"Ni Dieu ni Maître?" Ein universalhistorischer Vergleich zur Vereinbarkeit von Anarchismus und Religion

Bakunins und Kropotkins Position zu Religion


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Bakunins Position zu Religion

3. Kropotkins Position zu Religion

4. Historischer Vergleich. Religion und Staatsgewalt

5. „Mystischer Anarchismus“ im Zarenreich

6. Fazit

7. Quellen- und Literaturverzeichnis
7.1. Quellenverzeichnis
7.2. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ni Dieu ni Maître !“, „Weder Gott noch Meister!“, so lautet der berühmte Spruch der Anarchisten. Ebendiese Worte ließ der russische Anarchist Pëtr Alexejewitsch Kropotkin (*1842 - †1924) den titelgebenden Rebellen am Ende des zweiten Kapitels von Paroles d’un révolté (1885) am Sterbebett sprechen1, während Friedrich Nietzsche (*1844 - †1900) den Spruch im kommenden Jahr in Jenseits von Gut und Böse als ein weiteres Anzeichen der „Herdentier-Moral“ der Anarchisten abtun sollte2. Meist wird der Ursprung dieses Aphorismus auf eine gleichnamige Tageszeitung zurückgeführt, die Louis-Auguste Blanqui (*1805 - †1881), ein Mitglied der Pariser Kommune, ein Jahr vor seinem Tod ins Leben rief. Der Historiker Maurice Dommanget (*1888 - †1976) stimmt dem anarchistischen Autor Louis Louvet (*1899 - †1971) in seiner Ansicht zu, dass der französische Revolutionär den Spruch vermutlich Le Festin de pierre, Jean de Villiers’ tragikomischer Fassung von Don Juan, entnommen hat. Dort verkündet der Protagonist in Akt 1, Sz. 2: „Je ne voudrais ni Dieu, père, maître, ni roi!“3 („Ich wünsche weder Gott, noch Vater, noch Meister, noch König [Übersetzung D.D.]“). Louvet und Dommanget gehen davon aus, dass der Bühnendichter sich hierbei eines deutschen Sprichwortes bediente und tatsächlich scheint die früheste Version des Spruches aus den religiösen Schriften des deutschen Theologen und Dominikaners Meister Eckhart (*1260 - †1328) zu stammen. Sein Gebot „der gerehte mensche endienet weder gote noch den crêatûren, wan er ist vrî“ („der gerechte Mensch dient weder Gott, noch Kreaturen, denn er ist frei“)4 ist zwar immer noch ein Appell gegen Herrschaft, war aber im Gegensatz zu den oben genannten Fassungen nicht antitheistisch, sondern bedeutet, so der Prior Mauritius Wilde, „daß Gott den Menschen ledig [Hervorhebung D.D.]“5 mache.6

Als Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (*1874 - †1948) in Die Russische Idee (1946) schrieb, seine Landsleute seien „entweder Nihilisten oder Apokalyptiker“7, setzte er erstere Kategorie mit Atheismus und die Zweite mit religiöser Orthodoxie gleich. Die russischen Anarchisten wie Kropotkin und Michail Bakunin (*1814 - †1876) würden somit trotz der Tatsache, dass sie alle zumindest in Freiheit einen inhärenten Sinn sehen, in die Kategorie der Nihilisten fallen. Üblicherweise zählt in anarchistischen Kreisen die Institution Religion nach der klassischen, Schmittschen „Freund-Feind-Unterscheidung“ als anti-anarchistisch. Dies wird meist darin begründet, dass Religion, insbesondere die Kirche, nicht nur die Freiheit des Individuums einschränke, sondern auch den weltlichen Staat unterstütze – die Ablehnung der Religion ist also nicht bloß philosophischer Natur, sondern hat auch pragmatische Gründe. Bei dem Vergleich von Gesellschaften, die de facto anarchistisch waren, fällt auf, dass sie nicht notwendigerweise atheistisch waren, wobei das „Goldene Dreieck“ und das Bergland Zomia, wohin ganze Volksgruppen vor der chinesischen Bürokratisierung flohen, die vermutlich langlebigste „Kommune“ darstellen. Obwohl die dortigen Bewohner ebenso wie die neuzeitlichen Anarchisten die Hauptreligion ihres Landes ablehnten, wiesen sie eine Palette verschiedener Glaubensrichtungen auf. Ähnliche Lebensweisen finden sich auch im neuzeitlichen Zarenreich wieder, wo gewisse Anarchisten wie Lew Nikolajewitsch Tolstoi (*1828 - †1910) ihre Ablehnung jedweder Staatsgewalt im Christentum begründeten, aber dennoch die Kirche selbst ablehnten. Hieraus kann man einen universalhistorischen Vergleich aufstellen, der zeigt, dass praktischer Anarchismus zwar Ablehnung der offiziellen Staatsreligion miteinbezieht, aber nicht unbedingt atheistisch sein muss. Diese Differenzierung verdeutlicht zudem, wie Religion und Regierung mit- und gegeneinander arbeiten können.8

