Traumatisierung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung

Nutzung von Handlungsansätzen der Traumapädagogik bei traumatisierten Menschen mit einer geistigen Behinderung


Bachelorarbeit, 2020

69 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Psychotraumatologie
2.1 Das Trauma
2.1.1 Verlauf einer Traumatisierung
2.1.2 Risiko- und Schutzfaktoren
2.2 Traumafolgestörungen
2.2.1 Akute Belastungsreaktion
2.2.2 Posttraumatische Belastungsstörung
2.2.3 Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung
2.2.4 Komorbiditäten

3 Begriffsbestimmung geistige Behinderung

4 Traumatisierung und geistige Behinderung
4.1 Risikofaktoren
4.1.1 Personale Risikofaktoren
4.1.2 Umweltbedingte Risikofaktoren
4.2 Diagnostik
4.3 Konsequenzen für die Soziale Arbeit

5 Traumapädagogik in der Sozialen Arbeit
5.1 Traumapädagogische Grundhaltung
5.2 Sichere Orte
5.3 Selbstbemächtigung
5.4 Bindungsorientierung
5.5 Ressourcenorientierung
5.6 Bedeutung von T raumapädagogik für die T raumabearbeitung

6 Traumapädagogik und geistige Behinderung
6.1 Anwendbarkeit und Grenzen
6.1.1 Aspekte für die traumapädagogische Begleitung
6.1.2 Ausblick

7 Fazit

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Über 70% der Menschen weltweit erleben mindestens einmal in ihrem Leben ein traumatisches Ereignis (Longo, n. Hüllemann 2019, S.15). Dabei kann es sich beispielsweise um den Tod einer nahestehenden Person handeln oder aber um Fremdeinwirkungen durch Gewalterfahrungen. Viele Personen können sich jedoch im Anschluss eines solchen Erlebnisses nach kurzer oder längerer Zeit erholen. Vor allem dann, wenn sie sich eigenständig mit den möglichen psychischen oder physischen Folgen auseinander setzen, sich Unterstützung bei anderen Betroffenen suchen und sich mit diesen austauschen können. Denn nicht das Trauma macht krank, sondern dessen Folgen. Folgen eines Traumas können sich in fast allen Lebensbereichen eines Menschen bemerk­bar machen. Sie haben Auswirkungen auf die Verhaltensweisen und Gefühls­welten einer Person, deren Beziehungsgestaltung und allgemein auf die zukünf­tige Lebensführung. Eine schwere traumatische Erfahrung kann die Sicht auf das Leben und die Welt und dadurch das eigene Handeln stark verändern. Ist ein Trauma nicht verarbeitet, kann es zu langfristigen Schäden, den sogenann­ten Traumafolgestörungen kommen, bei denen eine therapeutische Hilfe meist unumgänglich wird. Dabei können Betroffene heutzutage unter verschiedensten Therapiearten und Möglichkeiten wählen. Doch wie sieht es eigentlich mit Per­sonen aus, die kognitiv nicht in der Lage sind, sich eigenständig mit ihrem Trauma auseinanderzusetzen? Vielleicht gar nicht verstehen, was in ihrem In­neren vorgeht? Die nicht fähig sind, sich eigenständig Hilfe zu suchen? Gibt es für diese Personen keine Möglichkeit auf Veränderung und müssen sie dann mit den Folgen eines Traumas leben? Es handelt sich um den Personenkreis von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung.

Nach wie vor beschäftigt sich die Wissenschaft viel zu wenig mit Auswirkungen von traumatischen Erfahrungen dieser Klientel, obwohl nachgewiesen ist, dass bei ihnen ein erhöhtes Risiko besteht, Traumata zu erleiden und Folgeerschei­nungen zu entwickeln. Die mangelnde und zum Teil noch komplett fehlende Auseinandersetzung von Traumata bei Menschen mit einer Behinderung findet sich auch innerhalb von Tätigkeitsfeldern der Profession der Sozialen Arbeit wieder. Traumafolgestörungen bleiben in der alltäglichen Arbeit in Einrichtun­gen der Behindertenhilfe noch viel zu häufig unerkannt und dadurch auch unbehandelt. Dies kann mitunter auf fehlende Mitteilungsmöglichkeiten der be­troffenen Personen sowie auf mangelnde psychotraumatologische Kenntnisse der Sozialarbeiterinnen zurückgeführt werden, die auffällige Verhaltensweisen zumeist dem Behinderungsbild zuordnen und erst bei extremen Veränderungen aufmerksam werden. Trauma und geistige Behinderung stehen in der Fachpra­xis noch zu wenig in Verbindung. Vorhandene pädagogische Konzepte richten sich demnach nicht an mögliche Traumatisierungen und reichen in der Folge nicht aus, um geeignete Unterstützungsmaßnahmen für die Traumabewältigung darzustellen. Für die Arbeit mit traumatisierten Menschen hat sich in den letzten Jahren eine neue Fachdisziplin mit einem traumapädago-gischen Ansatz entwi­ckelt. Die Traumapädagogik bietet Richtlinien und Handlungsstrategien für eine pädagogische Unterstützung im Traumabewältigungsprozess. Traumapäda­gogische Konzepte richteten sich zunächst vornehmlich an die Arbeit mit trau­matisierten Kindern und Jugendlichen, öffnen sich aber immer mehr auch ande­ren Arbeitsbereichen der Sozialen Arbeit.

Diese Arbeit widmet sich Traumatisierungen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung. Es stellt sich die Frage, inwieweit Fachkräfte der Sozialen Arbeit Handlungsansätze der Traumapädagogik bei traumatisierten Menschen mit ei­ner geistigen Behinderung nutzen und perspektivisch gestalten können? Um sich der Thematik von Traumatisierungen zu nähern, werden zunächst die Grundlagen der Psychotraumatologie erläutert. Dies beinhaltet die Definition eines Traumas, genauso wie dessen Verlauf und mögliche Risiko- und Schutz­faktoren. In einem zweiten Teil werden dann verschiedene Traumafolgestö­rungen benannt und kurz beschrieben.

