Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre: Elterliche Phantasie und das Verhalten des Kindes


Ausarbeitung, 2000

14 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Hinführung zu dem Thema
1.1 Das Empfinden des Säuglings
1.2 Die intuitive Elternschaft
1.3 Die Symbolisierungsfähigkeit des Säuglings

2 Die Phantasie der Eltern und ihre Auswirkungen auf den Säugling
2.1 Elterliche Phantasie und Interaktion in Bezug auf krankhaftes Verhalten des Kindes
2.1.1 Das phantasmatische Kind
2.1.2 Die Symbolische Überformung
2.1.3 Infantile Symptome und unbewusste Bedeutungszuschreibung
2.1.4 Der depressive Säugling und die empfindungstote Mutter
2.2 Elterliche Pathologien und die gefühlte Wahrheit des Kindes
2.3 Elterliche Phantasien und Interaktion als förderliches Verhalten auf die Entwicklung des Kindes
2.3.1 Primäre Autonomie als Schutz gegen sinnlose elterliche Zuschreibungen

3 Fazit

Quellenverzeichnis

Einleitung

Die letzten Unterrichtseinheiten der Veranstaltung „Einführung in die psychologischen Grundlagen der Pflegewissenschaft“ behandelten sehr ausführlich die empirischen Aufgabenstellungen und Ergebnisse der Säuglingsforscher, allen voran jene von Daniel

N. Stern. Dieses Referat bezieht sich ebenfalls auf den Interaktionsprozess zwischen Mutter und Säugling, knüpft also an jene Unterrichtsinhalte an.

Erweitert wird das Thema, indem ich Fragestellungen und Deutungsmuster der Psychoanalyse in die Säuglingsforschung mit einbeziehe:

Ich befasse mich in diesem Beitrag mit den Auswirkungen elterlicher Phantasien auf elterliches Interaktionsverhalten. Die Verhaltensweisen der Eltern sind ein wesentliches Medium, in dem sie ihre bewussten und unbewussten Phantasien ausdrücken und kommunizieren, und durch dieses Medium werden sie auch vom Säugling verstanden. Kann dies Einfluss auf das kindliche Verhalten nehmen? Wenn ja: Wie? Und: Warum?

Als zugrunde liegende Literatur möchte ich zwei Werke von Martin Dornes erwähnen: Das neunte Kapitel aus: „Der kompetente Säugling“ (9. Auflage, 1999) und das zweite Kapitel aus: „Die frühe Kindheit“ (3. Auflage, 1999).

Dieses Referat stellt den ersten Teil einer Reihe dar. Mein Studienkollege Matthias Hermeling ergänzt und erweitert den Themenbereich in einer folgenden Arbeit.

1 Hinführung zu dem Thema

Bevor ich in das eigentliche Thema einsteige, halte ich es für notwendig zu klären, auf was für einer Vorstellung über das Empfinden des Säuglings und über dessen kognitiven Verhalten Martin Dornes Literatur basiert und wie der Begriff der „intuitiven Elternschaft“ gedeutet wird.

1.1 Das Empfinden des Säuglings

Martin Dornes baut seine Vorstellungen über das Empfinden des Säuglings auf Daniel N. Sterns Ergebnissen und Theorien auf, ohne jedoch sein eigenes Steckenpferd - die Psychoanalyse - aufzugeben. In vielen Bereichen fordert er die Psychoanalytiker auf, vorhandene und als falsch erwiesene Vorstellungen über Säuglinge zu verwerfen; Gleichzeitig hebt er jene Möglichkeiten hervor, welche die Psychoanalyse in die Säuglingsforschung integrieren und ihre Wichtigkeit unterstreichen können. (vgl. Dornes, 1999a, S.53 und S.199)

Das Säuglingsbild von Daniel N. Stern wurde in vorangegangenen Unterrichtseinheiten ausführlich besprochen. Ich möchte mich deshalb mit einer kurzen Beschreibung, welche zugleich den Konflikt zwischen Psychoanalyse und experimenteller Entwicklungspsychologie herausarbeitet, begnügen:

