei Klassen: Substantive ("house", "man") und Verben ("to hit", "to run"). Viele Wörter können sekundär als solche der anderen Klasse dienen (zum Beispiel "a hit", "to man (a boat)"), primär ist die Aufteilung aber absolut.

Unsere Sprache liefert also eine bipolare Aufteilung der Natur - wobei die Natur selbst zunächst einmal nicht bipolar ist: Selbst wenn man davon ausgeht, dass beispielsweise "schlagen" oder "rennen" deshalb Verben sind, weil sie kurzdauernde Vorgänge beschreiben, warum sollte dann "Faust" ein Substantiv sein? Oder "Welle", "Blitz", "Funke"?!? Die Hopi-Sprache hingegen klassifiziert konsequent nach dem Typus der Dauer: Hier sind "Welle", "Blitz" und "Funke" Verben - eine Klassifizierung, die unserer Denkweise fremd ist. Noch fremder erscheint uns das Nootka (einer Sprache, die auf der Insel Vancouver gesprochen wird), in dem uns alle Wörter als Verben erscheinen; tatsächlich gibt es hier aber überhaupt keine Klassifizierung, "die Sprache gibt sozusagen eine monistische Ansicht der Natur" (Benjamin Lee Whorf..., S. 108?).

4. „Gibt es ein linguistisches Relativitätsprinzip?“ - Klassische Kritik nach Helmut Gipper

Helmut Gipper widerspricht in seiner 1972 erschienenen Studie Whorfs Auffassung der sprachlichen Relativität. (Sie stellt die wohl bekannteste kritische Betrachtung der Thesen Whorfs dar und wird deshalb an dieser Stelle als "klassische Kritik" bezeichnet.) Die wichtigsten Aussagen der Studie seien im Folgenden kurz dargestellt.

Zunächst betont Gipper einen in seinen Augen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Sprache der Naturvölker und der Sprache der zivilisierten Industriestaaten. Im Fall der Naturvölker ist ein wesentlich engerer Zusammenhang zwischen dem sprachlich Vorgegebenen und dem augenblicklich Gedachten zu erkennen. Hier ist die Verknüpftheit des Gedankens mit der Sprache Normalität und selbstverständlich. In den zivilisierten Industriestaaten ist dies anders: Hier gibt es kritische Wissenschaften, die den Menschen Einsichten ermöglichen, die zur Konzeption verschiedener wissenschaftlicher Interpretationen der Welt führen oder zumindest führen können. Hier ist es sogar möglich, gegen (!) die Sprache zu denken oder über sie hinaus zu denken und sie zu erweitern (etwa durch die sog. Metasprache, durch Fachterminologien o.ä.).

So erlaubt die Hopi-Sprache - laut Gipper - eine wesentlich tiefere Einsicht in die Denkart ihrer Sprecher als beispielsweise die unsere.

Whorfs Aussage, dass andere Sprachen "irgendwie anders geartete" Weltbilder implizieren, stimmt Gipper grundsätzlich zu, wobei natürlich gerade dieses "irgendwie anders" das Interessante wäre. Dennoch können diese Weltbilder nicht gänzlich verschieden sein, dazu existieren (in Gippers Terminologie) "Regulative" wie etwa die gemeinsamen biologischen Voraussetzungen des Menschen oder eine gewisse Struktur der außermenschlichen Natur und Gegenstandswelt, Regulative also, die einfach als solche gegeben sind und kaum irgendeiner Interpretation oder Einbindung in Weltbilder bedürfen.

Dem Stand der wissenschaftlichen Forschung seiner Zeit entsprechend, betont Gipper zudem, dass man die Natur wohl kaum noch als einen „kaleidoskopartigen Strom“ von Ereignissen bezeichnen kann, sondern „eher als ein Gewebe komplexer Ordnungen und Strukturen, die der menschliche Geist nicht erst erfindet, sondern entdeckt“ (aus Helmut Gipper ...). Gilt dies aber, so ist einer der Grundansätze für Whorfs Theorie (siehe 2.2) zumindest in Frage gestellt.

