Klug ist, was mir nützt - Unterrichtseinheit für den WPK Religion R 9


Unterrichtsentwurf, 1997

11 Seiten


Leseprobe


Gliederung

1. Einführung in die Thematik

2. Bemerkungen zur Situation der Altersstufe

3. Sachanalyse

4. Didaktische Überlegungen

5. Methodische Anmerkungen zum Unterrichtsverlauf

6. Materialien

Vorgetragen auf der BEL Tagung in Bünsdorf am 14. November

1. Einführung in die Thematik

Für die gegenwärtige Lage am Ende unseres Jahrhunderts ist es kennzeichnend, daß die Kinder und Jugendlichen unter anderen Bedingungen aufwachsen als zu Zeiten, als den Kindern die familiären und öffentlichen Normen des „das tut man so, weil es sich so gehört, weil es so ist“ bis weit in die Pubertät selbstverständlich waren. Schon früh wird heute von den Kindern erwartet, manchmal sogar verlangt, den Alltag möglichst selbständig zu meistern. In den Medien und zunehmend auch in der Schule werden sie angehalten, eigene Interessen zu formulieren und eigene Maßstäbe für ihr Handeln zu entwickeln. Dabei sollen sie sich nicht einfach an den Werten und Normen anderer ori- entieren, sondern sich aus einem breit gefächerten Angebot eine individuelle Variante komponieren. Schauen wir uns zunächst die Situation in manchen Familien an. Viele Eltern verzichten auf vorgegebene Erwartungen und verhandeln mit ihren Kindern. „Was möchtest du essen?“ „Was willst du anziehen?“ sind die ersten Fragen, denen sich dann Verhandlungen über die Gestaltung des Tagesablaufs (Hausaufgaben, Spielen, Musikhören, Hobbypflege usw.) an- schließen, wobei alle Seiten (Vater, Mutter, Kinder) mit den eigenen Wunschvorstellungen beginnen. Glücklich ist dann der Tag zu nennen, wo die Bedürfnisse aller Beteiligten sich in einem Kompromiß zusammenfassen lassen.

Geht Lisa dann um 21:00 Uhr wirklich zu Bett, so hat sie das mit einem Spieleabend am nächsten Tag verhandelt. Klug sind die Eltern, die diese Abmachung auch erfüllen. Sonst würde das tägliche Aushandeln und Austarieren von Wünschen, Erwartungen und Ansprüchen (auch emotionaler Art) nicht mehr in eine tägliche Balance überführt werden können. Die Kommunikation in der Familie wäre gestört. Enttäuschungen, emotionaler Rückzug der Kinder oder gar Drohungen wären mögliche Folgen.

Es scheint so zu sein, daß sich dieser Verhandlungshaushalt immer stärker ausbreitet. In ihm werden grundsätzlich die pluralen Bedürfnisse und Wünsche der Familienmitglieder anerkannt und gleichzeitig die Erfahrung von Pluralismus und Respekt vor dem Individuum sozialisiert.

Ulf Preuss-Lausitz, Prof. für Erziehungswissenschaften an der TU Berlin, geht davon aus, daß dieses Verhalten die Kinder am ehesten befähigt, erfolgreich in der Schule, in den sozialen Beziehungen, in der Ausbildung und im Beruf (den Berufen?) zu sein.

In der Konsumgesellschaft wird der hedonistische1, ständig auf Neues bezogene und kommunikative Mensch gebraucht, und der autoritäre und sparsame, sich externen Pflichten unterwerfende Mensch gerät an den Rand der gesellschaftlichen Erfolgsskala, auch im privaten Bereich.

Gegen das allgemeine Lamento über den Zerfall der Familie ist festzustellen, daß die Familien in Deutschland noch nie so stark demokratisch strukturiert waren und wichtigstes Handlungsfeld im Einüben dieser Strukturen sind. Preuss-Lausitz stellt fest, daß in den heutigen Schulklassen diejenigen beliebt sind, die sozial kommunikativ, schulisch erfolgreich und sportlich - kraftvoll sind.

a)Werte, Normen, Tugenden - Versuch einer Begriffsbestimmung

Wenn das zutrifft, müssen wir uns bei der Erziehung Gedanken über die zu vermittelnden Werte, Normen und Tugenden machen.

