Inhaltsverzeichnis
1. Einführung in die Thematik
2. Die Verwendung des Begriffs der Autopoiesis in Luhmanns Systemtheorie
2.1 Die Autopoietische Wende
2.2. Ursprung des Begriffs der Autopoiesis
3. Das Bewußtsein als psychisches System
4. Zur Theorie sozialer Systeme
4.1. Die Geschlossenheit sozialer Systeme - Die binären Codes als Leitdifferenzen
4.2. Die Umweltoffenheit sozialer Systeme - „ Withinputs “
5. Resümee
6. Literaturverzeichnis
1. Einführung in die Thematik
Wenn man sich mit dem Thema Modernisierung beschäftigt, spielt der Aspekt der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Dabei wird in diesem Kontext vor allem der Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927 - 1998) besondere Bedeutung zugemessen. Das 1984 erschienene Buch „Soziale Systeme“, in dem er die Aufteilung der modernen Gesellschaft in Teilsysteme behandelt, kann man als sein Hauptwerk bezeichnen. Seine Ausführungen zu diesem Thema fanden im weiterne Verlauf eine interdisziplinäre Verwendung.
Mit dieser Arbeit soll eine Einführung in Luhmanns Theorie gegeben werden, wobei die Behandlung ihrer Grundbegriffe im Vordergrund stehen soll und ein Schwerpunkt auf die sogenannte autopoietische Wende gelegt wird. Zu Anfang soll der Terminus näher erläutert und seine Überführung aus der Biologie in die Sozialwissenschaften nachvollzogen werden. Im Anschluß daran folgt eine Darstellung von Luhmanns Argumentationsweise und der Verwendung des Begriffs Autopoiesis am Beispiel der Theorie psychischer Systeme. Gegen Ende wird das verdeutlichte Konzept auf soziale Systeme übertragen und so von der akteurorientierten Mikroperspektive zu einer gesamtgesellschaftliche Strukturen betreffenden Sichtweise übergegangen.
Ebenso sollen von dieser Ausarbeitung auch Anreize zu einer weiteren Beschäftigung mit den Aspekten funktionaler Differenzierung ausgehen. Dabei spielt die strukturell-funktionale Sichtweise von Talcott Parsons ebenso eine wichtige Rolle, wie auch die Mechanismen interner und externer Steuerung von gesellschaftlichen Teilsystemen. Obwohl in diesem Zusammenhang auch eine Auseinandersetzung mit Primärliteratur größeres Gewicht bekommt, wird jedoch in dieser Ausarbeitung größtenteils darauf verzichtet.
2. Die Verwendung des Begriffs der Autopoiesis in Luhmanns Systemtheorie
2.1 Die Autopoietische Wende
Im Laufe der Zeit hat die Systemtheorie von Niklas Luhmann mehrere Paradigmenwechsel vollzogen. Jedem kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Dabei verfolgt der Autor immer die Absicht, „...eine universale Gegenstandserfassung [zu vollziehen], um eine Theorie alles Sozialen und nicht nur von Ausschnitten“1 zu verfassen. Allerdings ist diese nicht in der Lage, die Gesellschaft vollständig zu erfassen und erhebt somit auch keinen Totalitätsanspruch2.
Luhmanns Theorie läßt sich in 3 Phasen einteilen: Der Soziologe beschäftigt sich zu Beginn seiner systemtheoretischen Abhandlungen mit dem Ganzen und seinen Teilen, wobei sich die Systeme durch ihre Geschlossenheit auszeichnen. Dabei legt er im Sinne von Emergenz fest, daß dabei das Ganze „mehr als die Summe seiner Teile... [ist und] ...qualitativ neue Eigenschaften aufgrund der spezifischen Form der Vernetzung seiner Einzelteile [besitzt]“3. Durch die funktionale Differenzierung entsteht eine Reduktion von Komplexität, um eine klare Abgrenzung zur Umwelt zu gewährleisten.
Durch die Konzentration auf die Umwelt und die wechselseitigen Verhältnisse, welche das System zu ihr unterhält, vollzieht sich der zweite Wechsel. Über In- und Outputbeziehungen definiert sich die Offenheit, die hierbei im Mittelpunkt steht.