Die nachfolgenden Kapitel beschäftigen sich dann mit der zu untersuchenden Gruppe von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Zunächst findet hierfür eine definitorische Annäherung des Begriffes „geistige Behinderung“ statt, um sich in einem weiteren Abschnitt mit der Tatsache von Traumatisierungen die­ser Klientel zu beschäftigen. Hierfür gilt es zunächst personale sowie umwelt­bedingte Risikofaktoren für Traumatisierungen bei Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung herauszuarbeiten, um die Häufigkeit einer Traumatisierung im Zusammenhang mit einer geistigen Behinderung festzustellen. Zudem werden aktuelle Diagnosekriterien und Besonderheiten kurz beschrieben. Schlussend- lich werden sich Konsequenzen und Handlungsbedarfe für die Soziale Arbeit im Umgang mit traumatisierten Personen der genannten Klientel ergeben.

Im zweiten Teil dieser Arbeit wird sich eingehend mit der Fachdisziplin Traumapädagogik als Konzept für die Profession der Sozialen Arbeit beschäf­tigt. Traumapädagogische Handlungsleitlinien, Methoden und Konzepte werden vorgestellt und die Bedeutung einer Traumapädagogik für die Traumabe­arbeitung verdeutlicht. Genannte Aspekte sollen dann auf eine mögliche An­wendbarkeit im Hinblick auf die Klientel von Menschen mit einer geistigen Be­hinderung analysiert werden. Hierbei werden sich Handlungsmöglichkeiten aber auch Grenzen für die traumapädagogische Begleitung ergeben. Ein Ausblick mit perspektivischen Bedingungen für Einrichtungen der Behindertenhilfe und dessen Fachkräfte der Sozialen Arbeit für die zukünftige Unterstützung von traumatisierten Menschen mit einer geistigen Behinderung rundet diese Arbeit ab.

2 Psychotraumatologie

Was ist ein Trauma? Auf welche Art und Weise entsteht es? Wie lassen sich die Folgen eines Traumatas erkennen und behandeln? Mit diesen und ähnli­chen Fragen beschäftigt sich erst seit wenigen Jahrzehnten die Lehre der Psy­chotraumatologie. Menschen erlitten schon immer traumatische Erfahrungen (Fischer und Riedesser 2009, S.19). Die Erkennung und Behandlung von phy­sischen Traumata, wie Unfällen oder Verletzungsfolgen prägen seit Anbeginn der Menschheit medizinische Tätigkeiten (ebd.). Doch abgesehen von offen­sichtlichen körperlichen Wunden, wurden seelische Verletzungen lange Zeit nicht beachtet (Fischer und Riedesser 2009, S.20). Erst im Jahr 1990 verwen­dete der amerikanische Kinderpsychiater Donovan weltweit erstmalig den Aus­druck der „Traumatology“ innerhalb einer Veröffentlichung, die sich mit Lang­zeitfolgen von psychischen Traumatisierungen von Kindern beschäftigte (Fi­scher und Riedesser 2009, S.18). Donovan wurde später als Begründer dieser Wortschöpfung identifiziert (ebd.). Er grenzte den Begriff nicht von der chirurgi­schen Traumatologie ab, sondern bezeichnete ihn vielmehr als ein übergeord­netes Gebiet, welches die Medizin als Teilbereich ebenso einschließt wie die sozialen und psychologischen Folgen eines Traumatas (Fischer und Riedesser 2009, S.19). Donovan bezog sich dabei auf Unfälle und Naturkatastrophen so­wie vom Menschen selbst hervorgerufene Traumata wie beispielsweise durch Gewaltakte (ebd.).

Auch innerhalb Deutschlands sahen sich Fachleute immer mehr mit der Not­wendigkeit, die psychischen Folgen eines Traumatas zu erforschen, konfrontiert (Seidler 2013, S.32). Gottfried Fischer, ein deutscher Psychoanalytiker und Psychotherapeut, gründete in diesem Zusammenhang mit Fachleuten aus der Psychologie, Medizin und Rechtswissenschaft im Jahr 1991 ein Forschungsin­stitut, welches sich mit der Entstehung, dem Verlauf und den Auswirkungen von psychischen Traumata beschäftigen sollte (Fischer und Riedesser 2009, S.17). Das Deutsche Institut für Psychotraumatologie (DIPT) entstand und somit auch der Begriff und die wissenschaftliche Disziplin der „Psychotraumatologie“ in Deutschland (Seidler 2013, S.32). Die Begrifflichkeit der „Psycho“-Trauma- tologie bildet dabei die Abgrenzung zur rein chirurgischen beziehungsweise „körperlichen“ Traumatologie, wobei psychisch-somatische Wechselbeziehun- gen innerhalb der Psychotraumatologie dennoch mit einbezogen werden (Fi­scher und Riedesser 2009, S.20). Die nächsten Kapitel beschäftigen sich nun­mehr genauer mit den Zusammenhängen einer Traumatisierung. Zunächst fin­det hierfür eine definitorische Annäherung des Begriffes „Trauma“ statt.

2.1 Das Trauma

Das Wort „Trauma“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Verletzung“ oder „Wunde“ (Hüllemann 2019, S.11). In der Medizin ist damit immer eine kör­perliche Verwundung gemeint (Hantke und Görges 2012, S.53). Die Begrifflich- keit „Psychotrauma“, welche innerhalb der Psychologie genutzt wird, soll hinge­gen verdeutlichen, dass eine seelische Verletzung vorliegt (ebd.). Im üblichen Sprachgebrauch wird das Wort Traumatisierung jedoch ohnehin meist mit einer psychischen Wunde in Verbindung gesetzt (ebd.). Zudem wird im Alltag häufig von traumatischen Ereignissen gesprochen. Dabei werden Situationen zwar als konflikthaft oder stark belastend wahrgenommen, entsprechen jedoch in ihrer wirklichen Erfahrung sowie weiteren Folgen nicht der Definition eines tatsäch­lich erlittenen Traumas (Scherwath und Friedrich 2016, S.20).