Als Werte2 sehe ich die obersten Güter an, an denen sich Menschen oder Institutionen orientieren. Das sind etwa

Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Wahrheit, Ehre, Schönheit, körperliches Wohlbefinden oder Liebe. Dabei sind diese Werte durch Schätzung und Abwägung zwischen Menschen über das ihnen Zu- bzw. Abträgliche entstanden. Die breite Skala faktischer Bewertungen und theoretischer Bewertungsmöglichkeiten stellt das Wertsystem einer Gesellschaft dar. In der Theologie und Philosophie werden sie oftmals als absolut „richtige“ bzw. „wahre“ Ziel- und Bezugsgrößen des sittlich - moralischen Handelns herausgestellt.

Von Werten analytisch zu trennen sind die Normen. Sie entsprechen oft einzelnen Werten, sind jedoch selbst keine. Sie enthalten Verhaltensge- und -verbote für in der Regel größere Gruppen von Menschen. Normen sind der Wand- lung unterworfene Regeln, die das Leben in einer Gesellschaft strukturieren und sich vom Gesetz bis zu informellen Regeln im sozialen Umgang strecken. Normen fordern auf: „Du sollst!“ oder sie untersagen: „Du sollst nicht!“

Tugend

aus: Bertelsmann Lexiko disc, Version 3.1

[grch. arete, lat. virtus, ursprüngl. gleichbedeutend mit „Tauglichkeit“, bezeichnet in der Ethik den sittlich vollkommenen Zustand als Grundlage oder als Ziel menschl. Handelns. In der inhaltl. Näherbestimmung der verschiedenen Formen u. Typen der T.en gibt es eine lange Tradition von Aristoteles, der zwischen dianoetischen T.en, d. h. T.en der geistigen Haltung, u. ethischen T. unterschied; für die letzteren gilt als Ideal das Maß bzw. die Mitte zwischen einem Zuwenig u. einem Zuviel. Bei den T.en werden die theolog. - Glaube (fides), Hoffnung (spes), Liebe (caritas) - unterschieden von den vier auf Platon zurückgehenden Kardinal-T.en: Klugheit (prudentia ), Mäßigkeit (temperantia), Tapferkeit (fortitudo) u. Gerechtigkeit (iustitia). ]

(Tauglichkeit, Kraft) hingegen ist die Bezeichnung für die sittliche Lebenshaltung, die aus Freiheit vom Menschen durch permanente Übung erworben wird und das sittlich Gute erstrebt. Dabei geht es nicht unbedingt um „virtus“: Männlichkeit, Kraft, Mut im Kampf o.ä. sondern vielmehr um einen, der in seinen menschlichen Eigenschaften etwas taugt.

Die christlich - mittelalterliche Philosophie ergänzte das überlieferte Tugendsystem (Kardinaltugenden, mitmenschliche Tugenden) durch die drei „göttlichen“ oder „theologischen“ Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe nach 1. Kor. 13,13 (Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe.) Wie sehr der Begriff auf die jeweilige geschichtliche Situation bezogen ist, zeigt sich daran, daß in der Neuzeit das Bürgertum standesbezogene Wertvorstellungen (Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit ua.) zu bürgerlichen Tugenden erhebt. In einer mind map lassen sich die Ausformungen der Tugenden darstellen:

Folie 1 (System der Tugenden aus EU 2/1995)

Folgerungen für die Erziehung

In den verschiedenen Situationen des Alltags müssen Kinder heute abschätzen, ob Tugenden, Normen und Werte hier gelten sollen. Die Moral ist kontextabhängig geworden. - heute kann gelten, was morgen als falsch erkannt wird. Die Bewertung ist jedem mehr und mehr selbst überlassen, weil es keine Kirche, Gemeinschaft oder Partei mehr gibt, die jenseits des pluralistischen Systems für alle sagen könnte, wo es langgeht. Wenn das so ist, dann verlangt die konkrete Situationseinschätzung jedoch ein Bewußtsein über die eigenen Maßstäbe bzw. die Akzeptanz, daß andere aufgrund ihrer Maßstäbe zu anderen Schlußfolgerungen kommen, also letztlich Toleranz.

Daraus folgt für die Schule, daß sie vor allem folgende Fähigkeiten zu vermitteln hat: Selbständigkeit, Entwicklung eigener Maßstäbe, Toleranz, kommunikative Kompetenz, Planungsfähigkeit und das Aushalten, mit dem eigenen Urteil oder Handeln auch in der Minderheit zu sein bzw. allein sein zu können.

Andererseits muß die Schule auch mehr sein als Wissensvermittlung und kann sich nicht darauf zurückziehen. Sie soll und kann die Vielfalt möglicher, historisch gelebter und aktueller Lebensformen zur lernenden Auseinandersetzung anbieten. Dabei ist sie wertgebunden, indem sie das Leben, die Menschenrechte und die nicht gewalttätige Aushandlung von Interessen als oberste Werte setzt und verteidigt.