Eine grundsätzliche Verbindung der zuvor dargestellten Theorieansätze, stellt die dritte Phase dar. Mit seinem Werk „Soziale Systeme“ vollzieht sich der Übergang. Dieser Übergang wird auch als „autopoietische Wende“ verstanden4. Von nun an steht der Begriff der Autopoiesis im Mittelpunkt von Luhmanns Ausführungen und dient der Beschreibung von Aufbau und Beziehungen von gesellschaftlichen Teilsystemen.
Im Folgenden soll nun der Ursprung des Wortes Autopoiesis und seine Verwendung näher erläutert werden.
2.2. Ursprung des Begriffs der Autopoiesis
Der Begriff Autopoiesis läßt sich wie folgt definieren:
„Selbstreproduktion, Selbstreferenz
(griech.: das Selbsttun)...
[in bezug auf Sozialsysteme]: ...die elementaren Einheiten dieser Systeme (Kommunikationen) werden durch Elemente dieser Systeme erzeugt. Die Umwelten dieser Systeme enthalten keinerlei Elemente dieser Art (relative Invarianz dieser Systeme gegenüber den Umwelten)“5.
Dieses Fachwort findet seinen Ursprung in der Biologie und wurde von den Neurophysiologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela etabliert. Mit Hilfe dieses Begriffes charakterisieren sie die Selbsterzeugung und Selbsterhaltung von lebendigen Organismen. Demnach stellt Autopoiesis „...ein allgemeines Organisationsprinzip des Lebendigen...“6 dar. Sie beziehen dabei das Prinzip autopoietischer Systeme, wie es hier dargestellt wurde, auf alle Lebewesen. Nicht lebendige Systeme bezeichnen Maturana und Varela als allopoietisch. Ein Beispiel für ein allopoietisches System können Maschinen genannt werden, welche in Bezug auf ihre Herstellung und Erhaltung ausschließlich auf die Eingaben ihrer Umwelt - also auf den Menschen angewiesen sind. Dagegen sind autopoietische Systeme autonom und können ihre Strukturen selbst erzeugen, „...indem sie die Komponenten und Bestandteile, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und herstellen...“7.
Hierzu sollte angemerkt werden, daß jedes System verschiedene Organisationsstrukturen besitzt und sich auf individuelle Art und Weise reproduzieren kann. Diese Organisationsstrukturen sind variabel und hängen mit dem jeweiligen Zustand des Systems zusammen. Daher bezeichnet man autopoietische Systeme auch als struktur- oder zustandsdeterminiert bezeichnet8.
Wie bereits am Anfang des Kapitels erwähnt wurde, stellt die autopoietische Wende bei Luhmann eine Verbindung zwischen der ersten und der zweiten Phase seiner Systemtheorie dar, die sich auch aus den Thesen von Maturana und Varela ergibt. Bereits im Vorfeld seines Paradigmenwechsels thematisiert Luhmann, daß aus der Autonomie autopoietische Systeme ihre Geschlossenheit und eine klare Umweltabgrenzung resultiert. Aus der Form der Selbstreferentialität oder Rekursivität resultiert aber auch die Umweltoffenheit von Systemen. Somit stellt die Geschlossenheit des Systems die Bedingung für Umweltoffenheit dar. In der Biologie verdeutlicht man dieses über das Beispiel der Zelle. Um die Selbsterhaltung zu gewährleisten, benötigt die Zelle den Kontakt mit der Umwelt um Nährstoffe aufzunehmen. Die Zelle steuert jedoch selbst die Verbindung zur Außenwelt. Über ihre Organisationsstruktur bestimmt sie, welche Elemente sie aufnimmt. Daher kann man sagen, daß die Geschlossenheit und die Offenheit von autopoietischen Systemen in einem sogenannten Bedingungsverhältnis steht. Man darf also den verdeutlichten Begriff der Autonomie nicht mit Autarkie im Sinne von vollständiger Unabhängigkeit verstehen9.
Maturana und Varela stellten noch einen weiteren Aspekt heraus, der für die autopoietischen Systeme bei Luhmann von Bedeutung ist, und die bereits thematisierten Aspekte ergänzt. Hierbei handelt es sich um die neurophysiologischen Forschungen zum Nervensystem, die besonders in Bezug auf die im dritten Kapitel behandelte Charakterisierung psychischer Systeme eine Rolle spielen.