Allgemein leitende Definitionen für ein Trauma finden sich im klinischen Kon­text. Hier wird ein Trauma über die ICD-10 (Internationale Klassifikation von Krankheiten) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie durch das interna­tional genutzte amerikanische Handbuch zur Bestimmung von psychischen Krankheiten, dem DSM-IV, bestimmt (Scherwath und Friedrich 2016, S.20). Innerhalb der ICD-10 wird von einem Trauma als „ein belastendes Ereignis“ gesprochen, welches „bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (ICD-10: F43.1) und bezieht sich in der Definition dabei mehr auf das Ereignis an sich (DIMDI 2020). Das DSM-IV wird dabei genauer, indem es zusätzlich auf die Bedeutung und Folgen für die betroffene Person hinweist. Es wird von einer potentiellen oder realen Todesbedrohung sowie Verletzung oder Gefahr, die „die körperliche Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Person“ be­treffe, berichtet (American Psychiatric Association 1994, zit. n. Seidler 2013, S.34). Als Reaktion kann sich bei der betroffenen Person dann eine starke Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen bilden (ebd.). Fachleute der Psychotrauma­tologie erweitern diese Bestimmungen mit ihren Erfahrungen und aktuellen For- schungsständen (Scherwath und Friedrich 2016, S.21). Laut Fischer und Ried­esser (2009) handelt es sich bei einer traumatischen Erfahrung um ein:

„vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhaf­te Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (S.84).

Ein Trauma werde also nicht durch ein Ereignis selbst ausgelöst, sondern erst wenn ein Erlebnis durch eigene, individuelle Bewältigungsmöglichkeiten nicht dauerhaft verarbeitet werden könne. Hantke und Görges (2012) sprechen auch von dem „Erleben nach dem Erleben“ (S.54). Dabei könne es sich gemäß der deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie beispielsweise um Naturkatastrophen, Unfälle oder Erkrankungen handeln, aber auch um Erfah­rungen durch psychische, körperliche oder sexuelle Gewalteinwirkungen (DeGPT 2020b). Bei Vernachlässigungen oder Verlusterfahrungen sei es eben­so möglich, ein Trauma zu entwickeln (ebd.). Jeder Mensch reagiert auf ein traumatisches Ereignis aufgrund verschiedener Gegebenheiten anders. Hierbei spielen der kulturelle und soziale Status genauso wie die Geschlechtszugehö­rigkeit und generelle individuelle Empfänglichkeit eine Rolle (Hüllemann 2019, S.11 f.). Der Verlauf einer Traumatisierung wird im folgenden Kapitel näher be­schrieben.

2.1.1 Verlauf einer Traumatisierung

Laut Fischer und Riedesser (2009) beginnt eine Traumatisierung zunächst mit einer „traumatischen Situation“ (S.64). Sie beschreiben diese als „ein Zusam­menspiel von traumatischen Umweltbedingungen und subjektiver Bedeutungs­zuschreibung, von Erleben und Verhalten“ (ebd.). Laut erhobener Daten, die 2017 von Longo in der englischen Fachzeitschrift „New England Journal of Me- dicine“ veröffentlich wurden, erfahren mehr als 70% aller Erwachsenen weltweit ein solches Ereignis (Longo, n. Hüllemann 2019, S.15). Dieses trete bei über 31% sogar bis zu viermal oder mehrfach in ihrem Leben auf (ebd.). Das Ereig­nis selbst ist laut Fischer und Riedessers Definition jedoch nicht allein für die Ausbildung eines Traumas verantwortlich, sondern die Interaktion zwischen Person und Umwelt. Die subjektive Wahrnehmung spielt eine genauso große Rolle wie die traumatisierende Umweltbedingung. Bei einer traumatischen Situ- ation sei es einer Person nicht möglich, angemessen zu reagieren (Fischer und Riedesser 2009, S.65). Die üblichen Anpassungs- oder Bewältigungsstrategien seien wirkungslos und das Selbstwirksamkeitsvermögen förmlich „außer Kraft gesetzt“ (Scherwath und Friedrich 2016, S.21). Die Situation scheint ausweglos und unabsehbar (ebd.). Innerhalb der „traumatischen Situation“ werden vom Körper vermeintliche Notprogramme in Gang gesetzt, die ein Überleben sichern sollen (ebd.). Übliche Notfallreaktionen wären beispielweise zu „flüchten“ oder zu „kämpfen“ (Hantke und Görges 2012, S.60). Bei einer Traumatisierung ge­linge dies jedoch häufig nicht und betroffene Personen befinden sich in einer sogenannten „traumatischen Zange“ (Scherwath und Friedrich 2016, S.23). Sie können nicht flüchten, aber auch nicht kämpfen. Sie fallen in eine Art „Freeze- Reaktion“ (Einfrierung), in der sie sich der Situation hilflos hingeben, aber sich zumindest psychisch vom Geschehen distanzieren (ebd.). Dies bleibt häufig nicht ohne Konsequenzen. Menschen können kurz- oder langfristig unterschied­liche psychische Folgestörungen (siehe Kap. 2.2.) entwickeln.