Einen besonderen Akzent legt Gipper in seiner Kritik auf die Feststellung, dass die radikale Form der Sapir-Whorf-Hypothese grundsätzlich abzulehnen und vollständig aus der linguistischen Diskussion herauszunehmen ist. Diese impliziert nämlich eine völlige Unmöglichkeit sinnvoller Kommunikation zwischen den Sprechern verschiedener Sprachen; hierdurch werden aus Sprachbarrieren (die ohne Zweifel vorhanden sind) unüberwindbare, prinzipielle geistige Grenzen. Eine solche Auffassung von Sprache, die deren Vermittlungscharakter vollends verkennt, ist ohne Einschränkung als falsch zu bezeichnen.

Dennoch betont Gipper immer wieder den „rationalen Kern“ des Relativitätsgedankens, den er selbst wie folgt formuliert:

„Jeder menschliche Gedanke, der sprachlich objektiviert und damit wissenschaftlicher Analyse zugänglich wird, ist ‚relativ‘, d.h. steht in nachweisbarer Beziehung zu den Aussagemitteln und Aussagemöglichkeiten derjenigen Sprache, in der er zum Ausdruck gelangt. Dies gilt in dem elementaren und fundamentalen Sinne, daß der Gedanke nicht anders als im Rahmen vorgegebener grammatischer, d.h. lexikalischer und syntaktischer Strukturen, Gestalt gewinnen kann.“

(Gipper)

Mit dieser Feststellung ist aber - so räumt er selbst ein - noch nichts darüber ausgesagt, welches (einer jeden Sprache besondere) Urteil auf diese Weise ausgesprochen wird. Wie nun die Sprache wirklich auf die Gedanken einwirkt, kann nach Gippers Überzeugung nur eine äußerst feine Totalanalyse aller im Kommunikationsprozess beteiligten Faktoren feststellen, die aber wohl unmöglich ist.

Das folgende Kapitel soll nun beleuchten, wie das linguistsiche Relativitätsprinzip seit seiner Veröffentlichung diskutiert wurde und zu welchen Resultaten die neuere Forschung diesbezüglich gelangt ist.

5. Zum Stand der neueren Forschung

Relativ schnell ist die linguistische Forschung zu der Überzeugung gekommen, dass Whorfs "Beweismethoden" zu wissenschaftlichen Zwecken völlig ungeeignet sind. Wenn Whorf beispielsweise an einer Stelle folgende Argumentation anführt: In der Hopi-Sprache gibt es weder eine Vergangenheits- noch eine Futurform, also spielt die Zeit im Denken der Hopi- Indianer keine Rolle - wenn er also solcherlei Argumentationen anführt, so dadurch nichts bewiesen, weil sie immer nur einen Zirkelschluss darstellen (die Hopi-Sprache ist zeitlos; daraus folgt: die Hopis denken zeitlos. Dass sie zeitlos denken, zeigt sich daran, dass ihre Sprache zeitlos ist...).

Die einzige Möglichkeit, aus derartigen Ringschlüssen auszubrechen, wäre ein separates Untersuchen von Sprache und Denken. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis man ein geeignetes Untersuchungsgebiet gefunden hat, das eine solche differenzierte Betrachtung überhaupt zulässt. Das Gebiet der Farbbezeichnungen galt dann als das "Ei des Kolumbus", denn die Farbwahrnehmung des Menschen setzt sich im Wesentlichen aus drei Komponenten zusammen: der Helligkeit, der Farbsättigung und insbesondere der Wellenlänge des Lichts. Die Aufteilung des Wellenlängenspektrums erfolgt aber ohne die Hilfe von Sprache.

Die ersten, die sich auf diesem Gebiet versuchten, waren im Jahre 1954 ROGER BROWN und ERIC LENNEBERG, die der Frage nachgingen, welches die bestbenennbaren Farben englischsprechender Versuchspersonen waren, Farben also, für die man am schnellsten einen der kurzen Farbnamen parat hatte. Dann wurde den Probanden kurz eine Farbe gezeigt, man ein gutbenennbare, mal eine eher schlecht zuzuordnende. Anschließend sollten sie unter 120 Farben die gesehenen herausfinden. Das Ergebnis schien die Bestätigung der schwachen Version des Relativitätsprinzips: Lag zwischen Sehen und Wiedererkennen ein nur kurzer Zeitraum, so wurden "schlechte" Farben nicht fehlerhafter zugeordnet als eindeutig zuzuordnende Farben. Hatten die Probanden länger Zeit, so fiel ihnen die Zuordnung der "guten" Farben wesentlich leichter. Für BROWN und LENNEBERG war damit gezeigt, dass Farbnamen bei der Farberinnerung helfen; nicht weniger, aber eben auch nicht mehr als das.