Ist nicht diese Analyse und Aufgabenstellung für die Erziehung in der Schule zu allgemein?

Wenn die Schüler die Möglichkeit haben sollen, einerseits ihren individuellen Lebenswegen nachzuspüren, andererseits von und mit anderen lernen und mit ihnen handeln sollen, dann brauchen wir einen Religionsunterricht, der in großer Vielfalt und mit offenen Konzeptionen dieser Forderung entgegenkommt. Die Abgrenzung nach christlichen Konfessionen, verschiedenen Bekenntnissen scheint dann ein Irrweg. Aber das wäre jetzt ein anderes Thema, das ich in diesem Zusammenhang nicht weiter erörtern möchte.

2. Bemerkungen zur Altersstufe

Die Schüler/innen befinden sich am Ende der ersten pubertären Phase und verlassen die vorher anzutreffende Introversion, sie vollziehen eine Neuorientierung zur Umwelt, die sich an der Bereitschaft zum Engagement, zur Teilhabe an gesellschaftlichen und mitmenschlichen Problemen zeigt.

In den Schülerselbstverwaltungsorganen z.B. oder in der Redaktion der Schülerzeitung kann man diese gesteigerte Leistungsbereitschaft ablesen. Es darf angenommen werden, daß in ihnen eine soziale Grundhaltung überhand ge- winnt, die sich auch Fragen der Umwelt und der Bewertung eigenen Handelns nicht verschließt. Die emotionale Auf- geschlossenheit gegenüber Projekten, spontane Aktionen zur "Weltverbesserung" sind vorhanden. Es ist also durchaus nicht so, daß die Jugendlichen in der allseits beklagten Passivität verharren, sondern sie wollen motiviert werden, um selbst zu neuen Ufern aufzubrechen. Allerdings dürfen wir Erzieher selbst nicht nur das Leistungs- und Konsumdenken fördern.

Andererseits ist der Umgang mit ethischen Fragestellungen doch noch sehr schwierig. Wir erlebten das in unserer Schule beim Thema "Sterbehilfe". Die Schüler/innen entscheiden sehr schnell und sind sich oft der Tragweite ihrer momentanen Argumentation gar nicht bewußt. Eine größere Anzahl weiß oft nicht, wo sie die Kriterien zur Bewertung der Phänomene hernehmen soll. Ein traditionell von den christlichen Kirchen vermitteltes Wertesystem ist nicht mehr selbstverständlich. Manchmal ist es sogar so, daß die schroffe Abneigung gegen den herkömmlichen Wertekatalog der Eltern und Erzieher diese schockiert.

Aber wir sollten diese Herausforderung annehmen und überzeugend Stellung beziehen. Durch Gelassenheit und, wie mein Mentor einmal sagte, "wohlwollende Bestimmtheit" überzeugen wir als Gesprächspartner.

3. Sachanalyse

Barbara Brüning3 erzählt in einem Artikel von EU: „Mein 16jähriger Sohn erzählte mir neulich voller Bewunderung, daß es seinem Freund A. wieder einmal gelungen sei, den Lehrern eine überzeugende Erklärung für versäumte Stunden

zu geben. Er weiß im voraus, welche Strategien er anwenden muß und kommt so davon, während andere immer Är- ger bekommen. A. mogelt sich durch - er ist eben ein kluges Köpfchen!“

Ob es nun Fehlstunden, raffinierte Spickzettel oder die abgeschriebenen Hausaufgaben sind, bei einigen Jugendlichen scheint sich die Überzeugung auszubreiten, daß man mit cleverness (Klugheit benutzt heute keiner mehr) gut durchs Leben kommen kann. Es ist dabei kein blinder, ungezielter Aktionismus, der sie treibt, sondern abwägendes kontrolliertes Handeln nach dem Motto: Klug ist, was mir nützt!

Klugheit4 als neueres Wort wird abgeleitet aus dem mhd. kluoc (fein, zierlich, zart, tapfer). Erst nach 1200 wird es allgemein gebräuchlich als natürliche Begabung beschrieben, die zur Erreichung eines Zweckes die geeigneten Mittel zu erkennen und anzuwenden vermag. Sie ist mehr als Einsicht und weniger als Weisheit, denn die erstere ist einseitig theoretisch, die Weisheit mehr ethisch gegründet.