Im zweiten Schritt werde dann eine „traumatische Reaktion“ ausgelöst (Fischer und Riedesser 2009, S.65). Diese könne unterschiedlich ausfallen und hänge von bestimmten Situationsfaktoren wie Art, Umstand und Dauer des Ereignis­ses ab (Gahleitner et al. 2012, S.7). Dabei spielt es eine Rolle, ob es sich um einmalige Erlebnisse oder um wiederholte Erfahrungen handelt. Zudem komme es darauf an, ob eine traumatische Situation von mehreren Personen, wie bei­spielsweise bei einer Naturkatastrophe, gleichzeitig erlebt wird oder ob diese individuell nur einer betroffenen Person widerfahren ist (ebd.). Genauso seien immer auch individuelle Risiko- und Schutzfaktoren betroffener Personen zu betrachten, welche in traumatischen Situationen verstärkend oder verringernd wirken können (Scherwath und Friedrich 2016, S.53 f.). Diese werden in Kapitel 2.1.2. genauer erläutert.

Die „traumatische Reaktion“ setzt laut Fischer und Riedesser (2009) letztlich einen „traumatischen Prozess“ frei, um das erlittene Ereignis langfristig zu ver­arbeiten (S.65). In diesem Prozess versuchen Personen durch verschiedene Bewältigungsmöglichkeiten, das erlittene Trauma in die Lebensgeschichte zu integrieren und ihr Selbstbild und Verständnis von der Welt wiederherzustellen (ebd.). In dieser Zeit zeigt sich, ob sich Betroffene vom Trauma erholen oder Folgen bestehen bleiben und sich zu spezifischen Störungen entwickeln. Die drei genannten Prozesse stehen dabei in einem dynamischen Verhältnis zuei­nander und können nacheinander sowie parallel und überschneidend verlaufen (Gahleitner et al. 2012, S.9).

Jede Traumatisierung ist individuell und abhängig von verschiedensten Situati­onsfaktoren. Insgesamt lassen sich im „natürlichen“ Verlauf jedoch drei Phasen als konkrete Folgen auf ein traumatisches Ereignis feststellen: die Schock-, die Einwirkungs- und schließlich die Erholungsphase (Fischer und Riedesser 2009, S.170). Fischer und Riedesser (2009) beschreiben diese Phasen in ihrem Lehr­buch für die Psychotraumatologie wie folgt:

Die Schockphase: Beginnt unmittelbar in Folge des Erlebten. Sie kann dabei bis zu einer Woche anhalten, da das Ausmaß einer Situation für betroffene Perso­nen oftmals erst nach einiger Zeit ersichtlich wird. Personen befinden sich häu­fig zunächst in einem sogenannten Schockzustand. Dieser ist daran zu erken­nen, dass traumatisierte Personen eine bleiche Hautfarbe erlangen, die Atmung schneller und flacher wird und Benommenheitsgefühle entstehen können. In einem solchen Moment ist es entscheidend, dass medizinische vor psychologi­schen Maßnahmen angeführt werden. Es gilt, den Kreislauf zu stabilisieren und Beruhigung zu verschaffen. Zu den typischen Symptomen in dieser Phase zäh­len außerdem das Gefühl von Unbeweglichkeit, Verwirrtheit bis hin zur Unfähig­keit, sich an einfache Daten zu erinnern. Betroffene können anfangs oftmals nicht glauben, dieses Ereignis wirklich erlebt zu haben. Dieses kann zu Ver­leugnungen von Tatsachen oder veränderten Wahrnehmungsweisen führen. Je höher die traumatische Belastung, desto eher treten Dissoziationen wie Derealisierung oder Depersonalisierungen auf. (S.170)

Die Einwirkungsphase: Beginnt einige Zeit nach dem traumatischen Ereignis und kann bis zu zwei Wochen andauern. Betroffene Personen setzen sich in­nerlich stark mit dem Erlebten auseinander. Selbstzweifel, Hoffnungslosigkeit oder Wut, begleitet durch fehlenden Optimismus und dem Aufkommen depres­siver Gefühle, sind typische Erkennungszeichen in dieser Phase. Symptome zeigen sich außerdem in einem gestörten Schlaf, der von Albträumen und „Flashbacks“, sogenannten Rückblenden an das Geschehene, begleitet ist. Des Weiteren können Personen unter Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen sowie erhöhter Schreckhaftigkeit und Erregbarkeit leiden. (S.170)

Die Erholungsphase: Ist bei einer „natürlichen“ Traumatisierung, insofern keine neuen traumatischen Vorkommnisse geschehen, die letzte Phase. Die Intensi­tät der beschriebenen Symptome sollte zwei bis vier Wochen nach dem Ereig­nis nachlassen. Zwar ist das Trauma oftmals noch nicht verarbeitet, jedoch können einige Betroffene wieder positiver in die Zukunft sehen. Energien wer­den frei und Interessen sowie Lebensfreude kommen zurück. In dieser Phase zeigt sich, ob sich längere beziehungsweise dauerhafte Traumafolgestörungen bei betroffenen Personen ausbilden. Daher ist es wichtig, die Erholungsphase durch Ruhe und genügend Abstand zur traumatischen Umgebung zu begleiten. Personen sollten sich soziale Unterstützungen suchen, um über Erlebtes zu reden oder sich mit anderen Beteiligten über dieses auszutauschen. Bestehen die Symptome aus der Einwirkungsphase jedoch weiterhin, sollten Betroffene frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und nicht zu Alkohol oder Drogen greifen. (S.170)

2.1.2 Risiko- und Schutzfaktoren

In welchem Ausmaß eine Traumatisierung verläuft, hängt neben den bereits genannten Situationsfaktoren auch stark mit eigenen Möglichkeiten der Traumaverarbeitung zusammen. Im folgenden Kapitel sollen nun einige rele­vante Risiko- und Schutzfaktoren betrachtet werden. Risikofaktoren beeinflus­sen die Traumaverarbeitung negativ. Sie wirken eher destabilisierend und er­höhen die Wahrscheinlichkeit, eine Traumafolgestörung zu entwickeln (Scherwath und Friedrich 2016, S.54). Dabei handelt es sich um lebensge­schichtliche oder psychosoziale Umstände (ebd.). Menschen verarbeiten auf­grund aktueller Lebenslagen und verschiedener Vorerfahrungen traumatisie­rende Ereignisse sehr unterschiedlich (Gahleitner et al. 2012, S.8). Die Risiko­forschung benennt dabei vor allem folgende Faktoren wie einen niedrigen sozi­al-ökonomischen Status, geringe soziale Unterstützungen und fehlende Bin­dungen sowie bereits erlittene Verluste beziehungsweise Trennungen (Scherwath und Friedrich 2016, S.54). Kam es innerhalb der Familie bereits zu psychischen Erkrankungen oder Suchterfahrungen, kann ebenfalls von einem erhöhten Risiko ausgegangen werden (ebd.).