Den nächsten (und ungleich größer angelegten) Versuch auf diesem Gebiet unternahmen 1969 Brent Berlin und Paul Kay, die Sprecher aus 20 Sprachen mit den unterschiedlichsten Farbsystemen untersuchten; eine Sprache hatte nur zwei Grundnamen für ihre Farben, eine andere deren elf, alle anderen Sprachen eine Anzahl zwischen zwei und elf. Die Probanden sollten nun typische Vertreter für ihre Grundfarben aus 329 Farbtönen herausfinden.

Die Grenzen für die so herausgefundenen Farben lagen erwartungsgemäß an verschiedenen Stellen, aber: Alle Probanden hielten fast die gleichen Farbtöne für ihre typischen Vertreter. (Zur Erläuterung: Der Sprecher einer Sprache mit sieben Farbnamen setzte seine Kreuze an sieben Stellen im Farbspektrum. Ein Sprecher mit nur drei Namen zeichnete natürlich auch nur drei Kreuze ein - diese drei Kreuze lagen aber nahezu exakt an den gleichen Stellen, die auch von dem Sprecher mit sieben Farbnamen markiert wurden.)

Berlin und Kay schlossen daraus, dass bestimmte Farben einen ganz besonderen Status im Farbenspektrum besitzen; diese Farben nannten sie Fokalfarben (Brennpunktfarben). 1973 wurde diese Feststellung von R. L. De Valois physiologisch untermauert, als er feststellte, dass unser Farbsinn das Farbenspektrum um vier Fokalfarben herum gliedert, nämlich um das ideale Blau, Grün, Gelb und Rot.

So gilt also Folgendes als bewiesen:

Nicht die Sprachen teilen das Spektrum willkürlich auf; alle folgen vielmehr der Aufteilung, die die Farbwahrnehmung vorgibt. Farbnamen werden allenfalls dann herangezogen, wenn nichts anderes mehr helfen kann. So ist also eine besonders schwache Version der Hypothese Whorfs als bestätigt anzusehen.

So lag natürlich die weiterführende Frage auf der Hand: Kann man das gleiche Phänomen auch bei anderen Begriffen (nicht nur bei der Farbbenennung) beobachten? Hierzu muss zunächst einmal festgestellt werden, dass wir uns bei unserer Begriffsbildung größtenteils des prototypischen Baus der Begriffe um eine gedachte Mitte bedienen: Hören wir den Begriff "Vögel", so haben wir in den meisten Fällen ein Rotkehlchen vor unserem geistigen Auge, in weniger häufigen Fällen ein Marabu, in den allerseltensten Fällen einen Strauß. Ebenso bei dem Begriff "Fortbewegungsmittel": Fast alle werden dabei zunächst an ein Auto denken, wenige an ein Fahrrad, fast gar keiner an Schier. Diese Reihe könnte man mit Begriffen wie "Verbrechen" oder "Obst" noch exemplarisch fortführen; in ähnlicher Deutlichkeit kann man zu nahezu allen unserer Begriffe eine solche "Mitte" benennen. ELEANOR ROSCH ging hierzu der Frage nach, wie Vertreter verschiedener Kulturen und Sprachen die gegenständliche Welt in Konzepte und Begriffe aufteilen - ist dies Zufall oder Willkür oder liegt dem Ganzen vielleicht doch eine natürliche Ordnung zugrunde? Die Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchungen waren die folgenden:

(1) Ein Ding ist ein Ding, ein Ereignis ist ein Ereignis; gruppiert werden sie nach ihren relativen Ähnlichkeiten und mit System (d.h. nicht chaotisch!)