In den Kardinaltugenden wird Klugheit mit dem Begriff der phrónesis bezeichnet. Im Deutschen gibt es dafür kein geläufiges Wort. Neben der Weisheit und der Vernunft gehört sie zu den sog. dianoetischen Tugenden des Aristoteles (384 - 322 v.Chr.) Aristoteles verband mit phrónesis den moralischen Aspekt: sie ist Klugheit im Bereich des Guten, die sich sowohl auf das eigene Leben wie auf die Fürsorge für andere Menschen erstreckt. Deshalb hat man sie auch im Sinne Hoffmeisters als „sittliche Einsicht“ bezeichnet. Phrónesis befähigt den Menschen also dazu, neben dem persönlichen Nutzen Mittel und Wege zu finden, um ein glückliches Leben zu führen. In diesem Sinne versteht sie sich als Lebenskunst von „wissen, wie man sein Leben einrichtet.“

Exkurs:

Synonyme für den Begriff phrónesis

Kenntnis (gnwsiv) : die (meist erste) Kenntnis; das erstmalige Kennenlernen einer Sache; das Verständnis bzw. die Einsicht in Fakten oder Wahrheiten.

Erkenntnis (epignwsiv): die tiefere und gründlichere Kenntnis . Die persönliche Erkenntnis einer Sache (welche man meist schon kennt).

Weisheit (sofia): das "vornehmste" unter all diesen Worten da es geistige Vortrefflichkeit im höchsten Sinn ausdrückt, und zwar sowohl als eine Haltung als auch die Tätigkeit des Verstandes. Sie beinhaltet sowohl Erkenntnis und prak- tische Intelligenz als auch Gütigkeit, - und sie strebt danach mit den besten Mitteln diese auch bei anderen zu errei- chen. Diese Eigenschaft wird ausschließlich Gott und guten Menschen zugesprochen (im ironischen Sinn allerdings auch schlechten Menschen).

(Er)Kenntnis beziehen sich auf den Menschen selbst. Sie bezieht sich hauptsächlich auf das Erfassen von Wahrheiten oder von Tatsachen, Weisheit drückt sich darüber hinaus im Handeln aus, fügt dem die Fähigkeit hinzu, über diese Tatsachen bzw. Wahrheiten überlegend nachzudenken und ihre Zusammenhänge herauszufinden.

Verständnis (sunesiv): die (kritische) Intelligenz welche den Zusammenhang von Dingen schnell begreift: d. Auffa s- sungsgabe.

praktische Weisheit (fronhsiv) : im Unterschied zu sofia, welche theoretischer ist. Manchmal erreicht sie die Bedeutung von sofia, meist liegt sie jedoch darunter und meint vor allem: Weisheit, praktisch und vernünftig ange- wendet. Klugheit, Vernunft und Intelligenz geschickt angewendet um zu einem gewünschten Ergebnis zu kommen.

Im AT gibt es vor allem in der Weisheitsliteratur5 den Begriff der Klugheit. Ihre Entstehung und Überlieferung ist in unserem Zusammenhang nicht von Relevanz. Die Sprüche spiegeln zumeist aber ein induktives Denken wieder, das nicht darauf angelegt ist, „doktrinäre“ Lehrsätze, unter denen man Erfahrungen subsumieren kann, aufzuzeigen, son- dern es werden „eher Ordnungen an der Erfahrungswelt ertastet“, wie G.v. Rad sich ausdrückt. Der Weise ist für jüdi- sches Denken nicht der stolze Wissende, sondern der, der sich gehorsam in die von Gott gestifteten Ordnungen fügt.6

Einige Beispiele:

Spr 12,8 Nach dem Maße seiner Klugheit wird ein Mann gelobt; wer aber verkehrten Herzens ist, fällt der Verachtung anheim.

Spr 16,22 Wer Klugheit besitzt, hat eine Quelle des Lebens; aber mit ihrer Dummheit strafen sich die Narren selbst. Spr 19,11 Klugheit macht einen Menschen geduldig, und es ist ihm eine Ehre, Vergehungen zu übersehen.

In der christlichen Tradition

Die Tugenden werden im NT wenig thematisiert. Augustin ordnete alle Tugenden , auch die Klugheit, der Liebe unter. Die drei schon erwähnten theologischen Tugenden sind nach Auffassung des Thomas v. Aquin nicht mehr durch menschliche Anstrengungen zu erreichen, im Gegensatz zu den aristotelischen. Dennoch fußt die Tugendlehre auf den antiken Vorstellungen und wird von den Reformatoren abgelehnt. Luther hat für evangelisches Handeln die zehn Gebote neu ausgelegt und sie zum Maßstab genommen. O. Zöckler stellt am Anfang unseres Jahrhunderts fest: „Der Versuch, den Tugendbegriff mit den verschiedenen Stützen als Aussage für christliches Handeln vom Evangelium her zu verwenden, ist nicht gelungen.“7

Der sog. Tugendkatalog in 2. Petr 1 (Phil 4,8 Weiter, liebe Brüder, was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohllautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach!