Zusätzlich zu diesen Risikofaktoren werden auch die sogenannten Vulnerabili­tätsfaktoren betrachtet (ebd.). Vulnerabilität kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Verletzbarkeit“ (Duden 2018). Diese bezieht sich auf die psychologi­schen und biologischen Anlagen einer jeweiligen Person (Scherwath und Fried­rich 2016, S.54). Menschen können unterschiedlich ausgeprägte Vulnerabilitä­ten besitzen. Je höher die eigene Vulnerabilität ist, desto mehr erhöht sich wie­derum das Risiko, in Kombination mit den umstandsbezogenen Risikofaktoren und den situationsabhängigen Faktoren ein traumatisches Ereignis schlechter zu verarbeiten (Scherwath und Friedrich 2016, S.55). Ein möglicher Vulnerabili­tätsfaktor ist der Entwicklungsstand der betroffenen Person (ebd.). Kinder sind in bestimmten Situationen beispielsweise schneller überlastet als Erwachsene (Hantke und Görges 2012, S.54). Dies liegt vor allem mit geringer Lebenserfah­rung und eingeschränkteren Handlungskompetenzen zusammen (Scherwath und Friedrich 2016, S.55). Es ist mittlerweile bekannt, dass insbesondere trau­matisierende Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter häufig zu Entwicklungs­beeinträchtigungen oder spezifischen Traumafolgen führen können (Streeck- Fischer 2007, S.54). Neben dem tatsächlichen Lebensalter erhöhe laut Scherwath und Friedrich (2016) ebenso die individuelle Reife die Vulnerabilität gegenüber traumatischen Situationen (S.56). Hierzu zählen auch Verzögerun­gen in der Entwicklung oder kognitive Einschränkungen aufgrund möglicher Behinderungen (ebd.). Einen besonders negativen Faktor auf die Vulnerabilität bildet eine unsichere oder fehlende Bindung. Vor allem Kinder sind stark auf ein stabiles soziales Umfeld angewiesen (Gahleitner et al. 2012, S.8). Es erhöhe die Widerstandsfähigkeit gegenüber Traumatisierungen, wohingegen kaum vorhandene Gefühle von Sicherheit, die Folgen von Traumata eher verschlim­mern (Streeck-Fischer 2007, S.53).

Generell sei es für alle betroffenen Personengruppen wichtig, unterschützende Bedingungen zur Traumaverarbeitung zu schaffen (Gahleitner et al. 2012, S.9). Zentrale Voraussetzung und somit auch einen sogenannten Schutzfaktor bildet hierfür vor allem ein stabiles und wertfreies soziales Umfeld. Bei Schutzfaktoren handelt es sich um alle Tatsachen, die in einer traumatischen Situation einen abwehrenden oder abmildernden Einfluss besitzen (Scherwath und Friedrich 2016, S.62). Neben umgebungsbezogenen Faktoren wie konstanten Bindungen und sozialen Unterstützungen, spielen im Wesentlichen die personalen Disposi­tionsfaktoren wie eine überdurchschnittliche Intelligenz und die allgemeine kör­perliche Gesundheit sowie die eigentlichen Resilienzfaktoren eine bedeutende Rolle (Scherwath und Friedrich 2016, S.63). Als „Resilienz“ wird die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen bezeichnet (Pielmaier und Maercker 2015, S.74). Jeder Mensch entwickelt in einem unterschiedlichen Maße Widerstandsfähigkeiten. Resilienzen entstehen aus schwierigen oder un­angenehmen Erfahrungen, die eine Person im Laufe ihres Lebens, das heißt innerhalb ihrer Reifung beziehungsweise persönlichen Entwicklung durchläuft und bewältigt (Hantke und Görges 2012, S.134). Menschen lernen dadurch op­timistische Grundhaltungen, ein positives Selbstbild und Selbstwirksamkeits­überzeugungen über die eigenen Fähigkeiten zu haben, in Situationen die Kon­trolle zu behalten und diese dementsprechend zu bewältigen (Scherwath und Friedrich 2016, S.63). Resilienzen sind demnach nicht unbedingt angeboren, sondern können im Laufe des Lebens erworben werden. Die Resilienz- forschung betrachtet alle Faktoren, die für eine psychische Widerstandsfähig­keit schützend oder stabilisierend wirken können (Scherwath und Friedrich 2016, S.63). Innerhalb der Psychotraumatologie werden daher jene Schutzfak­toren untersucht, die Menschen helfen, eine Traumatisierung zu bewältigen (Seidler 2013, S.42). Diese sind in erster Linie wichtiger Bestandteil für alle so­zialpädagogischen Handlungsstrategien im Umgang mit traumatisierten Perso­nen, die zu einem späteren Zeitpunkt dieser Arbeit untersucht und analysiert werden. Allgemein kann festgehalten werden, dass eine Wechselwirkung von Risiko- und Schutzfaktoren den Umgang mit einem Trauma beeinflusst und schlimmstenfalls zu einer Traumafolgestörung führen kann. Im nächsten Kapitel werden exemplarisch die typischen Folgestörungen sowie Begleiterkrankungen, sogenannte Komorbiditäten erlittener Traumata beschrieben.