2. Bakunins Position zu Religion

Kirche und Staat sind Bakunins persönliche „ bêtes noires9, wobei seine größte Abneigung den abrahamitischen Religionen gilt10. Er erachtet den Glauben als irrational, als „Religionswahnsinn“11, hat im Gegensatz zur Kirche aber noch eine gewisse Sympathie für die Gläubigen selbst – Religiosität sei „selbst für die größten Geister ansteckend und allmächtig“12. Bakunins Beschreibung der religiösen Institution auf S. 127 von Gott und der Staat erinnert stark an Karl Marx’ berühmten Spruch, die Religion sei das „ Opium des Volkes“13. Insofern beurteilt er religiöse Anarchisten als inkonsequent und nennt sie abwertend „Idealisten“14. „Als Sklaven Gottes müssen Menschen auch Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche konsakriert ist15. Hierin äußert sich der praktische Grund, warum ein Anarchist kein Kirchenmitglied sein könne. Letztendlich sei es die Religion, die die weltlichen Hierarchien erst ermögliche: „Kein Staat ist ohne Religion und keiner kann ohne Religion sein“16.

Bakunins Abneigung gegen Religion beruht jedoch vor Allem auf philosophischen, wenn nicht sogar theologischen Gründen. Deshalb nennt ihn der Staatsrechtler Carl Schmitt (*1888 - †1985), der Bakunin als den „größten Anarchisten des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet, in Politische Theologie (1922) den „Theologe[n] des Anti-Theologischen“17. In einer Art Umkehrung von Pico della Mirandolas (*1463 - †1494) berühmtem Renaissance-Text Oratio de hominis dignitate ist für Bakunin der Glaube an einen Gott das, was Gehorsam gegenüber Menschen erst möglich macht. Picos Menschenbild ist das eines „Chamäleon[s]“18, dessen Nachahmung sich nicht nur auf tatsächliche Lebewesen beschränkt – selbst die Götterfiguren, die Menschen sich schaffen, würden sie imitieren „damit diese Menschen durch ihn [Gott] in den Himmel aufstiegen und Engel würden“19. Bakunins Argumentation ist fast identisch, nur mit dem Unterschied, dass die Idee von Göttern und Engeln für ihn ein korrumpierender Einfluss ist:

„Denn wenn Gott existiert, ist er notwendigerweise der ewige, höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr existiert, ist der Mensch Sklave; […] ein Herr, was er immer tun und wie liberal er sich zeigen mag, bleibt nichtsdestoweniger ein Herr, und seine Existenz schließt notwendigerweise die Sklaverei von allem, was unter ihm ist, ein.“20

Die weltlichen Hierarchien und der Staat könnten folglich „nur dann erfolgreich bekämpft werden, wenn der Glaube an eine göttliche Autorität“21 überwunden sei. Obwohl es sowohl in Picos, als auch in Bakunins Weltbild letztendlich egal ist, ob es einen Gott gibt oder nicht, schlussfolgert Bakunin in einer Umkehrung von Voltaires Satz, wenn es Gott nicht gäbe, müsse man ihn erfinden: „[W] enn Gott wirklich existierte, müsse man ihn beseitigen22. Tatsächlich finden sich in der Bibel Stellen, die Staatsgewalt gutheißen, wie in dem dreizehnten Römerbrief, wo es heißt: „Jede Seele unterwerfe sich den übergeordneten staatlichen Mächten! Denn es ist keine staatliche Macht außer von Gott, und die bestehenden sind von Gott verordnet“23.