2Petr 1,5 so wendet allen euren Fleiß daran und reichet dar in eurem Glauben Tugend und in der Tugend Erkenntnis) ist eine konkrete Gehorsamsforderung Gott gegenüber - und das unterscheidet ihn von jeder philosophischen Tugend. Klugheit muß im Sinne des Evangeliums anders gesehen werden.

Sie hat also nicht vorrangig mit Intelligenz zu tun, mit Schulabschluß, Ausbildung, Talent oder Cleverness. Der Kluge unternimmt nichts nur aus Lust und Laune, er vertut sein Leben nicht mit allerlei Zeitvertreib - sondern richtet sein ganzes Leben, sich selber, ganz auf den aus, den er erwartet. Er hat den Schnittpunkt der Koordinaten seines Lebens erkannt, von dem aus jedes Ding seinen Platz findet und sein Gewicht. Zu dieser Klugheit gehört eben auch die U m- sicht. Denn das Leben ist konkret. Es braucht nicht nur die großen Lebensentwürfe und die faszinierenden Visionen, es braucht auch die kleinen Schritte auf das Ziel hin. Jesu Mahnung zur Klugheit finden wir im allegorisierenden Gleichnis von den zehn Jungfrauen (Mt 25,1 ff) :

Alsdann wird das Reich der Himmel gleich geworden sein zehn Jungfrauen, welche ihre Lampen nahmen und ausgingen, dem Bräutigam entgegen. Fünf aber von ihnen waren klug und fünf töricht. Die, welche töricht waren, nahmen ihre Lampen und nahmen kein Öl mit sich; die Klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen mit ihren Lampen. Als aber der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber entstand ein Ge- schrei: Siehe, der Bräutigam! Gehet aus, ihm entgegen! Da standen alle jene Jungfrauen auf und schmückten ihre Lampen.

Die Törichten aber sprachen zu den Klugen: Gebet uns von eurem Öl, denn unsere Lampen erlöschen. Die Klugen aber antworteten und sagten: Nicht also, damit es nicht etwa für uns und euch nicht ausreiche; gehet lieber hin zu den Verkäufern und kaufet für euch selbst. Als sie aber hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam, und die bereit waren, gingen mit ihm ein zur Hochzeit; und die Tür ward verschlossen.

Später aber kommen auch die übrigen Jungfrauen und sagen: Herr, Herr, tue uns auf! Er aber antwortete und sprach: Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht. So wachet nun, denn ihr wisset weder den Tag noch die Stunde.

Klugheit erweist sich in diesem Gleichnis darin, sich immer wieder Rechenschaft zu geben über seine Ziele, hinhören auf die Erfahrungen der anderen, nüchtern bedenken, was alles zu meinen Plänen dazugehört und was ich für mein Vorhaben brauche.

Überraschend oft fordert Jesus Klugheit von seinen Jüngern. Sie sollten klug sein wie jener Mann, der sein Haus nicht auf Sand, sondern auf Fels baute. Oder wie jener, der einen Turm bauen wollte und sich hinsetzte, um die Kosten zu überschlagen. „Seid klug wie die Schlangen!“ rät er ihnen oder lobt die Klugheit des betrügerischen Verwalters, der konsequent sein Ziel verfolgte.

Eine neue Dimension der christlichen Ethik, die den Begriff der Klugheit stark relativiert und ihn im Sinne der theologischen Tugenden einordnet soll mit der Betrachtung von 1. Korinther 13, 1-13 versucht werden. Dabei wird den Schüler/innen ein Textauszug einer modernen Interpretation dieses Textes von Jörg Zink (Anlage 7) in Auszügen vorgelegt. Paulus spricht in allen Briefen von der Liebe. Der zugrundeliegende Begriff agape ist eine eher unbedeutende Vokabel gegenüber der philia (Freundschaft). Erst im Urchristentum rückt das Wort agape in den entscheidenden Beziehungshorizont von Gott und Mensch (Doppelgebot der Liebe). So kennzeichnet die Liebe die neue Existenz des Menschen und wird eine als eine menschlichem Handeln vorausgehende göttliche Dynamik verstanden. So wird die Liebe bei Paulus in dieser Verschränkung zum handelnden Subjekt.