2.2 Traumafolgestörungen

Es wurde bereits festgestellt, dass eine Traumatisierung sehr unterschiedlich ausfallen kann. Ob sich dementsprechend Folgestörungen ausbilden hängt von vielen Faktoren ab. Es ergeben sich jedoch einige typische Störungsbilder als Traumafolgen, die in dieser Arbeit betrachtet werden. In der ICD-10 und dem DSM-IV sind die „akute Belastungsreaktion/ Belastungsstörung“ und die „Post­traumatische Belastungsstörung“ definiert. Zusätzlich findet sich innerhalb der ICD-10 noch ein weiteres Störungsbild, das der „andauernden Persönlichkeits­veränderung nach Extrembelastung“. Diese wird häufig auch als „komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ bezeichnet. Ferner können sich aber auch weitere Störungsformen oder Komorbiditäten ergeben, welche ohne trau­matische Ereignisse so nicht entstanden wären, aber innerhalb der üblichen Diagnostik nicht als direkte Traumafolgestörung definiert werden. Im Nachfol­genden werden die Diagnosekriterien und Symptome dieser maßgebenden Stö­rungsbilder kurz und prägnant beschrieben. Eine zu ausführliche Beschreibung aller möglichen Folgen, die aufgrund traumatischer Ereignisse entstehen könn­ten, würde den Rahmen und Zweck dieser Arbeit sprengen.

2.2.1 Akute Belastungsreaktion

Die „akute Belastungsreaktion“ (ICD-10: F43.0) tritt typischerweise während des traumatischen Ereignisses auf und klingt meist wenige Stunden bis Tage da­nach ab (DIMDI 2020). Es handelt sich um die bereits genannten Symptome der Schockphase. Darunter zählen Schlafstörungen, Unruhezustände oder kurzfristige Amnesien, die durch Vulnerabilitäten und Resilienzfaktoren beein­flusst werden können (ebd.). Die Belastungsreaktion kann dementsprechend abgeschwächt oder verschlimmert werden (ebd.). Verschwinden die Anzeichen jedoch nicht, kann es zu einer posttraumatischen Belastungsstörung kommen, der häufigsten Folgestörung eines Traumas (Hüllemann 2019, S.15).

2.2.2 Posttraumatische Belastungsstörung

Eine Person ist nach einer traumatischen Situation gemäß ICD-10: F43.1 dann von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) betroffen, wenn sich die beschriebenen Symptome intensivieren und auch nach vier Wochen kein Nachlassen stattfindet (DIMDI 2020). Es gibt jedoch auch Formen, wo eine PTBS verspätet auftreten kann. Fischer und Riedesser (2009) sprechen dann von einer sogenannten „verzögerten PTBS“ (S.50). Es handelt sich um eine verzögerte Reaktion auf ein traumatisches Ereignis. Betroffene haben die Be­lastungsreaktionen zwar augenscheinlich überwunden und können ihren Alltag normal ausführen, haben diese aber noch nicht langfristig verarbeitet (Scherwath und Friedrich 2016, S.27). Symptome können dann bereits durch kleine Belastungen plötzlich und stark zurückkommen (ebd.).

Insgesamt seien circa. 25 bis 30% nach einem Trauma von Symptomen einer PTBS betroffen (Breslau 1991, n. Wagner 2015, S.191). Die Lebenszeitpräva- lenz betrage je nach Studien von 1 bis 12% (Breslau, n. Wagner 2015, S.192; Hüllemann 2019, S.15). Frauen sollen dabei ein doppelt so hohes Risiko besit­zen (ebd.). Eine Posttraumatische Belastungsstörung gilt damit als die häufigste Folgestörung (ebd.). Laut ICD-10 können vor allem Faktoren wie bestimmte Persönlichkeitszüge und neurotische Vorerkrankungen, das heißt psychische Verhaltensstörungen, die Möglichkeit einer PTBS erhöhen (DIMDI 2020).

Typische Indikatoren einer PTBS seien das Wiedererleben der traumatischen Ereignisse und daraus resultierendes Vermeidungsverhalten sowie ein dauer­haft erhöhter Erregungszustand (Gahleitner et al. 2012, S.24f.). Das Wiederer­leben wird in der Psychotraumatologie als Intrusion bezeichnet (ebd.). Durch Schlüsselreize, sogenannte Trigger, die an Zusammenhänge des Traumas er­innern, wie beispielsweise bestimmte Worte, Berührungen, Gerüche, Orte oder Verhaltensweisen, können sogenannte Flashbacks ausgelöst werden (Scherwath und Friedrich 2016, S.28 f.). Dies geschieht zumeist unbewusst und kann von der betroffenen Person nicht gesteuert und oftmals auch nicht in di­rekten Zusammenhang mit der traumatischen Situation gebracht werden (ebd.). Dabei müssen nicht zwangsläufig nur Erinnerungen an die traumatische Situa­tion ausgelöst werden. Häufig kommen bei Intrusionen körperliche oder emotio­nale Reaktionen, die Gefühle des Traumas auslösen, hinzu (ebd.). Beispiels­weise erleiden Personen dann panikartige Zustände, der Herzschlag erhöht sich (ebd.). Es kommt zu Schweißausbrüchen oder Zittern und Schwindelgefüh­len (ebd.). Durch das Wiedererleben versucht der Organismus des Betroffenen, offene Aspekte der traumatischen Ereignisse im Gedächtnis zu verarbeiten und langfristig zu integrieren (Scherwath und Friedrich 2016, S.30). Es handelt sich demnach um einen heilenden Prozess, welcher ohne therapeutische oder pä­dagogische Mitwirkungen jedoch lediglich zu erneuten sogenannten Retraumatisierungen führen könne (ebd.). Dadurch entstehen traumatische Schleifen, bei denen sich das Trauma immer erneut zu wiederholen scheint (ebd.).