„ Stern geht davon aus, dass die Entwicklung nicht von Abhängigkeit zur Unabhängigkeit, von Undifferenziertheit zur Differenzierung, von der Passivität zur Aktivität oder von Autismus/Symbiose zur Loslösung/Individuation führt, sondern dass Unabhängigkeit, Differenziertheit, Aktivität und Individuation von Geburt an in bemerkenswertem und bisher unterschätztem Umfang vorhanden sind. Der Säugling erlebt sich nicht als mit der Mutter verschmolzen, sondern als selbständig und gut abgegrenzt. Auf dieser Basis eines gut abgegrenzten Selbstempfindens sind Gemeinsamkeitserlebnisse mit dem anderen möglich und werden gesucht. Was die bisherigen Theorien Symbiose oder Verschmelzung nannten, wird neu konzipiert als Zustand, in dem das Subjekt mit dem Objekt etwas gemeinsam erlebt, nicht aber dabei

mit ihm verschmilzt, sondern vermöge seiner perzeptuellen, kognitiven und affektiven Fähigkeiten das Gefühl eines abgegrenzten Selbst beibehält. “ (Dornes, 1999a, S.16)

1.2 Die intuitive Elternschaft

Des Weiteren fanden Säuglingsforscher heraus, dass Kleinkinder mit einer ganzen Anzahl von Fähigkeiten ausgerüstet sind, die ein Anpassen an die natürliche Umgebung gewährleisten. (vgl. Dornes, 1999b, S.63)

Die Forscher gehen davon aus, dass diese Fähigkeiten angeboren sind; Man spricht von biologischen Programmen die mitgebracht werden und sofort nach der Geburt in Aktion treten.(vgl. Dornes,1999b,S.63)

An Eltern kann man im Umgang mit ihren Säuglingen solche biologischen Programme auch erkennen. Sie wissen „intuitiv“, wie sie am besten mit ihrem Kind interagieren können. Als Beispiel wird bei Martin Dornes genannt, dass Mütter ihre Neugeborenen ohne nachzudenken in ca. 20cm Gesichtsabstand halten - die Entfernung, in der die Säuglinge besonders gut sehen.

„ Unter intuitiver Elternschaft versteht man die spontane Reaktions- und Handlungsbereitschaft, mit denen Eltern aller Kulturen auf die Äußerungen ihrer Säuglinge eingehen “ (Dornes, 1999b, S.63)

Diesen Fähigkeiten ist zu verdanken, dass Mütter mit ihren Kindern überhaupt sinnvoll interagieren können.

1.3 Die Symbolisierungsfähigkeit des Säuglings

Kognitiv heißt: Auf Erkenntnis beruhend. Erkenntnis setzt voraus, sich mit einem Thema gedanklich auseinandersetzen zu können, nachzudenken und Schlüsse zu ziehen: Sie setzt Phantasie voraus.

Jean Piaget untersuchte intensiv die Denk- und Phantasietätigkeiten von Säuglingen und Kleinkindern. Durch beobachtende Versuche kommt Piaget zu einer Schlussfolgerung, auf die sich Martin Dornes in seiner weiteren Ausarbeitung bezieht und die ich kurz darstellen möchte.

Piaget untersuchte schwerpunktmäßig das Suchverhalten und das Interesse an nicht vorhandenen Objekten bei Säuglingen und Kleinkindern. Er konnte beweisen, dass für Säuglinge bis zum 18. Lebensmonat Objekte nur dann existieren, wenn diese konkret anwesend sind, d.h. bis zu diesem Zeitpunkt sind Säuglinge nicht in der Lage zu phantasieren. (vgl. Dornes, 1999a, S.164-169)

Etwas in der externen Welt Abwesendes wird in der Psychologie auch als kognitives Symbol bezeichnet. Im piagetschen Vokabular spricht man in den ersten 18 Lebensmonaten von der „präsymbolischen Zeit“, ab dem 18. Lebensmonat dann von „Objektpermanenz“. (vgl. Dornes, 1999a, S. 184)

Eine der zentralen Aussagen Piagets lautet kurz zusammengefasst:

„ Bis zum 18. Lebensmonat ist ein Aktivieren der Aufzeichnungen in Abwesenheit des Objekts unmöglich “ . (Dornes, 1999a, S.172)

2 Die Phantasie der Eltern und ihre Auswirkungen auf den Säugling

Der von Piaget geführte Nachweis gelangt in der Interaktion von Eltern mit ihren Kleinkindern zu besonderer Bedeutung, denn:

„ Die Wirklichkeitsverarbeitung der Eltern ist im Gegensatz zu der ihrer Säuglinge symbolisch organisiert, und dieses Universum hat einen außergewöhnlichen Einfluss auf die Interaktion mit dem Kind. “ (Dornes, 1999a, S.197)

In diesem Abschnitt wird die gestaltende Kraft elterlicher Phantasien bei der Interaktion mit ihrem Säugling beschrieben. Ebenso ihre positiven und negativen Auswirkungen auf das Verhalten des Kindes.

