Der französische Moralist und Übersetzer Antoine de Rivarol bemerkte: „die Grammatik ist die Experimentalphysik der Sprachen“. Wenn man sich nun Rivarols Vergleichswert, die Experimentalphysik, genauer anschaut, wird deutlich, dass sich dieser Forschungsbereich mit Theorien und Hypothesen auseinandersetzt, um diese anhand von gezielten Experimenten zu untersuchen. Dabei wird sich an Grundgrößen und Standards orientiert, die die Messung und die Beschreibung der Ergebnisse erleichtern. Abschließend kann eine Theorie belegt, widerlegt oder entsprechend geändert werden um zunächst etabliert und immer wieder überprüft zu werden. Dieser Trial-and-Error-Forschungsablauf scheint auf den ersten Blick wenig mit der Untersuchung der deutschen Grammatik gemein zu haben, die gemeinhin als festes Regelwerk verstanden wird.
Nichtsdestotrotz sieht sich der Sprechende oder Schreibende häufig mit Unklarheiten konfrontiert: verschiedenen Pluralvarianten, konfusen Zeitformen und scheinbar unzähligen Flexionsformen. Ein*e studierte*r Germanist*in, z.B. ein*e Lehrer*in, könnte hier Licht ins Dunkel bringen und entstandene Diskussionen durch unumstößliche Wahrheit auflösen – wenn es immer eine unumstößliche Wahrheit geben würde. Der meist reduzierte und „möglichst zweifelsfreie Umgang“ mit standardisierten und reduzierten Grammatiken legt diese Annahme zwar nahe, entspricht aber nicht der Realität in der Sprachgemeinschaft. Die sogenannten „grammatikalischen Zweifelsfälle“ verstoßen gegen die Regularitäten des Sprachwissens des Sprechenden, die er als geltende Norm betrachtet, und bringen ihn zum Zweifeln. Ihm sind die Trennung von System und Norm und die daraus resultierenden Variationen nicht bekannt, ebenso wenig wie Sprachwandelerscheinungen aus denen Zweifelsfälle entstehen können. Die standardisierte Schulgrammatik regt dazu an, die Grammatik nicht als instabiles, sich wandelndes Konstrukt, sondern als festgeschriebenes „Reich der Regeln“ zu verstehen. Nur ein Wandel des Grammatikunterrichts in Schulen könnte zu einem realitätsnahen Umgang mit der Grammatik als System im dauerhaften Wandel führen und dazu, dass der Unterricht sich weniger mit dem Auswendiglernen von Regeln und mehr mit dem Experimentieren und Erforschen von Sprache beschäftigt und dadurch für die Lernenden erfahrbar gemacht wird. Denn, so Dürscheid: ohne Zweifeln bzw. das Problembewusstsein, ist kein Erkenntnisfortschritt möglich. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Das Normativitätsdilemma
- Varianten für die Thematisierung im Deutschunterricht
- Konfliktinduktion und -lösung
- Theoretischer Hintergrund
- Beispiel
- Beispiele und Erklärungen
- Theoretischer Hintergrund
- Beispiel
- Explorieren und Experimentieren
- Theoretischer Hintergrund
- Beispiel
- Unmittelbares hinterfragen von Normautoritäten und Normen
- Theoretischer Hintergrund
- Beispiel
- Grammatikalische Zweifelsfälle in der Lehrer*innenbildung
- Vorgehensweise / Methodik
- Materialbeschreibung
- Auswertung
- Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Ziel dieser Untersuchung ist es, das Verhältnis von Lehramtsstudierenden der Germanistik an der TU Braunschweig zu grammatikalischen Zweifelsfällen zu erforschen. Dabei werden die Problematik der Zweifelsfälle und die Handlungsansätze für den Umgang mit ihnen im Deutschunterricht beleuchtet.
- Das Normativitätsdilemma in der deutschen Grammatik
- Variantenaufmerksamkeit und Problemlösungskompetenz im Grammatikunterricht
- Unterrichtsansätze zur Thematisierung von grammatikalischen Zweifelsfällen
- Die Rolle der Lehrer*innenbildung im Umgang mit Zweifelsfällen
- Der Wissensstand von Lehramtsstudierenden zur Problematik der Zweifelsfälle
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet das Normativitätsdilemma in der deutschen Grammatik. Es wird dargestellt, wie die traditionelle Auffassung von Grammatik als festes Regelwerk mit der Sprachrealität kollidiert und zu Zweifelsfällen führt.
Kapitel 2 präsentiert verschiedene Unterrichtsansätze zur Thematisierung von grammatikalischen Zweifelsfällen im Deutschunterricht. Es werden vier explorative Operatoren vorgestellt, die das entdeckende Lernen und die Variantenaufmerksamkeit fördern.
Kapitel 2.1 geht näher auf den Unterrichtsansatz der Konfliktinduktion und -lösung ein. Es wird erklärt, wie ein kognitiver Konflikt durch widersprüchlich erscheinende Varianten geschaffen und durch selbstständiges Forschen gelöst werden kann.
Kapitel 2.2 behandelt den Ansatz, Beispiele und Erklärungen zu nutzen, um grammatikalische Zweifelsfälle zu thematisieren. Es wird auf den theoretischen Hintergrund und die praktische Anwendung dieses Ansatzes eingegangen.
Kapitel 2.3 erläutert den Ansatz des Explorierens und Experimentierens mit grammatikalischen Zweifelsfällen. Es wird beschrieben, wie die Lernenden durch selbstständiges Forschen und Experimentieren Sprachbewusstsein entwickeln können.
Kapitel 2.4 beleuchtet den Ansatz des unmittelbaren Hinterfragens von Normautoritäten und Normen. Es wird der theoretische Hintergrund und ein praktisches Beispiel für die Anwendung dieses Ansatzes dargestellt.
Schlüsselwörter
Die wichtigsten Schlüsselwörter dieser Untersuchung sind: grammatikalische Zweifelsfälle, Normativitätsdilemma, Sprachvariation, Sprachwandel, Variantenaufmerksamkeit, Problemlösungskompetenz, exploratives Lernen, Konfliktinduktion, Unterrichtsansätze, Lehrer*innenbildung.
- Quote paper
- B.A. Mara Kesting (Author), 2020, Grammatikalische Zweifelsfälle in der Lehrer*innenbildung an der Technischen Universität Braunschweig, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/958289