Neben Intrusionen werden als gegensätzliche Beruhigung vom Organismus häufig Konstriktionen als Symptome einer PTBS hervorgerufen (Scherwath und Friedrich 2016, S.31). Menschen vermeiden dann Situationen und Aktivitäten, die sie vermeintlich an das Trauma erinnern könnten und engen sich dadurch wenig bis stark in ihrer Lebensführung ein (ebd.). Personen versuchen teilweise so stark zu verdrängen, dass ihr Bewusstsein in dissoziative Zustände gerät (Wagner 2015, S.185). Es kommt zu Vergesslichkeit, dem Abstreiten oder Ver­leugnen von Handlungen (ebd.). Laut Scherwath und Friedrich (2016): „[...] schwanken traumatisierte Menschen zwischen intrusivem Erleben und konstriktiven Bewältigungsversuchen hin und her [...]“ (S.31).

Ferner erleben betroffene Personen zudem Zustände von Übererregung, auch Hyperarousel genannt (Scherwath und Friedrich 2016, S.27). Gekennzeichnet ist dies durch eine erhöhte Wachsamkeit. Der Körper schüttet vermehrt Stress­hormone aus, um im Falle einer erneuten Bedrohung schnell reagieren zu kön­nen (ebd.). Dieses führt dazu, dass Personen viel stresssensibler und über­ängstlicher gegenüber alltäglichen Anforderungen werden, die generell keine starke Bedrohung für sie darstellen würden(ebd.). Typische Anzeichen sind au­ßerdem eine allgemeine Unruhe, Konzentrationsschwächen, plötzliche Impulsi­vität und Gereiztheit bis hin zu aggressiven Verhaltensweisen (ebd.). In der ICD-10 heißt es außerdem, dass eine PTBS häufig mit Angst, Depression und Suizidgedanken in Verbindung gebracht werde (DIMDI 2020). Der Verlauf einer PTBS sei ebenfalls wechselhaft, in vielen Fällen trete aber ein Heilungsprozess in Gang (ebd.). Ist dies nicht der Fall könne eine PTBS chronisch verlaufen oder zu einer „andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ führen (ebd.). In diesem Fall wird dann häufig auch von einer komplexen PTBS ge­sprochen, welche im folgenden Kapitel näher thematisiert wird.

2.2.3 Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung

Eine komplexe PTBS soll eine besonders schwere oder langanhaltende Form erlittener Traumata beschreiben (Fischer und Riedesser 2009, S.51). Bisher gibt es für diese Form der PTBS jedoch noch kein eigenes Diagnosekriterium (ebd.). Obwohl laut Fischer und Riedesser (2009) innerhalb der Psychotrauma­tologie ein erweitertes Klassifikationssystem zur Bestimmung der vielfältigen Folgeerscheinungen durch unterschiedlich erlittene Traumata sinnvoll erscheine (S.52). Vor allem besonders extreme oder wiederholende Traumata würden andere Symptome ausbilden, als es bei einmaligen Ereignissen der Fall sei (ebd.). Genauso unterscheiden sich Folgen von traumatisierenden Erfahrungen durch Menschen von Schicksalsschlägen wie Naturkatastrophen und Unfällen (Schellong 2013, S.42).

Unter allgemein auftretenden Symptomen einer komplexen PTBS fasst die DeGPT auf ihrer Internetseite folgende Aspekte zusammen:

- Veränderungen der Emotionsregulation und Impulskontrolle
- Veränderungen in Aufmerksamkeit und Bewusstsein
- Veränderung der Selbstwahrnehmung
- Veränderung in Beziehung zu anderen
- Somatisierung (körperliche Beschwerden)
- Veränderung von Lebenseinstellungen. (2020a)

Innerhalb des Klassifikationssystem ICD-10 wird für eine komplexe Traumafolgestörung häufig die „andauernde Persönlichkeitsänderung nach Ext­rembelastung“ diagnostiziert (Scherwath und Friedrich 2016, S.33). Hierfür be­dürfe es einer vorherigen extremen Belastung, was beispielsweise durch Folter, einer andauernden Gefangenschaft oder anderen dauerhaften Bedrohungen mit Lebensgefahr hervorgerufen werden könne (Schellong 2013, S.44). Wenn dann gemäß ICD-10: F62.0 mindestens zwei Jahre danach Persönlichkeitsver­änderungen von mindestens zwei Symptomen wie eine feindliche oder miss­trauische Haltung, sozialer Rückzug oder andauernde Gefühl von Hoffnungslo­sigkeit, Nervosität oder emotionale Stumpfheit auftreten, könne diese Folgestö­rung diagnostiziert werden (DIMDI 2020). Ferner dürfe jedoch vor der Traumati­sierung keine psychische Störung dieser Art vorhanden gewesen sein (ebd.).

Bei schweren und wiederholenden Erfahrungen handelt es sich häufig auch um verschiedene Misshandlungen, welche bereits im Kindesalter stattgefunden haben. Die amerikanische Psychiaterin Judith Herman prägte in dem Zusam­menhang im Jahr 1992 erstmals den Begriff der komplexen PTBS, um den Langzeitfolgen von wiederholten Traumata innerhalb der Entwicklung einen Be­griff zu geben (Hantke und Görges 2012, S.94; Schellong 2013, S.43). Diese könnten auch als Entwicklungstraumata zusammengefasst werden, wobei es jedoch keine eigene Klassifikation für diese geben würde (Scherwath und Fried­rich 2016, S.33). Noch häufig werden Traumatisierungen innerhalb der Entwick­lungsphase eher mit Entwicklungsverzögerungen diagnostiziert (ebd.). Symp­tome wie ADHS oder Bindungsstörungen werden erkannt, aber nicht mit einer zuvor erlittenen Traumatisierung in Verbindung gebracht (ebd.). Michaela Huber schrieb im Jahr 2009 in ihrem Buch „Trauma und die Folgen“, dass sich mitun­ter „80% aller Persönlichkeitsstörungsdiagnosen [...] aus Traumatisierungen wie frühe Vernachlässigung, Verwahrlosung, körperliche, seelische und/oder sexuelle Gewalt erklären [ließen]“ (S.118). Alles in allem bietet die komplexe PTBS eine sehr unterschiedliche Auffassung und individuelle Symptomatik. Vielleicht konnte sie auch deshalb in den Klassifikationssystemen noch nicht etabliert werden und bleibt noch häufig lange unerkannt (DeGPT 2020). Zudem gehen Folgeerscheinungen häufig mit anderen psychischen oder körperlichen Störungen einher, die im nächsten Abschnitt ebenfalls noch einmal kurz zu­sammengefasst werden sollen.