(2) Die Wahl des Abstraktionsgerades bei der Kategorisierung und Klassifizierung der Dinge ist nicht willkürlich, sondern bei der Bildung von Begriffen wird äußerst ökonomisch vorgegangen: Es werden so wenige wie möglich und so viele wie nötig gebildet. Hätte unser Geist sehr viele, enge Begriffe, so könnte er mit ihnen problemlos Unterscheidungen treffen, würde aber verkennen, was dem so subtil Unterschiedenen gemeinsam ist. Hätte er nur sehr wenige, wäre dies bequem, würde aber exakte Unterscheidungen schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen.

Die Begriffsbildung - so schlussfolgerte Rosch - beginnt mit der wohlüberlegten Konstruktion von "Basiskategorien". Was aber ist unter einer Basiskategorie zu verstehen? Auch hierzu ein anschauliches Beispiel:

"'Unsere Katze Mohrchen' kann man sich sehr gut vorstellen; 'eine schwarze Hauskatze' ebenfalls; 'eine Katze' gerade noch; ein 'katzenartiges Tier' kaum, denn die Vorstellung müßte Angorakatzen wie Tiger umfassen; ein 'Raubtier', ein 'Tier', ein 'Lebewesen' aber dann schon gar nicht mehr. Also wird die Basiskategorie immer und überall 'Katze' sein, möglichst umfassend, aber gerade noch vorstellbar - ein Kompromiß zwischen Abstraktheit und Konkretheit." (Dieter E.Zimmer, 150)

BRENT BERLIN ergänzte derlei Ergebnisse mit der empirischen Beantwortung der Frage, wie die Pflanzen- und Tierwelt in verschiedenen Kulturen aufgeteilt wird. Sein Resultat war die Feststellung, dass entgegen der landläufigen Überzeugung eben nicht nur jene Pflanzen und Tiere Namen bekommen, die für das jeweilige Volk irgendwie interessant sind; im Gegenteil: Es werden tendenziell alle bezeichnet, dies aber natürlich auf verschiedenen Ebenen (siehe oben: Basiskategorien).

Elissa Newport steuerte 1978 diesen Ergebnissen durch ihr Studium der Standard- Gehörlosensprache (ASL) eine weitere Bestätigung bei: Auch das ASL verrät die prototypische Struktur der Begriffe (Grundeinheiten erhalten ein Handzeichen, z.B. Auto; Unterbegriffe werden mit zwei Handzeichen dargestellt, z.B. Alltag + Auto = Zweitwagen).

Was bedeuten all diese Forschungsergebnisse nun für die Sapir-Whorf-Hypothese? Eigentlich lässt sich diesbezüglich nun eine sehr konkrete Aussage machen:

Es steht fest, dass sich die Sprache nicht willkürlich voneinander unterscheiden: Unter ähnlichen Umständen werden (auch von Sprechern verschiedener Sprachen) ähnliche Konzepte gebildet.

Die Sapir-Whorf-Hypothese ist letztlich nicht ganz falsch, sie ist aber erst recht nicht ganz richtig. Alle Sprachen ruhen auf einem ähnlichen Fundament: Die fundamentalen Kategorisierungen sind ähnlich.

Whorf hatte also nur in einem sehr eingeschränkten Sinne Recht.

6. Literaturverzeichnis

Gipper, Helmut. Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip? Untersuchungen zur SapirWhorf-Hypothese. Conditio humana. Ergebnisse aus den Wissenschaften vom Menschen. Hrsg. Th. v. Uexküll u. I. Grubrich-Simitis. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1972

Whorf, Benjamin Lee. Language, Thought and Reality. Selected Writings of Benjamin Lee Whorf. Ed. J. B. Carroll. New York: MIT Press; London: John Wiley, 1956

Whorf, Benjamin Lee. Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Hrsg. u. Übers. P. Krausser. rde 174. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1963.

Zimmer, Dieter E.. So kommt der Mensch zur Sprache. München, 1986.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Das linguistische Relativitätsprinzip
Hochschule
Technische Universität Dortmund
Veranstaltung
Einführung in die Psycholinguistik
Autor
Jahr
1999
Seiten
16
Katalognummer
V95766
ISBN (eBook)
9783638084444
Dateigröße
499 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Über die Beziehung von Sprache und Denken bei Benjamin Lee Whorf
Schlagworte
Relativitätsprinzip, Einführung, Psycholinguistik
Arbeit zitieren
Matthias Hölzner (Autor:in), 1999, Das linguistische Relativitätsprinzip, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95766

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