Diese Liebe kann die Wirklichkeit ungeteilt lassen. Der so liebende Mensch ist im Sinne des Evangeliums der kluge, weil er in allem konkreten Handeln und Verhalten die Unendlichkeit Gottes aufleuchtet.

4. Didaktische Überlegungen

In der Unterrichtseinheit sollen die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Klugheit“ anhand verschiedener Texte erarbeitet werden. Im Lehrplan für Ev. Religion wird für das 9./10. Schuljahr im Themenbereich 1: Der Einzelne und die Gemeinschaft das Thema „Soll ich mich engagieren? Ich übernehme Verantwortung“ vorgeschlagen. Die Unterrichtseinheit entspricht dem inhaltlichen Vorschlag, Werte und Leistungen zu diskutieren. Dem Lehrplan für Kath. Religion läßt sich das Thema in den Themenbereichen Schule - Mitverantwortung für den Schulalltag und Ausdrucksformen des gelebten Glaubens - Die Liebe leben zuordnen. Im Lehrplan Philosophie werden unter dem Themenbereich: 1. Was kann ich wissen? Methodenkenntnis als Erkenntnisbedingung und im Themenbereich 4. Was ist der Mensch? Der Mensch als geschichtliches Wesen.8

Auszug aus dem Lehrplan Philosophie:

Thema 10: Methodenkenntnis als Erkenntnisbedingung Klassenstufe 10

Vermittlung von Kompetenzen

Die Schülerinnen und Schüler
- können auf Zusammenhänge in ihren Vorstellungen und Gedanken achten, sie suchen oder herstellen
- erkennen die Regelhaftigkeit dieser Zusammenhänge
- können diese Regeln und Verfahrensweisen handhaben
- gewinnen daraus Kriterien für die Beurteilung von Erkenntnisansprüchen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Es ist Ziel der Einheit, daß Jugendliche verschiedene Bedeutungen des Begriffs kennenlernen, die über das rein abwägende Verständnis hinausgehen. Dabei lernen die Jugendlichen anhand der Traditionen kennen, daß sich Begriffe, Werte und Tugenden im Laufe der Geschichte gewandelt haben.

Die Klärung von Begriffen durch deren Analyse leistet einen wichtigen Beitrag, um das eigene begriffliche Nachdenken der Schülerinnen und Schüler zu stimulieren. Das bedeutet auch, daß die herausgefundenen Begrifflichkeiten und Bedeutungen auf ihre Praxis hin überprüft werden müssen.

Damit läßt sich die Unterrichtseinheit sowohl der Auseinandersetzung mit dem Kernproblem 1: „Grundwerte“ als auch mit dem Kernproblem 3: „Strukturwandel“ zuordnen. Ich denke, daß „...die Anfrage an das Bild des Menschen, wie er ursprünglich gewollt ist“ hier berührt wird.

Die ausgewählten Texte von Aristoteles (s. Anlage 3) und Cicero9 dienen der Begriffsanalyse im Bereich der philosophischen Tradition. Die Gleichnisse vom reichen Kornbauern oder den zehn Jungfrauen sollen den Begriffswandel der Klugheit in christlicher Tradition verdeutlichen. Dazu dient auch die Betrachtung von 1. Kor. 13.

Anhand kleinerer Fabeln und Geschichten können die gewonnenen Erkenntnisse reflektiert und dem eigenen Handeln nutzbar gemacht werden.

Keinesfalls soll dabei der moralische Zeigefinger erhoben werden, nach dem Motto „Nun bezieht mal Klugheit nicht nur auf euer eigennütziges Handeln!“ Das Ergebnis kann nur sein, Jugendliche zu einem abwägenden Verhalten zu befähigen. Die Entscheidung über die konkrete Umsetzung liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen.

Methodische Anmerkungen zum Unterrichtsverlauf

Der Einstieg in die Unterrichtseinheit erfolgt über die Frage, wen die Schülerinnen und Schüler für einen klugen Kopf halten. Die Begründungen führen zu einer Bestandsaufnahme des eigenen Verständnisses. Es können Persönlich- keiten aus den verschiedenen Bereichen gewählt werden. Anschließend werden einige Eigenschaften eines klugen Kopfes an der Tafel gesammelt. Anhand der Fragen zur Geschichte „Selbstjustiz“ diskutieren die Schüler/innen „klu- ges Verhalten“ (Anlage 1). Die Diskussion über den Begriff „Klugheit“ wir abgeschlossen mit einer Gruppenarbeit.