2.1 Elterliche Phantasie und Interaktion in Bezug auf krankhaftes Verhalten des Kindes

Durch pathologische Verhaltensweisen bei Säuglingen wurde man auf Störungen im Interaktionsmuster Eltern/Kind aufmerksam.

Einleitend möchte ich ein Beispiel beschreiben, auf welches ich im weiteren Verlauf zurückgreifen werde:

Es sei die Mutter erwähnt, die mit ihrer 22 Monate alten Tochter wegen deren beträchtlicher Ess-Schwierigkeiten und Erbrechen in eine Klinik eingeliefert wurde. Das Kind setzte sich friedlich auf den Boden und spielte. Im Fluss der Erzählung holte die Mutter plötzlich eine Milchflasche aus der Tasche und schob sie dem Kind in den Mund, ohne dass es Anzeichen von Hunger oder Durst gegeben hatte. Einige Minuten später wiederholte sich diese Szene... (Dornes, 1999a, S. 200)

2.1.1 Das phantasmatische Kind

Eine Mutter sieht in ihrem Kind nicht mehr sein real existierendes Selbst, sondern hat sich ein eigenes Bild von diesem geschaffen. Ein Bild, in das sie im hohen Maße eigene Anteile projiziert. Im Umgang mit ihrem Säugling wird sie nun auf die Bedürfnisse des phantasmatischen Kindes eingehen - die Bedürfnisse des realen Säuglings werden nicht mehr beachtet. Das wahre Selbst des Säuglings tritt in den Hintergrund.

„ Der Druck der Phantasienüberformt die Wahrnehmungen und macht die Mutter unfähig, die Signale ihres Kindes differenziert zu lesen und zu beantworten. “ (Dornes, 1999a, S.202)

In unserem Beispiel stellte sich im Gespräch mit der Mutter heraus, dass diese über ihre eigene Kindheit sehr frustriert war. Eine warme, nährende Mutter hatte ihr gefehlt.

„ Eine bis dahin unbewusste Phantasieüber den eigenen Hunger verursacht ein Interaktionsverhalten, das die Quelle von Symptomen beim Kind ist. Das Kind wird zum Träger einer unbewussten Phantasie der Mutterüber Aspekte des eigenen Selbst. “

(Dornes, 1999a, S.200-201)

2.1.2 Die Symbolische Überformung

Oder: Die Phantasie setzt die Biologie außer Kraft

In diesem Abschnitt wird der Begriff der „intuitiven Elternschaft“ etwa kritischer betrachtet. Würde diese Umgangsform immer stattfinden, dann könnte es nur gelingende Interaktionen zwischen Eltern und ihren Kindern geben.

Laut Dornes gibt es beim Menschen Tendenzen, die solche Intuitionen beiseite drängen können: Die Fähigkeit eines erwachsenen Menschen zu phantasieren, nachzudenken und „kopflastig“ zu sein erlaubt ihm, sich über biologische Programme hinwegzusetzen.

Ein Exkurs: Als Ergänzung dazu sei die Welt der Tiere erwähnt: Tiere sind instinktgeleitet. Instinkte sind festgelegt biologische Programme, die einem Tier seine Handlungsmuster vorschreiben (determinierender Faktor). In der spezifischen Umgebung des Tieres macht dies auch Sinn: Die Instinkte sind auf seine Bedürfnisse und sein Leben optimal ausgerichtet und ermöglichen das Überleben.

Der Mensch besitzt diese Instinkte nicht mehr in einer solch starken Ausprägung (disponierender Faktor): Die symbolische Welt ist an ihre Stelle getreten. Der Vorteil:

„ Der Mensch kann sich, eben wegen seiner geringen instinktiven Festgelegtheit, an alle möglichen Umwelten anpassen “ . (Dornes, 1999b, S.54)

Wenn wir wieder die Interaktion zwischen Eltern und Kleinkindern betrachten, so kann man dieser Fähigkeit - sich über biologische Programme hinwegzusetzen - die Schuld an missglückten Interaktionsmustern geben.