Dabei bestehen, bezüglich des menschlichen Gehirns, keine eindeutigen Beziehungen zwischen der Aufnahme von Reizen und der Wahrnehmung. Wenn die Sinnesorgane Impulse aufnehmen, so sind diese nicht identisch mit den Aktivitäten, die das Gehirn vollzieht, um einen Eindruck von der Umwelt zu vermitteln. Erst werden die elektrischen Reize vom Gehirn spezifiziert und führen so zu einer Wahrnehmung der Außenwelt. Das heißt also, „...daß das menschliche Gehirn - und nicht die Sinnesorgane - für die Wahrnehmung verantwortlich sind“10. Im Sinne des Konstruktivismus wird behauptet, daß, „...Wahrnehmung, die systeminterne Konstruktion einer systemexternen Welt“11 durch das Gehirn darstellt.
Nach Meinung von Maturana und Varela, kann ihre Theorie autopoietischer Systeme nicht auf soziale Bereiche übertragen werden. Dennoch benutzt Luhmann diese Ansätze, um die Organisationsweise psychischer und sozialer System zu erklären.
Diese Begriffsübernahme soll in den nun folgenden Darstellungen näher verdeutlicht werden.
3. Das Bewußtsein als psychisches System
In Luhmanns Systemtheorie wird der Begriff der Autopoiesis primär auf soziale Systeme übertragen und bekommt dabei eine Generalisierung. Dennoch sollte auch Luhmanns Beschäftigung mit psychischen Systemen nicht unbeachtet bleiben, da hier die strukturelle Perspektive zugunsten einer stärkeren Betonung individueller Akteure verlassen wird. Dadurch wird zum einen eine leichtere Übernahme des Autopoiesisbegriffes aus der Biologie erlaubt, und zum anderen stellt Luhmanns Konzept psychischer Systeme eine wichtige Ergänzung zu seiner Theorie sozialer Systeme dar, in der dem Individuum als solchem keine Bedeutung zugemessen wird (siehe hierzu Kapitel 4)12.
Das Bewußtsein steht dabei im Mittelpunkt der Theorie psychischer Systeme von Luhmann. Aus Gedanken und Vorstellungen, die auch als Ereignisse bezeichnet werden, konstituiert sich das Bewußtseinssystem. Diese Ereignisse stehen dabei immer zur Disposition: „Ein Gedanke erscheint, aber schon im nächsten Moment ist er verschwunden und wird durch einen neuen Gedanken ersetzt“13. Die Hauptaufgabe des Systems stellt somit die Produktion von Gedanken dar. Eine bedeutende Rolle spielt hierbei der Begriff der Rekursivität und Selbstreferentialität. Das psychische System produziert ganz im Sinne der Autopoiesis Gedanken aus Gedanken und weist somit eine relative Geschlossenheit auf, die schon im biologischen Kontext dargestellt wurde.
Umwelteinflüsse, die auf das Bewußtsein einwirken, dürfen dabei nicht vernachlässigt werden, da es sich bei autopoietischen Systemen - wie zuvor gezeigt - nicht um autarke Organisationen handelt. Eine wesentliche Bedingung für die Umweltoffenheit, ist sowohl bei Maturana und Varela, als auch bei Luhmann, die Geschlossenheit.
Die Produktion von Gedanken und Vorstellungen“...geschieht also auf der Basis eines materiellen und energetischen Unterbaus“14. Als Beispiel hierfür können Gehirnprozesse genannt werden, die eine Grundlage für die Bewußtseinsbildung darstellen. Diese dürfen jedoch im Sinne des neurophysiologishcen Konstruktivismus (vergleiche Kapitel 2.2) nicht mit dem Bewußtsein gleichgesetzt werden. Hierbei spricht Niklas Luhmann von einer „emergenten Ordnungsebene“15. Jedoch verschmelzen die Beziehungen, die System und Umwelt miteinander unterhalten, nicht miteinander. Die Beziehungen sind „...aufeinander angewiesen - und bleiben zugleich füreinander Umwelt“16, was man als„strukturelle Kopplung“ bezeichnet.
Man kann in Luhmanns Theorie psychischer Systeme eindeutig Parallelen zu den Konzepten der Bewußtseinsphilosophie erkennen, da diese ebenfalls die Eigenständigkeit des menschlichen Bewußtseins betonen. Da Luhmann das Bewußtsein nicht als Grundlgae für die Existenz von allem in der Welt ansieht, sondern es anderen Systemtypen gegenüberstellt, geht seine Argumentation über die Thesen von Fichte, Kant oder Descartes hinaus17.