3. Kropotkins Position zu Religion

Kropotkin ist wohl weniger antitheistisch als Bakunin in der Hinsicht, dass er Religion (insbesondere das Christentum) lediglich als überholt und seinen moralischen Einfluss als minimal einschätzt. In seiner Kritik am Kirchenwesen in Anarchistischer Kommunismus: Seine Basis und Prinzipien (1887) geht der russische Anarchist auf das mögliche Gegenargument ein, Religion sei notwendig, um moralische Standards zu setzen. Hierzu erwidert er, dass der klerus Moral nicht so sehr etablieren würde, sondern sie lediglich begründe, nachdem sie durch das Zusammentreten einer Gesellschaft – dem wahren Ursprung der Moral nach Kropotkin – entstanden ist. 1897 sollte er in dem Pamphlet Anarchistische Moral noch weiter gehen, als er Religion, zusammen mit Kapitalismus, Justiz und der Regierung, als die „großen Quellen moralischer Verkommenheit“ bezeichnete, nach deren Abschaffung Verbrecher und „asoziale“ Elemente „geheilt oder vermieden [Übersetzung D.D.]“24 werden könnten.25

Letztendlich schlussfolgert Kropotkin in Moderne Wissenschaft und Anarchismus (1896), worin er den Wandel anarchistischen Diskurses weg von Metaphysik zu Wissenschaft beschreibt, dass Religion zusammen mit Steuern und Territorialschutz eines der Mittel sei, die dem Staat für die Machtausübung zur Verfügung stehen26. Dies gelte jedoch nicht allgemein für Religion und selbst das Christentum sei nicht immer mit dem Staat verbündet gewesen. So gesteht er in seiner Vorlesung Anarchismus: Seine Philosophie und Ideale dem frühen Christentum mit seinen radikalen Lehren durchaus einen revolutionären Charakter zu, wodurch es Widerstand gegen den römischen Staat gleistet habe. Danach sei es aber demselben Staat erlegen, sei von ihm eingenommen worden und habe dessen Gebräuche, Gesetze und Sprache angenommen. Danach sei das Christentum, so Kropotkin, zum „stärksten Gegner semi-kommunistischer Institutionen [Übersetzung D.D.]“27 geworden.28

4. Historischer Vergleich. Religion und Staatsgewalt

Entsprechend Bakunins Argumentation kann anthropologisch beobachtet werden, wie mit fortschreitender Organisierung der Gesellschaft eine Verbindung zwischen der am weitesten verbreiteten Religion und der Herrscherkaste entsteht. Das zeigt sich bereits in der Bezeichnung für vermeintlich Ungläubige: Das Wort „Heide“ scheint sich von der Heide, also dem Feld, abzuleiten, in Anlehnung an das lateinische „ paganus “ und seiner Wortherkunft „ pagus “, „Dorf“. Im Englischen, wo „Heide“ „ pagan “ heißt, wird dies besonders deutlich. Die Konnotation zwischen Herrschern und Frömmigkeit, beziehungsweise Heidentum und provinzialen Menschen scheint also zumindest in der Antike bereits existiert zu haben. Der Historiker James C. Scott mutmaßt, dass diese Wortverbindung ein Anzeichen für ein universalhistorisches Phänomen ist, wonach Landbesitzer sich bei fortschreitender Zentralisierung und der resultierenden Abhängigkeit von Feudalherrn radikalen, nonkonformen Sekten anschlossen, da die Haupt kirche mit der Regierung im Bunde war. In The Art of Not Being Governed. An Anarchist History of Upland Southeast Asia (2009) betrachtet Scott die Hügelvölker Südostasiens, die zu Zeiten der Mandschu-Dynastie vor der chinesischen Zentralregierung und seiner Bürokratisierung in das „Goldene Dreieck“ und die Hügel Zomias geflohen waren, als proto-anarchistische Kommunen – was er zugegebenermaßen in seiner Einleitung eine „kühne Behauptung [Übersetzung D.D.]“29 nennt. Dennoch zeigt sich hier, wie oft in der Menschheitsgeschichte, um Scott zu zitieren, politischer Wiederstand und sogenanntes Heidentum „legiert [Übersetzung D.D.]“30 sind. Des Weiteren bestehen genug Parallelen, dass der Vergleich zwischen dem russischen Zarenreich und dem chinesischen Kaiserstaat – beide multiethnische Kaiserreiche mit enger Zusammenarbeit zwischen Klerus und Krone – trotz des zeitlichen und geographischen Abstands nicht sonderlich abwegig ist.31

[...]