Einige Schüler/innen suchen im Internet im Informatikraum Material und Definitionen (Anlagen 2). Andere bekommen den Auftrag auf einer Lexi-CD-Rom nach Aristoteles zu fahnden. Die Suche ist bei beiden erfolgreich. Unterschiedliche Texte werden gefunden und in den Gruppen auf ihre Brauchbarkeit geprüft.

Mit dem Auftrag, eine Kurzfassung des Lebens Aristoteles (Anlagen 3) zu erstellen bzw. eine kurze Definition des Begriffs „Klugheit“ vorzustellen, endet die erste Phase.

Nachdem sich die Schüler/innen anhand des gefundenen Materials über die Klugheit Gedanken gemacht haben, sollen sie nun verschiedene Begriffsbestimmungen kennenlernen.

Die Gruppe, die sich mit der Biographie Aristoteles vertraut gemacht hat, stellt sein Leben und Wirken kurz vor. Die anderen Philosophen (Cicero und Mill) könnten ebenfalls vorgestellt werden. Aus Zeitgründen beschränken wir uns aber auf Aristoteles.

Anschließend werden die Texte ausgeteilt und in den verschiedenen Gruppen bearbeitet. Dabei wird jeweils ein Schwerpunkt der Begriffserarbeitung gesetzt.

In den Texten von Aristoteles (Anlage 4) geht es vor allem um das Problem der Klugheit als abwägende Reflexion. Das Mit-sich zu Rate gehen soll dann angewendet werden auf den Text „Sarah und der Weihnachtsmann“. Die Schü- ler/innen haben so die Gelegenheit, im Gruppengespräch die Kernaussagen der aristotelischen Textauszüge zu ü- berprüfen. Sie werden herausarbeiten, daß die Dimension des Wissens nicht gleichzusetzen ist mit der Einsicht. So kann eine Erkenntnis für den Wissenden sehr wohl wertvoll sein, das konkrete Handeln in einer Situation erfordert aber Einsicht.

In dem Text von Cicero (Anlage 5) werden die Begriffe Gerechtigkeit und Klugheit in Beziehung gesetzt. Hier soll besonders der Aspekt von Klugheit im Sinne von Sorge um den anderen Menschen bedacht werden. In der Geschichte „Finsternis“ geht es um das Dilemma der Bäuerin, ihre eigene Überlebenschance gegen das Begehren einer Familie, die für ihr kleines Kind eine Bleibe zum Überleben sucht, zu verteidigen. Werden die Türen für die Menschen auf dem Bahnhof geöffnet, so könnten alle umkommen.

Die Schüler/innen werden dieses Dilemma erkennen und sollen eine gerechte Lösung suchen. Es ist notwendig, die Situation der hungernden Bevölkerung in Rußland während des II. Weltkrieges zu verdeutlichen. Evtl. kann ein/e Schü- ler/in aus dem Geschichtsunterricht berichten, wie grausam die Bedingungen während der dt. Besatzungszeit 1941 - 1944 waren. Das würde dem Anliegen des Lehrplans nach fächerübergreifenden Themen Rechnung tragen. Eine gerechte und kluge Lösung erscheint hier schwierig. Wenn die Bäuerin ihren Egoismus aufgibt, besteht aber zumindest die Chance - auch wenn sie vage ist - daß alle im Waggon überleben könnten. Nachdem die Gruppen ihre Ergebnisse vorgetragen haben, werden sie im folgenden Tafelbild strukturiert und ver- deutlicht:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das zentrale Anliegen der jesuanischen Reden im NT ist die Nächstenliebe. Wie wir schon in der Sachanalyse feststellten, spielt im Denken des NT der Tugendbegriff „Klugheit“ keine besondere Rolle, vielleicht gerade auch, um sich gegen die Philosophien der damaligen Zeit abzugrenzen.

Zu Beginn wird ein Abl.(Anlage 6) mit dem Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lk 12, 16-21) und dem Lied „Ich möcht’ ein Clown sein“ ausgeteilt. Folgende Fragen könnten der Erarbeitung dienen:

Handelt der Kornbauer im Gleichnis klug?

Kann man den Kornbauern als Egoisten bezeichnen? Was bedeutet die Bezeichnung „Narr“ oder „Tor“? Was macht das Leben des Menschen unberechenbar?

Der Textvergleich mit dem Lied erfolgt über die Absichten der beiden Hauptfiguren. Dabei ist auch auf das Verhältnis zum Mitmenschen einzugehen. Auch hier stellt sich die Frage nach dem klugen Handeln. In der Reflexion ist darauf zu achten, daß nicht Besitz und Reichtum verteufelt werden. Herausgearbeitet werden soll vielmehr, daß unterschiedliches Verhalten immer von mir, dem Handelnden und der Gesellschaft bewertet wird. In einem Tafelbild wird das Ergebnis zusammengetragen.