Wenn man diesen Hintergrund betrachtet, so bietet sich zur weiteren Beschäftigung mit der These psychischer Systeme eine Auseinandersetzung mit Interaktionsformen an, die zwischen psychischen Systemen, aber auch zwischen sozialen und psychischen Systemen vorhanden sind. Auf diesen Aspekt soll am Ende der Arbeit noch genauer eingegangen werden, da zuvor die Notwendigkeit für einen Überblick über die Theorie sozialer Systeme, in Bezug auf Luhmanns Schwerpunktsetzung, besteht.
4. Zur Theorie sozialer Systeme
Wie schon zu Beginn erläutert, bekommt in Luhmanns Ausführungen die Theorie sozialer Systeme eine primäre Bedeutung. Aus diesem Grund soll sich das nächste Kapitel ausführlicher mit diesem Aspekt der Systemtheorie von Niklas Luhmann beschäftigen. Der Ausgangspunkt hierbei sollen die Ebenen funktionaler Differenzierung sein. Luhmann unterscheidet neben dem Individuum, das im vorangegangenen Kapitel als psychisches System bezeichnet wurde, unterscheidet er zwischen drei Formen von sozialen Systemen. Diese bauen sich hierarchisch auf dem zuvor genannten Individualsystem auf: Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme18. Er stellt dabei die Gesellschaft in einzelne funktionale Teileinheiten dar. Diese bezeichnet er als soziale Systeme. Es soll nun anschließend der Aufbau sozialer Systeme, sowie ihr autopoietischer Charakter erklärt werden:
4.1. Die Geschlossenheit sozialer Systeme - Die binären Codes als Leitdifferenzen
Nach Niklas Luhmann läßt sich in der modernen Gesellschaft eine funktionale Differenzierung in einzelne Teilsysteme feststellen. Ein Beispiel hierzu wäre unter anderem anderem das Wirtschafts-, das Wissenschafts- oder das politische System19.
Diese Teilsysteme konstituieren sich durch einen jeweils eigenen binären Code. Durch diesen binären Code ergibt sich eine bestimmte antithetische Leitdifferenz. Darüber vollzieht sich die Kommunikation innerhalb des sozialen Systems und bilden somit einen Orientierungsrahmen. Kommunikationen sind für Luhmann das kleinste Element eines Teilsystems. Er berücksichtigt dabei nicht Individuen und ihre Handlungen. Luhmann charakterisiert Kommunikation als „...die Synthese dreier Selektionen, nämlich von Information, Mitteilung und Verstehen“20.
Im Wissenschaftssystem wären wahr oder unwahr und im Rechtsystem Recht oder Unrecht, Beispiele für diverse binäre Codes.
Ein weiterer Aspekt, der sich über den binären Code bestimmt, ist die relative Geschlossenheit autopoietischer Systeme. Da seine Kommunikationen nur über diese Leitdifferenz vollzogen werden, ist das Teilsystem rekursiv. So dienen die Ergebnisse, die aus dieser Interaktion entstehen, ausschließlich dem eigenen Erhalt. Typische Kennzeichen autopoietischer Systeme sind Selbstreferentialität und Selbstreproduktion (vergleiche Kapitel 2.2).
Dies bedeutet, in Bezug auf die Ebenen der Systembildung, daß Abfolgen von allgemeiner Kommunikation das Gesellschaftssystem konstituieren. Dagegen sind Abfolgen von speziellen Kommunikationen für das Entstehen und den Erhalt spezieller Teilsysteme verantwortlich. Nimmt man das Wissenschaftssystem als Beispiel, so kann für eine Kommunikationsabfolge die ständige Veröffentlichung von Publikationen genannt werden. Ohne diese könnte die Wissenschaft nicht existieren.
Die globale Relevanz ist nach Niklas Luhmann ein weiterer Aspekt des binären Codes, der bezüglich der funktionalen Differenzierung von Bedeutung ist. Er rückt somit von einer allgemeinen Ansicht in der Modernisierungsdebatte ab, die die funktionale Differenzierung als Arbeitsteilung definiert. Luhmanns meint mit seinem Differenzierungsbegriff nicht eine Einteilung in einzelne Berufsfelder, sondern vielmehr in einzelne gesellschaftliche Teilsysteme, deren Bedeutung von allgemeiner Relevanz ist21.
Somit lassen sich zwei Merkmale von binären Codes herausstellen:
1. Der binäre Code stellt eine Totalkonstruktion dar, der die Kommunikation im System strukturiert. „Innerhalb eines Teilsystems ist somit nichts vor dem Code sicher“22.