1 Kropotkin, Pëtr Aleksejewitsch: Paroles d’un révolté. Ouvrage publié, annoté et accompagné d’une preface par Élisée Reclus, Paris 1885, S. 258. Guérin, Daniel: No Gods, No Masters. An Anthology of Anarchism, Übers. d. Ausg. Paris 1980, Edinburgh/London/Oakland 2005, S. 2.

2 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Neuaufl. d. Ausg. Leipzig 1886, Berlin 42016, S. 84 f.

3 Zitiert in: Massin, Jean: Présentation, in: Massin, Jean (Hrsg.): Don Juan. Mythe littéraire et musical, Paris 1993, S. 9-73, S. 23.

4 Zitiert in: Wilde, Mauritius: Das neue Bild vom Gottesbild. Bild und Theologie bei Meister Eckhart (Dokimion 24), Freiburg 2000, S. 241.

5 Ebenda.

6 Bernstein, Samuel: Auguste Blanqui and the Art of Insurrection, London 1971, S. 350. Guérin: No Gods, No Masters, S. 1 f.

7 Zitiert in: Stewart, Neil: Darstellen und duales System. Vladimir Odoevskijs Russische Nächte, in: Albes, Claudia/Frey, Christine (Hrsg.): Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800, Würzburg 2003, S. 291-314, S. 293.

8 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 26-29.

9 Bakunin, Michail: Gott und der Staat und andere Schriften, Reinbek 1969, S. 79.

10 Kropotkin, Pëtr Aleksejewitsch: Anarchism. A Collection of Revolutionary Writings, Neuaufl. d. Ausg. New York 1927, New York 2002, S. 138.

11 Bakunin: Gott und der Staat und andere Schriften, S. 116.

12 Ebenda

13 Marx, Karl: Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie, in: Marx, Karl/Ruge, Arnold (Hrsg.): Deutsch-französische Jahrbücher, Bd. 1 und 2, Paris 1844, S. 71-85, S. 72.

14 Bakunin: Gott und der Staat und andere Schriften, S. 73.

15 Bakunin: Gott und der Staat und andere Schriften, S. 70.

16 Zitiert in: Eltzbacher, Paul: Der Anarchismus. Die ideengeschichtliche Darstellung seiner klassischen Strömungen, Berlin 1987, S. 109.

17 Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Leipzig/München 1922, S. 56.

18 Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen (Philosophische Bibliothek 427), hrsg. von August Buck und übers. von Norbert Baumgarten, Hamburg 1990, S. 7.

19 Mirandola: De hominis dignitate, S. 21.

20 Bakunin: Gott und der Staat und andere Schriften, S. 73.

21 Oberländer, Erwin: Einleitung, in: Oberländer, Erwin (Hrsg.): Der Anarchismus, Olten 1972, S. 11-66; 22.

22 Bakunin: Gott und der Staat und andere Schriften, S. 73.

23 13 Röm 1.

24 Kropotkin: Collection of Revolutionary Writings, S. 106.

25 Kropotkin: Collection of Revolutionary Writings, S. 73 f.; 79; 138.

26 Kropotkin: Collection of Revolutionary Writings, S. 171.

27 Kropotkin: Collection of Revolutionary Writings, S. 138.

28 Kropotkin: Collection of Revolutionary Writings, S. 145.

29 Scott, James C.: The Art of Not Being Governed. An Anarchist History of Upland Southeast Asia, New Haven/London 2009, S. xi.

30 Scott: The Art of Not Being Governed, S. 155.

31 Fick, August: Vergleichendes Wörterbuch der indogermanischen Sprachen, Bd. 3, Göttingen 31874, S. 56. Scott: The Art of Not Being Governed, S. 155; 298.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
"Ni Dieu ni Maître?" Ein universalhistorischer Vergleich zur Vereinbarkeit von Anarchismus und Religion
Untertitel
Bakunins und Kropotkins Position zu Religion
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
16
Katalognummer
V958315
ISBN (eBook)
9783346300454
ISBN (Buch)
9783346300461
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Anarchie, Anarchismus, Religion, Tolstoi, Bakunin, Kropotkin, anarchy, anarchism, Glaube, Ideologie
Arbeit zitieren
Dimitri Dikhel (Autor:in), 2018, "Ni Dieu ni Maître?" Ein universalhistorischer Vergleich zur Vereinbarkeit von Anarchismus und Religion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/958315

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