Klug kalkuliert - falsch gerechnet?

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Am Schluß der Unterrichtseinheit soll eine Auseinandersetzung mit der alles umspannenden Tugend „Liebe“ erfol- gen. Die Auslegung des Textes ist sicherlich nicht einfach. So soll auch nicht der vollständige Text interpretiert wer- den, sondern ein Auszug aus einer Übersetzung von J. Zink10. Die Schüler/innen können hieran die Qualität der Liebe erarbeiten, die alle anderen Tugenden „in den Schatten“ stellt. Eine Collage, in der die Bilder und Fotos von Klugheit und Liebe in Beziehung gesetzt werden, kann die emotionale Auseinandersetzung mit dem Thema fördern. Klugheit erfordert abwägendes Verhalten, die Liebe aber gibt, ohne nach dem Nutzen zu fragen. Das kann ein Schwerpunkt unterrichtlicher Betrachtung sein.

Weiterhin ist eine Verknüpfung Fabeln, Geschichten, Sprüchen, Anekdoten und anderen literarischen Kurzformen möglich. Ein Beispiel dafür kann das Abl. 9 sein.

Benutzte Literatur:

(außer der in den Fußnoten angegebenen)

H. Halbfas, Lehrerhandbuch Religion, Patmos 1978

H. Ott, Die Antwort des Glaubens, Kreuz 1973

W. Wanner, Werkbuch Gleichnisse, Brunnen 1980

A. Anzenbacher, Einführung in die Philosophie, Herder 1981

A. Diemer, Elementarkurs Philosophie, Econ 1978

H. Halbfas, Das Menschenhaus, Patmos 1972

Ch. Kunz, Fertig ausgearbeitete Unterrichtsbausteine für das Fach Ethik/Werte und Normen, Weka 1993

Zeitschriften:

Ethik & Unterricht, Diesterweg, H.1/93 Utilitarismus, H. 1/94 Menschenbilder ... H.2/95 Tugend? und besonders H. 2/97 Vernunft ...

Religion heute, H. 1/89 Das Böse

Materialdienst des VKR-Niedersachsen, H. 4-93 Werte, Ziele, Tugenden

[...]


1 Hedonismus [grch. hedone, „Lust“], die Lehre der Kyrenaiker (begründet von Aristippos), daß das höchste Gut, mithin der Endzweck des Handelns, die Lust sei. Dabei bedeutet Lust oft mehr als nur sinnliche Lust.

2 Wert, Philosophie: in der Mitte des 19. Jh. von H. Lotze aus der Volkswirtschaftstheorie übernommener Begriff. W. ist die Geltung, die Dinge, Vorgänge, Verhältnisse oder Handlungen durch ihre Beziehungen zu menschl. Urteilen erhalten, die jedoch relativ unabhängig vom subjektiven Standpunkt sein soll.

3 Anregungen zu der gesamten Unterrichtseinheit sind entnommen aus: Ethik&Unterricht, Heft 2/1997 4

4 J. Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1955

5 Die Ausführungen hierzu sind entnommen aus: Reclams Bibellexikon, Erlangen 1978

6 Zu den Ausführungen vergl. H. Brandenburg, Sprüche, Prediger, Hohelied, Gießen 2. Aufl. 1982, S.5

7 vgl. dazu: O. Zöckler, Die Tugendlehre d. Christentums, 1904

8 Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur, Lehrpläne für Ev. Religion, kath. Religion und Philosophie, Kiel 1997

9 Cicero [!tsits/ros], Marcus Tullius, röm. Staatsmann, *3. 1. 106 v. Chr. Arpinum, †7. 12. 43 v. Chr. bei Formiae; glänzender Redner, Politiker, Schriftsteller, Philosoph, der seinem Ideal des freien Staates bis zum Tod treu geblieben ist.

10 Berg, S.+H.K. (Hg.) ,Biblische Texte verfremdet 3, Calwer/Kösel 1986, S.88

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Details

Titel
Klug ist, was mir nützt - Unterrichtseinheit für den WPK Religion R 9
Autor
Jahr
1997
Seiten
11
Katalognummer
V95842
ISBN (eBook)
9783638085205
Dateigröße
367 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Klug, Unterrichtseinheit, Religion
Arbeit zitieren
Wolfgang Link (Autor:in), 1997, Klug ist, was mir nützt - Unterrichtseinheit für den WPK Religion R 9, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95842

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