2. Durch den Code wird eine Sofern-Abstraktion erhoben. Dies bedeutet, daß sich die Kommunikation auch auf einen anderen Code konzentrieren kann. Legt man sich aber auf einen Code fest, kann dieser nicht mehr gewechselt werden.
4.2. Die Umweltoffenheit sozialer Systeme - „ Withinputs “
Nach der zuvor dargestellten Geschlossenheit sozialer Systeme und ihre Definition über den binären Code, folgt nun die Erläuterung der Umweltoffenheit. In Kapitel 2.2. wurde bereist erläutert, daß - im Sinne von Autopoiesis - die Geschlossenheit Bedingung für die Umweltoffenheit des Systems ist.
Luhmann bezeichnet die Einflüsse aus der Umwelt als Input. Hiermit meint er alle Elemente, die außerhalb des Systems existieren. Hierzu zählen auch andere Teilsysteme. Da das autopoietische System eine Autonomie besitzt, bestimmt es selbst, welche Umweltelemente es aufnimmt und welche nicht. Im Vordergrund steht hierbei vor allem der Systemerhalt. Durch eine „Eskortierung“ der Inputs aus der Umwelt mit sogenannten Withinputs, werden sie in die Kommunikation des jeweiligen Systems übernommen. Dabei wird dann die „Sprache“ der anderen Teileinheit wird dann „...im Kommunikationszusammenhang [des jeweils anderen] Teilsystems gewissermaßen umcodiert“23. Somit erfährt sie eine Übertragung in den systeminternen binären Code. Am Beispiel des Wirtschaftssystems würde sich so die Thematisierung von rechtlichen Aspekten erklären. Dabei wird sie nicht über den binären Code Recht oder Unrecht, sondern vielmehr über die Leitdifferenz Haben oder Nicht-Haben vollzogen (Umcodierung). Diese Form des Umweltkontaktes bezeichnet man auch als De- und Rekontextualisierung24.
Gerade durch Umweltkontakte werden Dinge wie Wandel und Innovation innerhalb eines sozialen Systems erst ermöglicht. Wichtige Voraussetzung hierfür bleibt, wie bereist mehrfach erwähnt, daß das System selbst den Kontakt mit der Umwelt regelt.
Es existiert jedoch noch ein anderes Strukturelement neben den binären Codes, wodurch das soziale System konstituiert und bezüglich des Kontaktes zur Umwelt von Bedeutung ist. „Die Codes allein [machen] viel zu wenig Strukturvorgaben für die Bildung teilystemspezifischer Kommunikation...“25. Aus diesem genannten Grund führt Niklas Luhmann bestimmte systemeigene Erwartungsstrukturen an, welche er als Programme bezeichnet.
Durch die Programme werden die Anforderungen des binären Codes operationalisiert. Somit wird eine hinreichende Orientierungsleistung der systeminternen Kommunikation gewährleistet26. Wie binäre Codes auch, sind Programme, ein typisches Element sozialer Systeme mit autopoietischen Strukturen und dienen der Charakterisierung funktionaler Differenzierung in modernen Gesellschaften.
Programme führen zu einer zusätzlichen Orientierungsleistung durch normative und kognitive Strukturierung. Hierbei soll als Beispiel auf das Rechtssystem zurückgegriffen werden. Hierbei besteht der binäre Code aus der Leitdifferenz Recht oder Unrecht und zwar maßgebend für jede Kommunikation im System. Auch in die Rechtsprechung fließt der binäre Code ein, wobei dort zwischen verschiedenen Rechtsbereichen (Arbeitsrecht, Familienrecht, Strafrecht etc.) unterschieden werden kann. Der Code manifestiert sich auch in bestimmten Gesetzen, die von Juristen beherrscht werden müssen und sich an der Realität orientieren sollten. Ebenso gibt es bestimmte offizielle und inoffizielle Verhaltensregeln bei der Rechtsprechung. Alle diese Komponenten dienen der Intensivierung der von Niklas Luhmann bezeichneten Kommunikation und strukturieren das Rechtsystem über den binären Code hinaus.
Insbesondere im Rechtssystem, mit seinen verschiedenen Bereichen wird gerade deutlich, daß Elemente aus anderen Teilsystemen aufgenommen werden müssen, um eine objektive Rechtsprechung überhaupt zu gewährleisten. Desweiteren trägt das Rechtssystem bestimmte Elemente an andere Teilsysteme heran. So spricht man dann auch von einer Verrechtlichung des politischen Systems. Dieser Vorgang wird durch die Programme erreicht, da über sie eine größere Umweltoffenheit möglich ist27.