Die biologisch auf Anpassung programmierten Interaktionen mit dem Säugling können deshalb entgleisen, weil sie durch Phantasien der Elternüberformt werden, die biologische Programme außer Kraft setzen. “ (Dornes, 1999b, S. 64)

2.1.3 Infantile Symptome und unbewusste Bedeutungszuschreibung

Oder: Das „Wie“ einer Interaktion und das „Warum“ eines Verhaltens

Beispiel: Eine Mutter betritt mit ihrem fünf Wochen alten Mädchen die Klinik. Da es beim Fütterungsvorgang mit der Flasche immer einschläft ist sie chronisch unterernährt. In einem Gespräch stellte sich eine überraschende „Übereinstimmung“ dar: Die Mutter erklärt, dass sie die Penetration ihres Mannes verweigert, da sie diese als Gewalt erlebt. Den Fütterungsvorgang mit der Flasche setzt sie mit einer „oralen Penetration“ ihres Kindes gleich. Sie empfindet also das Ablehnen der Flasche durch das Kind und das sofortige Einschlafen beim Füttern als durchaus nachvollziehbar und begrüßenswert. An diesem Beispiel macht Martin Dornes deutlich, dass ein Säugling in seinen krankhaften Symptomen scheinbar adäquat auf die Bedeutungszuschreibungen der Mutter antwortet.

Wie können aber solche mütterlichen Phantasien in der präsymbolischen Zeit kommuniziert und vom Säugling verstanden werden?

Mit dem Weg und der Art dieser Kommunikationsform setzen sich die experimentellen Säuglingsforscher auseinander. B. Cramer schrieb 1987:

„ Die Phantasien der Eltern werden nicht magischübermittelt. Sie folgen den Regeln der interaktiven Kommunikation:über Handlungen, Gesichtsausdruck, Intonationen, Vitalitätskonturen etc. bestimmen diese Zuschreibungen die Reaktion des Säuglings in der Interaktion. “ (Dornes, 1999a, S.211)

Und H. Massie schrieb 1988:

„ Wir konnten beobachten, wie Eltern ihre Konflikte auf ihre Kinderübertragen, indem sie sie auf der einfachsten Ebene, in ihren Handlungen ihren Babys gegenüber ausdrücken. “ (Dornes, 1999a, S.217)

Warum kommt es bei dem oben beschriebenen Säugling zu solchen Symptomen? Darüber kann die Psychoanalyse Aufschluss geben. Sie kann die unbewussten Gründe und Phantasien entschlüsseln, die die Mutter auf ihr Kind überträgt und die Einfluss auf die Interaktion haben.

„ Die einen beschreiben das „ Wie “ , die anderen das „ Warum “ . Beides ist wichtig, und beides zusammen gibt erst einen vollen Eindruck von der Komplexität der (frühen) zwischenmenschlichen Beziehungen. “ (Dornes, 1999a, S.211)

Dieser Satz gibt sehr gut Martin Dornes Grundanliegen wieder, welches ich eingangs beschrieben habe: Wo hat die Psychoanalyse bei der Säuglingsforschung ihren Platz?

2.1.4 Der depressive Säugling und die empfindungstote Mutter

Oder: die vier Modalitäten, in denen der Säugling seine depressive Mutter erleben und auf sie reagieren kann.

1. Anhand des Beispiels einer Mutter mit einer manifesten Depression arbeitet Martin Dornes heraus, dass deren depressive Gefühlszustände enorme Auswirkungen auf das Verhalten des Kindes haben. Die offene Depression der Mutter erscheint direkt in der Interaktion: Die Mimik ist ausdruckslos, der Blick leer, die Körperhaltung zusammengesunken. Auch im Versuch mit „schauspielenden“ Müttern zeigte sich eine sofortige Verhaltensänderung der Kinder. Anfänglich versuchten sie die Mutter umzustimmen, indem sie die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen versuchten, schließlich zogen sich die Säuglinge zurück, passten sich der Verhaltensweise der Mutter an. Auch hier lautet das Ergebnis der Säuglingsforscher, wie unter „infantile Symptome und unbewusste Bedeutungszuschreibung“ besprochen:

„ Die Kommunikation der Gefühlszustände findet also im Medium nicht sprachlicher Affektsignale (Körperhaltung, Vokalisierung, Bewegungstempo, Gesichtsausdruck) statt. “ (Dornes, 1999b, S.69)

2. Bei Eltern mit einer abgewehrten, latenten Depression, die diese vor ihrem Kind fernhalten möchten, zeigt sich dennoch ein Interaktionsstil, der ihre Probleme nicht vollständig verdecken kann. Dies müssen nicht die typischen Depressionssymptome sein - im Gegenteil: In der Anstrengung die depressiven Gefühle vor dem Säugling zu verbergen, entwickeln sie ein eher aufgeputschtes, feindseliges Interaktionsmuster (contradepressive Hektik). Der Säugling dagegen besitzt einen richtigen „Spürsinn“ für die averbale Kommunikation, empfängt die Verhaltensmuster sehr differenziert und empfindet ihnen gegenüber ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht.

„ Schon in der Säuglingszeit werden also sowohl manifeste als auch abgewehrte Affekte kommuniziert und vom Säuglingübernommen. “ (Dornes, 1999b, S.80)

3. Wenn sich Eltern in ihren Depressionen gelegentlich von ihrem Säugling ablenken und aus ihrer depressiven Welt entführen lassen, kann auch dies zu Verhaltensänderungen beim Kind führen.

„ Dies mag später so ausgearbeitet und erlebt werden, dass das Subjekt

immer aktiv, verführerisch und attraktiv sein muss, um sich geliebt und beachtet zu fühlen und um eine gefürchtete Leblosigkeit zu vermeiden. “ (Dornes, 1999b, S. 82)

4. Das Kind erlebt seine depressive Mutter als zurückgezogen. Er macht die Erfahrung, dass andere Personen oder Dinge spannender werden, d.h. ihn mehr ansprechen. Diesen wendet er sich dann vermehrt zu; von seiner Mutter wendet er sich ab.

Forschungen allerdings haben gezeigt, dass Kinder zwar Spaß an anderen Dingen oder Personen haben können, diese aber lieber mit der Mutter teilen möchten. Zeigt die Mutter keine Aufmerksamkeit mehr, so zieht sich der Säugling etwas zurück.

„ Sind die Mütter nicht verfügbar, so scheinen sich die Kinder eher geduldig in der Nähe herumzutreiben und ihre Rückkehr abzuwarten, als sich im Raum zu bewegen und andere Bereiche und Objekte zu erkunden “ (Dornes, 1999b, S.83).

2.2 Elterliche Pathologien und die gefühlte Wahrheit des Kindes

Wie erlebt denn ein erwachsener Mensch rückwirkend den depressiven Rückzug seiner Mutter während der Kleinkindzeit?

Seltsamerweise berichten viele diesen Rückzug als einen plötzlichen Schock, der in der Auswirkung ihr positives Mutterleitbild verwandelte. Eine plötzliche Situation ist dies in Wirklichkeit aber nie gewesen.

„ Das, was Patienten als ein einmaliges, plötzliches Trauma beschreiben setzt sich aus vielen kleinen wiederholten Episoden zusammen, die in ihrer Kumulation die Auswirkung haben, die der Patient als grundlegendes Lebensgefühl und Mutterbild schildert. “ (Dornes, 1999b, S.83)

Auch wenn diese Rekonstruktion des erwachsenen Menschen sich nicht wirklich so abgespielt hat, so ist sie dennoch nicht ganz verkehrt. Die Gefühle, die mit den Gedanken an diesen Schock verbunden sind entsprechen der Atmosphäre der damaligen Säuglingszeit: Es ist somit eine gefühlsmäßige Wahrheit. (vgl. Dornes, 1999b, S.84)

2.3 Elterliche Phantasien und Interaktion als förderliches Verhalten auf die Entwicklung des Kindes

Man kann sich nun die Frage stellen, ob jene dargestellten Bedeutungszuschreibungen denn tatsächlich nur in solchen Extremfällen auftreten, oder ob sie nicht Teil der alltäglichen Interaktionen sind und gegebenenfalls sogar nützlich?