2.2.4 Komorbiditäten

Neben den spezifischen Traumafolgestörungen können auch unterschiedliche Begleiterkrankungen, sogenannte Komorbiditäten auftreten (Cillien und Ziegler 2013, S.102). Diese werden oftmals nicht direkt mit einer Traumatisierung in Verbindung gebracht, da sie auch als eine eigene Störung diagnostiziert wer­den können (ebd.). Bei einer PTBS würden jedoch beispielsweise auch mehr als 50% der Betroffenen unter Komorbiditäten leiden (Hüllemann 2019, S.18). Viele Störungen können dabei sogar als unmittelbare Reaktion auf traumatische Ereignisse auftreten wie beispielsweise depressive Verstimmungen oder Angst­störungen (Morina und Müller 2015, S.179). Andere Begleitstörungen sind Ver­suche, das Trauma zu bewältigen oder zumindest kurzzeitig zu verdrängen (ebd.). Dabei handele es sich vor allem um Substanzmittelmissbrauch wie Dro­gen oder Alkohol (ebd.). Ferner zeigt sich, dass sich das Selbstmordrisiko in Folge einer vor allem langanhaltenden PTBS erhöhe (Hüllemann 2019, S.20). Neben psychischen Begleiterscheinungen können ebenso koexistierende so­matische Störungen auftreten (Hüllemann 2019, S.21). Es kann zu verschiede­nen Funktionsstörungen im Herz-Kreislauf- oder Magen-Darm-System kom­men. Ebenso können Gelenk- oder Muskelschmerzen auftreten (ebd.). Die Häufigkeit von Komorbiditäten richtet sich wiederum an die Art, Schwere und Dauer der erlittenen Traumatisierung (Seidler 2013, S.147). Die Folgen trauma­tischer Erfahrungen sind somit sehr vielfältig. Die Zusammenhänge einer Traumatisierung sollen im nächsten Kapitel nun anhand der Personengruppe von Menschen mit einer geistigen Behinderung untersucht werden. Dafür ist es zunächst wichtig zu verstehen, was „geistige Behinderung“ überhaupt bedeutet.

3 Begriffsbestimmung geistige Behinderung

Für den Begriff „Behinderung“ gibt es keine allgemein gültige Begriffserklärung. Erklärungsmodelle für die Bezeichnung einer sogenannten Behinderung unter­liegen einer ständigen Wandlung mit Betrachtungen aus unterschiedlichen Di­mensionen (Röh 2018, S.50). Festzuhalten ist, dass innerhalb der heutigen Sicht eine sogenannte Behinderung als multidimensionales Phänomen be­schrieben werden kann. Sie entstehe laut der ICF, der internationalen Klassifi­zierung, um die aktuelle Funktionsfähigkeit oder Beeinträchtigung eines Men­schen zu beschreiben, immer aus einer Wechselwirkung zwischen umwelt- und personenbezogenen Kontextfaktoren (Kaltenborn 2007, S.54; Röh 2018, S.57). Dadurch können Barrieren entstehen, welche sie an einer „vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe in der Gesellschaft hindern können“ (Art. 1 UN- BRK). Eine Behinderung kann somit nicht grundsätzlich als Folge einer Erkran­kung gesehen werden, sondern bildet sich durch die Interaktion von Menschen mit ihrer materiellen und sozialen Umwelt hervor (Röh 2018, S. 59). Anders ausgedrückt entsteht eine Behinderung also aufgrund von Diskrepanzen zwi­schen den Fähigkeiten einer Person und der gesellschaftlichen Erwartung an diese.

Im folgenden Kontext wird sich weiter mit einer definitorischen Annäherung des Begriffs der „geistigen Behinderung“ beschäftigt. Dieser wurde in den 1950er Jahren von der Elternvereinigung „Lebenshilfe“ geprägt, um vor allem auch dis­kriminierende Ausdrücke wie „Idiotie“ oder „Schwachsinn“ zu ersetzen (Kulig et al. 2006, S.116). Die Definition für Menschen, die als geistig behindert gelten, ist durch die WHO heutzutage wie folgt festgeschrieben:

„Geistige Behinderung bedeutet eine signifikant verringerte Fähigkeit, neue oder komplexe Informationen zu verstehen und neue Fähigkeiten zu erlernen und anzuwenden (beeinträchtigte Intelligenz). Dadurch ver­ringert sich die Fähigkeit, ein unabhängiges Leben zu führen (beeinträch­tigte soziale Kompetenz). Dieser Prozess beginnt vor dem Erwachse­nenalter und hat dauerhafte Auswirkungen auf die Entwicklung.“ (WHO Stand 2020)

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Ende der Leseprobe aus 69 Seiten

Details

Titel
Traumatisierung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung
Untertitel
Nutzung von Handlungsansätzen der Traumapädagogik bei traumatisierten Menschen mit einer geistigen Behinderung
Hochschule
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
Note
1,0
Jahr
2020
Seiten
69
Katalognummer
V958001
ISBN (eBook)
9783346337474
ISBN (Buch)
9783346337481
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Traumatisierung, Menschen mit geistiger Behinderung, Traumapädagogik, Psychotraumatologie
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Traumatisierung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/958001

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