5. Resümee
Durch den autopoietischen Aspekt, mit dem Niklas Luhmann seine Systemtheorie erweitert, wird eine detaillierte Erklärung der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft in einzelne Teilsystem ermöglicht. Die funktional-strukturelle Perspektive von Luhmann unterscheidet sich jedoch zu Talcott Parsons struktur-funktionalem Ansatz dadurch, daß Luhmann auf das Verhältnis der Systeme zueinander und ihre Funktionalität eingeht. Jedoch geht er nicht darauf ein, wie durch Normen und Werte der Bestand eines Gesellschaftssystems erhalten bleibt. Somit findet das AGIL-Schemata von Parsons in seiner Systemtheorie keinerlei Verwendung.
Eine wichtige Frage, für eine weitere Beschäftigung mit Luhmanns Systemtheorie, stellt sich nach der Steuerbarkeit von Teilsystemen, die eine wichtige Rolle spielt. Wie übt das politische System einen effektiven Einfluß auf das Wirtschaftssystem aus? Hierzu sollten Begriffe wie politische oder dezentrale Kontextsteuerung eine große Bedeutung haben.
Nimmt man das psychische System zu Hand, so stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß Konditionierungen erfolgreich das Verhalten beeinflussen können.
Will man die Theorie ergänzen, so sollte noch der Aspekt des Verhältnisses zwischen psychischen und sozialen Systemen herangezogen werden. Wie ändert sich das Verhalten von Individuen, wenn sie mit kooperativen Akteuren - sprich: Agenten von sozialen Systemen - in Interaktion treten? Hierzu kann man auch auf die Ausführungen von James Coleman verweisen.
Betrachtet man die Systemtheorie von Niklas Luhmann, in Bezug auf die Interdisziplinität, so stellt auch eine Auseinandersetzung mit ihrer Verwendung in anderen Disziplinen - beispielsweise der Literaturwissenschaft - eine sinnvolle Konkretisierung der in dieser Ausarbeitung vorgestellten Thematik dar.
6. Literaturverzeichnis
Kneer, Georg/Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. München 1993
Luhmann, Niklas: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. In: Soziologische Aufklärung 2. Opladen 1982, S. 9-20
Reinhold, Gerd (u.a.) (Hrsg.): Soziologie-Lexikon. München 1992 Reese-Schäfer, Walter: Luhmann zur Einführung. Hamburg 1996
Schimank, Uwe: Binäre Codes und funktionale Differenzierung in der modernen Gesellschaft. Opladen 1996
Treibel, Annette: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. Opladen 1997 (Korte, Hermann/Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Einführungskurs Soziologie. Band III)
[...]
1 Reese-Schäfer, Walter: Luhmann zur Einführung. (1992), S. 97
2 Vgl. Schimank, Uwe: Binäre Codes und funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft. (1996), S. 161
3 Kneer, Georg/Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. (1993), S. 47
4 Vgl. Reese-Schäfer, S. 46
5 Reinhold, Gerd (u.a.) (Hrsg.): Soziologie Lexikon. (1992), S. 39, 40
6 Kneer/Nassehi, S. 48
7 ebd.
8 Vgl. Kneer/Nassehi, S. 50
9 Vgl. Kneer/Nassehi, S. 51
10 Kneer/Nassehi, S. 54
11 ebd.
12 Vgl. Treibel, Annette: Einführung in die soziologischen Theorien der Gegenwart. (1997), S. 30
13 Kneer/Nassehi, S. 60
14 Kneer/Nassehi, S. 61
15 Kneer/Nassehi, S. 62
16 Kneer/Nassehi, S. 62, 63
17 Kneer/Nassehi, S. 63
18 Vgl. Luhmann, Niklas: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. (1982), S. 10
19 Vgl. Schimank, S. 154
20 Treibel, S. 34
21 Vgl. Schimank, S. 157
22 ebd.
23 Schimank, S. 159
24 Vgl. ebd.
25 Schimank, S. 162
26 Vgl. Schimank, S. 162
27 Vgl. Schimank, S. 164 (Ausführungen über das Sportsystem)
- Arbeit zitieren
- Anonym,, 1998, Psychische und soziale Systeme - Die Systemtheorie von Niklas Luhmann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95911
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