Dornes kommt zu dem Schluss, dass Eltern sehr häufig das Verhalten ihrer Kinder interpretieren und Bedeutungen zuschreiben. Er gibt somit wieder, was Kelley in der Attributionstheorie (1967, 1971, 1973) formuliert hat:

Diese erklärt, welche Ursachen Menschen für Effekte, wie z. B. eingetretene Handlungsergebnisse, Verhaltensweisen etc. zuschreiben. Hierbei werden die vorliegenden Informationen durch denjenigen, der die Attribution vornimmt daraufhin untersucht, ob die Ursachen einer Handlung in der Umwelt, im Handelnden oder in der Kombination beider lokalisiert ist. (vgl. Lee, 1997)

Beispiel: Das Kind zeigt in den Raum und lacht; Die Eltern sind sich sicher, dass er von dem Spielzeug begeistert ist, welches sie neben ihn gelegt haben.

„ Von Anfang an behandeln Eltern ihre Kinder so, als ob sie bestimmte Absichten hätten. Die haben sie auch, aber die Zuschreibung von Absichten geht weitüber das hinaus was auf kindlicher Seite ursprünglich vorhanden ist. “ (Dornes, 1999a, S.203) Einen positiven Effekt schreiben einige Entwicklungspsychologen diesem Phänomen zu: Das Kind lernt daraus, wie man seine Absichten äußern und sich in der symbolischen Welt der Eltern zurecht finden kann.

Man muss also vorsichtig unterscheiden zwischen Bedeutungszuschreibungen, die zu krankhaften Verhaltensweisen führen und Bedeutungszuschreibungen, die allgegenwärtig und gegebenenfalls auch entwicklungsfördernd sind.

2.3.1 Primäre Autonomie als Schutz gegen sinnlose elterliche Zuschreibungen

Würde ein Säugling außerhalb dessen, was er für seine Mutter repräsentiert, keine eigene psychische Existenz besitzen, so würde er schnell psychotisch werden, weil er den verrücktesten Bedeutungszuschreibungen hilflos ausgeliefert wäre “ (Dornes, 1999b, S. 66)

Einige Entwicklungspsychologen entwickelten Theorien, die besagen, dass das Kleinkind schon im Säuglingsalter eine „Schutzbarriere“ gegenüber sinnlosen Zuschreibungen durch die Eltern aufbauen kann - als eine Art eigene Meinung. Ein Säugling ist deshalb teilweise unabhängig von der Bedeutungserzeugung elterlicher Zuschreibungen.

Es ist also ein Wechselspiel: Zwischen der Zuschreibung der Bedeutungen durch die Eltern und den eigenen Bedeutungen.

3 Fazit

Bisher stellte ich die Frage zur Seite, ob sich die gewonnenen Erkenntnisse auch auf die Interaktion erwachsener Menschen untereinander beziehen lassen. In diesem Fall treffen zwei Personen aufeinander, die beide in der Lage sind, Phantasien zu bilden und deren Abhängigkeitsverhältnis wesentlich geringer ausgeprägt ist, als bei einem Kleinkind und seiner Mutter.

Ich möchte zwei Argumente benennen, die verdeutlichen, dass wir viele Fähigkeiten im Erwachsenenalter nicht einfach ablegen können:

Die Attributionstheorie von Kelley wurde in meinem Referat in Bezug auf die Zuschreibungen von Eltern auf das Verhalten ihrer Kinder erwähnt.

Quellenverzeichnis

Dornes, Martin (1999a): Der kompetente Säugling. (9. Auflage): Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH.

Dornes, Martin (1999b): Die frühe Kindheit. (3. Auflage): Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH.

Lee, Ziggy (1997): Hausarbeit im Fach Sozialpsychologie: Soziale Motivation und Kognition, auf:

www.hausarbeiten.de/archiv/psychologie/ps.../psycho-attributionstheorie- kelley.shtm. 22.02.2000

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre: Elterliche Phantasie und das Verhalten des Kindes
Autor
Jahr
2000
Seiten
14
Katalognummer
V95952
ISBN (eBook)
9783638086301
Dateigröße
354 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklungspsychologie, Lebensjahre, Elterliche, Phantasie, Verhalten, Kindes
Arbeit zitieren
Judith Bechstein (Autor:in), 2000, Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre: Elterliche Phantasie und das Verhalten des Kindes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/95952

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